Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 73: Das Strudelinselrennen (Entscheidungen) --------------------------------------------------- Es ist tief in der Nacht, als Holly alle Verhöre zu ihrer Zufriedenheit abgeschlossen hat und uns mit Gold und den festgenommenen Rockets verlässt, um sie in das Polizeipräsidium in Saffronia City zu bringen, denn obwohl auch Johto eigene Polizeistationen hat, teilen sich beide Regionen das Gefängnis. Schwester Joy bietet uns dreien in Anbetracht der Umstände ein kostenloses Viererzimmer an, das wir dankend annehmen. Als Rose und ich Louis jedoch davon erzählen, schüttelt er den Kopf. „Ich bleibe hier.“ „Schwester Joy sagt, Winry wird nicht vor morgen Mittag aufwachen“, sage ich ruhig und lege eine Hand auf seine Schulter. „Du solltest schlafen.“ „Das kann ich ´eh nicht.“ Ich schaue besorgt zu Rose. „Sollen wir bei dir bleiben?“, fragt sie vorsichtig, aber Louis schüttelt den Kopf. „Ihr könnt ruhig hoch gehen, macht euch keine Sorgen.“ Er hebt den Kopf. „Ich will nur bei ihr sein, das ist alles.“ Ich umarme Louis ein letztes Mal fest von hinten, dann gehen Rose und ich ins Bett.   Am nächsten Morgen wache ich früher auf, als mir lieb ist. Ich stöhne und wälze mich auf die andere Seite, aber irgendjemand zieht meine Decke weg und als ich verzweifelt danach greife, falle ich halb aus dem unteren Teil des schmalen Hochbetts. Ich öffne ein Auge. Rose steht über mir, Decke in der Hand und lächelt mich an. Ihre Augen sind verquollen und dunkel unterlaufen und ich wette, dass meine nicht besser aussehen, aber sie scheint sich gefangen zu haben. „Aufstehen“, sagt sie. „Du hast Schwimmtraining.“ „Schwimm…training?“ Ich starre sie an. „Ich war gestern erst nach 3:00 Uhr im Bett!“ „Soll das eine Ausrede sein?“, fragt jemand von draußen. Ich reiße den Kopf in die Höhe. Vals Gesicht erscheint in dem schmalen Türspalt, den Rose offen gelassen hat. „Guten Morgen.“ „Morgen“, sage ich perplex und setze mich vorsichtig auf. „Was machst du denn hier?“ „Dich abholen. Das Rennen ist in einer Woche. Du hast keine Zeit, auszuschlafen.“ „Aber ich hätte eigentlich erst heute Abend zurückkommen sollen!“, protestiere ich. „Ich habe euch doch gesagt, dass ich mindestens zwei Tage oben in der Safari bin.“ „Ein paar von den älteren Schwimmern waren gestern Nacht noch unterwegs und haben dich mit der Polizei zum Pokécenter gehen sehen. Du warst beim Aufwärmen nicht da, also haben sie mir davon erzählt und ich bin hergekommen.“ „Sag bloß, du schwänzt das Aufwärmen, nur um mich abzuholen?“ „Steh einfach auf und komm mit“, sagt Val und öffnet die Tür, um in unser Zimmer zu spähen. „Wir sind schon viel zu spät.“ „Ich weiß nicht...“ Hilfesuchend schaue ich zu Rose. Sie hilft mir auf. „Ich kümmere mich um Louis, keine Sorge.“ „Vielen Dank, Rose.“ Ich zögere, dann umarme ich sie. „Ich bin wirklich froh, dass du hier bist.“ „Ich auch. Aber du solltest jetzt wirklich los.“ Gesagt, getan. Val schaut mir ungeduldig dabei zu, wie ich meinen Rucksack zusammenpacke und keine zwei Minuten später laufen wir die Treppen hinunter, an Schwester Joy vorbei und hinaus in den frischen Dezembermorgen. Val zwingt mich zu einem lockeren Jogg, aber zu meiner großen Überraschung fällt er mir nicht mehr so schwer wie noch vor einigen Wochen. Das tägliche Aufwärmtraining mit dem ASV und meine regelmäßigen Fluchten haben mich abgehärtet und so schaffe ich es sogar, eine Unterhaltung mit ihm zu führen, während wir uns dem Strand hinter der Stadt nähern. „Warum kümmert es dich, ob ich bei dem Wettbewerb… mitmache oder nicht?“, frage ich zwischen zwei Atemzügen. „Bis vor kurzem wolltest du mich doch… überhaupt nicht dabei haben.