Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 70: Eine Frage der Ethik (Dark) --------------------------------------- Die nächsten Tage verstreichen schnell. Louis nimmt meinen Rat an und stellt sich in Hartwigs Dojo vor, jetzt froh, Klaus gefangen zu haben. Die beiden trainieren dort vor- und nachmittags, während ich mein Schwimmtraining mit dem ASV fortsetze. Valentin redet weiterhin nur mit mir, wenn es sein muss, aber er wirkt nicht mehr ganz so unnahbar wie zuvor und auch mit Kat verstehe ich mich immer besser. Nur das schwarzhaarige Mädchen, das sich auf mein Nachfragen hin als Christine entpuppt, bereitet mir Kopfzerbrechen. Sie ist die drittschnellste im Club und Anwärterin auf einen Seniorenposten. Sie ist außerdem meine erbittertste Rivalin im Wasser. Ich brauche nur einige Tage, um an den restlichen Mitgliedern vorbeizuziehen, aber ich schaffe es partout nicht, Christine zu überholen. Egal, wie sehr ich mich anstrenge, sobald ich zu ihr aufhole, legt sie mit einem Mal ungeahnte Kräfte an den Tag und so erreiche ich stetig als dritte den Strand. Dritte im Training bedeutet vierte bei dem Wettbewerb, denn eines wissen wir alle: Valentin ist mit Abstand der beste Schwimmer auf der Insel. Je länger ich ihn beobachte, desto öfter sehe ich ihn zusammen mit seinen Wasserpokémon. Rose hat Recht, er scheint auf ihr Temperament eingestimmt zu sein und wenn er nicht regelmäßig mit neuen blauen Flecken auftauchen würde, könnte ich fast vergessen, was ihn zu Hause und im Dojo erwartet. Bei unseren Mittagspausen im Café berichtet Louis mir allerdings in epischer Breite von dem Zwist zwischen Vater und Sohn. „Er kommt immer erst abends zum Training, wenn ich schon gehen will“, erklärt er mir mit vollem Mund. „Hartwig und er kriegen sich fast sofort in die Haare. Und wenn er Valentin anschreit, sieht es so aus, als wollten sie sich gegenseitig an die Kehle springen.“ Ich schlürfe an meinem Tamottee und denke an die anstrengenden Trainingseinheiten mit dem ASV. Wie Valentin es schafft, danach noch Kampfsport zu betreiben, ist mir schleierhaft. Einmal begehe ich den Fehler, Valentin direkt darauf anzusprechen. Er wirft mir einen wütenden Blick zu. „Was ist dein Problem?“, fragt er gereizt. „Misch dich nicht in Sachen ein, die du nicht verstehst. Und hör auf, deinen Schleimerfreund für dich rumschnüffeln zu lassen.“ „Schleimerfreund?“, frage ich hitzig. „Er heißt Louis, und er ist ganz sicher nicht da, um dir nachzuschnüffeln!“ „Nein, er ist da, um sich bei meinem Vater beliebt zu machen, damit er die VM von meiner Mutter bekommt.“ Ich erröte und Valentin lacht humorlos. „Dachtest du, das merke ich nicht? Und es macht die Situation nicht einfacher für mich, wenn es dich interessiert“, fährt er fort. „Jeden Abend muss ich mir anhören, dass selbst irgendein dahergelaufener Trainer mehr Motivation zeigt, als ich. Hast du irgendeine Ahnung, wie müde ich abends bin? Wie scheiße ich mich fühle, wenn ich sowas höre?“ Es ist das erste Mal, dass seine Stimme ihre gewohnte Ruhe verliert und ich bin so überrumpelt, dass ich kein Wort zu meiner Verteidigung hervorbringe. Und dann sind da noch zwei Dinge, die mir schwer im Magen liegen. Ich habe bereits fünfmal versucht, Raphael anzurufen und ihm genauso viele SMS und Mails geschrieben, aber er antwortet nicht. Er hat sich schon öfters lange nicht gemeldet, aber nicht so abrupt, nicht, ohne mir Bescheid zu sagen, dass er lange Zeit nicht erreichbar sein wird. Nicht, wenn ich so verzweifelt versuche, ihn zu erreichen. Das alles wäre aber nur halb so schlimm, hätte Alfred nicht im Radio verkündet, dass Raphael und Richard beide beschlossen haben, nach ihrem achten Arenasieg eine Rundreise durch Sinnoh zu machen, um sich zu entspannen. Warum ist Genevieve nicht mit von der Partie? Raphael würde mit Sicherheit lieber mit ihr verreisen, als mit