Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 99: Kampf um Dominanz (Konfrontation) --------------------------------------------- Nach einem letzten Gesundheitscheck im Pokécenter, bei dem Sku als reisefähig erklärt und der Verband an meinem Arm gewechselt wird, machen Louis und ich uns gegen Mittag des 3. März auf den Weg in Richtung Route 16, die westlich von Prismania abgeht und später zu dem Radweg auf Route 17 führt, der die Meerenge zwischen Prismania und Fuchsania City überbrückt. Natürlich bedeutet das auch, dass Louis und ich uns schon bald in dem kleinen Fahrradverleih wiederfinden, der sich dort vor einigen Jahren etabliert hat. „Haben sie kein billigeres Modell?“, frage ich zum dritten Mal und betrachte das zerkratzte Fahrrad, das der Verleiher mir nach meinen ersten beiden Bitten vor die Nase gestellt hat. Er schnauft und nickt in die hinterste Ecke seines Schuppens, in der ich zwei sehr klapprige Exemplare entdecke. Ich kneife die Augen zusammen. Gut, der Lack ist abgeblättert und gibt den Blick auf starken Rostbefall frei und die Reifen sehen auch etwas abgenutzt aus, aber… „Wir nehmen die hier, danke sehr“, kommt Louis mir dazwischen. Der Verleiher, dessen sonnengegerbte Haut ihm in tiefen Furchen halb vom Gesicht zu fallen scheint, schnauft nur und kehrt zur Kasse zurück, um uns dort die Rechnung auszustellen. Ich werfe Louis einen missbilligenden Blick zu, doch der kommentiert meinen Einwand lediglich mit einer erhobenen Augenbraue. „Hast du dir die Schrotthaufen mal angesehen?“, fragt er ungläubig. „Die brechen doch zusammen, bevor wir aus der Tür sind. Ich will lebendig in Fuchsania ankommen, auch wenn das nicht zu deinen höchsten Prioritäten gehört.“ „Sie kosten aber weniger“, murmele ich und zucke zusammen, als der Verleiher uns den Preis von insgesamt 11.200 PD für unsere beantragten zwei Wochen zuruft. „Und wenn ich den Preis unter 4.000 PD pro Rad handeln kann, reicht mein Geld aus Saffronia sogar noch.“ „Du bist aber nicht darauf angewiesen, es selbst bezahlen zu müssen“, entgegnet Louis unwirsch und wedelt mit dem Stück Papier in seiner Hand herum, auf dem Dark uns einen Check für alle anfallenden Transportationskosten ausgestellt hat. „Wir könnten uns die teuersten Räder hier im Laden ausleihen und es wäre egal.“ „Ich mag es aber nicht, anderen Leuten auf der Tasche zu liegen“, sage ich wütend und ignoriere den genervten Blick, den sowohl Louis als auch der Verleiher mir zuwerfen. „Abby“, sagt Louis und legt ernst seine Hände auf meine Schultern. „Das ist alles sehr nobel und normalerweise würde ich dich für so viel Selbstständigkeit loben, aber du redest totalen Unsinn. Dark – und alle anderen Shadows, wenn ich das richtig mitbekommen habe – schwimmen in Geld. Wenn du mich fragst, sollten sie dankbar sein, dass du ihr Geld für sinnvolle Zwecke verwendest und es nicht auf ihrem Konto verrottet.“ Ich verziehe das Gesicht. Ich hätte ihm gerne ein schlagfertiges Argument an den Kopf geworfen, aber leider weiß ich seit meinem Aufenthalt in Teak City aus erster Hand, wie reich Chris und vermutlich auch die anderen sind. Louis hat Recht. „Und außerdem“, fährt er unbeirrt fort, „bist du auf einer offiziellen Mission. Dark hat dich persönlich nach Fuchsania geschickt, also ist er es dir schuldig, zumindest die Reisekosten zu bezahlen, wenn du schon kein Gehalt bekommst. Das ist im Übrigen der nächste Punkt, den wir ansprechen sollten. Dein Job bei Team Shadow–“ „–ist  kein Job, sondern eine Mitgliedschaft“, betone ich und entziehe mich seinem Griff. „Aber ich werde Dark die Kosten übernehmen lassen“, lenke ich ein, als Louis den Mund für einen erneuten Protest öffnet. Stattdessen grinst er überheblich und gibt mir einen schnellen Kuss auf den Mund. „Du spielst unfair“, beschwere ich mich, mache ein Schritt auf ihn zu und streiche mit meiner Hand über seine Wange. Louis´ Gesicht beginnt, vor Freude zu glühen. „Ehem.