Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 63: ASV (Prioritäten) ----------------------------- „Was?!“ Ich lasse mich auf das Bett fallen, den Hörer eng an mein Ohr gepresst. „Wie habt ihr ihn erreicht?“ „Richard hat seit Wochen überall Kontaktmöglichkeiten über Mittelmänner eingerichtet“, erklärt Raphael. „Wir sind davon ausgegangen, dass Zach irgendwann an Rocket-Aktivitäten beteiligt sein wird, also hat er in allen wichtigen Pokécentern und Städten geheime Nachrichten hinterlegt.“ „Und das hat geklappt?“, frage ich skeptisch. Das kommt mir ziemlich riskant vor. Wie konnten sie garantieren, dass die Polizei Richard nicht auf die Schliche kommt? Rockey sucht bestimmt jeden Winkel ab. Dann wiederum ist Richard seit zwei Jahren in Kanto unterwegs. Es würde mich nicht wundern, wenn ihm eine ganze Menge Leute einen Gefallen schulden. „Einer der Mittelsmänner hat gestern Nacht Richard kontaktiert. Zach hat ihm eine Nachricht hinterlassen.“ „Was hat er gesagt?“ „Anscheinend ist er weiter in ihren Vertrauenskreis gekommen“, sagt Raphael. „Er hat die Verantwortlichen für den Tod seiner Schwester noch nicht gefunden, aber er weiß, was Team Rocket plant.“ „Wir müssen Officer Rockey Bescheid sagen!“ Ich springe vom Bett auf und gehe eindringlich in meinem Zimmer auf und ab. Sku hebt neugierig den Kopf. „Wenn wir eine Möglichkeit haben, Team Rocket im Keim zu ersticken, dann müssen wir sie ergreifen, Raphael! Wer Evas Tod zu verantworten hat, können wir danach immer noch herausfinden.“ „Nein.“ „Was, nein?!“ Wütend bleibe ich stehen. „Wir können nicht einfach tatenlos dabei zusehen, wie Team Rocket-“ „Wir können nichts unternehmen, Abby. Zach hat uns nicht verraten, was er herausgefunden hat. Nur, dass er Bescheid weiß. Er wird uns die Informationen nicht geben, bevor er sein eigenes Ziel erreicht hat.“ „Dieser Egoist!“, fluche ich. „Wenn er Team Rocket hilft, um nicht aufzufliegen und uns dann nicht Mal Hinweise auf ihr weiteres Vorgehen geben kann, dann kann er ihnen genauso gut richtig beitreten. Auf dem Plateau hat er Mel verraten, dass ich es war, die den Überfall auf das Pokécenter vereitelt hat. Er denkt, dass er ihnen einen Schritt voraus ist, aber er spielt ihnen trotzdem in die Hände!“ „Denkst du, dass weiß ich nicht?“, fährt Raphael mich an, schärfer als ich es von ihm gewohnt bin. „Aber Zach ist Zach und wir haben keinen Einfluss darauf, was er uns sagt und was nicht. Allein die Tatsache, dass er den Kontakt zu Richard aufrecht hält, ist eine Sensation. Außerdem, wie würdest du Rockey bitte erklären, dass wir plötzlich so gut über Team Rockets Pläne Bescheid wissen? Im besten Fall nehmen sie Zach mit den anderen Rockets gefangen, im Schlimmsten werden wir alle als Komplizen verhaftet.“ „Aber wir wissen, wo er ist?“, frage ich. „Nicht direkt, aber ungefähr“, erklärt Raphael. „Anscheinend ist die Nachricht über einen der Mittelsmänner auf den Eilanden gekommen.“ „Das Rocketlager“, folgere ich automatisch. Schon seit den ersten Gerüchten über Team Rockets Wiederkehr vor zwei Jahren wurde dort ihr Hauptquartier vermutet. „Warum hat die Polizei es nicht schon längst gestürmt?“ „Soweit ich das von Noah mitbekommen habe, ist das Lager selbst leer. Wahrscheinlich gibt es einen geheimen Zugang, der in die Keller führt, aber den hat man bisher noch nicht finden können. Außerdem ist Team Rocket viel gefährlicher als noch vor neun Jahren.