Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 94: Imagewechsel (Letzte Warnung) ----------------------------------------- „Julius“, beginnt Alfred und überschlägt seine Beine. „Erzähl uns von dir! Wie alt bist du und woher kommst du?“ „Ich bin sechzehn Jahre alt", beginnt Julius. "Meine Familie wohnt in Azuria City, aber ich bin schon  seit zwei Jahren auf Reisen.“ „Die Stadt der blühenden Blumen, fabelhaft!. Misty ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Wasserpokémon. Was hat dich dazu veranlasst, loszuziehen, wenn ich fragen darf?“ „Schon als ich klein war, wollte ich reisen.“ Julius taut langsam auf, seine Hände, die bisher steif in seinem Schoß gelegen haben, erwachen mit seiner Erzählung zum Leben. „Ich war von den Nachrichten fasziniert und habe es geliebt, mir die Orte vorzustellen, an denen außergewöhnliche Dinge geschehen. Mit vierzehn habe ich den Beschluss gefasst, Reporter zu werden und bin seitdem unterwegs.“ „Großartig! Jessy, was hältst du davon?“ „Ein junger Mann, der die Welt bereist, um seinem Traum näher zu kommen? Ich bin entzückt.“ „Julius, du bist natürlich nicht einfach so hier. Du hast uns etwas zu berichten.“ Alfreds Worte lassen Julius wieder erbleichen. Gott brummt zufrieden und reibt sich etwas fester gegen meine Hand. „Ich… ich habe herausgefunden, wer das Mädchen ist, das in Raphael Bernis dritten Arenakampf zu sehen war.“ Ergeben lächle ich. Jetzt wird meine Identität also publik. Helfen wird mir das nicht gerade dabei, von Team Rocket unerkannt zu bleiben, aber solange Julius dafür Zach außen vor lässt, nehme ich dieses Opfer in Kauf. Sku schnurrt und streckt eine Pfote aus, die sie in mein Bein krallt. Sie blinzelt mich träge an. Lass dich nicht unterkriegen. „Werde ich nicht, keine Sorge“, murmele ich und widme meine Aufmerksamkeit wieder dem Fernsehgeschehen. „Das sind in der Tat Neuigkeiten!“, stimmt Alfred begeistert zu. „Und wir dachten schon, sie würde ihr Geheimnis mit ins Grab nehmen.“ „Ihr Name ist Abbygail Hampton“, fährt Julius fort, wenn auch etwas stockend. „Sie hat bis vor einiger Zeit mit ihrer Familie in Orania City gelebt, ist inzwischen aber selbst auf Reisen, um Reporterin zu werden.“ „Wirklich?“, fragt Jessy und lehnt sich vor. „Wie aufregend! Alfred, stell dir nur vor, zwei neue Talente am Medienhimmel.“ Alfred schafft es tatsächlich, sich eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen. „Es rührt mich zutiefst, dass die junge Generation in unsere Fußstapfen treten möchte.“ Während er und Jessy das Gespräch weiter vorantreiben und Julius mit Details meiner damals beginnenden Freundschaft mit Raphael aufwartet, die er nur aus Mama herausgequetscht haben kann, beobachte ich seine Mimik genau. Je länger das Interview geht, desto frustrierter wird er, auch wenn das selbstbewusste Lächeln seine Lippen nicht verlässt. Einmal öffnet er den Mund, fast so, als wolle er sich zwingen, Zachs Namen auszusprechen, aber ein kurzer, scharfer Blick von Alfred, der selbst mir fast entgeht, lässt ihn erstarren. Stattdessen holt er tief Luft und wartet mit der nächsten Enthüllung auf. "Abbygail war außerdem zuletzt an einer Gruppierung namens Team Shadow beteiligt, die sich in Prismania City gebildet hat." Alfred nickt andächtig. "Was kannst du uns über Team Shadow sagen?", fragt er. "Haben sie einen Anführer? Sind sie ein neue kriminelle Organisation, so wie Team Rocket?" Julius stockt. "Ich bin mir über die Details noch unklar." "Aber sicher weißt du, warum Abbygail ihnen beigetreten ist?", hakt Alfred nach. "Was ihr Ziel ist?" Ertappt schüttelt Julius den Kopf und ich beobachte mit Genugtun, wie Jessy die Stirn runzelt. Du hättest besser nachforschen sollen, denke ich grimmig. Gott grollt und faucht die Nahaufnahme von