Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 100: Schmerzhafte Wahrheit (Wiedersehen) ------------------------------------------------ Der Sturm erreicht uns, als Louis und ich gerade eingeschlafen sind. Fette, kalte Tropfen platschen mir ins Gesicht und als ich die Augen aufreiße, tost der Wind mit solcher Kraft um meine Ohren, dass der Schlafsack ein Stück zur Seite rollt, bis ich auf meinem Bauch lande. Wütend strampele ich mich frei. „Louis!“, schreie ich, aber er ist meinem Beispiel schon gefolgt und längst dabei, dem Sturm zum Trotz seinen Schlafsack zusammenzurollen. Er nickt in Richtung der Zelte einige Stufen unter uns und ich folge seinem Blick. Der Wind bläst die braunen und blauen Stoffplanen in alle erdenklichen Formen und weiter entfernt entdecke ich durch die graue Regenwand ein Zelt, das halb von der Fahrradbrücke abhebt, bevor es zurückgerissen wird. Panik macht sich bei den Trainern breit, die aus ihren Zelten krabbeln, die Befestigungen verstärken und gegen den kalten Regen fluchen. Ich hebe den Kopf und beobachte die dunkelgraue Wolkendecke, die den Nachthimmel verdeckt. Zumindest sieht es nicht nach einem ausgewachsenen Gewitter aus. „Abby!“, erschallt Louis´ Stimme neben mir und ich wende den Blick zurück zu den Zelten. Ronya steckt sichtlich genervt den Kopf aus ihrem Zelteingang hervor, wirft einen Blick auf uns und winkt uns zu sich. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen und so stemmen wir uns gegen den Wind, stolpern die Stufen hinunter und klettern neben Ronya ins Zelt. Mit drei Leuten ist es eindeutig zu eng, aber unser gemeinsames Gewicht hält das Zelt vorläufig am Boden. „Bleibt hier“, murmelt Ronya und zückt einen Pokéball. „Ich schlafe bei Gerard.“ „B-bist du sicher, dass wir nicht wegfliegen?“, bringt Louis mit bibbernder Stimme hervor und wickelt sich gleichzeitig enger in seine Jacke. Nur wenige Minuten haben uns bis auf die Unterwäsche durchgeweicht. Ich niese. Ronya wedelt ungeduldig mit ihrer freien Hand, rafft ihren Schlafsack an sich und krabbelt nach draußen. „Ich kümmere mich darum, Blondchen“, sagt sie noch, dann verschwindet sie im Sturm. Rotes Licht leuchtet hinter der Zeltplane und einige Momente später erklingt ein metallisches Knirschen, gefolgt von einem tiefen Seufzer und lautem Krachen. Dann wird es ruhiger. Das Plätschern des Regens und der sausende Wind sind noch gut zu hören, aber es fühlt sich nicht mehr so an, als würden wir jeden Moment samt Zelt ins Meer gepustet werden. Einige Sekunden sitzen wir sprachlos. Schließlich jedoch drehe ich den Kopf zu Louis. Er starrt weiterhin schockiert auf den Zelteingang. „Hat sie mich gerade–“ „–Blondchen genannt?“, frage ich und unterdrücke ein breites Grinsen, bevor ich aufgebe und lauthals loslache.   Der nächste Morgen kündigt sich durch lautes Geschrei unserer Zeltnachbarn an. „Es ist nicht meine Schuld, dass ich einen steifen Nacken habe!“, erklingt Gerards wütende Stimme, laut und deutlich, so als säße er neben uns. „Ich kann nichts dafür, dass du ein Riese bist, der nicht in ein normales Zelt passt.“ „Das Zelt hätte gereicht, wenn du dich nicht dazu gequetscht hättest!“ „Hätte ich die beiden draußen verrecken lassen sollen?“ Ich werfe Louis einen kurzen Blick zu, den er mit einem Augenrollen erwidert. In aller Eile packen wir unsere Schlafsäcke zurück in unsere Rucksäcke, während von nebenan das Wortgefecht von Ronya und Gerard andauert, die sich nun ohne Sinn und Verstand Beleidigungen an den Kopf werfen, gefolgt von Gegenständen, wenn ich die polternden Geräusche richtig deute. Wir ducken uns aus dem Zelteingang heraus – und finden uns einem Stahlbrocken gegenüber. „Ist das… ein Pokémon?