“ Erschrocken springen wir auseinander und schauen zu dem Verleiher, der mit der Rechnung in den Händen direkt hinter uns steht. „Wollt ihr Kinder jetzt die Fahrräder oder nicht?“   Einige Minuten später radeln wir fröhlich den Hang hinab, der zu unserer rechten wieder einmal von erdrückenden Felsmassiven begrenzt ist, doch der Weg ist breit und gesäumt von dichtem Gras, in dem Krokusse und Schneeglöckchen blühen. Priss hat sich bereits beim Verlassen des Fahrradverleihs durch ihren vibrierenden Pokéball bemerkbar gemacht und sich in meiner Kapuze eingerollt und Gott sitzt vor mir im Fahrradkorb, wo er den Gegenwind genießt. Die Wunden in seinem Schuppenpanzer sind gut verheilt und außer als helle Linien nicht mehr sichtbar. „Du hast dich eben ziemlich hinreißen lassen“, ruft Louis mir von seinem eigenen Rad aus zu und tritt etwas kräftiger in die Pedale, um dicht neben mir aufzuschließen. Ich erlaube mir einen kurzen Blick zur Seite. Er grinst breit wie eh und je. „Du hast angefangen“, erwidere ich und trete ebenfalls fester, um ihn abzuschütteln, doch er holt genauso schnell wieder auf. Wieder merke ich, wie viel Training er bei Hartwig bekommen hat, aber dieses Mal bin ich nicht irritiert, nur neidisch. „Ein kleiner Kuss zählt wohl kaum“, verteidigt Louis sich. Ich strecke ihm die Zunge heraus, lasse es aber darauf beruhen. Dann habe ich mich halt hinreißen lassen. Schlimm ist das schließlich nicht und Louis scheint es genossen zu haben. Dank des Weges, den wir bereits auf Route 16 zu Fuß zurücklegen mussten, erreichen wir den eigentlichen Fahrradweg erst am Abend. Nach zwei Stunden Fahrt tun meine Beine weh und den Lenker mit Gotts zusätzlichem Gewicht und nur einer halbwegs funktionstüchtigen Hand zu lenken, ist anstrengender als gedacht. Schließlich jedoch lichten sich Wiesen und Bäume und die Klippe ist erkennbar, von der aus sich das Stahlkonstrukt des Fahrradweges über die gesamte Meerenge spannt. Das Ende ist hinter leichtem Nebeldunst kaum erkennbar, aber ich weiß, dass man zu Fuß mindestens zwei Tage unterwegs wäre. Mit dem Fahrrad lässt sich die Strecke, zumindest aus dieser Richtung, in wenigen Stunden bewältigen. Louis kommt neben mir zum Stillstand und gemeinsam lassen wir unseren Blick über Route 17 schweifen. Vereinzelte Zelte und Schlafsäcke, die auf dem braunen Seitenstreifen der Brücke aufgebaut sind, zeugen von der etwas anderen Natur der Brücke. Viele Trainer, die diesen Weg nach Fuchsania nehmen, nutzen die Gelegenheit, sich in Pokémonkämpfen mit Bikern zu messen, die sich hier zu großen Teilen aufhalten. Nicht alle von ihnen gehören zu der Gruppierung, die mit Team Rocket zusammenarbeitet, trotzdem wird mir bei dem Anblick der vielen Bikes und Motorräder mulmig zu Mute. Louis legt eine Hand auf meine Schulter und nickt mir aufmunternd zu. „Du meintest doch, Chris und Jayden hätten nichts Verdächtiges bemerkt“, beruhigt er mich. „Außerdem sind wir spätestens morgen Nachmittag in Fuchsania.