“ „Was soll das denn für eine Frage sein?“, fragt er. „Du schwimmst leidenschaftlich, natürlich will ich, dass du teilnimmst.“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Du bist ziemlich nervig und unvorsichtig, aber das heißt nicht, dass ich dich vom Schwimmen abhalten will“, fährt er fort. „Niemand sollte von dem abgehalten werden, was ihm am wichtigsten ist.“ Dieser eine Satz und mit einem Mal ist die Stimmung gedrückt. „Hast du mal darüber nachgedacht, nicht Arenaleiter zu werden?“, frage ich vorsichtig. Val schaut mich überrascht an. Dann schüttelt er den Kopf. „Mein Vater würde mich umbringen.“ Er wird langsamer, bis er nur noch geht und ich folge seinem Beispiel. „Außerdem habe ich nichts dagegen, Arenaleiter zu werden. Ich will nur nicht, dass er mir das Schwimmen verbietet.“ „Vielleicht brauchst du einfach andere Erfahrungen mit dem Kampfsport“, schlage ich nach einer Weile vor. „Du bist immer gedrillt worden, du hast nie selber Spaß daran gefunden. Und dein Vater hat dir Druck gemacht. Vielleicht würde es dir sogar Spaß machen, wenn du mal etwas Abstand von dem Erwartungsdruck hast.“ Valentin schaut mich an und lacht dann laut. Ich bleibe verwirrt stehen. „Was ist?“ „Nichts“, er wischt sich über die Augen. „Genau das gleiche hat Kat erst gestern zu mir gesagt. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass ihr Mädchen für mich den Psychologen spielt.“ „Pff“, mache ich, aber insgeheim freue ich mich. Es ist das erste Mal, dass Valentin in meiner Gegenwart wirklich gelacht hat. Wir hatten einen holprigen Start, aber auch wenn er manchmal etwas arrogant und schnippisch ist, mag ich ihn. „Vielleicht sollte ich das wirklich“, sagt Val schließlich und schaut in die Ferne aufs Meer, wo wir schon die schnelleren der Schwimmer bei der Rückkehr von ihrer ersten Runde erkennen können. „Kat sagte, du reist Ende Dezember ab. Wohin geht es?“ „Zurück nach Kanto“, erwidere ich und denke an unser Haus am Hafen. An Mama. Plötzlich kann ich es gar nicht mehr erwarten, zurückzukehren, selbst wenn es nur ein kurzer Aufenthalt ist. „Ich bin seit August weg von zu Hause und muss mich dort mal wieder blicken lassen.“ „Du fährst mit der Fähre, nehme ich an?“ „Ja. Rose kommt auch mit.“ „Das Mädchen von eben?“ Ich nicke. „Gibt es in Kanto eine Kampfarena?“, fragt er dann und ich spüre, dass er mit der Idee liebäugelt. „Nicht direkt“, antworte ich. „Es gab eine inoffizielle Arena in Saffronia City, die sich auf Kampfpokémon spezialisiert hat, aber der Andrang dort ist so gering, dass sie gleichzeitig als Dojo und Karateclub genutzt wird. Und um Bruno zu treffen, müsstest du mit der Seesprintfähre auf die Eilande fahren, dort lebt und trainiert er, soweit ich weiß.“ Valentin schaut nachdenklich geradeaus, dann joggt er plötzlich wieder los und ich muss mich bemühen, Schritt zu halten.   Der Rest der Woche bis zu dem Rennen vergeht in einer merkwürdigen Dynamik. Das Schwimmtraining mit Kat, Val und dem Rest des ASV ist anstrengend wie immer, aber ich bin dankbar für die Zerstreuung, die es mir gewährt. Im Vergleich dazu ziehen sich die Abende im Pokécenter in die Länge und die Stimmung bleibt gedrückt. Winry erwacht am Abend nach ihrer Operation, ist aber noch so schwach, dass sie kaum alleine essen kann und schläft fast sofort wieder ein. Louis bemüht sich, nicht allzu deprimiert zu wirken, aber sein Lächeln ist gezwungen und wenn wir es tatsächlich einmal schaffen, ihn zum Lachen zu bringen, stellt sich bei ihm sofort das schlechte Gewissen ein, weil er sich keine Freude eingestehen will, solange es Winry noch so schlecht geht. Nach und nach erholt sie sich aber und schließlich