Julius Gesicht an, als er mit hochrotem Kopf um Worte ringt und sie nicht findet. Es soll sich nicht bessern. Alfred macht noch einige halbherzige Versuche, mehr Informationen aus Julius herauszubekommen, aber natürlich weiß er nichts zu berichten, außer dass ein paar Trainer in Prismania City sich als Team Shadow betitelt haben und ich angeblich mit von der Partie war. Und die Fakten, die er nennt, klingen nicht wie die Enthüllungen eines Reporters, sondern wie das Gefasel eines Kleinkinds. Als das Interview endlich vorbei ist, atme ich erleichtert aus und lasse mich tiefer in die Polster sinken. Selbst für mich waren die letzen zehn Minuten der gequälten Unterhaltung unangenehm, und ich hatte schließlich genau auf diesen Ausgang spekuliert. Julius verabschiedet sich steif und verlässt das Podium. Das Pling meines S-Coms ertönt neben mir, aber ich schnappe ihn nur schnell, rufe meine Pokémon zurück und laufe hinaus ins Foyer, gerade rechtzeitig, um Julius abzufangen, der mit Tränen in den Augen den Gang entlang auf mich zustürmt. Als er mich sieht, wischt er sich schnell über die Augen und kommt in meine Richtung. Ich erwarte ihn geduldig. „Zufrieden?“, fragt er und bleibt vor mir stehen. „Sehr“, sage ich. „Hast du erwartet, dass ich dich einfach das Leben meiner Freunde ruinieren lasse? Das hast du jetzt davon. Immerhin hast du mich berühmt gemacht, danke also dafür.“ „Ich habe mich noch nie so sehr blamiert!“, fährt Julius mich an und stößt mich brutal gegen die Wand. „Bei PCN eingeladen zu werden, von Alfred persönlich interviewt zu werden und ich darf der Welt nur ein bisschen Tratsch auftischen, der bei den Fans schon bekannt war? Und dann hat er mich in die Ecke gedrängt, obwohl ich nichts zu Team Shadow sagen wollte. Selbst wenn ich meine eigene Story rausbringe, wird mich niemand mehr ernst nehmen. Du hast meine Zukunft zerstört, du und Alfred! Ihr habt euch alle verschworen!“ „Reg dich ab“, zische ich. „Jetzt sind wir auf einmal die Bösen? Hast du sie noch alle? Du bist derjenige, der meine Story geklaut hat und ohne Rücksicht auf Verluste hier hereinmarschiert ist, um ein Leben zu zerstören und seine Karriere anzukurbeln. Du widerst mich an!“ Er schaut mich einen Moment länger an, dann flucht er und wendet sich ab. „Ich werde Zachs Geheimnis aufdecken“, sagt er und dreht ein letztes Mal den Kopf in meine Richtung. „Und wenn es das letzte ist, was ich tue.“ Dann verschwindet er um die nächste Ecke und lässt mich mit ernsten Kopfschmerzen zurück. Seufzend lasse ich mich an der Wand zu Boden sinken und ziehe meinen S-Com hervor, auf dem die neue Nachricht auf mich wartet.   Von: Dark_01 An: Abbygail_Hampton_04 »Alles im Griff haben sieht anders aus. »Sie haben ihre Augen und Ohren überall, Abby. »Du bist nicht mehr sicher.   „Abby?“ Ich stecke schnell den S-Com in meine Jackentasche und hebe den Kopf. Alfred steht mit besorgtem Gesichtsausdruck über mir, Augenbrauen zusammengezogen. „Ist alles in Ordnung? Hat Julius dir etwas getan?“ Ich lasse mir von ihm hochhelfen und schüttele den Kopf. „Nur geschubst, aber halb so wild. Was hast du gesagt, damit er ruhig blieb? Er sah so aus, als würde er sich jeden Moment die Zunge abbeißen.“ „Ich habe ihm lediglich von Enthüllungen abgeraten, die seine Langzeitkarriere in der Medienbranche gefährden könnten“, sagt Alfred zwinkernd. „Nichts weiter.“ „Ich dachte, wir müssen ihn fesseln und knebeln, damit er dicht hält“, murmele ich. „Dafür, dass ich so einen Aufstand veranstaltet habe, ging es ziemlich glatt über die Bühne.“ „Wir werden sehen“, sagt Alfred und schaut an mir vorbei in den Gang, in dem Julius verschwunden ist. „PCN ist Kantos und Johtos Sender Nummer Eins, aber er ist nicht der einzige. Wir haben genug Widersacher, an die er sich nun wenden kann. Was wir heute getan haben, wird Zach nicht ewig schützen.