“, frage ich und klopfe mit den Knöcheln auf die silbrig glänzende Oberfläche. Polternd setzt sich der Stahl in Bewegung und entrollt sich langsam aber sicher, bis der gewaltige, flache Kopf eines Stahlos sich in unsere Richtung dreht und uns gutmütig anbrüllt. Im nächsten Moment taucht Ronya aus Gerards Zelt auf, reibt sich eine Beule am Kopf und tätschelt die Stahlboa. „Danke, Wyatt“, sagt sie, ruft ihr Pokémon zurück und gibt damit den Blick auf den Fahrradweg frei. Die schrägstehende Morgensonne reflektiert in den Wasserpfützen zu unseren Füßen und ich kneife die Augen zusammen, um nicht geblendet zu werden. Louis kehrt in der Zwischenzeit mit unseren Fahrrädern zurück, die wir am Abend glücklicherweise am Geländer befestigt haben. Von den frustrierten Rufen einiger Trainer weiter unten hatten nicht alle so viel Geistesgegenwart. Gerard grummelt vor sich hin und beginnt damit, sein Zelt abzubauen. Ronya folgt seinem Beispiel und nur eine Viertelstunde später stehen wir in den Startlöchern für unsere Abfahrt nach Fuchsania City. „Auf geht´s!“, rufe ich und radele los.   Der Fahrradweg ist von dem nächtlichen Regenschauer noch etwas glitschig und erschwert unsere Abfahrt, aber mit der aufsteigenden Sonne bessern sich die Verhältnisse und schon bald rollen wir fast ohne Beinarbeit die lange Straße entlang, die sich stetig Route 18 nähert. Das Geplänkel zwischen Ronya und Gerard beginnt immer wieder von neuem, nur um in regelmäßigen Abständen zu gelassenes Schweigen oder gutmütigen Witzen zu verebben. Gemeinsam mit Louis fahre ich an der Spitze unserer kleinen Gruppierung und unterhalte mich mit ihm über unsere Pläne in Fuchsania City. Die Fahrräder sind schließlich für die nächsten zwei Wochen gebucht, und wenn ich schon mit Darks Geld bezahlt habe, will ich die Zeit wenigstens voll ausnutzen. "Urlaub", sagt Louis schlicht und grinst mich mit seiner Zahnlücke breit von der Seite her an. "Du hast in den letzten Wochen, ach quatsch, Monaten, genug durchgemacht. Ich sage, wir entspannen und erholen uns. Deine Arme brauchen genauso viel Ruhe wie deine Pokémon, wenn du mich fragst." "Du hast ja Recht", murmele ich und denke mit schlechtem Gewissen an Hunter, der sich von seinen Verbrennungen erholt und Sku, die trotz verheilter Rippe noch nicht ganz fit ist. Und natürlich ist mein Handgelenk noch immer eingegipst. Nur noch etwas mehr als eine Woche, aber solange muss ich es erstmal schaffen, mich aus Schwierigkeiten rauszuhalten. Nach unserer ersten Frühstückspause am Seitenstreifen, bei der Ronya uns mit Müsliriegeln und ein paar übrig gebliebenen Sandwiches überrascht, rufe ich Gott, der es sich sogleich in meinem Fahrradkorb gemütlich macht. Am frühen Nachmittag erreichen wir schließlich das Ende des Fahrradwegs. Die stählerne Überführung dockt an einer niedrig liegenden Küste an, die in eine seichte Grasfläche übergeht, nur durchzogen von lose angelegten Fahrradwegen. Ab hier geht es wieder bergauf, aber nur schwach und nach dem langen Rollen tut uns die Beinarbeit ganz gut. Route 18 schlängelt sich in Richtung Fuchsania City entlang und ist, bis auf zwei Gebäude völlig unbebaut. Das eine entpuppt sich als Partnerladen des Fahrradverleihs kurz hinter Prismania City, vor dessen Eingangstür eine herrische Dame in Motorradklamotten mit zwei jungen Bikern über den Zustand ihrer Reifen diskutiert. Wir fahren jedoch schnell vorbei und überhaupt habe ich kein Bedürfnis danach, mich in dieses Gespräch einzumischen. Das zweite entdecken wir erst, als wir uns über eine ungewöhnlich steil ansteigende Hügelkuppe quälen und ich schließlich von dem Rad absteigen muss, um bei