Richard. Außerdem hat er mir gesagt, er wolle die Safari-Zone in Fuchsania City besuchen. Kein Wort von einem Trip nach Sinnoh. Und warum klang Alfred bei der Verkündung so… emotionslos? Was immer los ist, solange Raphael sich nicht mit mir in Kontakt setzt, kann ich nichts tun. Und meine Gedanken sind ohnehin noch mit einer anderen Problematik beschäftigt. Holger. Mehr als einmal habe ich mein Handy in der Hand gehalten, Hollys Nummer angewählt, Daumen über der Anruftaste schwebend. Jedes Mal lege ich es zurück in meine Tasche. Ich kann Holly nicht anrufen. Ich weiß, dass ich ihr Bescheid sagen müsste, dass ich nicht weiß, wer kommen wird, wie stark sie sein werden. Wir werden Unterstützung brauchen, aber die Art, wie Holly bei unserem letzten Telefonat mit mir geredet hat, sitzt mir noch in den Knochen. Was, wenn sie mir nicht glaubt? Oder wenn sie mir glaubt, aber die falschen Schlüsse zieht und meine Informationen mit Zach in Verbindung bringt? Was, wenn Zach bei der Lieferung dabei ist? Ich kann es nicht riskieren. Richard würde mich umbringen, wenn ich Zach verrate, nur weil ich meinen Mund gegenüber der Polizei nicht halten kann. Es ist meine Schuld, dass er überhaupt seinen Traum aufgeben musste und entdeckt wurde. Ich bin den beiden etwas schuldig. Erst muss ich herausfinden, wer an der Lieferung beteiligt ist und was geliefert wird. Wenn Zach nicht dabei ist, kann ich immer noch die Polizei rufen. Auch wenn Holly mir dann vermutlich den Hals umdrehen wird. Wütend lasse ich mich nach hinten gegen die ausgebleichte Außenwand der Strandhütte sinken und starre in den Himmel. Es ist noch nicht ganz dunkel, aber Louis ist noch nicht zurück. Sonntag hatte das Dojo geschlossen und er hat die Zeit genutzt, seine frisch gefangenen Pokémon ein wenig im Kampf zu erproben. Glen hat sich wie erwartet als wackerer Kämpfer entpuppt, dem es an Kreativität nicht mangelt und Klaus scheint das Kämpfen gegen andere Pokémon auch zu genießen, zumindest, wenn er einen vollen Magen hat. Mit Gina gibt Louis sich die meiste Mühe, sie zahlt es ihm dafür aber am wenigsten zurück. Die meisten seiner Befehle ignoriert sie und wenn er ihr zu nahe kommt, schnappt ihr Schwanz nach ihm. Nur ein Trainingstag und Louis´ Hand ist schon voller Bisswunden und blauer Flecke. Immerhin läuft sie nicht weg, aber wer weiß. Vielleicht wartet sie nur auf den richtigen Augenblick. „Abend!“ Ich schrecke hoch. Louis taucht hinter der Hütte auf und lässt sich ächzend neben mir in den Sand plumpsen. „Boah, bin ich erledigt.“ Er grinst mir zu und ich wuschele ihm durchs Haar. „Also, was ist der Plan?“, fragt er nach einigen Minuten, die wir schweigend aufs Meer geschaut und die Stille genossen haben. „Morgen ist Freitag“, sage ich. „In der Nacht findet die Übergabe statt. Wir sollten morgen früh zur Safari-Zone gehen, danach müssen wir einen Weg finden, einzubrechen.“ „Einzubrechen?“, fragt Louis überrascht. „Ich dachte, du wolltest Holly anrufen.“ Ich schüttele den Kopf. Louis weiß nicht, dass Zach kein Verräter ist und ich will es ihm nicht sagen. Nicht, wenn die Möglichkeit besteht, dass Holly ihn als nächstes aufs Korn nimmt. Und wenn Zach wirklich auftauchen sollte, muss ich nicht mal so tun, als hätte ich ihn laufen lassen. Wenn wir es mit Trainern seines Kalibers zu tun haben, können wir ohnehin nicht viel ausrichten. Louis schaut mich einige Sekunden erwartungsvoll an, merkt dann, dass ich nicht vorhabe, ihm zu antworten und seufzt resigniert. Als Dankeschön, dass er nicht nachfragt, lasse ich mich ein wenig zur Seite sinken, bis unsere Schultern aneinander liegen. „Tut mir leid, dass ich dich da wieder mit reinziehe“, murmele ich leise. „Aber es ist alles ein bisschen kompliziert. Wenn es nur um mich ginge, würde ich es dir erklären, aber…“ Er legt einen Arm um meine Schulter. „Schon in Ordnung. Sag mal…“ „Hm?