Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 78: Wie ein echter Trainer (Zurück) ------------------------------------------- Es ist, als wären all diese Zeit meine Ohren mit Watte gestopft und meine Augen mit Scheuklappen versehen gewesen. In dem Moment, da sich der Pokéball öffnet und sich keins meiner Pokémon materialisiert, löst sich der Schleier der letzten Tage und ich fasse mir an den Kopf, in dem sich plötzlich höllische Kopfschmerzen anbahnen. Taub greife ich nach dem nächsten Pokéball, der nach seiner Position an meinem Gürtel Hunter sein sollte und öffne ihn. Leer. Skus Pokéball. Leer. Meine Hände beginnen zu zittern und ich starre auf die drei leeren Pokéballgehäuse auf dem Boden. Valentin, der näher gekommen ist, nimmt schluckend seine eigenen Pokébälle in die Hand und öffnet sie einem nach dem anderen. Das einzige Pokémon, das sich materialisiert, ist sein Maschock. Ein Wehklagen wird hinter mir laut, als Cornelia Flampions Pokéball überprüft und ihn, natürlich, leer vorfindet. Rose, die sich als einzige noch auf ihren Beinen hält, schluckt, als sie in die Runde schaut und tief Luft holt. „Ihr wurdet hypnotisiert“, sagt sie. „Ihr alle. Alle, die gegen Rita gekämpft und ihre Pokémon bei ihr im Zimmer haben heilen lassen. Eure Pokébälle wurden ausgetauscht und ihr wurdet manipuliert, damit ihr es nicht merkt. Und Claude…“ „Sie haben ihn“, sage ich. Das plötzliche Wissen, was in der letzten Nacht vor meinem Zimmer so gepoltert hat, schnürt mir die Kehle zu. „Er sollte ihnen nachschnüffeln, oder? Sie haben ihn entdeckt. Wahrscheinlich halten sie ihn irgendwo auf dem Schiff gefangen.“ „Genauso wie die gestohlenen Pokémon“, sagt Valentin und erhebt sich langsam. „Wir müssen sie finden.“ „Heimlich“, fügt Cornelia mit brechender Stimme hinzu. „Sie dürfen es nicht bemerken, bis es zu spät ist, sonst hypnotisieren sie uns gleich wieder. Und dieses Mal im großen Maßstab.“ Ich erhebe mich langsam und sammele die drei Pokéballhülsen auf, die ich bis vor wenigen Minuten noch für meine Teammitglieder gehalten habe. Einzig Gott scheint mir geblieben zu sein, denn ich habe nicht mit ihm gekämpft und ihn jede Nacht raus gelassen. Außerdem bezweifle ich, dass der Psycho einen Finsterball zum Austausch gehabt hätte. „Wir müssen uns irgendwo unterhalten, wo wir ungestört sind“, bringe ich schließlich hervor und nicke Rose zu, die sofort ihren Raum zur Verfügung stellt. „Wir müssen unsere Informationen zusammen tragen und besprechen, wie wir vorgehen. Und wem wir vertrauen.“ Rose nickt. „Folgt mir.“ In Roses Zimmer wird es mit vier Leuten ziemlich eng, aber schließlich sind alle untergebracht: Cornelia und ich auf den Stühlen am Tisch, Rose auf dem Bett und Val an den Schrank gelehnt. Ich bemühe mich, Roses Ausführungen aufmerksam zuzuhören, aber nach meiner schlaflosen Nacht fällt es mir schwer, meine Konzentration aufrecht zu halten und Val, der durch den Konflikt zwischen seinen eigenen Wünschen und der Hypnose ein echtes Fieber entwickelt hat, hat Mühe, überhaupt die Augen aufzuhalten. Rose wirft uns mitfühlende Blicke zu, redet aber ohne Unterbrechung und schließlich sind wir über alle ihre Nachforschungen aufgeklärt. Nachdem sich der Großteil des Schiffes merkwürdig zu benehmen begann, hatte sie bereits geahnt, dass irgendetwas vor sich geht, aber erst durch Claude, der für sie hinter mir und Cornelia her spioniert hat, ist ihr das Ausmaß des Ganzen bewusst geworden und sie hat den Zusammenhang zwischen dem Heilraum und den Hypnosetricks geschlossen, die der Psycho uns am ersten Abend auf dem Schiff gezeigt hat. Im Nachhinein kommt mir alles so selbstverständlich vor, aber meine Erinnerungen an die letzten Tage, die ich unter dem anhaltenden Einfluss der Hypnose gestanden habe, sind in meinen Erinnerungen von einem weißen Rauschen unterlegt. „Claude wollte mir heute Morgen berichten, mit wem Rita jede Nacht telefoniert und was die anderen Gruppenmitglieder auf dem Gang zu tun haben, darüber hatte Cornelia sich schließlich oft genug beschwert.