“ Ich schüttele die unliebsamen Gedanken ab und nicke. „Lass uns noch ein Stück weiterfahren, damit wir uns einen Schlafplatz sichern können“, sage ich und gemeinsam radeln wir wieder los. Einige Minuten später erreichen wir einen freien Fleck am Seitenstreifen, der eben ist und dafür in regelmäßigen Abständen in kleinen Stufen nach unten führt. „Dann rollen wir heute Nacht zumindest nicht durch die Gegend“, meint Louis und ich lache. Gotts Knurren lässt mich verstummen. „Na los, komm schon, kämpf gegen mich“, ertönt die Stimme eines Mannes irgendwo hinter uns. Meine Nackenhaare stellen sich auf, aber als ich mich umdrehe, ist die Herausforderung des Bikers nicht an mich gerichtet. Er steht einem Mädchen gegenüber, das selbst ein bisschen wie ein Biker aussieht, mit dem dunkelbraunen Mohawk, den Piercings und den zerrissenen Jeans. Dass sie zierlich und kaum größer als ich ist, passt nicht ganz ins Bild, trotzdem hat sie die Züge einer Siebzehn- oder Achtzehnjährigen. Sie steht an einen der Pfeiler gelehnt und hat die Augenbrauen zusammengezogen. „Nein“, sagt sie und von der genervten Art, wie sie es sagt, ist es nicht das erste Mal, dass sie ablehnt. „Ich will nicht.“ „Jetzt hol schon deine Pokémon raus“, wiederholt der Biker unwirsch. Seine Worte sind begleitet von dem roten Licht, das eins seiner Pokémon ankündigt. Im nächsten Moment steht ein sehr langes, sehr gefährlich aussehendes Cerapendra vor ihm und stampft ungeduldig mit den Füßen auf. Der Biker grinst. „Verteidige dich oder sie greift dich statt deinen Pokémon an.“ „Das geht zu weit“, murmele ich, stelle mein Fahrrad ab, packe Louis an der Hand und ziehe ihn mit mir. Gott folgt augenblicklich und unterbricht sein Knurren auch nicht, als wir direkt hinter dem Biker stehen. Er dreht kurz den Kopf in unsere Richtung, wendet sich dann aber wieder seinem eigenen Pokémon zu. Das Mädchen kratzt sich sichtlich genervt am Kopf und zieht ein mir fremdes Pokédexmodell aus ihrer Hosentasche, die ziemlich tief zu sein scheint, wenn ich bedenke, dass das klobige rote Gerät hineingepasst hat. Sie hält ihn auf ihren Gegner, der verwirrt den Kopf zur Seite legt. „Cerapendra, das Riesenfüßer-Pokémon“, erschallt eine abgehackte Männerstimme einige Sekunden später. „Typ Käfer/Gift. Lähmt seine Beute, indem es sie mit den Zacken an seinem Hals aufspießt. Mit einer Ladung Gift gibt es ihr den Rest. Level 31. Spezialfähigkeit: Giftdorn.“ „Ich werde nicht kämpfen“, wiederholt sie und steckt den Pokédex weg. „Jetzt verpiss dich.“ „Pass auf, du-“ „Gott, Flammenrad“, befehle ich. Er springt vor, holt tief Luft und speit sein gewaltiges Feuerrad auf Cerapendras Chitinpanzer. Das Pokémon gibt ein hohes Winseln von sich und rollt über den Boden, bis die Flammen ausgehen, dann kommt es schweratmend wieder auf die Füße. Der Biker funkelt mich kampflustig an, aber Gott gibt nur ein beängstigendes Grollen von sich und sogar er macht einen Schritt zurück. „Soll ich ihn noch einmal angreifen lassen oder lässt du sie in Ruhe?“, frage ich freundlich nach. Wütend schaut er zwischen mir und dem Mädchen hin und her, dann ruft er sein Pokémon zurück, steigt auf sein Motorrad und rattert davon. „Tut mir leid, wenn er dich belästigt hat“, meine ich und wende mich dem Mädchen zu. „Ich bin Abby und das ist-“ „Du hast ein ziemlich starkes Igelavar“, unterbricht sie mich schamlos und richtet ihren Blick auf Gott. Ihr Augenlid zuckt in sowas wie einer Herausforderung und ich will sie gerade vor Gotts Temperament warnen, da gibt er ein ohrenbetäubendes Knurren von sich und springt dem Mädchen an die Kehle. Ich habe nicht mal Zeit, zu reagieren, bevor ihre Arme vorschnellen und Gott aus der Luft packen. Sie wirft sich auf den Boden, rollt mit dem knurrenden und schnappenden Gott vor und zurück und wird fast von einer Stichflamme erwischt, die er ihr ins Gesicht spuckt. Stattdessen versengt das Feuer nur die Spitzen ihrer Haare. Ein erfreutes Lachen erschallt aus ihrem Mund und sie presst Gott fest zu Boden, während sie mit ihrem rechten Unterarm seine Kehle zudrückt, um weitere Feuerattacken zu vermeiden. Gotts Augen weiten sich, seine Glieder werden still – und er senkt den Blick und entspannt seine Muskeln. Das Mädchen zischt ihn an. Er winselt. Sie knurrt. Er gibt ein leises Heulen von sich und lässt den Kopf zur Seite sacken. Zufrieden lässt sie ihn los und erhebt sich. Mein Atem, den ich die ganze Zeit angehalten habe, strömt aus meiner Lunge und ich starre zwischen meinem Pokémon und der Trainerin hin und her. Sie hat ihn aus der Luft gegriffen, zu Boden gerungen und dazu gebracht, sich ihr unterzuordnen. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte ich es nicht geglaubt. Gott erhebt sich, ein wenig schwankend, hustet ein paar Rauchringe und schaut dann zu der Trainerin auf. Sie gibt ein sanftes Knurren von sich. Er duckt den Kopf und läuft gehorsam zurück an meine Seite. Als er wieder zu ihr aufsieht, meine ich, so etwas wie Bewunderung in ihnen zu erkennen. Bewunderung, und ehrlichen, tiefgehenden Respekt. Mich hat Gott noch nie so angesehen. „Du wolltest euch vorstellen“, erinnert die Trainerin mich, als wären Kämpfe mit aggressiven Pokémon bei ihr regelmäßig an der Tagesordnung. „Abby“, sage ich kurz angebunden. „Und mein Freund, Louis.“ Sie streckt mir eine Hand entgegen, die ich ergreife und die meine so fest drückt, dass ich die Zähne zusammenbeißen muss. Kein Mädchen mit so einer schlanken Figur sollte so stark oder respekteinflößend sein. „Und du?“, frage ich, als sie keine Anstalten macht, ihren eigenen Namen zu nennen. „Oh, klar. Mein Fehler.“ Sie verschränkt die Arme und lächelt mich frech an. „Ronya.“ „Ronya?“, wiederhole ich perplex. „Ronya Olith?“ Sie legt den Kopf schief. „Die einzig Wahre“, stimmt sie zu. „Woher kennst du meinen Namen?“ „Ich…“ Verdammt, die Situation hat mich völlig überrumpelt. Ich hatte noch nicht mal Zeit, mir Argumente zurechtzulegen, weil ich dachte, ich würde Ronya frühestens in Fuchsania finden und selbst dort erst nach ihr suchen müssen. „Ich bin die Abgesandte von Team Shadow“, sage ich nach einer Weile. „Dark hat mich geschickt, um dich zu überzeugen, uns beizutreten.“ Ronya scheint meine Unsicherheit bei dem Wort Abgesandte zu spüren, denn sie zeigt mir ein weißes Lächeln voller Zähne. „Und was machst du so als Abgesandte?“ Ihr abschätziger Unterton gefällt mir nicht und ich plustere mich innerlich etwas auf. „Ich war für die Gründung von Team Shadow mitverantwortlich, bin Managerin, Kontaktperson für die Polizei und die Presse und jetzt auch Leiterin der Rekrutierung.“ Den Titel Maskottchen lasse ich weg. Es ist eine lange Zeit her, seit das meine einzige Aufgabe war. Ronya nickt langsam und kratzt sich am Kopf, gerade da, wo ihr rasierter Schädel längerem Haar weicht. Sie beobachtet mich mit durchdringenden Augen. Alles an ihr fordert mich dazu heraus, mich zu verteidigen, ihr zu gefallen, sie zu beeindrucken. Es ist beängstigend. Ich kann Gotts Angriff beinahe nachvollziehen. „Das klingt zumindest nicht Mainstream“, gesteht sie. „Ich war um ehrlich zu sein auf dem Weg zu Dark, weil ich ihn endlich in Person treffen wollte. Chris sagte, er ist stark, aber sowas sehe ich lieber aus erster Hand.“ „Ich bin sicher, er würde sich mit dir duellieren, wenn du dem Team beitrittst“, sage ich. „Er ist derzeit aber unterwegs. Du wirst ihn nicht in Prismania finden.“ Ein irritierter Ausdruck macht sich auf Ronyas Gesicht breit, bevor sie den Kopf hebt und die Augen zusammenkneift. Inzwischen ist es schon dämmrig, aber als Louis und ich ihrem Blick folgen, entdecken wir am Himmel eine dunkle Silhouette, die sich uns stetig nähert. Ronya tritt einen Schritt zur Seite, da landet schon das Tropius auf dem Fahrradweg, dreht den langen, braunen Hals und brüllt sie an. Ronya verzieht keine Miene. Erst, als das Pokémon den Kopf dreht und ihr verletzt in die Augen sieht, tätschelt sie seine Stirn. „Nichts bringt mich auf deinen Rücken, Süße, das weißt du.