“ „Du reist bald ab, oder?“ Ich schlucke. „Du warst dabei, als ich das Ticket gekauft habe.“ „Ja, ich weiß.“ Er seufzt und lässt seinen Kopf zur Seite sacken, bis er auf meinem aufliegt. „Ich werde dich ziemlich vermissen.“ „Sieh es positiv“, sage ich und schiele zu ihm hoch. „Wenn ich weg bin, kannst du wieder in einem ordentlichen Bett schlafen und musst mein Essen nicht mehr bezahlen.“ Er lacht und drückt mich etwas fester. „Bleibt das… also…“ Er stockt. „Was?“ „Sind wir jetzt zusammen?“, fragt er mit zittriger Stimme. „Ich weiß, ich habe damals gesagt, dass es nicht auf Distanz funktionieren wird und all das, aber…“ Er ringt nach Worten und schaut mich schließlich hilflos an. „Sofern ich das nächste Jahr überlebe“, beginne ich grinsend und Louis unterdrückt ein Lachen, „…bin ich offen für einen Versuch.“ „Naja, du weißt ja, wo du mich das nächste halbe Jahr findest“, sagt Louis und grinst mich breit an. „Ich komme hier wohl nicht so schnell weg.“ „Ist notiert…“, murmele ich leise und lehne mich etwas mehr an ihn. Sein Arm um meine Schulter drückt mich fest und ich spüre, wie seine Lippen meine Schläfe streifen. Ich ignoriere die Träne, die wenige Sekunden später folgt.   ooo   „Fast geschafft“, sagt Louis, der sich vor mir durch das hohe Gras auf Route 48 schlägt, Winry dicht neben ihm und Glen an seinem Rucksack hängend. „Heute zumindest keine Zwischenfälle.“ Ich nicke und denke an die Ibitak und Habitak zurück, dank denen ich fast die Klippe hinunter gestürzt wäre. Bei der Erinnerung kribbelt die Narbe an meiner Handinnenfläche und ich balle sie zu einer Faust. Ich weiß immer noch nicht, warum Gold dort war. Hat er trainiert? Nein, dafür hat er keine Zeit. Außerdem war er die letzten neun Jahre verschwunden, um zu trainieren. Er muss für´s erste genug davon haben. Jayjay trabt mit etwas Abstand über die Wiese, Hunter auf seinem Rücken. Sein Flügel ist gut verheilt, aber er hat mit längeren Flugstrecken noch Probleme und wird schnell müde. Und zu Fuß sind Ibitak nicht unbedingt elegant unterwegs. Gott trottet an meiner Seite durchs Gras, seine Rückenflamme zu einer knisternden Glut reduziert. Dass ich den Maulkorb weggeworfen habe, scheint ihn beruhigt zu haben und es fühlt sich gut an, sein Vertrauen zu spüren und zu wissen, dass ich mich auch auf ihn verlassen kann. Bisher war ich wegen seines Verhaltens immer skeptisch, aber jetzt, da ich mir endlich die Mühe gemacht habe, seine Aggressionen nachzuvollziehen, kommt er mir gleich viel weniger bedrohlich vor. „Dein Plan“, sagt Louis und wird langsamer, bis ich zu ihm aufschließe. „Bleibt es bei dem, was du mir erklärt hast?“ Ich nicke. „Wenn nichts dazwischen kommt.“ „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, Abby.“ Er reibt sich die Nase. „Was da mit dir und Holly ist… kann das nicht ruhen? Hier geht es um Team Rocket.“ „Ganz genau“, sage ich und starre an ihm vorbei zu der umgebauten Villa, die hinter dem Torbogen auftaucht und in die Höhe ragt. „Das ist das Problem.“ Als wir das Pokécenter erreichen, ist es bereits später Abend. Noch etwa drei Stunden bis zur Lieferung. „Ah, schon wieder hier?“, fragt Schwester Joy und schaut von ihrem Computer auf. „Möchtest du noch Mal auf Pokémonsuche gehen?“, fragt sie Louis spitz. Er schüttelt den Kopf. „Ich will, dass Girafarig sich von seiner Herde verabschieden kann“, sagt er und schaut flüchtig in meine Richtung. „Ich habe sie ziemlich abrupt gefangen, vielleicht hilft ihr das, Vertrauen zu mir zu fassen.“ Schwester Joys Gesicht nimmt sofort weichere Züge an. „Das ist sehr einfühlsam von dir. Wollt ihr ein Zimmer oder bleibt ihr wieder draußen?“ „Draußen“, sage ich. „Aber wir würden unsere Pokémon gerne heilen.