“ „Warum?“, frage ich. „Weil sie jetzt bewaffnet sind“, erklärt Raphael. „Der neue Anführer hat die Organisation von Grund auf neu aufgebaut. Das Ränkesystem garantiert in den meisten Missionen Erfolge und dank ihrer Waffen sind sie nicht mehr nur auf starke Pokémon angewiesen. Und wer weiß, was für Fallen sie da unten eingebaut haben.“ Ich denke an die Pokémon, die sie gestohlen haben. Könnte es sein, dass sie Explosionsfallen in ihrem eigenen Hauptquartier gebaut haben? Es kommt mir riskant vor, aber immerhin sprechen wir von Team Rocket. Was kann riskanter sein, als sich mit den besten Trainern der Region und der Polizei anzulegen? Mal ganz abgesehen davon, dass dies ihr dritter Versuch ist, an die Macht zu kommen. Der Frustrationslevel muss hoch sein, gerade bei Atlas, der Giovannis Niederlage zweimal mitansehen musste. „Hat Zach etwas zu Dark gesagt?“, frage ich. „Dark? Wer ist das?“ „Der Jugendliche, den sie im Radio immer erwähnen. Er ist vor kurzem von der Bildfläche verschwunden, niemand weiß, wo er hin ist.“ „Zach hat uns kaum drei zusammenhängende Sätze geschickt, Abby“, lacht Raphael. „Ich habe keine Ahnung, was mit diesem Dark ist.“ Das große Thema aus dem Weg geräumt, lasse ich mich aufs Bett plumpsen und tätschele die Decke neben mir, bis Sku von dem Tisch springt und sich an meiner Seite zusammen rollt. „Was machen deine Vorbereitungen?“, frage ich. „Gen meint, du forderst Claire am 4. Dezember heraus.“ „Dieser verdammte Richy“, murrt Raphael. „Wir haben noch bis zum 31. Juli Zeit, bevor die Anmeldefrist abläuft, ein paar mehr Wochen Training hätte er uns ruhig lassen können.“ „Warum nimmst du sie dir nicht einfach?“ „Du kannst so eine offene Herausforderung nicht ignorieren, Abby“, sagt Raphael. „Wir sind immer noch Rivalen. Selbst ohne Zach wird mindestens einer von uns das Ticket für die Liga nicht kriegen. Ab hier zählt jeder noch so kleine Vorteil. Und wenn Richy uns auf dem falschen Fuß erwischt und aus dem Rhythmus bringt, dann kann ihm das nur Recht sein.“ „Wirst du sie besiegen?“, frage ich besorgt. „Sie soll höllisch stark sein.“ „Höllisch ist untertrieben.“ Raphael seufzt. „Du hast ja keine Ahnung, was die Arenaleiter drauf haben. Die ersten zwei sind relativ leicht zu schlagen, wenn du dich ein bisschen reinhängst, bei dem dritten und vierten musst du dich schon etwas mehr anstrengen, aber wenn du gut organisiert bist, kommst du mit zwei Wochen Training gut durch. Dann geht es erst richtig los.“ „In Oliviana City sind alle Gebäude überfüllt, weil die Trainer nicht weiterkommen“, sage ich schmunzelnd und kraule Skus Kehle. Sie brummt wohlig. „Und das ist nur der fünfte Arenaleiter“, fährt Raphael fort. „Gen sagt immer: Die gesamte Trainerzeit verdoppelt sich für jeden Orden. Das heißt, wenn du eine Woche gebraucht hast, um deinen ersten Orden zu erringen, wirst du vom Anfang deiner Reise bis zum Ende 128 Wochen benötigen. Also knapp 30 Monate. Und wenn du zwei Wochen brauchst, dann dementsprechend mehr.“ „Das klingt ziemlich an den Haaren herbeigezogen“, murmele ich, geschockt. „Vielleicht. Aber bisher hat sie mit ihrer Theorie immer ziemlich richtig gelegen“, sagt Raphael. „Was ich damit sagen will, ist: Je weiter du in den Orden aufsteigst, desto länger wird deine Vorbereitungszeit. Für unseren Kampf gegen Claire trainieren wir alle schon seit etlichen Monaten. Wenn deine Pokémon einen gewissen Level erreicht haben, werden sie nur sehr langsam stärker. Es ist fast unmöglich, ebenbürtige Gegner in der Wildnis zu finden und gegen anderen Trainer zu kämpfen ist riskant, weil sie dann deine Strategien lernen können.