“ „Feigling“, murmelt der Reiter, der zwischen den blattähnlichen Flügeln herabspringt und sein Tropiusweibchen zurückruft. „Ich fliege nicht“, erwidert Ronya mit aggressivem Tonfall und verschränkt wieder ihre Arme. „Wenn ich sterbe, dann mit festem Boden unter den Füßen.“ Neben dem Jungen wirkt sie gleich doppelt so klein, denn dessen langes, rotes Haar und der sportliche Kleidungsstil heben seine erstaunliche Körpergröße weiter hervor. Ich schlucke und mache einen Schritt In Louis´ Richtung. Gott beginnt, an meiner Seite zu grollen. Ich rufe ihn ohne Umschweife zurück. „Hi“, beginne ich, um den aufkommenden Streit der beiden Jugendlichen im Keim zu ersticken. Sie drehen überrascht den Kopf zu mir, als hätten sie vergessen, dass ich da bin. „Ich bin Abby, das ist Louis. Und du bist?“ Der Rothaarige zieht die Stirn kraus und macht einen bedrohlichen Schritt auf mich zu. „Das geht dich überhaupt nichts an, du kleine-“ „Gerard“, antwortet Ronya für ihn und grinst ihn süffisant an, als er zornig zu ihr herumwirbelt. „Gerard Laval.“ „Heiliger Pokéball“, platzt es aus mir heraus. „Ich kenne deine Mutter!“ „Was hast du über meine Mutter gesagt?!“, schreit Gerard und fährt dabei wieder zu mir herum. Louis macht einen Schritt vor und stellt sich zwischen uns. Trotz seinem Wachstumsschub ist er neben Gerard noch immer lächerlich klein und schmächtig. Wenn Gerard nicht Leistungssport oder so etwas betreibt, esse ich meine Cappie. Ich schiebe ihn sanft bei Seite und hebe ergeben meine Hände. „Ich habe ihr in Dukatia City Blumen geliefert und mit ihr Kekse gegessen“, sage ich langsam, sehr darauf bedacht, Gerard nicht weiter zu verärgern. „Sie hat mir von dir erzählt. Sie ist eine wundervolle Frau“, füge ich hinzu, als er das Kinn hebt und mich von oben herab betrachtet, als müsse er abwägen, wie er mich am besten umbringen wird. Ronya tritt an seine Seite und tätschelt ihm zweimal kräftig den Rücken. Er funkelt sie an. „Du musst deine Wutausbrüche in den Griff kriegen“, sagt sie mit einem fiesen Lächeln. „Deine Mutter wäre sehr enttäuscht, wenn sie dich so sehen könnte.“ „Halt die Klappe, Ronya“, zischt er sie an, macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet in Richtung des Seitenstreifens zu einem der Zelte, das dort aufgebaut ist, nur zwei Stufen unter unseren Schlafsäcken. „Ich stelle vor, der Mann mit den Temperamentproblemen“, sagt Ronya und schaut ihm kopfschüttelnd nach. „Mein Rivale und leider bester Freund.“ „So sah das nicht aus“, murmelt Louis und verrenkt sich den Hals, um Gerard nachschauen zu können, ohne sich von Ronya wegzudrehen. „Gutmütiges Geplänkel“, sagt sie schulterzuckend. „Wir unterhalten uns mit Geschrei und Beleidigungen, das ist normal.“ „Gerard ist auch ein ordenloser Trainer, oder?“, frage ich aufgeregt. Dark hat mir zwar nur den Auftrag gegeben, Ronya für uns zu gewinnen, aber es war immerhin mein Vorschlag, Gerard in Erwägung zu ziehen. Dass er jetzt mit Ronya zusammen hier auftaucht, ist ein echter Glücksfall und wenn die beiden befreundet sind, stehen die Chancen gut, dass beide beitreten, wenn ich nur einen von ihnen überzeuge. Sie zuckt die Achseln. „Stimmt. Und wenn du vorhast, ihn ebenfalls zu rekrutieren, Miss Abgesandte, streng dich besser an. Wir sind nicht so abhängig voneinander, dass du dich auf unsere Freundschaft verlassen kannst.