“ „Nein, vermutlich nicht“, seufze ich. Alfred tupft sich mit seinem grünen Taschentuch etwas Schweiß von der Stirn, der sich dort während der Aufnahmen gesammelt hat und nimmt mich dann fest in den Arm. „Ich danke dir vielmals, dass du dich so sehr beeilt hast, um rechtzeitig hierher zu kommen“, sagt er und löst sich von mir, Tränen der Rührung in seinen Augen. „Sie mögen schon auf eigenen Beinen stehen, aber diese Kinder bedeuten mir allesamt sehr viel. Mit Richard im Gefängnis und Zach umringt von Feinden… es bricht mir das Herz.“ Er schnieft, atmet einmal tief durch und zwingt sich zu einem Lächeln. „Also, Abby, damit du nicht noch einmal Himmel und Hölle in Bewegung setzen musst, um mich zu erreichen, hier ist meine Handynummer und meine Mailadresse.“ Er zieht eine violette Visitenkarte mit Golddruck aus seinem Jackett und reicht sie mir. „Melde dich, wann immer du möchtest.“ Ich stecke das Kärtchen in meine Hosentasche. Alfred wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. „Unfassbar, so spät schon. Abby, hast du eine Bleibe? Übernachtest du im Pokécenter?“ Ein Blick auf mein Handy bestätigt meine Vermutung. Inzwischen ist es schon nach acht Uhr.  Eigentlich hatte ich vor, noch heute zurück zu fliegen, aber bis ich in Saffronia City ankomme, wird es nach Mitternacht sein. Und das nur, wenn Jayjay und Hunter schon wieder fit für eine weitere Langstrecke sind, was ich stark bezweifle. „Noch habe ich kein Zimmer reserviert“, gestehe ich. „Fabelhaft.“ Alfred klatscht in die Hände. „Wenn du dich noch zwei Stunden alleine beschäftigen kannst, nehme ich dich danach zu mir nach Hause. Wir haben ein wundervolles Gästezimmer mit Terrasse und Doppelbett, das dir sehr gefallen wird.“ „Da sage ich nicht nein“, sage ich und trenne mich von Alfred, der zurück ins Studio muss. Zwei Stunden im Radioturm von Lavandia herumkriegen? Ich würde mich auch zwei Tage nicht langweilen.   Erschöpft lasse ich mich auf das frisch bezogene Bett fallen, das mir für die Nacht vermacht wurde und starre an die Decke. Ich habe es geschafft. Julius ist zwar weiterhin eine Bedrohung, aber für´s erste habe ich getan, was ich konnte und fühle mich, als wäre eine schwere Last von meinen Schultern gefallen. Zusammen mit Alfred und Erik, der zu meiner Überraschung ebenfalls hier lebt, habe ich in der offenen Küche noch etwas zu Abend gegessen und mich dann gleich ins Gästezimmer verabschiedet. Auf unseren Nachtspaziergang wird Sku heute verzichten müssen, denn die Muskelschmerzen des vierstündigen Ritts holen mich jetzt, da die Anspannung von mir abfällt, wieder ein. Stöhnend rolle ich auf die Seite und krame nach meinen Pokébällen. Keine fünf Sekunden später ist Sku schon aufs Bett gesprungen und kugelt sich wohlig in meine Bauchkuhle. Gott beobachtet den Raum kritisch, wirft mir einen kurzen Blick zu und springt dann zur Terrassentür, vor der er es sich bequem macht. Ich habe Darks Warnung nicht vergessen und bin froh, jemanden wie Gott an meiner Seite zu haben, der bei dem kleinsten Verdacht Alarm schlagen wird. Priss hat sich unterdessen ebenfalls auf das Bett bequemt und scheint kein Problem damit zu haben, die gesamte rechte Betthälfte für sich zu beanspruchen, aber ich bin zu müde, um mit ihr um den Platz zu streiten und das Bett ist ohnehin groß genug für drei.   