Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 101: Es gibt immer einen Weg (Ronya und Maxwell) -------------------------------------------------------- Der Schock meiner Erkenntnis sitzt mir noch in den Gliedern, als Togekiss einen Luftschnitt auf Folipurba schleudert. Mein erster Instinkt ist, dazwischenzugehen. Das hilflose Pokémon zu beschützen. Die Attacke braucht nur wenige Sekundenbruchteile, um auf das Pflanzenpokémon herab zu sausen, aber für mich steht die Zeit still. Ich sehe Ronya, die ihr Pokémon mit verschränkten Armen und voller Zuversicht beobachtet, sehe Richard, der zu einem Schlag aushält, bevor Raphaels Faust ihn unterm Kinn erwischt und zu Boden gehen lässt. Sehe Folipurba, das gelassen mit den Ohren zuckt. Eine kuppelförmige Barriere bildet sich um das Pokémon und Togekiss´ Luftschnitt prallt wirkungslos an dem Schutzschild ab, der im nächsten Moment in tausend silberne Scherben zerspringt. Fassungslos stehen Louis und ich beieinander und schauen dabei zu, wie das hilflose Folipurba stolz das Kinn in die Höhe reckt und zu Ronya blickt. „Deine Reflexe sind besser geworden, Max“, sagt Ronya. „Deine Synthese brauchst du heute nicht. Bleib offensiv.“ Max nickt einmal energisch und nimmt wieder Togekiss ins Visier, das unsicher mit den Flügeln schlägt, sich schließlich jedoch in den Nachthimmel hievt, nur um mit Schwung auf Folipurba herabzurasen. Das Pflanzenpokémon gähnt nur gelassen, hüllt sich in ein helles Licht, das ich als Schwerttanz identifiziere und erwartet die Fliegen-Attacke mit absoluter Geduld. Der Aufprall schiebt Max ein gutes Stück zurück, bis es halb auf dem Rücken, halb auf der Seite liegt, aber als Togekiss versucht, sich erneut in die Lüfte zu katapultieren, verlängert sich das Blatt auf Folipurbas Stirn zu einem rasiermesserscharfen Farnwedel, umwickelt Togekiss und schleudert es zurück zu Boden, bevor es wie eine Peitsche auf das Flugpokémon niedergeht. Einmal, zweimal... nach dem dritten Hieb schrumpft das Blatt reflexartig zu seiner Anfangsgröße zurück. Max strampelt ein wenig mit den Vorderbeinen, um wieder in Sitzposition zu kommen und betrachtet seinen besiegten Gegner mit offenkundiger Zufriedenheit. „Erste Klasse, Maxwell“, lobt Ronya und hebt ihr Pokémon hoch. Schweif und Hinterbeine baumeln wie die Glieder einer kaputten Marionette zwischen ihrem Armen herab. Keinen der beiden scheint es zu stören. Louis schluckt, sein Blick stur zu Boden gerichtet. Ich rufe Gott zurück, der noch immer bewusstlos unter dem Laternenmast liegt, dann hole ich tief Luft und wende mich Ronya zu. „Tut mir leid, was ich eben gesagt habe“, sage ich kleinlaut, zwinge mich aber, Ronyas abwartenden Blick zu erwidern. „Ich habe dich falsch eingeschätzt. Wenn ich gewusst hätte, dass du… dass dein Pokémon paralysiert ist, hätte ich dich nicht so angeschrien.“ Ronya krault Maxwell hinter den Ohren und betrachtet mich nachdenklich. „Doch, hättest du“, widerspricht sie. „Aber solange ihr meinen Vorschlag im Kopf behaltet, ist mir der Rest egal. Es geht schließlich um Winry, nicht um euch.“ „Du hättest es netter formulieren können“, murmele ich, aber Ronya wendet sich schon grinsend ab und geht in Richtung Raphael, der sich unter Richards stöhnenden, halb bewusstlosen Körper hervorkämpft. „Ich mache keine Kompromisse.“ Louis und ich werfen uns einen ratlosen Blick zu, folgen ihr aber zu Raphael. „Du bist… Ronya, richtig?“, fragt er atemlos und wischt sich etwas Blut von der Wange. Seine Brille hat die Rangelei zum Glück heil überstanden, auch wenn der Bügel ein bisschen verbogen ist. „Hast du ein Pokémon, mit dem wir ihn transportieren können? Er ist schwerer, als er aussieht.