“ Ich seufze. Wäre ja auch zu schön gewesen. Gemeinsam mit Ronya kehren wir zu dem Seitenstreifen zurück. Als Louis und ich in die andere Richtung gehen müssten, bleibe ich stehen und halte Ronya fest. Sie dreht sich zu mir um. „Wo werdet ihr jetzt hingehen?“, frage ich. „Dark ist nicht in Prismania City, wenn du ihn also treffen willst, musst du ohnehin auf Wort von ihm oder mir warten. Und wenn unser Anführer nicht da ist, wird Ryan dich nicht in unser Hauptquartier lassen.“ „Das ist ziemlich scheiße“, gesteht Ronya und kratzt sich wieder am Kopf. Dann kommt ein Grinsen über ihre Züge. „Ich habe wohl keine Wahl, als mich solange an deine Fersen zu heften. Gerard ist nur hier, weil ich ihn gebeten habe, mich zu begleiten, er hält auch noch ein bisschen mehr Warten aus.“ Ich erinnere mich an Ronyas Worte zurück, nachdem Gerard mit seinem Tropius auf der Brücke gelandet ist. „Seid ihr den ganzen Weg von Johto zu Fuß gegangen?“, frage ich und denke an all die Gebirgsketten, Höhlensysteme und tiefen Wälder, die von Touristen und sogar Trainern so gut wie nie durchquert werden. Die Fahrt mit der M.S. Aqua und dem Magnetzug ist viel bequemer und Trainer, die zwischen den Regionen wechseln, besitzen häufig flugfähige Pokémon, mit denen sie zumindest das unwegsame Gelände südlich des Indigo Plateaus hinter sich bringen. „Nicht nur, aber hauptsächlich“, sagt Ronya und wirft einen Blick zu Gerard, der vor ihrem Lagerfeuer sitzt und mit verzerrtem Gesichtsausdruck mit einem Dosenöffner zu kämpfen hat. „Nur rohe Gewalt, der Kerl“, murmelt sie kopfschüttelnd und winkt Louis und mich mit sich, während sie zu ihrem Zelt geht und weiterspricht. „Ich habe Entei zwischen Rosalia und Viola City gefangen, danach hat Gerard mich in Neuborkia getroffen und von dort sind wir über Route 27 und 26 zum Eingang der Siegesstraße gewandert. Östlich ging es nach Vertania und von dort mussten wir nur noch durch Alabastia und über das Meer an der Zinnoberinsel und den Seeschauminseln vorbei nach Fuchsania City.“ „Es ist alles nur deine Schuld, dass wir von Vertania nicht einfach nach Prismania fliegen konnten“, schnauzt Gerard Ronya an, reißt dabei so heftig an dem Dosenöffner, dass er am Griff abbricht und ihm rote Soße aus der Dose ins Gesicht spritzt. Er blinzelt. „Oh je“, sagt Ronya und geht vor Gerard in die Knie. „Tief durchatmen. Du hast die Kontrolle, nicht die Dose. Du bist besser als die Dose. Atme mit mir. Ein… Aus…“ Neben mir verschluckt sich Louis halb an seinem Lachen, beginnt zu husten und vergräbt sein Gesicht in hilflosem Kichern in meiner Schulter. Gerard atmet einige Sekunden lang im gleichen Rhythmus wie Ronya, dann nickt er, öffnet die Augen und reicht ihr die Dose und den kaputten Dosenöffner. Sie grinst, öffnet die Dose ohne Probleme und hält Gerard die geöffnete Tomatensuppe hin. Er nimmt sie entgegen und füllt sie in einen verbeulten Topf, den er neben sich stellt, bevor er im Zelt verschwindet, vermutlich, um eine Kochplatte oder ähnliches zu besorgen. „Ihr seid übrigens zum Essen eingeladen“, sagt Ronya an mich gewandt und nickt auf die leere Fläche vor dem Zelt, an der eben noch Gerard gesessen hat. „Dein Igelavar hat mich wirklich beeindruckt, Abby“, fährt sie fort, kaum dass wir sitzen. „Du ihn auch“, sage ich und schaffe es trotz großer Bemühung nicht, den Neid aus meiner Stimme fernzuhalten. Louis, der sich von seinem Lachanfall erholt zu haben scheint und die Tränen aus seinen Augenwinkeln wischt, schaut neugierig zu mir. „Ronya findet sofort heraus, wie ein Pokémon tickt“, sagt Gerard, der sich in dem Moment aus dem Zelt duckt. „Sie ist die beste Trainerin, die ich kenne, vor allem bei Spezialfällen.