“ „Darüber habe ich noch nie nachgedacht“, stelle ich fest. „Aber du hast Recht, Sku ist seit August nur einen Level gestiegen. Ich habe sie nicht trainiert, aber sie hat oft gekämpft.“ „Bist du eigentlich noch mit Louis unterwegs?“, fragt Raphael plötzlich. Ich werde sofort knallrot. „Jetzt wieder“, gestehe ich schließlich. „In Teak City ist er später eingetroffen und nach Oliviana City ist er nachgekommen.“ „Seid ihr immer noch zusammen?“ „Wir waren nie… Wir sind nicht zusammen. Wir sind nur Freunde. Sonst nichts.“ „Ach so.“ Ich kann sein Schmunzeln praktisch hören. „Ich muss Schluss machen, wir haben nur wenig heute Nacht geschlafen.“ „Alles klar. Gute Nacht.“ „Nacht.“ Ich werfe mein Handy auf die Matratze, stehe auf, um das noch offen stehende Fenster zu schließen und krame dann meine Zahnbürste aus den Tiefen meines Reiserucksacks. Als ich vor dem geschlossenen Fenster stehe und Zähne putzend die flackernden Lichter in der Dunkelheit beobachte, denke ich über Raphaels Worte nach. Wenn das Leveln länger dauert, je stärker die Pokémon sind, wie stark ist dann Gold? Und was ist mit Red? Gold sagte, er habe damals gegen ihn verloren. Bedeutet das, dass Red weiterhin der stärkste Trainer in allen Regionen ist? Oder hat Gold ihn überholt, weil Red alleine an einem abgeschiedenen Ort trainiert? Fragen über Fragen.   Sonntagmorgen frühstücken Louis und ich im Pokécenter und machen uns dann auf den Weg, die Stadt zu erkunden. Es dauert eine Weile, bis wir uns zwischen den fast identisch aussehenden Häusern zu Recht finden, aber mit der Hilfe einiger Einheimischer, die uns schmunzelnd den Weg zeigen, kommen wir bald an allen Zielen an. Louis Befürchtungen bestätigen sich. Der Supermarkt führt keine Traineritems außer Pokéfutter, das wir nicht kaufen, weil es für Trainer wie uns zu teuer ist. Sku isst seit Jahren Menschenessen, Jayjay ernährt sich von Gras und Gemüse und Hunter hat begonnen, Gott in die kulinarische Küche der Karpador einzuweisen. Zunächst hat er sich gesträubt, aber schließlich ist er Fleischfresser und so lasse ich den beiden etwas Freilauf, während wir in dem Geschäft unterwegs sind, um Louis den Anblick zu ersparen. Ich kann nur hoffen, dass sie dem gruseligen Jungen von gestern nicht über den Weg laufen. Als nächstes nehmen wir uns den Badebekleidungsladen vor, der trotz der Jahreszeit geöffnet hat. „Wir haben hier immer offen“, sagt die Verkäuferin, eine alte, gebückte Frau mit tiefen Augenfalten und einer langsamen Stimme. „Die jungen Leute scheuen sich ja nicht, noch im Dezember ins Meer zu steigen. Und dank der Wettbewerbe haben wir hier immer genügend Kundschaft.“ Der Laden ist klein, aber ziemlich gut ausgestattet. Von kurzen Badehosen für Männer über lange Schwimmhosen zu Bikinis und Ganzkörperneoprenanzügen hat die Sandmuschel wirklich alles im Angebot. Ich laufe unentschlossen zwischen den Bikinis auf und ab. Ich will unbedingt in etwas anderem als meiner Unterwäsche an dem Wettbewerb teilnehmen, aber mir ein neues Paar zu kaufen ist unsinnig, wenn ich bald zu Hause sein werde, wo mein eigener liegt. Louis bleibt mit etwas Abstand hinter mir und versucht, möglichst unauffällig drein zu schauen. Die alte Dame bedenkt ihn mit einem wissenden Lächeln, dann kommt sie zu mir. „Brauchst du Hilfe bei der Auswahl?