“ „Was sagst du, Max?“, fragt Ronya ihr Folipurba abwesend und greift nach einem ihrer Pokébälle. „Lust, den Wyatt-Express zu nehmen?“ Ein roter Lichtstrahl schießt zwischen ihren Fingern hervor und nimmt gewaltige Ausmaße an, bevor er sich als Ronyas Stahlos entpuppt. Wyatt dreht gemächlich den gewaltigen Schädel, entdeckt Ronya und Maxwell und stößt ein freudiges Brüllen aus. Ronya setzt ihr Folipurba auf seinem flachen Kopf ab, von wo es sich mit den Vorderbeinen empor robbt. Stahlos schielt glücklich zu ihm hinauf. Wir helfen Raphael dabei, Richards Körper auf eins von Wyatts größeren Körpergliedern zu legen, sodass er nicht in die Zwischenräume rutscht und versehentlich zerquetscht wird. Als wir sicher sind, dass nichts passieren kann, setzt die fast zehn Meter lange Stahlboa sich gemächlich in Bewegung. Maxwell seufzt zufrieden und bettet den Kopf auf seine Vorderpfoten. Raphael ruft Richards besiegtes Togekiss zurück und läuft dann voraus, um Liz per Handy von den Geschehnissen zu unterrichten. Ronya, Louis und ich bilden mal wieder das Schlusslicht. „Was ist mit ihm passiert?“, fragt Louis, als er es nicht mehr aushält. Ronyas Blick verfinstert sich. „Zu Beginn meiner Reise habe ich mir viele Feinde unter den anderen Trainern gemacht“, erklärt sie nach einigen Sekunden. „Vor sechs Jahren hat uns eines Tages eine ältere Gang außerhalb der Stadt aufgelauert. Maxwell war noch nicht entwickelt, aber er hat sich gut geschlagen. Trotzdem konnten wir unmöglich gewinnen.“ Mit zusammengebissenen Zähnen reibt sie sich die Nasenwurzel, atmet einmal tief durch und lässt langsam ihre Hand sinken. „Sie haben mich festgehalten, damit ich ihn nicht zurückrufen konnte. Eins der Pokémon, ein Stahlos, hat nicht mal aufgehört, als er schon längst bewusstlos war. Er wurde zerquetscht. Seitdem ist er querschnittsgelähmt.“ „Das tut mir so leid“, flüstere ich tonlos und schaue dem lebensfrohen Folipurba hinterher, das ausgerechnet mit einem Stahlos befreundet zu sein scheint und gerade mit Leichtigkeit gegen das Pokémon eines Favoriten gewonnen hat. „Es war nicht deine Schuld“, entgegnet Ronya, jetzt wieder unbekümmert. „Es war eine schwierige Zeit, aber wir haben uns gemeinsam durchgebissen. Niemand wird uns jemals wieder so verletzen.“   Louis und ich warten auf den Stufen vor der Safari-Zone darauf, von Raphael ins Foyer gerufen zu werden. Richard ist wieder zu Bewusstsein gekommen und soll in einem Zimmer untergebracht werden, bevor er mich erneut attackiert. Irgendwie werde ich diese ganze Sache mit ihm regeln müssen, damit die Situation nicht weiter eskaliert, aber derzeit kreisen meine Gedanken einzig und allein um Ronya, Wyatt und Maxwell. Ich war ein Idiot. Ein verdammter Idiot. Selbst nachdem ich mich entschuldigt habe, könnte ich mich für meinen Wutausbruch selbst ohrfeigen. „Bin ich ein schlechter Trainer?“, unterbricht Louis meine innere Schimpftirade. Ich schaue zu ihm. Er hat die Knie angezogen und sein Kinn darauf gebettet. Sein Gesicht ist ausdruckslos. „Bist du nicht“, sage ich, rücke näher und lege einen Arm um seine Schultern. „Wenn es eine Möglichkeit gibt, Winry zu helfen, dann hier. Ronya hat Erfahrung mit solchen Spezialfällen, Rose hat einen guten Draht zu Pokémon und Liz soll angeblich auch eine Koryphäe sein. Du wirst einen Weg finden, ihr zu helfen, da bin ich sicher.“ Er lächelt und lehnt sich an mich. „Hoffentlich.