“ „Das kann daran liegen, dass du außer mir keine weiblichen Trainerinnen kennst, aber hey, danke für die Lobeshymne“, meint Ronya grinsend. Gerard läuft rot an und verengt seine Augen zu Schlitzen. „Was willst du damit andeuten?“ Louis lehnt sich vor, so als könne er es kaum erwarten, einem weiteren Streit der beiden beizuwohnen, aber da muss ich ihn leider enttäuschen. „Ronya“, sage ich, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Sie dreht den Kopf in meine Richtung und legte eine Hand auf Gerards Mund, als der beginnt, ihr einige sehr kreative Beleidigungen an den Kopf zu werfen. „Warum hast du eigentlich nicht selbst gekämpft?“, frage ich. „Du hast Entei gefangen und Dark will dich in Team Shadow. Du musst so stark wie Chris und die anderen sein, oder nicht?“ „Klar bin ich das“, sagt Ronya überrascht. „Das wäre ja noch schöner.“ „Aber warum dann?“ Gerard zieht ihre Hand von seinem Mund und funkelt seine Rivalin böse an, bevor er mir antwortet. „Weil ihr Moralkompass kaputt ist“, erklärt er. „Unsinn“, meint Ronya sofort. „Ich weigere mich nur, den Standards zu folgen. Wenn ich kämpfe, dann ohne Zurückhaltung.“ „Aber nur, wenn die Leveldifferenz nicht zu groß ist“, fährt Gerad für sie fort. „Alles über 25 Level kann den Pokémon Schaden zufügen. Also kämpft sie ab da nicht mehr.“ „Huh“, meine ich. „Das macht Sinn“, sagt Louis und macht einen sehr grüblerischen Gesichtsausdruck. „Auf eine sehr unsinnige Art und Weise.“ „Aber wie hättest du dich verteidigt, wenn Gott nicht eingegriffen hätte?“, frage ich. Ronya hebt eine Augenbraue. „Mit meinen Händen. Wie sonst?“   Nach einem tomatensuppenlastigen Abendessen und der Vereinbarung, morgen früh zusammen mit Ronya und Gerard zurück nach Fuchsania City zu fahren, um dort zumindest die nächsten zwei Wochen unterzutauchen, machen Louis und ich uns auf den Rückweg zu unserem eigenen Fleckchen Seitenstreifen und schlagen unser Nachtlager auf. Als das erledigt ist, verabschiede ich mich von Louis und gehe auf die andere Seite der Fahrradbrücke, wo ich mich an die Reling lehne und auf die dunklen Wellen unter mir schaue, die gegen die Stahlpfeiler schwappen. Zuerst will ich Hunter rufen, damit er sich ein Karpador fangen kann, aber als ich vergebens nach seinem Pokéball taste, fällt mir wieder schmerzlich ein, dass er mit massiven Verbrennungen im Pokécenter liegt. Seufzend rufe ich stattdessen Sku. Sie maunzt leise zur Begrüßung und rollt sich um meine Beine ein, wachsame Augen auf das Meer gerichtet. Mein erster Anruf geht an Alfred, der wie erwartet schon von der Polizei von Zachs Gefangennahme erfahren hat. Seine Stimme hat ihre typische Begeisterung verloren und klingt einfach nur noch müde. Einige Male bleibt es am anderen Ende der Leitung still, so als müsse er mit seinen Worten ringen, aber letztlich versichert er mir, dass ich alles getan habe, was ich konnte. Zach wusste, worauf er sich bei seinem Doppelleben einließ. Danach melde ich mich bei Raphael. Mein Anruf mit ihm fällt kürzer aus, denn er gesteht, sich noch nicht von Liz hat trennen können und bei meiner Ankunft in Fuchsania City noch dort sein wird.  Als ich ihm in groben Zügen von Zach berichte, schweigt er lange und fragt schließlich, was mit Richard passieren wird. „Sie wollen ihn freilassen, sobald die letzten Befragungen abgeschlossen sind“, sage ich müde und lehne mich auf der Reling etwas weiter vor. Sku brummt leise und ich spüre das sanfte Beben ihres Brustkorbs in meinen Beinen. „Zumindest war das mein Deal mit Rocky. Aber ich glaube nicht, dass sie es sich anders überlegt hat.“ „In Ordnung“, sagt Raphael. „Ich werde ihn kontaktieren. Er wird Unterstützung brauchen, jetzt da Zach… weg ist.