dem Hin- und Herschlenkern meines Vorderrades nicht geradewegs umzukippen. Louis wirft mir von weiter vorne einen beunruhigten Blick zu und nickt unauffällig in Richtung meines linken Armes. Ich lächle grimmig und schiebe das letzte Stück, bis ich zu Ronya und Gerard aufhole. Oben angekommen stockt mir der Atem. "Was… ist das?", frage ich und betrachte mit einem Schaudern das Gebäude, an dessen Dach eine rote Flagge mit schwarzem Motorrad darauf befestigt ist, die vom Wind um ihren Mast gepeitscht wird. "Ich dachte, Chris und Jayden patrouillieren hier", murmelt Louis. Gemeinsam beobachten wir die Bewegungen hinter den Glasfenstern und die zahllosen Motorräder und Bikes, die vor dem Eingang geparkt sind und das schrägstehende Sonnenlicht gleißend gelb reflektieren. "Tun sie auch", erwidere ich. "Jayden hat von einer Ansammlung der Biker gesprochen, aber sie haben keinen Grund zum Eingreifen gesehen." "Aber sie sind nur den Fahrradweg abgeflogen, schätze ich", fährt Louis leise fort. "Das hier hätten sie sicher an Dark weitergeleitet." Ronya hebt eine Hand und schirmt ihre Augen ab. Ihr brauner Mohawk biegt sich sanft im Wind. "Was ist das Problem?", fragt sie und schaut zu uns. "Noch nie einen Bikertreffpunkt gesehen?" "Doch", sage ich. "Damals haben sie mich und meine Freunde bewusstlos geschlagen, entführt und wollten uns umbringen." "Hm…" Sie schaut zurück zu dem Haus. Es ist nicht besonders groß, aber sicher groß genug, um mehreren Dutzend Bikern Platz zu bieten. "Warum ist Dark an den Bikern interessiert?" Ich zögere. Ronya gehört zu den ordenlosen Trainern und ich will sie unbedingt für unsere Sache gewinnen, aber noch ist sie nicht Teil von Team Shadow. Ihr all unsere Quellen und Verdächte darzulegen, gefällt mir nicht. Dann wiederum ist es die perfekte Gelegenheit, Ronya zu zeigen, wofür wir stehen. Louis nimmt mir die Entscheidung ab. "Die Biker arbeiten zusammen mit Team Rocket", erklärt er. Ronya runzelt die Stirn, lässt die Augen jedoch nicht von dem Treffpunkt. "Das könnt ihr unmöglich wissen", mischt Gerard sich ein, während er sich an Ronya vorbeischultert, ihren strafenden Blick ignoriert und wieder auf sein Rad steigt. "Los jetzt. Ich will vor Sonnenuntergang wieder in dieser Scheißstadt ankommen, nachdem die letzten Tage anscheinend völlig umsonst waren." "Schon kapiert, Meckerliese", erwidert Ronya neckisch und lacht laut, als Gerards Beschimpfungen ein weiteres Mal auf sie niederregnen. Die beiden treten in die Pedale und schießen an uns vorbei den Hügel hinunter und auf schnellstem Wege nach Fuchsania. Ich schaue ihnen nachdenklich hinterher. "Alles okay?", fragt Louis. Ich nicke, aber sein zweifelnder Gesichtsausdruck sagt mir, dass er mir das nicht abkauft. "Nur ein paar miese Erinnerungen", erkläre ich schließlich und steige selbst wieder auf mein Fahrrad. Gott, der schon vor einiger Zeit eingeschlafen ist, grummelt leise in seinem Fahrradkorb und rollt sich enger zusammen.   Zu meiner Erleichterung begegnen wir danach weder einer großen Anzahl Bikern, noch müssen wir uns über weitere Hügel kämpfen und nur etwa eine Stunde später erreichen wir endlich das Durchgangshäuschen, dessen Wärter uns samt Fahrrädern durchwinkt. Ronya und Gerard nehmen automatisch Kurs auf das Pokécenter. Ich schaue zu Louis. Louis schaut zu mir. "Bitte?", fragt er und klimpert mit den Wimpern. Seufzend nicke ich und tröste mich mit dem Gedanken, dass Dark wirklich mehr Geld hat, als er braucht und Louis sich eindeutig sehr darüber freut, in einem Bett schlafen zu können. Ich fasse innerlich den Entschluss, Dark in Zukunft zurückzuzahlen, aber selbst mir kommt das sehr unrealistisch vor. Als