“ Ein Räuspern schreckt uns auf und wir fahren hektisch herum. Eine breit grinsende, junge Frau steht hinter uns im Eingang und schnalzt anzüglich mit der Zunge. Das bleiche Haar mit den türkisblauen Strähnen und die olivgrüne Rangeruniform lassen sie mich sofort als Elizabeth O´Neil identifizieren. Hinter ihr taucht mit strahlenden Augen Rose auf, deren kurze Rasterlocken um ihr Gesicht wippen, als besäßen sie ein Eigenleben. „Abby! Louis!“ Sie schiebt sich an ihrer besten Freundin vorbei und nimmt uns nacheinander freudestrahlend in den Arm. „Es ist schon so lange her“, sagt sie, als wir mit unseren Begrüßungen fertig sind. „Ich werde bald abreisen, deswegen bin ich froh, euch vorher noch einmal gesehen zu haben.“ „Lass mich hier ruhig versauern, Rose, das ist lieb von dir“, ertönt Liz´ Stimme. Ihr Grinsen ist breit wie eh und je. Rose streckt ihr die Zunge heraus. „Ich stelle vor, D-Rangerin und national bekannte Safari-Koryphäe, die einzig wahre Elizabeth Liz O´Neil.“ „Knie nieder, Pöbel“, meint Liz, bevor sie und Rose in einen hysterischen Lachanfall ausbrechen. „Ah, tut mir leid…“ Rose wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ich kann nicht ernst bleiben, wenn sie in der Nähe ist. Sie hat einen furchtbaren Einfluss auf mich.“ Ich nicke nur grinsend. Nach der depressiven Stimmung der letzten Minuten ist ihr Gelächter herrlich erfrischend. „Scherz bei Seite“, sagt Liz und tritt vor, um meine Hand zu schütteln. „Du musst Raphaels beste Freundin sein. Abby, richtig? Ich bin echt froh, dich endlich zu treffen. Auch wenn ich das Gefühl habe, dich schon längst kennen gelernt zu haben, so oft wie er von dir spricht. Beinahe wäre ich eifersüchtig geworden.“ „Selbst wenn er wollte, ich bin schon vergeben“, sage ich mit einem Seitenblick zu Louis. Liz und Rose geleiten uns durch das Foyer der Safari-Zone, vorbei an der Rezeption und den nummerierten Ausgängen, durch eine halb versteckte Tür. Wir folgen den beiden durch einen holzvertäfelten Gang in eine Art Lounge mit Kamin und braunen Ledersofas, in die wir uns dankbar plumpsen lassen. Raphael stößt wenige Minuten später zu uns und nimmt neben Liz Platz, die uns allen Limo aus einem kleinen Campingkühlschrank anbietet. Mit dem Knistern des Kaminfeuers und dem leisen Schnarchen von Winry im Hintergrund, die sich auf Roses Schoß zusammengerollt hat, nimmt der Abend seinen Lauf. Liz findet stetig ein neues Gesprächsthema, fragt Louis und mich über unsere Reisen aus und berichtet mit Leidenschaft von ihrer Arbeit in der Safari, ihren Ausflügen mit Raphael und integriert selbst Rose so sehr ins Gespräch ein, dass sie mir wie ein anderer Mensch vorkommt. Die Stunden schmelzen dahin, aber als es auf zwei Uhr zugeht, steht Liz gähnend auf, streckt sich ausgiebig und verabschiedet sich für die Nacht, mit der Begründung, am nächsten Morgen Frühschicht zu haben. Raphael bleibt noch eine Weile bei uns sitzen und unterhält sich leise mit uns, bis auch er sich verabschiedet, nicht, bevor er der eingedösten Rose eine Decke um die Schultern gelegt hat. „Ihr könnt heute Nacht hier übernachten“, sagt er leise und nickt in Richtung des dunklen Holzschranks, aus dem er eben die Decke geholt hat. „Da sind genug für euch drin.“ Gähnend erhebe ich mich ebenfalls. „Wir können auch ins Pokécenter zurückgehen“, meine ich müde, doch er schüttelt den Kopf. „Es wäre mir lieber, ihr schlaft hier“, sagt er. „Nachts sind manchmal betrunkene Biker unterwegs. Sie tun selten jemandem etwas, aber gerade du musst es nicht drauf anlegen.“ „Da hat er Recht“, stimmt Louis dösig zu und kuschelt sich etwas tiefer in die Couch. „Komm schon Abby, es ist spät…“ Seufzend gebe ich mich geschlagen und so verbringen wir unsere erste Nacht in Fuchsania City im Gemeinschaftsraum der Safari-Zone.   