erklärt Schwester Joy sie als fit genug, das Krankenbett für einige Stunden pro Tag zu verlassen. Percy bringt täglich Salben und andere Medikamente vorbei, die den Heilungsprozess von Pokémon beschleunigen sollen und berichtet mir von dem Mädchen, das ich mehr oder weniger mit ihm verkuppelt habe. Anscheinend kommen er und Helga gut miteinander klar. Ich weiß nicht, inwiefern seine Erzählung von der pinken Brille seiner Liebe verzerrt ist, aber die Tatsache, dass sie ihn noch nicht fortgejagt hat, spricht schon mal für sich. Valentin erwähnt unser Gespräch mit keinem Wort, aber in unseren Pausen am Strand erwische ich ihn mehrmals mit einem zerfledderten Guide über Kanto und Kat wirft mir öfter als gewöhnlich vielsagende Blicke zu.   Am Abend vor dem 20. Dezember kann ich vor Aufregung kaum schlafen. Sku liegt neben mir unter der Decke und wacht mit halb geschlossenen Augen über mein nervöses Herumwälzen, bevor sie ein grollendes Schnurren von sich gibt und eine Pfote auf meine Nase drückt. „Ich kann nichts dafür“, verteidige ich mich flüsternd. Rose schläft bereits und sogar Louis ist in unser Zimmer gezogen. Sein Schnarchen erfüllt die nächtliche Ruhe. „Ich kann Christine einfach nicht überholen!“ Sku kuschelt sich enger an mich und ich seufze leise. Ihre roten Augen schauen mich gelassen an. Du packst das schon. „Das sagst du so leicht“, murre ich, aber ihre ruhige Atmung und das regelmäßige Brummen, das von ihr ausgeht, beruhigen mich dennoch. Ich schlafe ein, bevor ich es merke.   Obwohl es noch etwa zwei Stunden bis zum Wettbewerbsbeginn sind, ist der Strand gefüllt. Seit gestern haben die Mitglieder des ASV außerhalb des Trainings Stände, Siegertreppchen und Fahnenwimpel aufgebaut und nun stehe ich gemeinsam mit den anderen Teilnehmern in einer langen Reihe vor der Nummernausgabe, um uns herum die regen Gespräche der Zuschauer, die zu großen Teilen aus Freunden und Familienmitgliedern bestehen. Hartwig kann ich nirgends entdecken, aber eine Frau mittleren Alters mit grau gesträhntem Dutt hat sich vor einigen Minuten mit Valentin unterhalten. Ich recke den Kopf, um einen Blick auf ihn und Kat zu erhaschen, die sich als Senioren des Clubs gemeinsam um die Organisation und jetzt um die Anmeldungen kümmern. Die Schlange verkürzt sich langsam aber stetig und ich nutze die Zeit, um Ausschau nach Louis und Rose zu halten, die irgendwo in der Menge verschwunden sind, um sich etwas zu Essen und einen guten Stehplatz zu sichern. Als ich schließlich an der Reihe bin, muss ich auf einer Liste unterschreiben, die Kat mir zwinkernd reicht und erhalte dann von Valentin zwei Teilnehmernummern, die mit wasserfestem Klebstoff beschichtet sind. Ich ziehe die Schutzfolie ab und pappe mir das weiße Schild auf den Bauch, während Val die zweite Nummer auf meinem Rücken anbringt. Dann nickt er zufrieden und wendet sich dem nächsten Schwimmer zu. Die Zeit bis zum Beginn des Wettbewerbs vertreibe ich mir mit den anderen ASV-Mitgliedern beim gemeinsamen Aufwärmen, denn auch wenn Spannung und Rivalität in der Luft liegen, ist der Club eine eingeschweißte Truppe und obwohl ich erst seit wenigen Wochen dabei bin, gehöre ich heute endlich vollends dazu. Als es fast soweit ist, kommen auch Val und Kat zu uns, machen die Runde und wünschen jedem Glück oder tauschen kleine Witzeleien aus. Ich warte darauf, dass sie zu mir kommen, da tippt mir jemand auf die Schulter. Erschrocken drehe ich mich um, Hand zu meiner Hüfte schießend, wo ich sonst immer meine Pokébälle aufbewahre. Christine schaut mich verwundert an und ich könnte mich im nächsten Moment ohrfeigen, aber die Paranoia, die mich seit dem Kampf in der Safari-Zone begleitet, ist noch nicht ganz verklungen. „Hey“, sage ich und lasse schnell meine Hand sinken. „Hey“, erwidert Christine belustigt. Bisher haben wir kaum ein einziges Wort miteinander gewechselt. Mir wird mit einem Mal bewusst, dass ich keine Ahnung habe, was für eine Person sich hinter der schwarzen Lockenmähne verbirgt, die sie für den Wettbewerb in einen engen Zopf gezwungen hat. „Was gibt’s?