wir etwas später unsere Fahrräder vor dem Pokécenter anketten und eintreten, sind Ronya und Gerard längst wieder in ein kleines Wortgefecht verwickelt, bei dem es wohl um das bevorzugte Stockwerk für ihre Einzelzimmer geht. Schwester Joy beendet das Gespräch mit der Aussage, dass nur im obersten Stockwerk Zimmer frei sind und erstickt die neuen Argumente damit im Keim. Während wir uns hinter den beiden anstellen, beobachte ich aus den Augenwinkeln die Trainer, die vereinzelt an den Tischen sitzen und uns mit offensichtlicher Neugier begutachten. Obwohl Janine, die Arenaleiterin von Fuchsania City, die fünfte in Kanto und damit auf gleichem Stand wie Jasmin oder Hartwig ist, scheint es hier keinen Trainerstau zu geben. Macht Sinn, denke ich, immerhin ist Saffronia von anderen Städten umgeben und besitzt genug Platz für alle Trainer, die sich gegen Sabrina die Zähne ausbeißen. Als wir in unserem Doppelzimmer ankommen, gönne ich mir eine Dusche und überlasse danach Louis das Bad. Ich ziehe mich an, mache es mir auf dem knarzenden Bett bequem und greife nach meinem Handy und dem S-Com. Einige neue Statusberichte und Nachrichten erwarten mich dort, unter anderem von Dark, der sich nach meinem Rekrutierungsfortschritt erkundigt und Jayden, der sicher darüber beschwert, für die langwierigen Kontrollflüge eindeutig zu wenige Rockets entlarven zu können. Ich grinse und mache mich an meinen eigenen Nachrichten zu schaffen.   Von: Abbygail_Hampton_04 An: Dark_01 »Habe Ronya Olith und Gerard Laval auf dem Fahrradweg getroffen. »Bin mit ihnen in Fuchsania City. »Ronya hat ein Interesse daran, gegen dich zu kämpfen. »Bis du Zeit hast, kann ich sie hinhalten. »Was Gerard vorhat, weiß ich nicht, aber ich gebe mein Bestes.   Von: Abbygail_Hampton_04 An: Chris_Rowland_02; Jayden_Williams_03 »Bikertreffpunkt auf Route 18 gefunden, Richtung Fuchsania City. »Derzeit keine verdächtigen Aktivitäten, aber haltet die Augen offen.   "Wann kriege ich eigentlich so ein Ding?", fragt Louis, der in dem Moment aus dem Bad kommt und mich halb zu Tode erschreckt. "Wenn du Team Shadow beitrittst", meine ich, nachdem ich mich gefangen habe und lege den S-Com beiseite. Er verschränkt die Arme. "Die Maske habe ich doch schon. Und ein Zimmer. Und Dark kenne ich auch. Ich gehöre quasi zur Familie." Schmunzelnd schnappe ich mein Handy. "Dann kannst du ja den Maskottchenposten übernehmen", sage ich. "Der ist vor kurzem freigeworden." Während ich mich an meiner SMS zu schaffen mache, schiele ich hin und wieder zu Louis, der sich umzieht und dann neben mir aufs Bett fallen lässt. "Wem schreibst du?", fragt er und reckt den Hals, um an meinen Händen vorbei auf das Display gucken zu können, gerade rechtzeitig, um die Nachricht zu lesen, bevor ich auf Senden drücke. Verwirrt schaut er zu mir. "Du hast ein Date?" "Nicht ich", erwidere ich lachend und erhalte in dem Moment die Zusage per Handy. "Wir."   Der Weg zur Safari-Zone führt einmal quer durch die ganze Stadt. Dieses Mal machen wir uns zu Fuß auf den Weg und genießen den Anblick des fuchsiaroten Kopfsteinpflasters und der gleichfarbigen Ziegeldächer, denen die Stadt ihren Namen verdankt. Ronya hat sich für den Abend entschlossen, mit uns zusammen Raphael, Liz und Rose zu besuchen, hauptsächlich, weil sie Liz und Rose von ihrem eigenen Besuch in positiver Erinnerung hat und sich allem Anschein nach mit den beiden über eine private Angelegenheit unterhalten möchte. Worum es sich dabei handelt, frage ich nicht, aber ich bezweifle, dass es allzu privat sein kann, wenn sie gleich zwei Fremde einweiht. Abgesehen davon habe ich meine eigenen Gründe, der Begegnung entgegenzufiebern, nicht