“ Wir verabschieden uns und legen auf. Bleibt noch ein Anruf. Und der liegt mir, mal wieder, schwer im Magen. Das letzte Mal habe ich mich so vor einer Konfrontation gedrückt, als ich im Vertania City Krankenhaus lag. Es war nicht viel anders als jetzt. Caroline nimmt nach dem zweiten Klingelton ab. Statt einer Begrüßung höre ich das metallische Klacken ihres Feuerzeugs, dicht gefolgt von dem langsamen Einatmen, als sie ihren ersten Zug nimmt. „Sie haben ihn, oder?“, fragt sie ohne Umschweife. Ich blinzele. „Woher weißt du-“ „Du hast dich das letzte Mal im Oktober gemeldet, als er aufgeflogen ist“, sagt Caro leise und zieht erneut an ihrer Zigarette. „Ich bezweifle, dass dir nach fast fünf Monaten plötzlich zum Plaudern zu Mute ist.“ Mein Mund wird trocken. Der Stich, den mir ihre Worte versetzen, kommt nicht ganz unerwartet, aber er schmerzt deutlich mehr, als ich erwartet hatte. Ich bin es gewohnt, mich lange nicht bei meinen Eltern zu melden, oder bei Freunden, mit denen ich später nie viel zu tun hatte, aber ich habe Caro viel zu verdanken. Und sie war eine meiner engsten Freundinnen, die erste, die ich auf meiner Reise gemacht habe. Ich will mich entschuldigen, dass ich sie so lange vernachlässigt habe, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie davon jetzt nichts hören will. Es gibt größere Probleme als mein schlechtes Gewissen. „Vor zwei Tagen gab es eine geheime Übergabe“, erkläre ich daher und bemühe mich, meine Stimme sachlich und ruhig zu halten. „Die Polizei hat davon erfahren und Team Rocket aufgelauert. Sie haben unseren Hinterhalt erwartet und gegen uns gekämpft, aber Zach war auch dort. Atlas scheint ihn zu dem Zeitpunkt bereits verdächtigt zu haben und wollte ihn loswerden. Aber ihr Plan ist nicht aufgegangen. Keiner der Rockets ist entkommen.“ „Hat er Eva gerächt?“ „Ich weiß es nicht“, sage ich leise. „Aber ich glaube, er hätte sich bei uns gemeldet, wenn es ihm gelungen wäre.“ „Alles umsonst also-“ Caros Stimme bricht am Ende ab und sie nimmt schnell einen weiteren Zug von ihrer Zigarette. Wir schweigen einige Minuten. „Danke für deinen Anruf, Abby“, sagt sie schließlich. Ihre Stimme hat wieder den stählernen Klang angenommen, der all ihre Gefühle in ihrem Inneren verbarrikadiert. „Das gibt mir Gelegenheit, hier alles unter Kontrolle zu bringen, bevor die Polizei wieder vor meiner Tür steht.“ Sie zögert einen Moment, spricht dann aber weiter. „Was ist mit deinem Louis-Jungen? Seid ihr noch zusammen?“ „Wieder, könnte man wohl sagen“, sage ich und zwinge mich zu einem Grinsen, auch wenn sie das nicht sehen kann. Ich drehe den Kopf und beobachte Louis dabei, wie er zusammen mit Glen auf der anderen Seite am Geländer steht und allem Anschein nach Ethan zuguckt, der im Meer unter uns schwimmt. „Und es läuft ziemlich gut.“ Sie seufzt. „Denk dran, wenn es mit dem Befummeln losgeht, dann-“ „So weit kommt es ganz sicher nicht!“, rufe ich panisch und bin erleichtert, Caros heiseres Lachen vom anderen Ende der Leitung zu hören. Dass es zu abrupt abbricht, so als fühle sie sich schuldig, ist wie ein Schlag ins Gesicht. „Passt auch euch auf.“ „Wenn du Probleme mit der Polizei kriegst, melde dich bei mir“, sage ich. „Ich kenne jemanden, der ein paar Fäden ziehen oder dir Infos beschaffen kann. Und ich habe bei einigen der Polizisten einen Stein im Brett.“ „Werde ich“, sagt sie. „Bis dann.“ Sie legt ohne ein weiteres Wort auf. Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle hinunter und lasse das Handy sinken. Mein Blick wandert über den ergrauenden Nachthimmel, an dem in beängstigendem Tempo dunkle Wolken aufziehen. „Bis dann.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)