Am nächsten Morgen verlasse ich Alfreds Haus ausgeschlafen, mit Proviant, den er und Erik mir aufgedrängt haben und sehr versteiften Beinen. Flüge auf Hunters Rücken bin ich inzwischen gewohnt, aber der lange Galopp auf Jayjay hat mir den Rest gegeben. Nach einem kurzen Zwischenstopp im Pokécenter, stehe ich am frühen Vormittag außerhalb von Lavandia und bemühe mich, bei dem Gedanken an den Rückritt nicht umzudrehen und mich noch ein paar Tage bei Alfred zu verkriechen. Aber nein. Ich habe zu tun, bevor die Übergabe bevorsteht. Gotts Training darf nicht vernachlässigt werden, wenn ich bei meiner nächsten Begegnung mit Team Rocket nicht den Kürzeren ziehen will und mein Geld reicht ebenfalls kaum noch für die nächsten Pokécenterkosten. Schließlich komme ich zu dem Schluss, dass ich mir heute kein Reiten mehr antun werde, rufe aber trotzdem Hunter und Jayjay, die fast augenblicklich über die Straße jagen und sich liebevoll zwicken und beißen. Während ich die Straße entlang wandere, entspannen meine verkrampften Beinmuskeln sich allmählich und als ich nach etwa einer Stunde Fußmarsch dem ersten Trainer begegne, der auf dem Weg Richtung Lavandia ist, liefere ich mir einen kurzen Kampf gegen ihn. Ich mache mir keine Illusionen. Route 8 ist zu Fuß, mit Kampfunterbrechungen, nicht in einem Tag zu bewältigen. Spätestens gegen Nachmittag werde ich auf Hunters Rücken müssen, damit wir rechtzeitig wieder in der Stadt sind, aber bis dahin genieße ich die frische Luft, die Sonnenstrahlen in meinem Gesicht und lasse mir von Jayjay eine Blume schenken, die er am Wegesrand abpflückt und halb zerbissen in meine Handfläche fallen lässt. Gegen Mittag begegne ich immer öfter anderen Trainern, die auf dem Weg nach Lavandia oder wie ich auf der Suche nach Gegnern sind, um ihr Team zu stärken und deshalb in mitgebrachten Zelten am Straßenrand campen. Nach dem dritten Kampf gönne ich Gott einen Supertrank, damit er nicht schlapp macht. Hunter kreist stetig über unseren Köpfen und landet gelegentlich auf Jayjays Rücken. Die beiden scheinen ihre gemeinsame Zeit sehr zu genießen und ich denke mit Schuldgefühlen an all die Tage, in denen ich die beiden nur eine halbe Stunde pro Tag aus ihren Bällen lassen konnte. Sie scheinen es mir nicht übel zu nehmen, ganz im Gegensatz zu Priss, deren Pokéball schon nach wenigen Stunden zu vibrieren beginnt und mich empört daran erinnert, sie auf der Stelle rauszulassen. Jetzt sitzt sie wie immer auf meinem Kopf und beißt gelegentlich in mein Ohr, um die Machtverhältnisse klar zu stellen.   „Gute Arbeit, Gott“, sage ich und tätschele seinen Kopf, als er seinen siebten Kampf für diesen Tag beendet und sich ausgelaugt zu Bodensinken lässt. Er gibt ein zustimmendes Grummeln von sich und ich rufe ihn zurück. Mit einer Hand schirme ich meine Augen gegen die tiefstehende Sonne ab. Zeit, das letzte Stück  nach Saffronia City zu fliegen. Ich habe nicht ganz die Hälfte der Route hinter mich gebracht, aber auf Hunters Rücken sollte die restliche Strecke in zwei Stunden zu bewältigen sein. Ich rufe Jayjay und Priss in ihre Pokébälle zurück, bevor ich auf Hunters Rücken klettere und mit ihm in den Sonnenuntergang davon schieße. Als wir vor dem Pokécenter landen, ist es schon stockduster. Die Straßenlaternen geben ein schummrig gelbes Licht ab und das rote Neonschild über dem Center leuchtet so grell, dass meine Augen tränen. Ich trete schnell ein, begrüße Joy, die mir zunickt und verschwinde die Treppen hinauf. Ich habe kaum an der Holztür geklopft, da wird sie schon von Louis aufgerissen, dessen hoffungsvoller Gesichtsausdruck einem breiten Grinsen weicht, kaum dass er mich sieht. Ohne ein Wort zieht er mich ins Zimmer und schließt mich in eine feste Umarmung. Erleichtert atme ich den Geruch seiner Haare ein, die nach dem Pokécenter Shampoo duften und presse mein Gesicht in seine Halskuhle. Schließlich löse ich mich jedoch von ihm und gehe zum Bett, um meinen Rucksack dort abzustellen und stöhnend meinen Rücken zu strecken. Ein kurzer Geruchcheck an meinen Achseln bestätigt, dass ich dringend eine Dusche brauche. „Warst du erfolgreich?