“, frage ich ungelenk. Sie reckt mir ihre Hand hin. „Ich wollte dir viel Glück beim Wettkampf wünschen.“ Ihre Augen funkeln, aber sie scheint es ernst zu meinen. „Möge die Bessere gewinnen.“ Ich schaue auf ihre dargebotene Hand, dann zurück zu ihr. Grinsend schlage ich ein. „Dir auch viel Glück. Du wirst es brauchen.“ Sie lacht herzhaft. „Das bezweifle ich.“ Ich will etwas erwidern, aber da ertönt schon Kats laute Stimme durch ein Megaphon, dass die Teilnehmer anweist, sich an der Startlinie aufzustellen. Christine löst ihre Hand aus meinem Griff und als sie sich abwendet, peitscht ihr Zopf durch die Luft. Ich schaue ihr nach. Möge die Bessere gewinnen.   Wasser schlägt mit jedem Schwimmzug gegen mich und ich wechsele zwischen einatmen und unter Wasser ausatmen, während ich versuche, meinen schlechten Start wieder wett zu machen. Der Rhythmus, den ich mir beim Training so mühsam angeeignet habe, will mir heute nicht gelingen und so kämpfe ich mich in der ersten Runde durch die rauen Wellen und versuche, meine Energiereserven nicht zu früh auszuschöpfen. Normalerweise bin ich jetzt schon an mindestens der Hälfte aller anderen Schwimmer vorbei. Was ist los mit mir? Wütend auf mich selbst und auf meinen Körper, der nicht so arbeitet, wie ich es von ihm gewohnt bin, breche ich durchs Wasser, eine mühsame Armlänge nach der anderen. Das würde zum Rest meiner Woche passen, wenn ich im Training immer gut war und beim eigentlichen Wettkampf kläglich versage. Christine hatte Recht. Wenn hier jemand Glück braucht, dann eindeutig ich. Wann immer mein Kopf für einige Momente durch die Wasseroberfläche bricht, entdecke ich Christine, die schon zu Beginn zügig an mir vorbei gezogen ist. Sie weiß, dass ich auf Ausdauer ausgelegt bin, deswegen muss sie ihren Vorsprung so früh wie möglich ausbauen. Bisher gelingt es ihr prächtig. Valentin hat vom ersten Moment an jeden außer Kat abgehängt, die nah an ihm dran ist, aber immer weiter hinter dem Senior zurück fällt. Damit ist sie uns anderen trotzdem noch um Längen voraus. Ich atme falsch und komme aus dem Rhythmus, was mir den Schwung nimmt und im nächsten Moment zieht ein weiterer Schwimmer an mir vorbei. Frustriert verdoppele ich meine Anstrengungen, nur um einige Meter später wieder langsamer zu werden, weil ich meine Sprintstärke überschätzt habe. Das ist wirklich nicht mein Rennen. Hoch, runter, hoch, runter. Das Wasser steigt und sinkt über den Rand meiner Schwimmbrille und als ich mich dabei erwische, wie meine Gedanken zu Louis, Winry und Holly abdriften, wird mir mit einem Mal bewusst, was mein Problem ist. Ich denke zu viel nach. Hollys enttäuschte Worte und meine Schuldgefühle hallen in meinem Kopf hin und her und ich schaffe es kaum, mich auf das hier und jetzt zu konzentrieren. Dabei ist es so einfach. Jetzt so gut wie möglich abzuschneiden ist das einzige, was ich noch beeinflussen kann. Ich kann nicht vorwärts gehen, wenn ich mir nicht selbst verzeihe. Ich habe große Fehler gemacht. Aber ich werde sie nicht wiederholen. Und egal was ich tue, ich werde Team Rocket zur Strecke bringen. Nichts wird sich mir in den Weg stellen. Sie werden für das bezahlen, was sie Louis, mir und all den anderen Trainern angetan haben. Die Wut, die sich in mir aufbaut, beflügelt meine