“ Während die Pokébälle nacheinander von Schwester Joy in die Maschine gelegt werden, redet Louis leise mit mir. „Ich kann nicht gut lügen, Abby…“, murmelt er. „Ach was, das hast du super hinbekommen“, ermutige ich ihn. „Und es ist nicht weit hergeholt. Du solltest Gina vielleicht wirklich die Möglichkeit geben, wenn das hier erledigt ist.“ „Ich fühle mich sehr unwohl bei der ganzen Sache.“ „Denk dran, worauf es hier ankommt“,  ermahne ich ihn leise. „Die größte Hürde wird Rose sein. Sie muss dir glauben.“ „Jaja", murmelt er. "Ich gebe mein Bestes." Ich küsse ihn flüchtig auf den Mundwinkel und folge dann Schwester Joys Winken, die mit unseren Pokémon fertig ist. Als wir wieder vor dem Pokécenter stehen, atme ich tief durch. "Okay, du gehst dir jetzt einen Termin machen und ich kundschafte die Luft aus. Um zehn Uhr geht es los." "Geht klar." Louis winkt mir, dann läuft er zum Safari-Eingang. Der Plan ist im Grunde sehr simpel. Während Louis den Haupteingang nimmt und so in die Savanne kommt, werde ich von außen in die Areale eindringen. Und das heißt von oben. Ich schlendere zurück Richtung Route 48 und suche mir dort einen Weg durch die umliegenden Wälder, bis ich eine kleine Lichtung finde, von der aus ich einen großen Fleck grauen Himmel ausmachen kann. Dann rufe ich Hunter. Er krächzt liebevoll, als er mich sieht und flattert mit den Flügeln. Ich bezweifle, dass er mit mir auf dem Rücken lange in der Luft bleiben kann. Wir müssen uns beeilen. Ich streiche ihm einige Minuten über das weiche Brustgefieder und erkläre ihm die Situation. Dann sitze ich auf. Der Start ist ein wenig holprig. Hunter ist lange nicht mehr mit zusätzlichem Gewicht geflogen und er braucht einige Sekunden, bevor er sich der Schwerkraft entgegen setzen kann und langsam in die Höhe hievt, Zentimeter um Zentimeter, bis wir die Baumkronen hinter uns lassen und er die Winde nutzen kann. Das Rauschen in meinen Ohren wird lauter und lauter, bis ich nichts anderes mehr hören kann und ich lenke Hunter in einem Bogen um den Platz vor der Safari, wo das Pokécenter steht und langsam in Richtung der Areale. Wie erwartet sind große Teile der Safari von oben umzäunt, nur einige Stellen liegen frei. Hunter gleitet durch die Lüfte, schlägt nur ab und an mit den Flügeln und ich liege flach auf seinem Rücken, um unter uns nach dem richtigen Areal Ausschau zu halten. Wir sind gerade einmal zehn Minuten in der Luft, als Hunter langsamer wird. "Alles okay bei dir?", frage ich besorgt und schaue an seinem Hals vorbei zu ihm. Hunter krächzt halbherzig und legt sich nochmal für einige Meter richtig ins Zeug, bevor er den Kopf schüttelt und sich absinken lässt. Verzweifelt halte ich nach einer guten Landemöglichkeit Ausschau. Wir sind einmal eine Runde um die Areale geflogen, aber da ich nicht weiß, wo genau in dem Gebiet die Übergabe stattfinden soll, will ich Holger erst im letzten Moment folgen. Also zurück zu den Eingängen und versteckt halten. "Mach jetzt bloß nicht schlapp", rufe ich gegen den tosenden Wind, als Hunter immer schneller absinkt und kraftlos mit den Flügeln schlägt, um uns in der Luft zu halten. Die umgebaute Villa ist schon in Sichtweite. Wir müssen es schaffen. Hunter kreischt verzweifelt und kracht dann in den Maschendraht, der über dem nächstgelegensten Areal aufgespannt ist, überschlägt sich und begräbt mich unter sich. Ich fluche leise und rufe ihn zurück, bevor er mich zerquetscht. Dann eben zu Fuß. Vorsichtig rappele ich mich auf und balanciere über die Drahtkuppel, ein Unterfangen, das sich leichter anhört, als es tatsächlich ist. Meine Füße bleiben regelmäßig zwischen den groben Maschen hängen, der Draht gibt unter jedem meiner Schritte nach und wölbt sich nach innen, sodass es sich anfühlt, als würde ich über einen großen Gymnastikball laufen. Nur nicht so stabil. Fast zehn Minuten später erreiche ich entgegen allen Erwartungen das Ende meiner Strapazen. Ich krabbele über das Holzgeländer und finde mich auf einem Balkon wieder. Die große Glastür ist geschlossen