“, fragt Louis, der mir gefolgt ist und mich an die Wand gelehnt beobachtet. Ich nicke, zurre ein Handtuch aus meinem Rucksack und drehe mich zu ihm. „Gerade so, aber es hat gereicht“, stimme ich zu. Louis schaut mich einen Moment länger an, so als warte er auf eine Ausführung der Ereignisse. Ich blinzele. Verdammt. Er wartet auf eine Ausführung! „Ich musste dringend mit Alfred sprechen“, sage ich und denke fieberhaft über etwas nach, dass ich sagen kann, ohne Zach zu erwähnen. Louis scheint meinen inneren Konflikt zu erkennen, denn er seufzt und ringt sich ein Lächeln ab. „Ist es diese Sache, die du mir nicht erzählen kannst, weil sie nicht nur dich betrifft?“ „Tut mir leid“, sage ich und meine es auch so. Ich will es ihm erzählen. Louis weiß schließlich auch von Dark. Ich öffne den Mund, entschlossen, ihn einzuweihen. Ich vertraue Louis, mehr als jedem anderen. Warum bringe ich dann kein einziges Wort heraus? Louis kratzt sich an der Nase, seufzt und legt sich ohne ein weiteres Wort ins Bett. Die Gelegenheit, mein Vertrauen zu beweisen, ist vergangen und Louis enttäuschtes Schweigen verpasst mir einen Stich. Als ich ein paar Minuten später unter dem heißen Wasserstrahl stehe und auf die Fliesen vor mir starre, ist das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, immer noch da. Es tut weh und es lässt mich nicht in Ruhe. Aber Zachs Geheimnis ist mir schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass der Gedanke, es jemandem anzuvertrauen, selbst wenn es Louis ist, sich genauso falsch anfühlt. Warum muss diese ganze Sache nur so verzwickt sein? Entschlossen, Team Rockets Terror zu beenden, und wenn es nur ist, um endlich alle Geheimnisse lüften zu können, rubbele ich das Shampoo in mein Haar, das inzwischen unangenehm lang ist. Ich halte die rotblonden Strähnen in die Höhe. Warum eigentlich nicht… Das Handtuch um meinen Körper geschlungen, trete ich etwas später aus dem Bad. Louis dreht sich auf dem Bett um, entdeckt mich und gibt einen Laut des Entsetzens von sich. „A-abby! Deine Haare!“ Ich grinse und fahre mir durch die kurzen Strähnen, die noch feucht vom Duschen sind und inzwischen nur noch bis knapp über meine Ohren reichen, dafür aber tief in meine Augen fallen. „Wie findest du sie?“, frage ich und werfe ihm die kleine Schere zu, mit der ich mir die neue Frisur verpasst habe. „Ich bin hinten nicht gut dran gekommen, kannst du vielleicht nochmal drüber schneiden?“ „Ist alles okay?“, fragt Louis, ohne nach der Schere zu greifen. „Ist das so ein Mädchending? Machst du Schluss mit mir?“ „Komm her und schneid meine Haare“, lache ich. Endlich folgt er meiner Aufforderung und geht mit mir ins Bad, wo er sich mit etwas zittrigen Fingern an meinem Hinterkopf zu schaffen macht. „Ich habe sowas noch nie gemacht“, warnt er mich und fährt nervös mit den Fingern durch mein Haar. „Denkst du, ich?“, frage ich zurück und beobachte ihn vergnügt durch den Spiegel. „Na komm, es muss nicht schön aussehen. Im Notfall trage ich ab jetzt immer meine Mütze.“ Zögerlich macht Louis sich an meinen Haaren zu schaffen, während ich ihn aufmerksam beobachte. War er schon immer größer als ich? Ich warte, bis er die Schere sinken lässt, dann drehe ich mich und betrachte meinen neuen Haarschnitt im Spiegel. „Perfekt“, sage ich und drehe mich schwungvoll wieder zurück, nur um mich keine zwei Zentimeter von Louis Gesicht wiederzufinden, der sich leicht vorgebeugt hat. Ein Grinsen zuckt um seine Mundwinkel, als meine Wangen heiß werden. Ich öffne meinen Mund, will mich für all die Geheimnisse entschuldigen, die ich ihm nicht sagen kann. Für die Distanz, die bald wieder zwischen uns sein wird. Dafür, dass ich mich immer wieder in Gefahr bringe und ihn mit mir. Stattdessen lege ich beide Handflächen an seine Wangen, ziehe ihn das letzte Stück zu mir hinunter und küsse ihn auf den Mund, Augen geschlossen. Als ich sie wieder öffne und mich vorsichtig löse, atme ich zittrig aus und schaue ihn hilflos an. Louis fährt mit dem Daumen über die einzelne Träne, von der ich nicht mal gemerkt habe, dass sie da ist. Er lächelt, Zahnlücke gerade so sichtbar und nimmt mich in den Arm. „Schon okay. Entschuldigung angenommen.