“, fragt sie schließlich. Ich nicke. „Ich brauche etwas für die nächsten drei oder vier Wochen“, gestehe ich schließlich. „Nimmst du an dem Wettbewerb teil?“, fragt sie. „Ich bin noch nicht angemeldet, aber ich würde gerne mitmachen“, sage ich. Sie nickt. „Bis zu dem Wettbewerb wird das Meerwasser zu kalt für normale Badeanzüge sein“, sagt sie. „Die meisten hier haben für den Winter lange Badekleidung.“ Sie führt mich in eine andere Ecke des Ladens, in der lange Bikinihosen und Shirts in unterschiedlichen Farben und Ausführungen hängen. „Sie haben einen hohen UV-Schutz und sind kälteisolierend. Wir verkaufen sie an Touristen, die sich hier im Winter die Strudelinseln anschauen wollen oder an Wettbewerbsteilnehmer, so wie dich. Sie sind nicht so gut ausgestattet wie die Modelle der Einheimischen, aber sie erfüllen ihren Zweck.“ „Und wie viel kostet das Ganze?“, frage ich skeptisch. „Das günstigste Paar kann ich dir für 4000 PD anbieten. Das wären die hier.“ Sie zieht eine lange, schwarze Bikinihose aus dem Regal und ein dazu passendes, ebenfalls schwarzes Langarmshirt. Als ich die Teile in die Hand nehme, fühlen sie sich genauso an wie ein Badeanzug, nur etwas dicker. „Das ist eine Menge“, sage ich schließlich und betrachte die Hose. „Ich weiß nicht, ob ich mir das derzeit leisten kann.“ Die Augen der Verkäuferin blitzen. „Oh, aber du nimmst doch an dem Wettbewerb teil, oder nicht? Die Geldpreise sind nicht zu verachten.“ „Wie viel gewinnt man denn?“ „Der Erstplatzierte erhält eine Summe von 50.000 PD, der zweite 30.000 PD und der dritte 15.000 PD. Wenn du denkst, dass du gewinnen kannst, wird sich der Kauf in jedem Fall rentieren.“ Sie lehnt sich zu mir rüber. „Bist du gut?“ „Ich bin nicht schlecht“, gestehe ich. Ich bin immerhin am Meer aufgewachsen und in Oliviana City bin ich ebenfalls sehr viel geschwommen. Wenn ich mein morgendliches Schwimmtraining wieder aufnehme, habe ich vielleicht sogar eine Chance. „Der Wettbewerb wird seit etwa fünf Jahren viermal pro Jahr veranstaltet. Organisiert wird die Veranstaltung von dem ASV, dem Anemonia-Schwimm-Verbund. Früher war die Teilnahmeliste sehr lang, aber inzwischen sind gerade die Winterwettbewerbe nur spärlich besucht. Wenn du gut bist, hast du eine echte Chance, einen der Preise zu gewinnen.“ Ich zögere. Die alte Frau lächelt mich an.   „Ich kann nicht glauben, dass du es geschafft hast, 37.000 PD in nur einer Woche auf den Kopf zu hauen“, sagt Louis, als ich mit einer Tüte aus dem Laden trete. Die salzige Meeresbrise weht mir entgegen. Ich weigere mich, ein schlechtes Gefühl wegen des Kaufs zu haben. „Wenn sie Recht hat, war das hier eine gute Investition“, entgegne ich. „Außerdem habe ich immer noch über 2000 PD übrig.“ „Ich sehe mich schon wieder in Höhlen übernachten“, murrt Louis, lässt das Thema aber auf sich beruhen. Da der Mittag näher rückt, machen wir uns auf die Suche nach einem Café, von denen es in Anemonia City auf Grund der beschaulichen Anzahl Häuser nur ein einziges gibt. Die Terrasse ist geschlossen und drinnen sind die Tische nur spärlich besetzt, aber die Snackpreise sind niedrig und so fällt uns die Entscheidung nicht schwer. Wir wollen wenigstens einen Tag lang in mäßigem Luxus verbringen, bevor wir uns von Supermarktitems ernähren