alle von ihnen gut. Meine Hand geistert über Gotts Finsterball. Wenn mir jemand mit seinen Aggressionen helfen kann, dann Raphael, immerhin hatte er mit seinem Luxtra Dario ähnliche Probleme und wenn Roses Einschätzung von Liz stimmt, kennt sie sich ebenfalls gut mit Pokémon aus. Plötzlich blendet mich von der Seite rotes Licht und ich rufe Gott, bevor ich überhaupt richtig sehe, was passiert ist. Er baut sich fauchend neben mir auf, fährt sein Feuer jedoch sofort wieder hinunter und legt den Kopf schief. Ich schaue zu dem Pokémon, das sich neben uns materialisiert hat und entdeckte… Winry. Louis schaut mich erschrocken an, beruhigt sich aber, als er meinen entschuldigenden Blick sieht und tätschelt Winrys Flanke. Sie zittert am ganzen Körper und wickelt sich augenblicklich um Louis´ Taille und Schultern. Ihr linkes Vorderbein bewegt sie nur spärlich. "Ich dachte, sie würde Rose gerne wiedersehen", erklärt Louis, nachdem wir den Schock des Moments überwunden haben und uns wieder in Bewegung setzen. Ronya beobachtet uns sehr interessiert. "Sie hat sich damals so gut um sie gekümmert." Ich nicke und schiele hinunter zu Gott, der die Umgebung misstrauisch mustert. Außer Winry, die er aufgrund ihrer Verletzung nicht als Gefahr eingestuft hat, kennt und respektiert er unser Grüppchen und da inzwischen nur noch Straßenlaternen für Licht auf den schmalen Straßen sorgen, begegnen wir so gut wie keinem anderen Passanten. "Woher kommt ihre Verletzung?", fragt Ronya nach einer längeren Gesprächspause. Louis dreht den Kopf in ihre Richtung und streichelt beruhigend Winrys Kopf. "Sie hat eine Kugel für mich abgefangen", erklärt er sachlich. "Letztes Jahr, im Dezember." "Kämpfst du noch mit ihr?" Er schüttelt den Kopf und ich schaue zur Seite. "Nicht mehr. Ihre Agilität ist eingeschränkt und sie ist mir wichtiger als meine Orden." Nachdenklich kratzt Ronya sich am Kopf. "Ich bin die letzte, die dich zum Ordensammeln animieren will, aber du könntest lernen, mit ihrer Verletzung umzugehen. Es gibt Wege, körperliche Einschränkungen auszugleichen." "Der Vorfall hat sie traumatisiert", erkläre ich. "Sie hält den psychischen Druck nicht mehr aus." Gott schnaubt und schaut zur Seite. Ronya schaut zu ihm und ein schmales Lächeln stiehlt sich auf ihr Gesicht, so als verstünde sie, was er sagen will und es irritiert mich mehr als je zuvor, dass sie einen besseren Draht zu Gott zu haben scheint, als ich. "Was?", frage ich daher gereizt. "Er würde sich davon nicht abhalten lassen", sagt sie lediglich und nickt dabei in Gotts Richtung. Stolz spuckt er eine kleine Flamme auf den Boden. "Und woher willst du das wissen?", frage ich. "Er ist mein Pokémon. Du kennst ihn erst seit gestern." Ronya hebt überrascht die Augenbrauen. "Du musst nicht eifersüchtig auf mich sein. Er will dich beschützen, das ist sein größter Antrieb." Ich schaue zu Gott hinunter, der an meiner Seite entlang trabt. Es ist mir bisher nicht aufgefallen, aber seit seinem Kampf gegen Venuflibis ist er weiter gewachsen. Das Feuer auf seinem Rücken scheint auch heißer als zuvor. Er muss seiner Entwicklung verdammt nahe sein. "Was meinst du damit, dass ich ihr Trauma überwinden könnte?", unterbricht Louis unser Gespräch. "Du hast sie nicht gesehen, wenn sie kämpft. Sie gerät in Panik, sie bewegt sich nicht mehr und die Schmerzen ihrer Verletzung kommen zurück. Ich habe es versucht, Ronya, aber das hat die Sache nur schlimmer gemacht. Ich zwinge sie zu nichts mehr." Ronya zuckt die Schultern. "Dein Pokémon, deine Entscheidung. Ich wollte dir nur sagen, dass die Möglichkeit besteht, nichts weiter. Wenn sie dir die Arbeit nicht wert ist, ist das nicht