“   Der neue Haarschnitt macht sich bezahlt. Die langen Haarsträhnen waren ein wenig nervig, das stimmt, aber mit einem Zopf gut unter Kontrolle zu halten. Der wahre Grund für meinen Imagewechsel ist Darks Warnung. Ich weiß aus erster Hand, dass Team Rocket seine Spitzel und Agenten überall hat und Mels Wunsch nach Rache ist nicht zu unterschätzen. Mit der Enthüllung meiner Identität als Raphaels gute Freundin kursiert mein Foto und leider auch mein Name und meine Adresse durch die Medien, eine Tatsache, die das Verstecken vor Team Rocket nicht gerade erleichtert. Mit meiner neuen Kurzhaarfrisur hoffe ich, zumindest auf den ersten Blick nicht viel mit meinem dreizehnjährigen Abbild gemeinsam zu haben, auch wenn ich bezweifle, dass es bei genauem Hinschauen viel nutzen wird. Deswegen sind die ersten Käufe, die ich mit dem Siegesgeld aus Gotts Trainingskämpfen im Markt ergattere, ein große Sonnenbrille und eine gelbe Cappi. So verkleidet entgehe ich selbst den Fanclubmitgliedern, die ohne Zweifel von Jeanne erfahren haben, dass ich derzeit in Saffronia City bin und deren wenig subtile Fanartikel mich regelmäßig auf der Straße vorwarnen. Nicht, dass ich viel Zeit in der Stadt verbringe. Ich hatte zu Anfang gehofft, mehr mit Valentin und Louis unternehmen zu können, aber die beiden trainieren verbissen im Dojo und ich selbst habe mit Gotts Training alle Hände voll zu tun. Skus dreißiger Level sind damals sehr schleichend vorangeschritten, schließlich hatte ich weder die Möglichkeit noch die Lust, den ganzen Tag mit ihr gegen wilde Pokémon zu kämpfen, aber mit Team Rocket im Nacken fällt es mir plötzlich viel leichter, mich zu motivieren. Leider macht es das Training umso frustrierender, denn auch mit über sechs Stunden intensivem Training pro Tag, gelingt es mir nur, Gott in der folgenden Woche auf Level 33 zu bringen.   Seufzend lasse ich mich am Straßenrand zu Boden sinken und vergrabe mich tiefer in meiner Verkleidung. Gott hat sich erschöpft neben mir eingerollt. Sein Rückenfeuer flackert und züngelt in die kalte Abendluft, heißer als noch vor einigen Tagen und wärmt meine Hände, die im eisigen Wind trotz Handschuhen steifgefroren sind. In dieser Position sieht er aus wie immer, aber ich weiß es besser. Das wochenlange Training, dem ich ihn seit meiner Ankunft in Kanto unterzogen habe, hat nicht nur seine Flammen verstärkt. Er ist gewachsen, nicht viel, aber genug, um ihn in Skus Größenordnung zu katapultieren, auch wenn er weiterhin weniger wiegt, trotz gewonnener Muskelmasse, die unter seinen türkisgrauen und beigen Schuppen gut erkennbar ist. Seit seinem Angriff auf Julius gab es keine Zwischenfälle, aber das liegt nur daran, dass er dank des Trainings so ausgelastet ist. Ich hoffe, in Zukunft andere Möglichkeiten zu finden, denn ich bezweifle, dass ich unser Trainingsprogramm für sehr viel länger durchhalte. Derzeit ist es eine Notwendigkeit, speziell wegen der Übergabe morgen Nacht, aber mir fallen zahlreiche Beschäftigungen ein, denen ich lieber nachgehen würde und auch wenn Gott jetzt erschöpft wirkt, weiß ich genau, dass er der nächstbesten Person an die Kehle springen würde, die mich nur schief ansieht. In befreie ihn grundsätzlich nur noch aus seinem Pokéball, wenn er kämpft oder wir alleine sind. Alles andere ist zu riskant. Leider. Ich seufze erneut und ziehe meine Knie eng an meinen Körper. "Was