und von innen mit einem schweren Vorhang verdeckt, aber ich will mein Glück nicht weiter auf die Probe stellen. Die Dachschräge senkt sich zu beiden Seiten des Balkons ab und ich klettere kurzerhand zurück auf das Geländer und von dort aus auf das Dach. Es ist steiler, als ich zuerst angenommen habe und ich krabbele auf allen Vieren höher und höher, bis ich die Dachspitze erreiche, auf der ich mich halbwegs bequem hinsetzen kann. Ich atme erleichtert aus und starre nach unten in die Tiefe. Mein Herz rast. Bis Stimmen von dem Verbindungspfad zu mir hochdriften, dauert es über eine Stunde. Mein Po tut weh und meine Beine sind steif, außerdem ist mir so weit oben verdammt kalt, aber ich reiße mich zusammen, unterdrücke ein Niesen und rutsche auf dem First etwas nach vorne, um die Verantwortlichen für die Geräusche ausfindig machen zu können. Der eine ist, wie erwartet, Louis. Die andere… "Mist", murmele ich und drücke mich enger an die Ziegel. Rose. Wenn sie mich sieht, ist es aus. Sie wird sofort Alarm schlagen. Ich hoffe, sie ist hier, weil sie Louis mit seinem Gina-Problem helfen will und nicht, weil sie Verdacht schöpft. Sie reden weiter, aber ich kann kein Wort verstehen. Vorsichtig, ganz vorsichtig, rutsche ich die Dachseite nach unten, gerade so weit, bis ich in Hörweite bin. "-Abby?" "Sie, eh, hat sich erkältet. Beim Schwimmen. Ihr geht es nicht so gut und sie wollte nicht herkommen, weil ihr euch… gestritten habt." Ich kann Roses Gesicht nicht erkennen, aber sie scheint mit der Antwort zufrieden zu sein. "Wollen wir dann?" "Ja, ehm, können wir auch in die Savanne gehen?" Nicht so auffällig! Rose dreht sich zu ihm um. "Warum die Savanne?" "Nur wegen… den Rihorn. Ich wollte versuchen, eins von ihnen zu fangen." Rose schweigt. Wieso ist sie überhaupt als Ranger bei ihm? Sie hat keine C-Lizenz. Hat sie ihn also doch durchschaut und gar nicht vor, weiter mit ihm in die Safari zu gehen? Louis plappert irgendetwas vor sich hin, aber der Schaden ist angerichtet. Selbst ohne ihr Gesicht zu sehen, kann ich mir das Misstrauen darin nur allzu deutlich vorstellen. Zeit, einzugreifen, bevor Rose die restlichen Ranger alarmiert. Holger darf keinen Verdacht schöpfen. Ich ziehe mein Handy aus meiner Tasche und rufe Louis an. Er schrickt hoch, als sein Klingelton die nächtliche Stille zerreißt und schaut sich hektisch um. Sein Blick gleitet kurz über mich und ich erstarre, aber er schaut sofort wieder auf sein Handy. "Louis hier", sagt Louis und ich kann seine Stimme sowohl aus meinem Hörer als auch von unten hören. Ich  antworte leise, damit Rose mich nicht auf dem Dach bemerkt. "Sie glaubt dir nicht. Du musst sie loswerden, zumindest so lange, bis wir Holger folgen können." "Ja, ich bin gerade auf dem Weg", sagt Louis. "Geht es dir gut?" "Ich komme runter, sobald du Rose unschädlich gemacht hast", flüstere ich. "Nimm Harley." Ich kann förmlich hören, wie er schluckt. "Ja, ich sehe dich dann gleich." Er legt auf. "War das Abby?", fragt Rose und Louis nickt. "Sollen wir los?“, fragt er und schaut sich ein wenig paranoid um. „Ich will nicht zu lange bleiben, es geht ihr wirklich schlecht." "Na gut. Zum Grasland, richtig?" Louis nickt und folgt Rose, als sie sich umdreht und dem Weg folgt. Sie benutzt nicht mal den Jeep. Vielleicht hat sie wirklich nicht vor, ihn in die Areale zu lassen. "Jetzt mach schon…", flüstere ich und krabbele die Dachschräge entlang, um die beiden keinen zu großen Abstand gewinnen zu lassen. Louis Hand schwebt über seinen Pokébällen, aber er zögert. "Bitte, Louis", murmele ich. Das ist vielleicht seine einzige Chance. Ein roter Lichtstrahl schießt von seinem Gürtel weg und Harley materialisiert sich drehend und tanzend zwischen ihm und Rose. "Schlafpuder!", ruft Louis, genau in dem Moment, da Rose sich erschrocken zu ihm umdreht. Die grüne Pollenwolke erreicht