Arme und Beine und plötzlich ist es, als hätte ich nie einen schlechten Start hingelegt. Dies ist die Disziplin, die ich liebe. Die ich beherrsche. Es ist so einfach. Mein Einschluss und das zufriedene Gefühl, eine Entscheidung getroffen zu haben, vertreiben die düsteren Gedanken aus meinem Kopf und jede meiner Bewegungen wird stärker. Langsam aber sicher nehme ich Geschwindigkeit auf und ziehe an dem Jungen vorbei, der mich vor kurzem noch überholt hat. Ich muss sie einen nach dem anderen überholen. Es wird nicht leicht werden. Christine hat einen beachtlichen Vorsprung und die erste Runde um die Inseln ist schon fast zu Ende. Aber ich kann es schaffen. Einer nach dem anderen. Als ich dieses Mal zum ausatmen untertauche, schwimme ich nicht mehr gegen das Wasser, sondern mit ihm. So, wie es von Anfang an hätte sein sollen.   Meine Lunge und meine Muskeln brennen, während ich wie ein Pfeil durchs Wasser schieße. Nur noch wenige Meter trennen mich von Christine und dem ersehnten dritten Platz. Leider trennen Christine und die Zielgerade ebenfalls nur noch etwa fünfzig Meter. Die Aufholjagd hat mich mehr mitgenommen als beabsichtigt, aber jetzt zwinge ich meinen Körper, über seine Grenzen hinauszugehen. Langsam, ganz langsam komme ich Christine näher, die vor mir durchs Wasser schwimmt und genau wie ich einen Zahn zulegt. Die Jubelrufe, die am Strand ausbrechen, rücken in weite Ferne. Wahrscheinlich beglückwünschen sie Valentin und Kat, die hintereinander ins Ziel gekommen sind. Das stetige Platschen von Wasser und mein eigener Atem füllen meine Ohren und blenden alles andere aus. Ich werde gewinnen. Der  Gedanke allein treibt mich weiter an, während er wie ein Mantra wieder und wieder durch meinen Kopf hallt. Ich habe auf dieser Insel so viel verbockt. Dieses Mal werde ich nicht verlieren. Nicht hier. Nicht jetzt. Und mit diesem Entschluss fest in mir verankert, ziehe ich an Christine vorbei, die verzweifelt mit ihren Beinen schlägt und für einige Momente schwimmen wir Kopf an Kopf. Das Ende der Strecke ist nur noch wenige Meter entfernt. Ich muss es schaffen. Ich muss. Ich muss! Eine letzte Anstrengung, einige letzte Züge, und ich durchquere die Zielgerade, kaum einen Meter vor Christine. Was danach passiert, kann ich im Nachhinein kaum noch zusammensetzen. Christine und ich bleiben im seichten Wasser, Arme und Beine zu zittrig, um aufzustehen. Irgendwann kommen Val und Kat und helfen uns an den Strand, wo mich bereits Rose, Louis und sogar Percy erwarten und umarmen. Ich falle halb in ihre Arme. Eine Banane essend sitze ich schließlich mit ihnen im Sand etwas abseits der größten Menschenmenge und trinke Wasser in kleinen Schlucken. Nach und nach kommen auch die anderen Schwimmer ins Ziel und schließlich ziehen sich Val und Kat in den ASV-Stand zurück, um die letzten Vorbereitungen vor der Siegerehrung zu treffen. Die Ehrung selbst läuft sehr herzlich ab. Da Kat und Valentin beide selbst zu den Gewinnern zählen, übernimmt Hartwigs Ehefrau die Medaillen- und Preisgeldübergabe. Wie benommen stehe ich auf dem kleinsten der Treppchen, immer noch in meinem langärmligen Bikini und nur mit meiner Winterjacke darüber und betrachte die Bronzemedaille, das ASV-T-Shirt und den Umschlag mit den 15.000 PD in meinen Händen, während Val sich nach vorne beugt, um die Goldmedaille umgehängt zu bekommen. Applaus brandet zum dritten Mal auf, wir lächeln in die Kamera, damit ein Foto von den winterlichen Gewinnern geschossen werden kann und steigen schließlich von dem Podest herab. Kat umarmt mich einmal fest und gibt mir einen dicken Kuss auf die Wange. „Du hast es tatsächlich geschafft! Ich hätte nicht gedacht, dass du Chrissi auf der Endgeraden noch einholen würdest.