“ „Aber sie haben Claude entdeckt und gefangen genommen“, beende ich für sie. Rose nickt schwach. „Ich hätte das nicht von ihm verlangen sollen…“ „Unfug“, sagt Cornelia. „Du hast wie ein echter Trainer gehandelt. Claude und wir anderen, wir sind Teil eines Teams. Und der Teamleiter entscheidet, wie er die Stärken seiner Mitglieder am besten für die Zwecke der Gruppe einsetzen kann. Das hast du getan. Hm! Dass Claude nun gefangen wurde, ist ein Rückschlag, genauso wie der Verlust unserer Pokémon. Aber wir werden sie wieder bekommen.“ „Es kann nicht allzu viele Orte geben, wo sie Claude und die Pokémon verstecken können“, sage ich nach einer Weile. „Vorschläge?“ „Unbenutzte Zimmer“, sagt Valentin. „Das Lager“, schlägt Cornelia vor. Roses Gesicht hellt sich auf. „Der Maschinenraum!“ „Sehr gut.“ Ich nicke zufrieden. „Rose, du nimmst wieder dein Schreibprogramm unter der Treppe auf. Vielleicht schaffst du es, Claude eine Nachricht zukommen zu lassen oder zumindest herauszufinden, ob er dort unten gefangen ist. Wenn sie Claude wirklich dort gefangen halten, müssen sie ihm ab und zu essen bringen. Außerdem scheinen sie die gestohlenen Pokémon nachts irgendwo hin zu transportieren. Wir müssen herausfinden, wie viele Wachen sie dort unten stationiert haben, wer Zugang zu den Maschinenräumen hat und wie wir sie am besten überrumpeln.“ „Sollten wir nicht die Polizei rufen?“, fragt Valentin und Cornelia nickt. „Auch den Kapitän sollten wir kontaktieren.“ „Was mich zum zweiten Themenpunkt bringt“, fährt Rose fort. „Wem können wir trauen und wen sollen wir einweihen?“ „Die Polizei“, wiederholt Val. „Sie werden zwar Probleme haben, während der Fahrt her zu kommen, ohne zu großes Aufsehen zu erregen, aber wir sollten sie auf jeden Fall über die Diebstähle informieren.“ „Ich stimme Valentin zu“, sage ich und denke an Golds Rat, den er mir bei unserem letzten Treffen gegeben hat. „Nun, ich für meinen Teil bezweifle, dass die Polizei derzeit an irgendetwas anderem als Team Rocket interessiert ist“, meint Cornelia ein wenig säuerlich. „Und mit denen haben wir es hier ja wohl eindeutig nicht zu tun.“ Rose schüttelt den Kopf. „Sie sind oft inkognito unterwegs. Abby, was denkst du? Du hast die meiste Erfahrung mit ihnen.“ Ich denke einen Moment lang nach. „Ich kann nicht ausschließen, dass sie für Team Rocket arbeiten oder sie irgendwie unterstützen“, sage ich schließlich. „Aber ich glaube nicht, dass sie Teil der Kernorganisation sind. Nachdem ich ihre Pläne in der Safari-Zone vereitelt habe, sollte inzwischen so gut wie jeder von ihnen mein Gesicht kennen. Und wenn sie sich trauen, Claude direkt unter unseren Nasen zu entführen, dann hätten sie das bei mir auch gemacht und sich das Kopfgeld gesichert.“ Ich zucke die Achseln. „Oder sie handeln wirklich auf eigene Faust und haben nichts mit Team Rocket zu tun. Ich habe keine Ahnung.“ Cornelia beobachtet mich wachsam. „Ich werde einmal ignorieren, dass Team Rocket ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt hat und deinen Worten Glauben schenken“, sagt sie dann. „Auch wenn ich sicher bin, dass es eine faszinierende Geschichte ist.“ „Faszinierend und sehr lang“, sage ich grinsend. „Was ist mit dem Kapitän?“, fragt Rose. „Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber wir sollten ihm trotzdem Bescheid sagen“, meine ich. „Und wir werden die Unterstützung einiger der Matrosen brauchen. Sie werden merken, dass Claude fehlt und uns bestimmt helfen können, wenn es hart auf hart kommt. Ich kann zumindest für Stanz bürgen.