Pling. Allgemeines Stöhnen wird laut, als der Signalton meines S-Coms alle Anwesenden aus ihrem Schlaf klingelt. Ich drehe mich zur Seite, verfange mich in meiner Decke und rolle geradewegs von der Couch, was zumindest Louis zum Lachen bringt, bevor er sich umdreht und sofort wieder einschläft. Rose blinzelt mich aus glasigen Augen an. Ich kämpfe mich aus der Decke frei und taste nach dem S-Com, den ich vor dem Schlafengehen auf dem Kaffeetisch abgelegt habe.   Von: Ryan_Bittner_05 An: Dark_01 Weitergeleitet an: Team_Shadow_00 »Fortschritte des Hackergenies zu melden. »Polizeiserver fast vollständig unter Kontrolle. »Informationsabzapfung aus den Datenbanken ab jetzt möglich. »Einschleusung in Passwortverteiler des Team Rocket HQs noch nicht abgeschlossen. »Ist aber nur eine Frage der Zeit. »Dankt mir später.   „Arroganter Typ“, murmele ich leise vor mich hin, kann meine Aufregung aber nicht ganz unterdrücken. Daran arbeitet Ryan also schon seit Wochen so intensiv. Dark versucht, mit seiner Hilfe an die Passwörter zu kommen und sich Zugang zu dem Hauptquartier zu verschaffen. Lagepläne braucht er nicht und sicher weiß er auch, wie man viele der Fallen umgehen kann, schließlich hat er seine gesamte Kindheit in dem Betonklotz auf Eiland Fünf verbracht. „Interessant“, sagt Ronya, die plötzlich hinter mir steht. Ich ziehe scharf die Luft ein, bevor ich mich von dem Schrecken erhole. „Warum schleichen sich dauernd Leute an mich ran?“, beschwere ich mich und schließe die Nachricht. Wankend komme ich auf die Füße. „Können wir reden?“, frage ich Ronya und nicke Richtung Tür. „Irgendwo draußen?“ „Klar.“ Sie geht voran und ich folge ihr, durch den langen Flur und in einen kleinen Lagerraum, der unbenutzt scheint, denn Tische sind an die Wand geschoben und eine dünne Staubschicht bedeckt alle Oberflächen. In der hintersten Ecke steht ein klobiger Ohrensessel mit grässlichem Blümchenmuster, den Ronya ohne Zögern in Beschlag nimmt. Ich mache es mir vor ihr im Schneidersitz bequem. „Du hast gestern viel über meine Reise gehört, und über meine Motivation, Team Rocket aufzuhalten.“, beginne ich.  „Das ist unser Ziel bei Team Shadow, neben dem Training natürlich, auf dass ihr ja alle so versessen seid. Hast du schon eine Entscheidung getroffen, ob du uns beitreten möchtest oder nicht?“ „Nein“, erwidert Ronya schlicht. „Warum nicht?“ „Team Rocket muss aufgehalten werden, das ist klar, aber nichts zwingt mich, dazu eurem Club beizutreten. Ich könnte genauso gut alleine gegen sie vorgehen.“ „Das könntest du“, gestehe ich. „Aber wir haben Zugang zu den Polizeiservern, wie du eben gelesen hast. Und wir haben die beste Kommunikation, die beste Organisation und die besten Trainer. Es wird einfacher sein, mit uns zu kämpfen, als getrennt von uns.“ Ronya lehnt sich in dem Ohrensessel zurück und begutachtet mich ausgiebig. „Ich werde beitreten. Wenn Dark mich in einem Duell besiegt. Bis ich ihn treffen kann, bleibe ich hier.“ „Mehr erwarte ich nicht“, erwidere ich grinsend und hochzufrieden. „Und Gerard?“ „Was weiß ich, was dieser Draufgänger vorhat“, lacht sie. „Du wirst ihn persönlich fragen müssen.“ „Meinetwegen.“ Ich betrachte sie eingehend. „Kennst du andere wie euch? Trainer, die keine Orden sammeln und trotzdem stark sind?“ „Du nimmst deinen Job wirklich ernst, was?“ „Je mehr wir sind, desto besser können wir Kanto und Johto abdecken“, erwidere ich. „Ryan ist mit seinen Computern beschäftigt, damit bleiben nur drei Mitglieder, die auf Patrouille gehen können.