mein Problem." Ich ziehe scharf die Luft ein und Louis bleibt abrupt stehen. "Sag das nochmal", flüstert er und ich begreife, dass ich ihn noch nie wirklich wütend gesehen habe. Bis jetzt. "Es ist deine Entscheidung, ob du Winry in diesem Zustand lässt oder ob du den schweren Weg wählst und sie da rausholst", sagt Ronya und dreht sich zu ihm um. "Sie ist in einem Albtraum gefangen. Jeder Angriff erinnert sie an den Schuss, jede feindliche Bewegung an den letzten Kampf, den sie ausgetragen hat. Und du stehst neben ihr und lässt sie dort vor Angst verrotten, weil du sie nicht aufwecken willst. Das ist feige. Sie ist mehr Wille wert als das." "Okay, Auszeit", rufe ich, als Louis einen Schritt auf sie zumacht, eine Faust zum Schlag zurückgezogen, Tränen der Frustration in seinen Augen. "Was soll ich denn machen?!", schreit er Ronya an mir vorbei an, während ich mich bemühe, eine Mauer zwischen den beiden zu bilden. "Ich habe es doch versucht! Sie kann nicht mehr kämpfen, sie hat es versucht und es geht nicht!" "Wie lange hast du es versucht?", fragt sie lediglich und wendet sich ab. "Du sagtest, sie hat die Verletzung erst seit ein paar Monaten. Wie lange bemühst du dich schon um ihre Rehabilitation?" "Ich-" "Abby!" Bei dem Klang der mir sehr bekannten Stimme drehe ich den Kopf und entdeckte Raphael, der uns von der Safari-Zone entgegen gekommen sein muss und jetzt auf uns zugejoggt kommt. Als er sich nähert, wird er langsamer. Sein Blick bleibt kurz an Louis feuchten Augen hängen, die verwirrt und wütend zwischen Ronya und ihm hin und her huschen. „Schlechtes Timing?“, fragt er und wirft mir einen fragenden Blick zu. „Nein, ganz und gar nicht“, sage ich und schaue Ronya giftig an. „Du kommst gerade richtig.“ Louis macht sich von mir los und wendet sich ab, um seine Tränen wegzuwischen. Raphael schaut zu Ronya, zieht misstrauisch die Augenbrauen zusammen und zurrt mit einer Hand seinen geliebten rostbraunen Schal zu Recht, zumindest, bis ich ihm um den Hals falle und mich von ihm in die Luft heben und einmal im Kreis wirbeln lasse. „Ich habe dich vermisst!“, beschuldige ich ihn lachend. Es stimmt. Außer über das Telefon hatte ich seit unsrem kleinen Abenteuer auf dem Indigo Plateau keinen Kontakt mehr mit ihm, auch wenn ich vor lauter Team Rocket und Team Shadow kaum Zeit für Sehnsucht nach meinem besten Freund hatte. Jetzt überkommt mich das Gefühl jedoch beinahe gewaltsam und ich drücke ihn noch etwas fester an mich, bevor ich mich von ihm löse und Louis zu uns winke. Er wischt sich ein letztes Mal über die Augen, zwingt sich aber sofort zu einem breiten Lächeln. „Hey, Raphael“, begrüßt er ihn. Raphael schüttelt seine Hand und gratuliert ihm zwinkernd zu unserer Beziehung. Louis wird rot, lacht jedoch schon bald mit ihm und als das Gespräch in Anekdoten über meine beiden verletzten Arme umschwenkt, entferne ich mich unauffällig und stelle mich neben Ronya. „Ein Freund von dir?“, fragt sie. „Wenn du Louis noch einmal so angreifst, kannst du deinen Kampf gegen Dark vergessen“, zische ich sie wütend an. Überrascht hebt sie die Augenbrauen. „Ich habe ihn nicht angegriffen. Ich habe ihm lediglich meine Meinung gesagt.“ „Bringt deine Meinung häufig andere zum Weinen?