“ Verlegen und gleichzeitig sehr zufrieden grinse ich. Val überrascht mich mit einem breiten Lächeln und umarmt mich ebenfalls, wenn auch nur flüchtig. „Glückwunsch.“ „Danke“, sage ich. „Und danke für das Shirt und dass ihr mich habt mit trainieren lassen und für die Schwimmbrille und… für alles, eigentlich. Vielen Dank.“ Kat grinst selbstgefällig und Val knufft ihr in die Wange. Dann blickt er zu mir. „Hast du jetzt noch etwas vor?“, fragt er. Ich schüttele den Kopf. „Ich wollte ins Pokécenter zurück und duschen und mich umziehen, danach habe ich Zeit.“ Misstrauisch schaue ich ihn an. „Warum?“ „Komm danach zu mir nach Hause. Es steht direkt neben der Arena.“ Kat zieht schwungvoll eine Augenbraue hoch. „Fragst du heute?“ Mir geht ein Licht auf. Ich nicke enthusiastisch. „Ich beeil mich!“ Dann renne ich zu Louis und den anderen zurück, die in der Menge auf mich warten. Wie versprochen dusche ich in Rekordzeit, ziehe mir das neu erworbene T-Shirt unter meine Winterjacke und binde meine Haare zu einem losen Zopf zusammen und laufe sofort aus dem Pokécenter und in Richtung Arena. Kat und Val erwarten mich vor einem für Anemonia City Verhältnisse ausladendem Strandhaus mit indigoblauen Ziegeln und etwas abseits der Bretterwege. Als sie mich entdecken, erheben sie sich. „So sehr hättest du dich nun auch nicht beeilen müssen“, meint Kat grinsend und legt kameradschaftlich einen Arm um meine Schulter. „Val will die Sache am liebsten vor sich herschieben.“ „Will ich nicht“, erwidert er, aber es klingt halbherzig. Kat zwinkert mir zu, dann lässt sie von mir ab und klopft Val aufmunternd auf den breiten Rücken. Er atmet tief durch, dann holt er einen Schlüssel aus seiner Tasche und öffnet die Eingangstür. Wir treten nacheinander ein. Hartwigs Haus wirkt, als hätte jemand einst versucht, es stilvoll einzurichten, nur um im Chaos der Bewohner kläglich zu versagen. Weiche Teppiche sind auf dem Holzboden ausgelegt und die Regale und Anrichten mit poliertem Treibgut und Korallen dekoriert, aber zahllose Medaillen, Pokale, Trainingsklamotten, Wäschekörbe und Urkunden nehmen der Einrichtung jede Art von Ordnung, obwohl alles sauber gehalten ist. „Ich habe Freunde mitgebracht!“, ruft Val zur Begrüßung, welchem Kat ein fröhliches Huhu! nachfügt. Ich murmele ein halblautes Hallo und folge den beiden in das Wohnzimmer, das eine große Couch, eine Trainingsecke mit Hanteln und anderen Gerätschaften und einen Esstisch bereithält. „Da bist du ja“, begrüßt Hartwigs Frau uns und schaut aus einem benachbarten Raum zu uns ins Wohnzimmer. Der Schürze und dem Messer in ihrer Hand nach zu urteilen, ist es die Küche. „Ich wusste nicht, dass du Besuch mitbringst. Soll ich für fünf kochen?“ „Ja, bitte“, erwidert Val und schaut sich im Wohnzimmer um. „Ist Vater noch im Dojo?“ „Wahrscheinlich, aber er wollte rechtzeitig zum Essen zurück sein.“ Sie schaut ihren Sohn misstrauisch an. „Hast du etwas mit ihm zu besprechen?“ Val nickt, aber sie fragt nicht weiter nach, sondern verschwindet wieder in der Küche. Er drängt uns an den Esstisch, bringt Getränke und Gläser und so unterhalten wir uns, bis eine halbe Stunde später die Eingangstür zuschlägt. Gespannt drehe ich den Kopf. Als Hartwig ins Wohnzimmer tritt, ist seine fleischige Hand um den Griff einer gigantischen Sporttasche geschlungen und ein Handtuch hängt um seine nackten Schultern. Wie zuvor schaut seine Frau aus der Küche hinaus und nimmt das Bild mit missbilligendem Blick auf. „Du wirst krank werden, wenn du geschwitzt und halbnackt durch den Wind läufst“, schilt sie ihn. Hartwig schnaubt. „Abhärtung, Henni. Mein Körper muss den Elementen standhalten können, sonst ist er zu schwach, um meinen Willen auszuführen.