“ Ronyas Augenbrauen ziehen sich zusammen. „Ich kenne tatsächlich ein paar Trainer, die dich interessieren könnten…“ „Aber?“, frage ich. „Sie sind vermutlich noch in Einall. Ich weiß nicht, ob sie dich für die Situation hier interessieren werden, oder die Reise auf sich nehmen wollen. Selbst wenn sie zusagen, kann es mehrere Wochen dauern, bis sie hier sind.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe und greife nach meinem S-Com. Nachdenklich drehe ich ihn in meinen Fingern. Mehrere Wochen sind eine lange Zeit. Ich weiß nicht, wann Team Rocket seinen End-Coup geplant hat, aber wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, kann es nicht mehr allzu lange dauern. Es könnten noch zwei oder drei Monate sein, oder schon morgen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto schlechter wird mir, aber ich schüttele die unliebsamen Gedanken ab und hebe den Kopf. „Wenn es eine Möglichkeit gibt, neue Mitglieder anzuwerben, muss ich es versuchen“, sage ich eisern. „Wer sind die Trainer?“ Ronya hält mir ihre offene Hand hin und ich lege den S-Com hinein. Sie beginnt, das Tastenfeld zu bearbeiten und gibt mir einige Minuten später das Gerät zurück. Ich finde drei neue Namen in meiner Kontaktliste. „Amy Heartoline, Nathan Shuck und Melissa Border“, lese ich laut vor. Bei dem ersten Nachnamen habe ich ein Deja-vú. Ich kenne jemanden mit diesem Namen, aber wen… „Amy ist die ältere Schwester von einem Protrainer hier in Kanto“, erklärt Ronya, als sie meinen nachdenklichen Gesichtsausdruck bemerkt. „Vielleicht kennst du ihn. Tim Heartoline ist mit seiner Mutter aus Einall hierher gezogen, als sie sich von ihrem Mann getrennt hat. Ruf Amy auf keinen Fall tagsüber an. Sie ist absolut nachtaktiv und ist um diese Uhrzeit nur wach, wenn sie noch nicht ins Bett gegangen ist.“ Ich erinnere mich an den blonden Trainer, den Alfred auf der PCS interviewt hat. „Und die anderen?“, frage ich. „Irgendwelche Tipps?“ „Nathan steht auf Legenden“, sagt Ronya gähnend und erhebt sich. „Versprich ihm ein bisschen Ruhm und er macht alles, was du willst. Und wenn du Nat hast, ist Melissa kein Problem mehr. Sie ist nie weit von ihm entfernt. Wenn er Einall verlässt, kommt sie mit.“ „Die beiden darf ich aber tagsüber anrufen?“, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Bisher habe ich die Erfahrung gemacht, bei starken Trainern immer nach exzentrischen Eigenschaften Ausschau zu halten. Es würde mich nicht wundern, wenn Nathan oder Melissa bei Vollmond irgendwelche Trainingsrituale durchführen. „Ja, kannst du“, stimmt Ronya zu. „Und wenn du mich jetzt entschuldigst, ich gehe zurück zum Pokécenter, bevor Gerard sich mit jemandem prügelt und ich eine Beerdigung organisieren muss.“ Sie verlässt den kleinen Abstellraum und lässt mich mit meinem S-Com und meinen Gedanken alleine. Wenn ich Ronya richtig verstanden habe, stehen die Chancen gut, die drei Trainer auf unsere Seite zu bringen. Das Problem wird die Distanz sein, die sie überbrücken müssen. Warum können sie nicht in Hoenn oder Sinnoh sein? Ich sende Dark einen kurzen Statusbericht mit Ronyas Bedingung und der Aussicht auf weitere Mitglieder und freue mich nicht unwesentlich, als seine überraschte Antwort zurückkommt. Sicher hat er nicht damit gerechnet, dass ich als Rekruter so erfolgreich sein würde. Immer langsam, Abby, denke ich und mache mich auf die Suche nach Raphael. Erstmal musst du sie überzeugen.   