sie, hüllt sie ein und als sie um Hilfe schreien will, atmet sie eine beträchtliche Dosis ein und wankt. Ich zucke zusammen, als sie auf dem festgetretenen Lehm aufschlägt, aber dann rufe ich Hunter, springe auf seinen Rücken und lasse mich von ihm herab segeln, wo ich direkt neben Louis auf dem Boden lande. Er ist kreidebleich. "Du hast sie nur betäubt, nicht umgebracht", flüstere ich und drücke seine Hand. "Sie hat keine Pokémon. Wenn sie mit Team Rocket in Kontakt käme, könnte sie sich nicht schützen. So ist es am sichersten für sie." Louis nickt, ist aber immer noch wie weggetreten. "Komm, wir müssen sie verstecken." Einen Moment lang bleibt er noch reglungslos stehen, dann schüttelt er den Kopf und geht neben Rose in die Hocke, um sie unter den Achseln zu packen. Ich gehe zu ihren Füßen und gemeinsam tragen wir sie zum Eingang, wo die Jeeps geparkt sind. Als wir sicher sind, dass niemand sie so schnell findet, fliegt Hunter erst mich und dann Louis auf das Dach. Gemeinsam auf dem Dach sitzend schauen wir über die Safari hinweg, die sich als gigantischer Drahtkäfig bis zum Horizont erstreckt. Inzwischen ist es halb zwölf. Der Mond steht hoch am Himmel, es ist kalt und dunkel und ich werde immer unsicherer, ob Holger nicht vielleicht schon längst in der Savanne ist oder der Termin vielleicht verschoben wurde, weil wir das Telefonat mitgehört haben. Ich will Louis gerade darauf ansprechen, da hören wir das metallische Schrammen einer Tür und ein Lichtstreifen ergießt sich über den Erdpfad. Stimmen dringen zu uns nach oben und im nächsten Moment taucht Holger in unserem Sichtfeld auf. Er winkt jemandem zu und wendet sich dann in Richtung der Jeeps. In der einen Hand trägt er zwei Säcke, in der anderen ein Klemmbrett. "Was immer er da macht, scheint er nicht verheimlichen zu müssen", murmelt Louis und wir beide folgen gespannt Holgers Bewegungen, als er sich in den erstbesten Jeep setzt, die Zündung betätigt und das in Tarnfarben lackierte Gefährt sich brummend und ratternd in Bewegung setzt. „Was, wenn Rose Recht hat? Wenn er einfach ein ganz normaler Ranger ist und Gott ihn einfach nicht mag.“ "Ich liege nicht falsch", antworte ich eisern. "Gott liegt nicht falsch. Los, wir folgen ihm." "Das sagt sich so leicht", flüstert Louis. "Wie sollen wir beide einem Jeep folgen? Hunter kann uns mit seiner Verletzung wohl kaum beide tragen." Mist. Daran hatte ich nicht gedacht. "Du fliegst Hunter", sage ich. "Ich nehme Jayjay." "Ich bin noch nie geflogen, Abby!", zischt Louis. Holger fährt unterdessen los. "Ich kann das nicht!" "Halt dich einfach an ihm fest", sage ich und rufe Ibitak. "Such ein Loch im Maschendraht und lande möglichst ein Stück abseits, damit Holger dich nicht sieht. Los, rauf jetzt. Hunter, lass ihn nicht runterfallen." Hunter krächzt zustimmend und breitet seine Flügel aus, damit Louis auf seinen Rücken steigen kann. Ich rutsche währenddessen zum gefühlt zehnten Mal das Dach hinunter, lande auf dem Balkon und hole tief Luft, bevor ich mich über das Geländer hänge und dann an den Maschendrahtzaun klammere und langsam hinunter klettere. Mein Fuß rutscht ab und mein Herz setzt einen Schlag aus, als ich falle, aber ich bin nur zwei Meter vom Boden entfernt und außer einem dumpfen Aufprall und einem heftigen Kribbeln in meinen Beinen trage ich keine größeren Schäden davon. Ich schaue nach oben und entdecke Hunter, der mit Louis auf dem Rücken in Richtung Savanne fliegt. Sie schaffen das schon. Ich muss mich auf meine eigene Verfolgung konzentrieren. Ich greife nach meinem Pokéball. Jayjay materialisiert sich schnaubend und freudig tänzelnd vor mir und ich streiche ihm mit behandschuhten Händen über die Schnauze, bis er ruhig ist. Dann steige ich auf seinen Rücken. "Wir folgen dem Jeep", erkläre ich und halte dabei die Sattelschlaufen vorsichtshalber fest umklammert. "Wir dürfen