“ „In Ordnung.“ Rose, die inzwischen mehr oder weniger das Kommando unserer Operation übernommen hat, klatscht in die Hände. „Ich werde den Maschinenraum im Auge behalten und hoffentlich herausfinden, ob Claude dort festgehalten wird. Cornelia, du kontaktierst bitte den Kapitän und die Polizei. Dir wird man eher Glauben schenken als drei Jugendlichen. Abby und Valentin, ihr behaltet unauffällig Rita und den Psycho im Auge. Den Feuerspucker und den zweiten Jongleur habe ich seit Tagen nicht mehr gesehen, wir müssen also davon ausgehen, dass sie im Maschinenraum oder wo auch immer stationiert sind und nachts die Gänge patrouillieren. Wenn ihr könnt, folgt ihnen, aber bleibt auf der sicheren Seite.“ Ich werfe Cornelia einen Blick zu und sie lächelt wissend. Rose schaut uns verwirrt an.„Was ist so lustig?“ „Nichts“, sage ich grinsend. „Ich dachte nur gerade, dass du eine prima Pokémontrainerin abgeben würdest.“   Auf Cornelias Befehl hin machen Valentin und ich uns nach der Besprechung auf den Weg in unsere eigenen Zimmer, um ein wenig Schlaf nachzuholen. Vor allem Val schläft halb im Stehen ein und wenn wir heute Nacht zurechnungsfähig sein wollen, müssen wir uns ein wenig Erholung gönnen. In meinem Zimmer angekommen lasse ich mich auf mein Bett fallen, rufe Gott aus seinem Finsterball und tätschele die Decke neben mir. Er wirft einen misstrauischen Blick auf den brennbaren Stoff, fährt dann sein Rückenfeuer herunter und springt neben mich. Ich wickele mich gemeinsam mit ihm in die Decke und lehne mich gegen Wand, an die das Bett gestellt ist. Er schaut verwirrt zu mir auf. „Sku und die anderen wurden gestohlen“, flüstere ich und schlucke die Tränen hinunter, die ich schon seit heute Morgen zurück halte. „Aber wir werden sie zurückholen. Sie und Claude.“ Gott brummt zustimmend und reibt sich enger an mich. Nun kommen mir doch die Tränen und ich bleibe lange einfach still sitzen, Gott in meinen Armen, die Augen geschlossen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich von Sku getrennt wurde. Damals in den Alph-Ruinen war ich nicht sicher, ob ich sie je wieder sehen würde, aber immerhin wusste ich, dass sie sicher in dem Tresor aufbewahrt war. Dann, als sie ins Meer geworfen wurde, hatte ich keine Zeit, über irgendetwas anderes nachzudenken, als ihr hinterher zu springen. Aber jetzt muss ich geduldig sein und warten, bis wir die Oberhand in diesem Spiel gewinnen. Und Hunter und Jayjay… Sie sind schon seit Tagen nicht mehr bei mir. Schuldgefühle, bitter wie Galle, steigen in meiner Kehle auf und ich presse Gott enger an mich. Ich weiß nicht, wie ich einschlafe. Aber irgendwie gelingt es mir.   Als ich aufwache, ist es schon dunkel, was Anfang Januar nicht viel zu sagen hat. Gott hat sich irgendwann aus meiner Umarmung frei gestrampelt und döst jetzt auf dem Tisch, während seine auf und ab sinkende Rückenflamme unregelmäßige Lichtflecken an die Decke und Wände wirft. Vorsichtig wickele ich mich aus der Decke und stehe schwankend auf. Die schlimmsten Kopfschmerzen sind verklungen, aber ein stetiges Pochen an meiner rechten Schläfe bleibt bestehen. Ich rufe Gott zurück und werfe einen Blick auf mein Handy. Inzwischen ist fast sieben Uhr. Zeit für ein Abendessen. Im Speisesaal entdecke ich weder Cornelia noch Rose, die vermutlich beide mit ihren jeweiligen Aufgaben beschäftigt sind, aber Valentin sitzt an einem der Tische und löffelt seine Suppe. Ich hole mir mein eigenes Abendessen und lasse mich neben ihm an den Tisch sinken. „Gut geschlafen?