mache ich nur mit dir?", murmele ich leise. Gott streckt seinen Kopf nach hinten und schaut mich unschuldig an. "Schau nicht so", sage ich. "Du weißt genau, wo das Problem liegt." Er zuckt leicht zusammen, entrollt sich und setzt sich auf seine Hinterbeine, Kopf schiefgelegt. Er gibt ein zaghaftes Knurren von sich. "Ich weiß, dass du dich um mich sorgst", fahre ich ungerührt fort. "Aber ich habe Angst, dich noch stärker zu machen, wenn ich nicht weiß, dass du dich zurückhalten kannst. Und wie du dich verhalten wirst, wenn du dich entwickelst." Ein verletzter Schatten huscht über Gotts Züge. Er lässt sich auf alle Viere sinken, Rückenfeuer erloschen. "Tut mir leid", sage ich leise. "Bis ich dir auch unter Fremden vertrauen kann, ist Level 35 die Grenze. Ich werde dich nicht weiter trainieren. Du solltest auf dem Level stark genug sein, um mit den meisten Rockets fertig zu werden." Ich zwinge mich zu einem breiten Grinsen. "Du packst das schon, auch ohne Entwicklung." Meine Hand ist schon auf halbem Wege nach ihm ausgestreckt, als ich zurückschrecke. Gott zischt. Es ist kein Knurren, nicht ganz. Aber es genügt, um mir zu sagen, dass er mir die Entscheidung übel nimmt. Vorsichtig ziehe ich die Hand zurück. "Willst du so sehr stärker werden?", frage ich tonlos. "Reicht dir mein Training nicht?" Gott reißt den Kopf in meine Richtung, während ein hilfloses Fauchen seine Kehle verlässt. Ich will dich beschützen! Einige Sekunden lang starren wir einander an, dann wendet Gott sich ab und läuft voran Richtung Stadt.   Im Pokécenter verfasse ich eine kurze Mail an Mama, damit sie sich keine Sorgen macht oder denkt, ich hätte unsere Abmachung vergessen. Es ist noch nicht mal eine Woche her, seit ich sie zuletzt gesehen habe, aber ich möchte die Nachricht lieber jetzt aus dem Weg geschafft haben, bevor ich nach der Übergabe wieder einmal im Krankenhaus lande. Ich scheine ein Talent für solche Aktionen zu haben.  Ich logge mich aus und reibe mir missmutig über die Augen. Gotts Reaktion liegt mir schwer im Magen, nicht nur, weil ich nicht sicher bin, wie gut ich ihn unter Kontrolle habe, wenn er wütend auf mich ist, sondern weil es das erste Mal ist, dass er sich mir gegenüber aggressiv verhält. Frustriert mache ich mich auf den Weg nach oben, werde aber von Schwester Joy zurückgehalten, die meinen Namen ruft. "Was ist?", frage ich und bleibe vor ihrer Theke stehen. Sie ringt ihre Hände und schaut unwohl die Treppe hinauf, bevor sie sich wieder mir zuwendet. "Jemand hat heute Mittag nach dir gefragt", sagt sie. "Ich dachte, es ist ein Freund von dir, deswegen sagte ich ihm, dass du und Louis noch nicht zurück seid und dass er später wiederkommen soll. Er hat nach eurer Raumnummer gefragt und versichert, dass er auf dich warten würde." "Und?", hake ich nach. "Das war vor über fünf Stunden", sagt sie leise. "Er ist seitdem nicht herunter gekommen." Ratlos schweige ich einen Moment, schüttele jedoch den Kopf und verbanne die ungemütlichen Gedanken aus meinem Kopf. Es könnten eine ganze Menge Leute sein, die mich dort oben erwarten. Jeanne, zum Beispiel. Sie kennt schließlich meinen Namen und weiß, dass ich in der Stadt bin. Aber Schwester Joy hat von einem männlichen Freund gesprochen. Ich unterdrücke die Angst, die sich langsam in mir ausbreitet. Nicht zu wissen, wer mich dort oben erwartet, lässt meinen Mund trocken werden. Vielleicht sollte ich auf Louis und Valentin warten. Joy scheint meine Furcht zu erahnen, denn sie kommt hinter dem Tresen vor und nickt mir zu. "Ich begleite dich nach oben", sagt sie ernst. "Wenn es kein Freund von dir ist, sorge ich dafür, dass er dich nicht belästigen kann." Dankbar nicke ich und steige die Treppenstufen hinauf, die sich um eine Ecke winden und schließlich die