nicht entdeckt werden, also kein Donnergrollen und kein Wiehern, hörst du?" Jayjay nickt stumm und ich atme erleichtert auf. Vielleicht wird das ja mal ein entspannter- Er galoppiert los, schießt über den holprigen Untergrund wie eine Kanonenkugel und mir stehen in Sekundenschnelle die Haare zu Berge, als ich mich eng an seinen Rücken drücke und sein Fell sich an mir entlädt. Verdammter Chaot. Obwohl Holger einen beachtlichen Vorsprung hat, entdecke ich ihn schon nach wenigen Sekunden des Höllensprints wieder und drossele Jayjays Geschwindigkeit mit viel Zurren und Fluchen zu einem lockeren Trab. Er darf uns nicht entdecken, sonst können wir uns den Rest gleich sparen. Jayjay wird langsamer, bis ich Holger nicht mehr sehen kann. Keine zwei Minuten später erreichen wir aber das Tor zur Savanne. Der Jeep steht leer vor dem Eingang und Holger ist etwa hundert Meter in das Areal eingedrungen. Ich hebe den Kopf. Auf dem Drahtkäfig sitzt Hunter. Als Louis mich entdeckt, winkt er mir zu und macht ein Zeichen mit der Hand. Vorsichtig. Das muss er mir nicht zweimal sagen. Ich steige von Jayjays Rücken, bedanke mich flüsternd und rufe ihn dann zurück. Das Knistern seiner Mähne ist verräterisch laut, genauso wie die kleinen Funken, die sein aufgeladenes Fell hin und wieder produzieren. Das Tor ins Areal ist zu, aber nicht verschlossen. Ich zucke zusammen, als das Metall beim Aufdrücken leise quietscht, aber Holger ist inzwischen schon weit genug entfernt, dass der Wind, der durch die Savanne fegt, die Geräusche übertönt. Ein leises Wusch erregt meine Aufmerksamkeit und im nächsten Moment taucht Hunter über mir auf und gleitet sanft zu Boden. Louis steigt mit zittrigen Beinen ab. "Ich weiß nicht, ob ich so scharf auf diese VM bin", sagt er und tätschelt Hunters Hals. "Das war verdammt beängstigend." "Folgen wir ihm", sage ich und deute in die Richtung, in die Holger verschwunden ist. "Weit kann es nicht mehr sein, es sind nur noch fünfzehn Minuten bis zur Übergabe." Wir schleichen über die vertrocknete Graslandschaft und verstecken uns hin und wieder hinter einer Kaktee, einem knorrigen Baum oder einem großem Felsen. Schließlich bleibt Holger jedoch stehen. Er setzt die Säcke neben sich ab und macht sich an seinem Klemmbrett zu schaffen. Ich schaue auf mein Handy. Noch fünf Minuten. Der Platz, den Holger sich ausgesucht hat, ist bis auf einige Felsen leer. Würde er sich umdrehen, hätte er einen perfekten Blick auf die gesamte Strecke zwischen hier und dem Arealeingang. Aber er ist mit seinem Klemmbrett beschäftigt und so ist es Louis, der die nahende Katastrophe als erstes bemerkt. „Abby“, flüstert er und tippt auf meine Schulter. Dann deutet er hinter uns. Ich drehe mich um. Rose läuft in unsere Richtung. Jetzt rauscht sie auf uns zu und es scheint nur noch Sekunden zu sein, bevor sie bei uns ist, bevor sie Holger eine Warnung zuschreit. Stattdessen wird sie langsamer. Ich atme erleichtert aus, als Holger keine Anstalten macht, sich umzudrehen, das Klemmbrett scheint ihn weit mehr zu interessieren und der immer neu aufkommende Wind übertönt das leise Rascheln, das Rose im dürren Gras verursacht. Sie kommt zum Stillstand und geht hinter dem Felsen in die Hocke. Ihre Augen sprühen Funken. Ich hätte nie geglaubt, sie jemals so wütend zu sehen. „Wie… wie könnt ihr nur?!“, zischt sie und holt mehrmals tief Luft, bevor sie weiterspricht. Ihr Gesicht ist feucht von Schweiß, trotz der niedrigen Temperatur. Sie muss die gesamte Strecke gerannt sein, die wir bequem auf dem Rücken meiner Pokémon zurückgelegt haben. „Er hat heute… Auswilderungsdienst! Natürlich wird er herkommen!