Nachdem ich das gesamte Untergeschoss abgeklappert habe, frage ich mich bei den Angestellten nach ihm durch. Einige Besucher warten im Foyer und schauen mir ärgerlich hinterher, als ich vor ihnen durch einen der Ausgänge in die Safari husche. Ein Ranger startet gerade den Motor seines Jeeps, ein älteres Pärchen auf der Rückbank und rattert davon, während ein anderer Ranger mit einer jungen Trainerin über die Kampf-Verbote in den Arealen diskutiert. Der Himmel ist von Wolken bedeckt und ohne meine Jacke fröstele ich ein wenig, aber es dauert nicht lange, bis ich Raphael entdecke, der hinter Liz auf einem Rihorn den Korridor zwischen den Arealzäunen entlang donnert. Ich verdrücke mich an den Rand des befestigten Weges und schirme meinen Mund gegen die Staubwolke ab, die das Gesteinpokémon bei seiner Ankunft aufwirbelt. Raphael schwingt sich von seinem Rücken, gibt Liz einen schnellen Kuss und kommt dann in meine Richtung. Liz ruft mir ein fröhliches Guten Morgen und Tschüss! zu, bevor sie sich in die Lederschlaufen stemmt, eine verhältnismäßig scharfe Kurve macht und auf ihrem Pokémon zurück in Richtung der Areale galoppiert. „Gut geschlafen?“, erkundigt Raphael sich, während wir zurück in das Safari-Gebäude treten. „Es gibt hier eine kleine Küche für die Angestellten, aber wenn du ein ordentliches Frühstück möchtest, musst du zurück in die Stadt.“ „Ich werde noch ein bisschen überleben“, meine ich und folge ihm an den Tresen und einigen Rangern vorbei, die ihm zunicken oder leise tuscheln. „Am Anfang musste Liz mit ihrer Entlassung drohen, damit sie nicht bei PCN anrufen“, sagt Raphael grinsend und winkt einigen Angestellten. „Nachdem sie alle ein Autogramm hatten und ich schon über eine Woche da war, hat sich die Aufregung langsam gelegt. Es ist wirklich entspannt.“ „Hast du schon eine Ahnung, wo du für die PCS trainieren willst?“, frage ich. Ich weiß schließlich, dass Alfred sich immer einen Spaß daraus macht, Jagd auf seine geliebten Favoriten zu machen. Auch vor Raphaels Abneigung gegen Pressetrubel macht er keinen Halt. „Wahrscheinlich muss ich die Region wechseln. Mal wieder…“ Er seufzt und lehnt sich an die Wand im Flur. Seine Augen sehen allein bei dem Gedanken an den erneuten Stress müder aus. Manchmal frage ich mich, ob es gut war, dass er so früh von Alfred entdeckt wurde. Aber was geschehen ist, kann man nicht rückgängig machen. „Vielleicht kannst du ja nach Sinnoh“, schlage ich vor. „Oder auf die Eilande. Valentin meinte, auf dem Glühweg auf Eiland Eins lässt es sich gut trainieren.“ „Darüber habe ich auch schon nachgedacht“, gesteht Raphael. „Die Eilande sind so abgelegen, wie es in Kanto möglich ist. Und der Glutberg ist einer der besten Trainingsorte für starke Trainer.“ „Wenn du nach solchen Orten suchst, kann ich dir auch den Silberberg und den Felsenherzturm empfehlen“, erwidere ich schnaubend. Raphael lacht. „Bevor ich mich in diese Todeszonen wage, warte ich lieber noch etwas.“ Ich zögere, bevor ich das nächste Thema anschneide, aber es führt kein Weg daran vorbei, also kann ich es auch gleich hinter mich bringen. „Und Richard? Wo will er hin?“ „Oh, Richy…“ Raphael reibt sich unter seiner Brille die Augen und schüttelt ratlos den Kopf. „Ich weiß nicht mehr, was ich mit ihm machen soll. Als ich ihm heute Morgen Frühstück gebracht habe, ist er in dem Zimmer schon die Wände hochgegangen. Ich kann es ihm nicht verübeln, schließlich hat er monatelang in einer Zelle festgesessen, aber wenn er glaubt, ich lasse ihn wieder auf dich los, hat er sich geirrt.“ „Meinst du, ich kann mit ihm reden?“ „Nicht alleine“, sagt Raphael sofort. „Ich komme mit.“ „Dachte ich mir schon“, erwidere ich grinsend und umarme ihn einmal fest. „Also, wo geht´s lang?