“, erwidere ich. „Dann würde ich das mit dem ehrlich sein nämlich sein lassen. Was bildest du dir überhaupt ein, ihn wegen Winry ein schlechtes Gewissen zu machen? Du bist ordenlos und eine unglaublich starke Trainerin. Als wenn du irgendeine Ahnung hast, wie er sich fühlt, wie er und Winry unter dieser Sache gelitten haben…“ Ronyas Augenlid zuckt, aber bevor sie sich rechtfertigen kann, winkt Raphael mich zu sich und ich folge seinem Signal mehr als dankbar. Gott trottet an meiner Seite entlang, wirft aber undefinierbare Blicke zu Ronya zurück. Wenn ich ihm befehlen würde, sie anzugreifen, würde er es tun? Der Gedanke erschreckt mich für einen Moment. Verurteile ich Gott wegen seiner Aggressivität, erwarte aber gleichzeitig, dass er sie zeigt, wann immer es in meinem Interesse ist? Nein, denke ich automatisch und lasse mir von Raphael einen Arm um die Schulter legen, bevor wir uns auf den Weg Richtung Safari-Zone machen. Ich will nur nicht, dass er sie mir vorzieht. Das ist alles. Ich nutze die Zeit, in der ich mit Raphael und Louis alleine bin, um ihm die gesamte Geschichte der Übergabe und allem davor zu berichten. Raphael nickt nachdenklich, als ich zum Ende komme und deutet dann unauffällig zurück in Richtung Ronya. „Ist sie eine von Team Shadow?“ „Nein“, sage ich, ohne zurückzuschauen. „Vorerst nicht.“ Es dauert nicht lange, bevor wir die Parkanlagen erreichen, die den Eingang der Safari-Zone zu beiden Seiten säumen und voller Teiche und Blumenbeete sind, geschützt durch getrimmte Hecken und weiß gestrichene Zäune. „Habt ihr schon Unterkünfte?“, fragt Raphael, als wir uns dem Eingang nähern. „Liz hat bestimmt nichts dagegen, euch ein paar Nächte bei ihrem Großvater unterzubringen, aber im Pokécenter ist es auf Dauer bequemer.“ „Schon alles geregelt“, erkläre ich, hake mich dann bei ihm unter und senke meine Stimme. „Und wo schläfst du? Im Pokécenter warst du jedenfalls nicht eingecheckt.“ Er grinst schelmisch und schielt zu mir herunter. „Mag sein, dass ich von Liz´ Übernachtungsangebot das ein oder andere Mal Gebrauch gemacht habe.“ „Du bist bei ihr eingezogen, du Aufreißer“, lache ich und pikse ihn in die Seite. Er streckt mir die Zunge heraus. Dann wird sein Gesichtsausdruck plötzlich ernst und er hebt ruckartig den Kopf. Louis und ich folgen seinem Beispiel, aber außer ein paar graublauen Wolken kann ich am Himmel nichts ausmachen. „Ein Pokémon“, erklingt Ronyas Stimme hinter uns. Ich drehe mich misstrauisch zu ihr um. Ihre Augen sind zusammengekniffen, ihr Kopf in den Nacken gelegt. Wieder folge ich ihrem Blick und dieses Mal erkenne ich inmitten der Wolken einen helleren Fleck. Mein Herz macht einen Satz. Ist es Zach gelungen, aus dem Gefängnis zu flüchten? Aber dann wird der Umriss klarer und ich erinnere mich an einen ähnlichen Sturzflug, den ich schon auf dem Indigo Plateau miterlebt habe. Warum kann nicht einmal alles wie geplant laufen? „Hat Richard dir gesagt, dass er dich besucht?“, frage ich niedergeschlagen. Raphael schüttelt den Kopf. „Er hat heute Morgen angerufen, weil sie ihn rausgelassen haben, aber er sagte, er wolle erst noch etwas regeln, bevor er mich zum Training abholt. Ich dachte nicht, dass er schon heute herkommen wollte.“ „Er muss dich ausfindig gemacht haben“, murmelt Louis, ruft vorsichtshalber Winry zurück und beobachtet anschließend gemeinsam mit dem Rest von uns, wie die Silhouette von Richys Togekiss an Kontur gewinnt und in steilem Sinkflug auf uns herabrast. Ich springe zur Seite, gerade rechtzeitig, um nicht von Togekiss zu Boden gerissen zu werden, als es abrupt auf den Pflastersteinen zum Stillstand kommt und ein lautes Gurren von sich gibt. Richard springt vom Rücken seines Pokémon, entdeckt mich einige Meter entfernt und fletscht regelrecht die Zähne. „Du Aas!“, brüllt er und reißt sich von Raphael los, der nach seinem Handgelenk packt, kaum dass er seinen wutverzerrten Gesichtsausdruck entdeckt. „Du hast alles ruiniert! ALLES!