“ Sein Blick fällt auf uns. „Hallo, Katja“, begrüßt er sie mit einem sehr neutralen Ton. „Und du bist?“ Zeit, meinen Charme anzuschalten. Val wird jede Unterstützung brauchen. „Ich bin Abby, Louis´ Freundin.“ Hartwigs Gesicht hellt sich augenblicklich auf. „Ah, er hat von dir erzählt! Ein waschechter Kerl, der Junge. Noch ist er schwach, aber sein Wille wird ihn weit bringen. Wie geht es ihm? Ich habe gehört, sein Pokémon ist krank.“ „Verletzt“, stimme ich zu. „Es ging ihr sehr schlecht, deswegen wollte er sie nicht alleine lassen.“ Hartwig nickt. „Das Band zu seinen Pokémon ist sehr wichtig. Leider sieht das nicht jeder so.“ Sein Blick gleitet missbilligend zu Val und ich verziehe innerlich das Gesicht. Ich wollte keine negative Aufmerksamkeit auf ihn lenken. „Ich habe eine sehr enge Bindung zu meinen Pokémon“, erwidert Val ruhig, aber dennoch mit einer gewissen Intensivität. „Erzähl das deinem Maschock.“ Die beiden funkeln sich an. Ich werfe Kat einen hilfesuchenden Blick zu. So sollte das Gespräch nicht laufen. Sie räuspert sich. „Henni, warum essen wir nicht erst und unterhalten uns danach über die ernsten Themen?“ „Eine hervorragende Idee“, wirft Henni ein und kommt mit einem großen Topf voller dampfendem Eintopf und einem Korb frischen Brots in den Raum. „Hartwig, zieh dir etwas an, so isst du nicht an diesem Tisch.“ Das Abendessen verläuft in angespanntem Schweigen, das Henni durch Fragen an mich und Kat aufzulockern sucht, aber es gelingt ihr nur teilweise, denn Hartwig und Valentin werfen sich regelmäßig feindselige Blicke zu. Schließlich jedoch sind wir alle gesättigt und obwohl Valentin so aussieht, als würde er das folgende Gespräch gerne bis in die Unendlichkeit verschieben, wendet er sich an seinen Vater. „Ich möchte nach Kanto reisen“, sagt er ohne Vorwarnung. Henni lässt ihre Gabel fallen und das echoende Klirren zieht die folgende Stille in die Länge. „Nein“, sagt Hartwig schließlich. „Auf keinen Fall.“ „Ich will nicht weglaufen“, erwidert Valentin ruhig. „Abby kommt aus Kanto. Dort gibt es ein großes Dojo, in dem Trainer mit ihren Pokémon trainieren können und Bruno lebt auf den Eilanden. Wenn ich diese Arena eines Tages übernehmen soll, möchte ich das aus eigenen Stücken tun und nicht, weil du mich gezwungen hast. Aber wenn ich hier bleibe, werde ich den Kampfsport schon sehr bald hassen. Und dann werde ich wirklich weglaufen.“ Seine Mutter hebt vorsichtig die Gabel auf und legt sie auf die Tischplatte. Dann schaut sie zu Hartwig, der mit versteinertem Gesichtsausdruck auf seinen Sohn starrt. „So dankst du es mir?“, fragt er. „All die Jahre, die ich dich an den Sport herangeführt habe, die Pokémon, die ich dir geschenkt habe, und du willst mein Dojo verlassen?“ „Ich will nicht für immer weg bleiben. Nur für ein paar Monate.“ „Ein paar Monate?!“, donnert Hartwig. „Ein paar Monate ohne Training und du wirst aus der Übung kommen! Wer wird dich zwingen, zu trainieren, wenn du alleine unterwegs bist? Du wirst nur wieder deinem sinnlosen Hobby-“ „Vater…“ „-deinem sinnlosen Hobby nachgehen und wenn du zurückkommst, war alles umsonst!“ „Ist es so schwer zu glauben, dass ich am Kampfsport Spaß haben könnte, wenn ich nur von deiner Fuchtel wegkomme?!“, schreit Valentin und springt auf. Kat und ich sinken in unseren Stühlen tiefer nach unten. „Du scherst dich nicht um die Arena und du scherst dich nicht um den Sport!“, brüllt Hartwig genauso hitzig. „Wenn ich dich nicht zwinge, wirst du so verweichlicht bleiben und dann kannst du niemals in meine Fußstapfen treten! Ich wünschte, ich hätte einen anderen Sohn!