“ Auswilderungsdienst. Ich drehe mich um und luge über den Felsen zu Holger. Die beiden Säcke neben ihm… sind das die Pokémon, die freigelassen wurden und hier wieder entlassen werden sollen? „Ich gebe euch eine letzte Chance“, flüstert Rose energisch. „Ich weiß, dass ihr nicht hier seid, um Pokémon zu stehlen oder Unruhe zu stiften, ihr jagt einfach nur einem Hirngespinst hinterher und vielleicht ist das bei deinen bisherigen Erfahrungen berechtigt, Abby, aber wenn ihr jetzt nicht sofort mit mir mitkommt, hole ich die Polizei.“ „Rose, das ist alles ein Riesenmissverständnis…“, beginnt Louis, aber ich unterbreche ihn. „Fünf Minuten“, sage ich und schaue ihr in die Augen. Sie sind hellbraun, wie Karamell. „Wenn in fünf Minuten nichts Verdächtiges vor sich geht, dann sehe ich ein, dass ich falsch lag und wir kommen mit dir mit. Aber gib mir diese fünf Minuten.“ Ich sehe sie flehend an. „Bitte.“ Rose zögert. Das ist mehr, als ich erwartet hätte. Aber schließlich schüttelt sie den Kopf. „Nein. Das ist lächerlich.“ Sie fährt sich durch die Haare. „Ich will nicht, dass Holger das hier mitkriegt. Kommt jetzt mit oder ich-“ Sie stockt, ihr Blick wandert in die Höhe. Ich drehe den Kopf und schaue in den Himmel. Dort, in dem Loch des Maschendrahts, hängt, kopfüber, ein Iksbat. Gegen die schwarze Nacht kann ich den Trainer auf seinem Rücken kaum erkennen, die dunkle Team Rocket Uniform macht ihn förmlich unsichtbar, wäre da nicht das R, das leuchtend rot auf seiner Brust prangt. Das Fledermauspokémon lässt sich in die Tiefe fallen, dreht sich in der Luft und kommt gleitend vor Holger zum Stillstand, wo es seine vier Flügel kurz ausschüttelt. Sein Trainer steigt ab und kratzt sich am Kopf. Eine schwarze Mütze verdeckt sein Haar. Ich kenne ihn nicht. Das ist gut und schlecht zugleich. Gut, weil es nicht Zach ist. Schlecht, weil ich nicht weiß, welchen Rang er belegt. „Harten Flug gehabt?“, fragt Holger, mit einer Stimme, die mit einem Mal weit weniger freundlich klingt, als wir sie von unserem Safaribesuch kennen. Ich werfe einen flüchtigen Blick zu Rose. Sie hat die Hand vor den Mund gepresst. „Du machst dir keine Vorstellung“, erwidert der Rocket. Gleichzeitig landet das zweite Mitglied neben ihm, eine kleine, stämmige Frau mit giftgrünem Haar, das in einem langen Flechtzopf im Wind hin und her peitscht. Ihr Fletiamo gibt ein fiependes Gurren von sich und schnüffelt mit der herzförmigen Nase in der Luft. „Louis“, murmele ich tonlos. „Ruf die Polizei.“ Er nickt und zieht sein Handy aus der Tasche. Rose schluchzt unterdessen ohne jeden Laut. Ich lege beruhigend eine Hand auf ihr Knie. Für sie muss der Verrat tausendmal schlimmer sein. Wie wäre es für mich, wenn Raphael sich plötzlich als ein Rocket herausstellt? Ich will gar nicht daran denken. „Was hast du heute dabei?“, fragt die Frau mit einer nasalen Stimme. „Wir haben nicht ewig Zeit.“ „Ganz die alte, wie ich sehe“, sagt Holger. Dann zeigt er ihr das Klemmbrett. Sie überfliegt die Papiere und nickt schließlich mit einem Ausdruck, den ich mit viel Fantasie als Zufriedenheit interpretiere. „Sieht solide aus. Marius, lad auf. Was ist in dem anderen Sack?“ „Maulkörbe“, sagt Holger. „Für die… weniger gehorsamen Kandidaten.“ Sie nickt erneut. „Gut, das wär´s dann. Wir hauen ab.“ Ich greife automatisch nach meinen Pokébällen. Ich kann sie nicht entwischen lassen. Aber Holger kommt mir zuvor. „Warte, Emma.“ Sie dreht sich genervt zu ihm um. „Was ist im HQ los? Beim letzten Termin habt ihr mich sitzen lassen.“ Sie verzieht das Gesicht. „Marius, dein Stichwort. Ich habe keine Nerven mehr für diesen Scheiß.“ Marius kommt ihrem Befehl nur zu gerne nach. „Dark, der Sohn vom Boss. Er hat Ärger gemacht.“ „Ärger?“ Holger schaut verwirrt zwischen den beiden Rockets hin und her. Ich halte den Atem an. Dark. Der mysteriöse Jugendliche. Die Nachrichten haben berichtet, dass er seit einiger Zeit nicht mehr gesichtet wurde. „Was hat er gemacht?“ Marius grinst breit. Seine weißen Zähne strahlen in der Nacht. „Er ist ausgestiegen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)