“ Ich hebe meine Hände, entschuldigend und mache einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu. „Es tut mir so unglaublich leid“, sage ich und zwinge all meine Schuldgefühle in meine Stimme und meinen Blick. „Ich habe alles getan, um Zach zu decken, aber ich wusste nicht, dass er dort sein würde. Sie haben ihn ohnehin verdächtigt, seine Tarnung wäre so oder so aufgeflogen und-“ „Ist mir so scheißegal, ob du davon wusstest oder nicht!“, erwidert Richard hitzig. „Wenn du bei der Championship nicht rumgeschnüffelt hättest, wenn du ihm nicht nachspioniert hättest, wär diese ganze Scheiße nicht passiert, also spar dir deine verfickten Ausreden! Toga, Luftschnitt!“ Einen Sekundenbruchteil bin ich sprachlos, dann reißt Louis mich schon zu Boden, keinen Moment zu früh, denn Togekiss beschwört mit seinen ausgebreiteten Flügeln einen schneidenden Wind hervor, der über unsere Köpfe hinwegfegt. „Richy, krieg dich wieder ein!“, ertönt Raphaels fassungslose Stimme, bevor er sich auf ihn stürzt und ein lautstarkes Gerangel zwischen den beiden Favoriten beginnt. Togekiss holt inzwischen zu einem weiteren Luftschnitt aus und von meiner Position auf dem Steinboden meine ich sogar, den Wind sehen zu können, der sich in turbulenten Schlieren um das Pokémon windet und auf uns zuschießt. Gott springt dazwischen und fängt die Attacke mit einem verzweifelten Fauchen ab. Die Luftattacke reißt ihn von seinen Füßen und katapultiert ihn über unsere Köpfe hinweg, bis er gegen einen Laternenmast kracht und bewusstlos zu Boden geht. Zischend komme ich auf die Füße, Louis dicht hinter mir. Raphael hat Richard inzwischen zu Boden gerungen, wird aber im nächsten Moment auf den Rücken gerollt und von Richard festgehalten. Togekiss gurrt und breitet ein drittes Mal die Schwingen aus. Hätte Gott die Attacke nicht für uns abfangen müssen, hätten wir bestimmt eine Chance gehabt, aber der Volltreffer hat genügt, ihn außer Gefecht zu setzen, Sku ist noch verletzt, Priss ist keine Kämpferin und Jayjay ist trotz Typenvorteil nicht auf dem nötigen Level, um mit Richards Pokémon fertig zu werden. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Louis nach seinen eigenen Pokébällen greift, aber zu Recht zögert. Er hat erst Recht keine Chance. Ronya pfeift einmal schrill und Togekiss unterbricht seine Attacke, um den Kopf ruckartig in ihre Richtung zu schwenken. In der Hand hält sie wieder ihren Pokédex, der nun auf Richards Pokémon gerichtet ist. „Togekiss – das Jubelierer-Pokémon“, erschallt es aus dem kleinen Gerät. „Typ Normal/Flug. Menschen, die unnötigen Streit vermeiden und sich gegenseitig respektieren, ist es wohlgesonnen. Level 53. Fähigkeit: Edelmut.“ Ronya grinst. „Da hast du dir wohl den falschen Trainer ausgesucht“, meint sie schlicht und nickt in Richtung Richard, der weiterhin mit Raphael rangelt, während der versucht, an seine Pokébälle zu kommen. Togekiss fiept traurig, schüttelt dann aber sein weißes Gefieder und spreizt die Flügel zum Angriff. Ronya tritt vor uns und wirft Louis einen vielsagenden Blick zu. „Wenn ihr erlaubt“, sagt sie und greift nach einem ihrer Pokébälle. „Ich möchte ein paar Missverständnisse beseitigen. Ich weiß genau, was du und Winry durchgemacht habt.“ Rotes Licht erfüllt die Nacht und Togekiss´ neuer Gegner, ein Folipurba, materialisiert sich zu Ronyas Füßen. Seine langen, grünen Ohren lehnen sich aufmerksam nach vorne, seine Vorderpfoten fahren aufgeregt die Krallen ein und aus. Schweif und Hinterbeine liegen seitlich vom restlichen Körper und wirken völlig entspannt. Ich brauche einige Momente, bevor ich die unnatürliche Unbeweglichkeit des gesamten Hinterleibs mit Ronyas Worten in Verbindung bringe. Mir wird übel. Ronyas Starter ist von den Hinterbeinen an gelähmt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)