“, frage ich leise. Er nickt stumm und schiebt mir dann einen zusammen gefalteten Zettel zu, den er vorbereitet zu haben scheint. Ich entfalte ihn unauffällig und lese die Botschaft. Wir müssen so aussehen, als seien wir noch hypnotisiert Nichts leichter als das. Ich setze mein leidendstes, müdestes Gesicht auf und beginne, meine Suppe mit trägen Bewegungen aufzuessen. Während wir so nebeneinander sitzen und uns darum bemühen, die Aura eines Toten zu imitieren, lasse ich unauffällig meinen Blick über die anderen Passagiere gleiten. Diejenigen, die unter Nebulaks Hypnose stehen, sind leicht zu erkennen. Dunkle Augenringe, starrer Blick und eintönige Konversation sind ihre Markenzeichen und es verängstigt mich, noch heute Morgen einer von ihnen gewesen zu sein. Kein Wunder, dass Rose so panisch war. „Ich muss einen Weg finden, mit Stanz zu sprechen“, flüstere ich tonlos. Valentin hebt unauffällig den Kopf und überprüft die Seite des Speisesaals, die ich ohne den Kopf zu drehen nicht beobachten kann. „Rita ist nicht hier“, murmelt er. „Aber der Jongleur.“ „Isst er?“ „Nein“, sagt Valentin leise. „Er sitzt nur da und beobachtet uns.“ „Du musst ihn ablenken, damit ich in die Küche schleichen kann“, flüstere ich zurück. „Wir werden Stanz brauchen, wenn wir irgendwo hinwollen.“ Valentin schnaubt. „Ich werd´s versuchen.“ Wir essen unsere Suppen zu Ende und unterhalten uns eine Weile laut über das einzige Thema, das Hypnotisierte interessiert: Der nächste Kampf gegen Rita und wie gut es unseren Pokémon geht. Es macht mir Angst, wie leicht mir die monotonen Worte über die Lippen gehen, ganz als hätten sie sich in mein Gehirn gebrannt. Schließlich steht Valentin auf, geht an mir vorbei und zu dem Jongleur, der überrascht aufsieht. Ich erhebe mich ebenfalls und trage mein Tablett zur Bar, so als wolle ich nur mein Geschirr dort abgeben. Valentin positioniert sich so, dass er den Blick auf mich blockiert und beginnt dann, den Jongleur anzuflehen, noch heute Abend ein Duell gegen Rita bestreiten zu dürfen. Ich nutze die kurzzeitige Ablenkung, husche hinter die Bar und schleiche geduckt zur Tür in die Kombüse. Als der Matrose, der Cornelias Tee hochgeschickt hat, durch die Tür tritt, fällt er fast über mich, aber ich mache ein zischendes Pst! und husche an ihm vorbei durch den offenen Türspalt. In Sicherheit vor den Augen des Jongleurs richte ich mich erleichtert auf, ignoriere die kuriosen Blicke der Köche und mache mich mit gestrafften Schultern auf den Weg zu dem langen Tisch, an dem ich bereits Stanz´ breites Kreuz erkenne. Ich tippe ihn von hinten an und warte, bis er sich zu mir umgedreht hat, dann lehne ich mich vor und flüstere ihm ins Ohr: „Wir müssen reden.“   „Das sind ernste Anschuldigungen“, sagt er, nachdem ich ihm die Situation erklärt habe und wir etwas abseits in der Ecke der Großraumküche stehen. „Es ist nicht unmöglich, dass jemand die Schlüssel zum Maschinenraum oder zum Lager gestohlen hat, speziell mit der Fingerfertigkeit eines Jongleurs… Es würde zumindest das Verhalten der Trainer erklären. So etwas habe ich in meiner gesamten Zeit an Bord noch nicht erlebt.“ „Wirst du uns helfen?“, frage ich. Stanz nickt. „Wenn sie Claude und all die Pokémon wirklich entführt haben, dann ist es unsere Pflicht, zu helfen! Ist der Kapitän schon informiert worden?“ Ich nicke. „Gut. Aber ihr regelt das nicht auf eigene Faust“, sagt er dann. „Wenn ihr sicher seid, wo sie Claude und die Pokémon haben, kommt zu mir.“ „Werden wir“, sage ich. „Keine Sorge.