“   Richards Zimmer ist am anderen Ende des Flures und abgeschlossen. Von drinnen kann ich Schritte hören. Raphael wirft einen letzten Blick zu mir, dann ruft er vorsichtshalber Dario und steckt den Schlüssel ins Schloss. Die Schritte verstummen beim ersten Knarzen der Tür, die Raphael nach innen aufdrückt. Richard steht am anderen Ende des Raumes. Sein Kinn weist einen blauen Bluterguss auf und seine Augen sind rotgerändert. Das karamellbraune Haar sieht aus, als wäre er zahllose Male mit der Hand hindurch gefahren. „Yo“, sagt er müde und schaut von Raphael zu Dario und schließlich zu mir. Seine Augen verengen sich, aber er attackiert mich nicht, sondern lässt sich auf das Bett fallen und starrt auf seine Hände. „Wir hatten ein ausführliches Gespräch heute Morgen“, erklärt Raphael und lässt mich in das Zimmer. Dario und er nehmen zu beiden Seiten von mir Stellung. „Hast du dich beruhigt?“, fragt er Richy. „Ich bin Naturtalent darin, mich in Zellen zu beruhigen, Raph“, sagt Richy durch zusammengebissene Zähne. „Ist quasi mein zweiter Vorname.“ „Du weißt, dass ich dich hier nicht einsperren will“, sagt Raphael. „Aber wenn deine erste Handlung nach deiner Freilassung ist, Abby mit deinen Pokémon anzugreifen, habe ich keine Wahl. Sie war diejenige, die den Vertrag für deine Freilassung ausgehandelt hat, sonst wärst du jetzt immer noch im Gefängnis. Und sie hat dabei viel riskiert. Wir haben das alles durchgekaut, Richy. Muss ich es dir nochmal vorbeten oder entschuldigst du dich?“ „Ich entschuldige mich nicht bei ihr.“ Er funkelt Raphael an, der erschöpft ausatmet und die Arme verschränkt. „Ich kann das den ganzen Tag machen“, droht er. „Bevor du mir versprichst, dass du Abby in Zukunft in Ruhe lässt und dich bei ihr entschuldigst, lasse ich dich nicht raus. Und wenn mich das zu einem Arschloch macht, bitte sehr. Aber ich kann dich sonst nicht guten Gewissens aus den Augen lassen.“ Richard schließt die Augen und beginnt, seinen Kopf gegen die Wand hinter sich fallen zu lassen. Schlag um Schlag um Schlag. Ich beiße mir auf die Lippen, aber als ich zu Raphael hinaufschaue, beobachtet er Richard nur mit ausdrucksloser Miene. Er will das auch nicht, denke ich. Aber er wird nicht nachgeben, nur damit er weiß, dass ich vor ihm in Sicherheit bin. Ich schaue zurück zu Richard, der die Augen immer fester zusammenkneift, einen frustrierten Schrei von sich gibt und die Handballen gegen seine Augen presst. „Lass mich hier raus…“, fleht er. „Wenn ich länger hier bleibe, werde ich verrückt!“ „Es ist okay“, murmele ich. „Er muss sich nicht entschuldigen. Wenn er mich nicht mehr angreift, reicht mir das als Kompromiss.“ Richard lässt die Hände sinken und schaut zu Raphael, der zögert, dann jedoch seufzt und nickt. „Lässt du sie von nun an in Ruhe?“, fragt er. Er wirft einen letzten Blick zu mir, nickt aber ergeben. „Ich greife deine kleine Freundin nicht mehr an. Versprochen.“ „Okay.“ Raphael wirft Richard den Zimmerschlüssel zu und gemeinsam mit Dario wenden wir uns zur Tür. Ich drehe mich noch einmal um. Ich weiß schließlich nicht, wann ich ihn das nächste Mal wiedersehen werde. „Ich bin auf Zachs Seite“, erkläre ich. Er sieht mich skeptisch an, lässt mich aber ausreden. „Wenn ich eine Möglichkeit finde, ihm zu helfen, ihn da raus zu holen, werde ich alles in meiner Macht stehende tun, sie zu ergreifen. Das verspreche ich.“ Richard nickt nur, steht auf und geht ans auf Kipp stehende Fenster. Draußen huscht etwas Weißes zwischen den Blumenbeeten hindurch und verschwindet im angrenzenden Wald. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)