Sicht auf den Flur des ersten Stockwerks freigeben. Er ist leer. "Merkwürdig", murmelt Joy und geht voran. Ich folge dicht hinter ihr. "Ich bin sicher, dass er nicht durch den Vordereingang hinausgegangen ist. Seit er hier war, habe ich meinen Posten nicht verlassen." "Vielleicht ist er über die Feuerleitern geflohen", meine ich und bleibe vor meinem eigenen Zimmer stehen. "Dort sind Kameras installiert", erwidert Joy. "Ich hätte ihn gesehen." "Na ja, vielleicht hat er sich im Raum vertan oder Sie haben ihn einfach nicht bemerkt", sage ich und schaue über die Schulter zu Joy, die mit zusammengekniffenen Augen den Gang mustert. "Sie haben schließlich viel zu tun, da kann Ihnen ein einzelner Trainer schon mal entgehen." "Du hast Recht", seufzt sie. "Ich bin unten, wenn du Hilfe brauchst." Kaum dass sie die Treppenstufen hinunter verschwunden ist, hole ich tief Luft und öffne mein Zimmer. Kalte Nachtluft strömt mir entgegen, während ich nach dem Lichtschalter taste. Das erste, was ich erkenne, ist das weit geöffnete Fenster. Das zweite ist Hundemon, das mit gefletschten Zähnen auf mich zuspringt und mich zu Boden reißt. Ich schreie nicht. Atme nicht. Hundemons Knurren vibriert bis tief in meinen Brustkorb, seine Kehle und sein Bauch pulsieren in einem dumpfen Rot, als es sich für eine Feuerattacke bereit macht. Es reißt das Maul auf und ich schließe die Augen. Das Gewicht verschwindet von meinem Brustkorb und als ich weder Zähne spüre, die sich in meinen Hals graben, noch Feuer, das mir ins Gesicht gespien wird, öffne ich zaghaft ein Auge. Hundemon sitzt vor mir und hechelt mich entschuldigend an. Um seinen Hals ist ein kleiner Brief gebunden. Es dauert einige Minuten, bis ich mein Zittern unter Kontrolle gebracht habe, meine Atmung sich beruhigt hat und mein Herz nicht mehr so heftig schlägt, dass es meinen Brustkorb jeden Moment zu zersprengen droht. Die Panik, die bei der Attacke in mir aufgekommen ist, schwindet langsam und schließlich schaffe ich es, mich aufzusetzen und den Brief von Hundemons Hals zu entfernen.   Wäre ich Melanie oder ein anderer Rocket, der dir Schaden zufügen möchte, wärst du jetzt tot. Ich hoffe, du nimmst dir meine Warnung jetzt zu Herzen, nachdem du weißt, dass Türen und Fenster keine Barrieren für uns darstellen. Wenn sie erfahren, wo du bist, ist es aus. Ich habe dir ein Souvenir dagelassen. Es liegt auf dem Bett. Ich möchte, dass du es bei unserem Termin morgen trägst.    Ich zerknülle den Brief in meiner Hand und lasse kraftlos meinen Rucksack zu Boden sinken. Hundemon nickt mir einmal zu, läuft zum Fenster und springt hinaus in die Nacht. Als erstes schließe ich das Fenster, dann kontrolliere ich das Bad und kehre anschließend ins Zimmer zurück. Dark ist nicht hier. Ich weiß nicht genau, wie ich mich bei dem Gedanken fühle, dass er in unser Zimmer eingebrochen ist, Hundemon hiergelassen hat, um mir eine Lektion zu erteilen und dann durch das Fenster aus dem Pokécenter geflohen ist. Da ist Wut. Aber ich komme nicht umhin, die Geste dankbar anzunehmen. Er hat Recht. Ich habe die Gefahr, die von Team Rocket ausgeht, unterschätzt. Auch wenn ich mich fühle, als wäre ich gerade zehn Jahre gealtert, hat die Aktion ihren Zweck erfüllt. Ich werde Saffronia City verlassen, sobald die Übergabe abgeschlossen ist. Jeanne weiß, dass ich hier bin. Und Joy hat meine Zimmernummer einfach an einen Fremden weitergegeben, nur weil der sich als ein Freund von mir ausgegeben hat. Ich bin nicht mehr sicher. Und schon gar nicht hier. Tief durchatmend gehe ich zum Bett. Zeit, herauszufinden, was Dark mit dem Souvenir meint. Ich muss nicht lange suchen. Auf meinem Kissen liegt, angelehnt an das Kopfende des Betts, eine Feurigelmaske. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)