“ Nachdem Stanz mir seine Zusage und seine Handynummer gegeben hat, verlasse ich unter viel Schleichen und um die Ecke Gucken die Küche, merke aber schnell, dass ich mir die Mühe hätte sparen können. Valentin und er Jongleur sind verschwunden und auch der Gang bis zur Treppe ist frei. Ich steige die Stufen hinauf und halte zur Sicherheit selbst jetzt meinen müden Gang und den ausdruckslosen Blick aufrecht. Als ich das erste Stockwerk erreiche, will ich gerade in den Korridor zu meinem Zimmer einbiegen, da packt mich jemand von hinten und presst eine Hand auf meinen Mund. Ich beiße in die Finger, höre einen unterdrückten Aufschrei, reiße mich los und stehe Val gegenüber, der seine gebissene Hand durch die Luft wedelt und mich wütend anschaut. Dann zieht er mich aus dem Flur, deutet stumm in den Gang, den ich gerade betreten wollte und macht mit den Händen das Werfen und Fangen von Bällen nach. Ich nicke mein Verständnis und lasse mich von ihm zu seinem Zimmer führen. „Bleib am besten bis heute Nacht hier“, sagt er, kaum dass wir die Tür hinter uns geschlossen haben. „Wenn du ihnen aus deinem Zimmer heraus folgst, kannst du dich nicht so gut verstecken wie wenn sie schon halb die Treppe unten sind.“ „Werden wir sie hören?“, frage ich und er nickt. „Wenn sie nicht plötzlich ihr Gehverhalten ändern, wirst du jeden Schritt mitkriegen. Außerdem knarzt eine der Stufen, wenn man mit zu viel Gewicht darüber geht. Spätestens dann werden wir wissen, dass sie hier sind.“ Wir lassen uns neben der Tür auf den Boden sinken und lauschen auf das noch so kleinste Geräusch, obwohl wir wissen, dass die nächtlichen Gänge erst nachts stattfinden.  „Ich habe vor dem Essen kurz mit Rose gesprochen“, sagt Val nach einer Weile.„Sie hat Geräusche aus dem Maschinenraum gehört und ist ziemlich sicher, dass Claude dort ist. Cornelia hat die Polizei erreicht, aber die können nicht vor morgen Abend hier sein, weil wir auf dem Meer mit maximalem Abstand zu Kanto und Johto sind und sie keinen der erfahrenen Polizisten absetzen können. Der Kapitän wird frühestens morgen Zimmerdurchsuchungen anordnen können und die wird den ganzen Tag dauern.“ „Haben sie das mitbekommen?“, frage ich. „Wir müssen davon ausgehen, dass sie heute Nacht alle verdächtigen Gegenstände nach unten bringen. Rose wird über Handy mit uns in Kontakt bleiben, also schalte es stumm.“ Genau das tue ich. Dann schreibe ich Stanz eine SMS, in der ich ihm von der Situation berichte und ihn bitte, sich für etwaige Notfälle bereit zu halten. Danach heißt es warten.   Ich muss eingenickt sein, denn als Val plötzlich mein Knie antippt, schrecke ich auf. Er deutet stumm zur Tür und legt ein Ohr an das Holz. Ich folge seinem Beispiel. Schritte. Dann ein lautes Knarzen, gefolgt von weiteren Schritten. Er nickt mir zu und wir stehen leise auf. Dann, vorsichtig, öffnen wir die Tür seines Zimmers und schleichen hinaus in die Dunkelheit. Gebückt folgen wir dem Gang bis zum Treppenabsatz, wo Valentin die Gänge sichert und ich den Weg nach unten überprüfe. Eine Gestalt ist im unteren Stockwerk angelangt und folgt nun dem Gang nach links, Richtung Untergeschoss, wo das Lager und der Maschinenraum sind. Ich mache eine hektische Bewegung und lasse Valentin den Vortritt, der weiß, wo sich die knarzende Stufe verbirgt. Beinahe lautlos schleichen wir die Treppe hinunter und folgen danach der Person, immer eng an die Wände gepresst und mit flachem Atem. Erst, als die einzelne Gestalt die Treppe hinunter steigt, wird mir der Ernst der Lage klar. Rose muss noch dort unten sein! Panisch schaue ich zu Val, dessen Augen sich weiten, bevor er gebückt über den Boden läuft und mit viel zu geringem Abstand die Treppe hinunter schleicht. Ich folge, leiser, aber langsamer und verfluche mich dafür, Rose nicht sofort Bescheid gegeben zu haben. Hoffentlich sieht man sie unter der Treppe nicht auf den ersten Blick. Plötzlich geht der Strahl einer Taschenlampe im Untergeschoss an und erleuchtet den Gang bis zum Maschinenraum mit einem gespenstisch flackernden Lichtkreis. Valentin und ich halten den