“ Valentin, der bei dem Wortgefecht nur wütend aussah, zuckt regelrecht zusammen. Seine Mutter steht auf, geht auf Hartwig zu – und schlägt ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. „Sprich nie wieder so mit unserem Sohn“, fährt sie ihn an. Dann stellt sie sich neben Val. „Der Junge ist siebzehn, Hartwig. Eines Tages wird er seinen eigenen Weg gehen, ob wir es wollen oder nicht. Und wenn er sagt, er möchte die Freude an der Kampfkunst in Kanto finden, wer sind wir, ihm das zu verbieten?“ Hartwig schaut verdattert von seiner Frau zu seinem Sohn, dann seufzt er und rauft sich die Haare. „Val ist kein Lügner“, sagt Kat. „Wenn er sagt, dass er sich in Kanto mit dem Kampfsport auseinander setzen möchte, dann wird er das tun.“ „Vielleicht lässt sich ein Kompromiss finden“, schlage ich vor. Henni nickt eifrig. Hartwig zögert, dann lässt er sich auf seinen Stuhl zurück plumpsen und reibt sich mit seiner gigantischen Hand die Stirn. „Also schön“, gibt er sich schließlich geschlagen und nimmt Val in Augenschein. „Unter folgenden Bedingungen: Du bezahlst Hin- und Rückreise aus eigener Tasche.“ Val nickt. Wenn er jeden der bisherigen Wettbewerbe gewonnen hat, sollte Geld das Geringste seiner Probleme sein. „Außerdem möchte ich, dass du uns einmal wöchentlich anrufst und uns über deinen Fortschritt berichtest. Und du wirst dir in Prismania City einen Wasserstein kaufen und Quaputzi endlich zu einem Quappo entwickeln.“ Nun entgleisen Vals Gesichtszüge doch. „Vater, muss ich wirklich-“ „Das ist meine Bedingung“, fährt Hartwig eisern fort. „Und da du mit dem Magnetzug zurück nach Dukatia City fahren kannst, wirst du dort Maschock im Globalen Terminal zu einem Machomei entwickeln.“ Val schließt die Augen. Dann seufzt er und schaut resigniert zur Seite. „In Ordnung. Ich werde mein Arenateam voll entwickeln, im Dojo trainieren, Bruno besuchen und alle Kosten selbst tragen.“ Henni gibt ein leises Schluchzen von sich, dann umarmt sie Val und schließlich auch Hartwig. „Wann willst du abreisen?“, fragt Hartwig, ein wenig mürrisch. Val schaut zu mir und grinst leicht. „In einer Woche.“   An diesem Abend sitze ich zusammen mit Louis auf seinem Bett, Winry schlafend über unseren Beinen drapiert. Ihre Atmung ist noch ein bisschen holprig, weil sie Schmerzen in der Schulter hat, aber sie fiept leise und zufrieden, während wir abwesend durch ihr beigegestreiftes Fell streicheln. „Ich habe nachgedacht“, sagt Louis schließlich in die Dunkelheit hinein. Außer dem Mondlicht von draußen haben wir keine Lichtquelle. „Ich werde meine Protrainerkarriere aufgeben.“ Ich sage nichts, sondern lehne mich nur enger an ihn. Was kann ich schon sagen. Über den Lauf des Abends habe ich mich ein dutzend Mal entschuldigt und Louis hat mich ein dutzend Mal beruhigt. Wir haben außerdem die eine oder andere Träne vergossen, aber die Zeit für Reue und Bedauern ist nun vorbei. Wir müssen nach vorne schauen. „Was wirst du tun?“, frage ich sanft. „Vorerst hier bleiben, denke ich.“ Er atmet erschöpft aus. „Mit Hartwig trainieren. Darauf warten, dass Winry sich wieder erholt.“ Sie zuckt mit den Ohren, lässt die Augen aber geschlossen. „Sie hat sich für mich geopfert, Abby. Sie hat mein Leben gerettet und jetzt ist sie… verkrüppelt. Wenn ich sie einfach zurücklasse, könnte ich mir das nie verzeihen. Und wohin es mich jetzt treibt… mal sehen.“ Ich nicke. „Versprich mir eins Abby“, flüstert er und seine Stimme klingt energischer als noch zu vor. Energisch genug, dass ich den Kopf drehe und ihm in die strahlend blauen Augen schaue. „Bring Team Rocket zu Fall. Und bitte, bleib am Leben.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)