Atem an, wagen aber nicht, stehen zu bleiben. Jetzt heißt es alles oder nichts. Im schwachen Licht der Lampe kann ich zumindest erkennen, um wen es sich bei diesem nächtlichen Ausflug handelt. Es ist der Jongleur, den Valentin im Speisesaal ablenken musste und der bisher immer den Pot festgehalten hat. Über die linke Schulter hat er einen großen Rucksack geschlungen, den er festhält. Als der Moment kommt, da er sich neben der Treppe umdrehen muss, um dem Gang zu folgen, weiten sich seine Augen bei unserem Anblick, denn natürlich stehen wir völlig ungeschützt auf den mittleren Treppenstufen. Sein Mund öffnet sich zu einem Ausruf, aber da taucht Rose plötzlich unter der Treppe auf und schlägt ihn mit ihrem Collegeblock mitten ins Gesicht. Val springt die Treppe halb herunter, macht am Geländer eine scharfe Kurve und schlägt dem Jongleur mit zwei präzisen Handkantenschlägen in die Seiten seines Halses. Ohne einen Laut klappt der Mann in sich zusammen und wird im letzten Moment von Val aufgefangen, bevor er auf dem Boden aufschlagen kann. „Gute Arbeit“, flüstert Valentin an Rose gewandt. Sie nickt matt, strafft dann aber ihre Schultern und beginnt, die diversen Taschen des Mannes zu durchsuchen. Ich mache mich unterdessen an dem Rucksack zu schaffen. Als ich den Reißverschluss aufziehe, quellen mir dutzende von Pokébällen entgegen. „Keine Chance“, flüstere ich. „Das wird eine längere Suchaktion, bis wir unsere Pokémon wieder haben.“ Val nickt und geht in die Knie, um den Jongleur auf dem Boden abzulegen. „Schlüssel?“, fragt er Rose. Frustriert schüttelt sie den Kopf. „Keinen, den ich so schnell finden könnte. Vielleicht besitzt er sie auch nicht und es gibt ein Passwort oder einen Klopfcode oder so etwas in der Art.“ „Ich rufe Stanz an“, sage ich. „Er hat einen Schlüssel. Wenn wir sie überraschen wollen, dann heute Nacht, bevor jemand das Verschwinden von dem hier merkt.“ Wir warten kaum drei Minuten, bevor ich Schritte über uns höre und zur Treppe gehe. Stanz schleicht hinunter, was bei seiner Größe und dem damit verbundenen Gewicht nicht ganz einfach ist. Valentin schaut immer wieder paranoid zu dem Jongleur, der noch bewusstlos auf dem Boden liegt, aber hin und wieder einen Laut von sich gibt und leicht zuckt. Stanz schaut auf den Mann herab, dann seufzt er. „Seit ihr Kids absolut sicher, dass die Zirkustruppe Pokémon stiehlt?“ Rose und ich nicken gleichzeitig. „In Ordnung.“ Er bückt sie und hebt den Jongleur hoch. „Abby, der Schlüssel zum Maschinenraum ist in meiner Hosentasche. Ich bringe den hier an einen sicheren Ort und komme dann wieder. Wartet so lange hier.“ Ich nehme den Schlüssel und beobachte dann, wie Stanz um eine Ecke verschwindet, den bewusstlosen Jongleur in seinen Armen. „Was ist eigentlich mit Cornelia?“, frage ich leise. „Sie ist unsere Sicherheitsleine, sozusagen“, erklärt Rose. „Wenn uns etwas passiert, kann sie der Polizei und dem Kapitän Bescheid sagen.“ Stanz kommt nur wenige Minuten später zurück und gemeinsam stellen wir uns vor der Tür zum Maschinenraum auf. Ich schaue mich noch einmal zu meinen Begleitern um. Rose, deren kinnlange Rasterlocken verwegen in ihr Gesicht hängen und die mit nichts als einem Kugelschreiber bewaffnet ist, Valentin, der Maschocks Pokéball am Gürtel trägt und ganz auf unser Ziel fokussiert zu sein scheint und Stanz, der wie ein Berg hinter ihnen steht und uns allen den Rücken stärkt. Der Pokéball, in dem sich vermutlich sein Quaputzi befindet, hält er lose in einer Hand. Meine eigene fährt ein letztes Mal testend über Gotts Finsterball, dann stecke ich den Schlüssel ins Schloss und atme tief durch. „Also gut“, sage ich und drehe ihn um. „Packen wir´s an.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)