müssen. Als wir uns an einen der Tische an der Wand gesetzt und Sandwiches bestellt haben, nehme ich die beiden anderen Kunden unter die Lupe. Am anderen Ende des kleinen Cafés sitzt, Blick aus dem Fenster, ein Mädchen mit hellbraunen Rasterlocken und fast gleichfarbiger Haut. Sie schlürft an einer großen Tasse Kaffee und schreibt mit der anderen in einem dicken Collegeblock. Neben ihr steht eine große Umhängetasche. Uns näher sitzt ein Junge, der gedankenverloren in einer Tasse Tee rührt und hin und wieder seufzt. Zu seinen Füßen steht ein großer Kasten und… Moment mal. Ich beuge mich zu Louis hinüber und deute mit dem Kinn in die Richtung des Jungen. „Ist das der von gestern?“, flüstere ich. „Dieser, wie hieß er noch gleich… Percy?“ Louis schaut unauffällig über seine Schulter und dreht sich dann wieder um. „Wartet wahrscheinlich auf die schöne Ashley“, meint er breit grinsend. „Die wird aber nie im Leben hier auftauchen.“ Ich betrachte Percy noch einen Moment länger. Wenn er aus dem Fenster schaut, kann ich einen Großteil seines Gesichts sehen. Er sieht ziemlich niedergeschlagen aus. „Er tut mir irgendwie leid“, murmele ich. „Machst du Witze?“, fragt Louis und beugt sich weiter vor. „Der ist ein totaler Freak. Halte dich bloß fern von ihm.“ In dem Moment kommt unser Essen und für´s erste lassen wir die Sache auf sich beruhen. Das Mädchen mit dem Collegeblock schreibt fleißig weiter, ohne mehr als ein paar Sekunden am Stück aufzusehen. Ihren zweiten Kaffee bestellt sie mit einem Handzeichen, was vermutlich bedeutet, dass sie öfter herkommt. 12 Uhr vergeht und schließlich ist es fast halb eins, aber von Ashley ist immer noch keine Spur zu sehen. „Puh, das war lecker“, seufzt Louis und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. „Willst du noch was essen oder können wir weiter?“ „Ich bin satt.“ Wir bezahlen, stehen auf und verlassen das Café. Als wir durch die Tür gehen, drehe ich mich ein letztes Mal zu Percy um, der geradeaus starrt. Ich lächle ihm aufmunternd zu und sehe noch, wie sein sich Gesicht aufhellt, dann wende ich mich ab und laufe Louis hinterher, der bereits draußen steht. „Also, was steht auf dem Plan?“, fragt er, als wir über die Bretterwege schlendern. „Die Anmeldung für den Wettbewerb ist erst abends“, stelle ich fest. „Ich würde die Schwimmsachen gerne ausprobieren. Wir können uns trennen und um 18:00 Uhr im Pokécenter treffen.“ Er zuckt die Achseln. „Dann nehme ich mal die Arena unter die Lupe“, sagt er. Wir verabschieden uns und gehen getrennte Wege, Louis Richtung Westen, wo das rotbraune Kuppeldach der Arena in die Höhe ragt und ich nach Osten zum Strand. Ich finde eine kleine von Felsen abgeschirmte Bucht und ziehe mich schnell um. Die schwarzen Schwimmsachen sind enganliegend, aber bequemer als erwartet. Ich mache ein paar Dehnübungen, dann stopfe ich meine Klamotten in den Rucksack zurück und rufe Jayjay, der glücklich wiehert und mir mit seiner Schnauze prompt einen Schlag verpasst. Ich ziehe die isolierenden Handschuhe an, befestige den Rucksack an seinem Sattel und schaue ihn streng an. „Halt dich vom Wasser fern“, mahne ich. „Du setzt uns sonst alle unter Strom.“ Jayjay schnaubt vergnügt. Das klingt für ihn wahrscheinlich nach einer sehr amüsanten Angelegenheit. „Pass auf meine Sachen auf“, sage ich kopfschüttelnd und gebe ihm einen Schlag auf das Hinterteil, dann befestige ich die Handschuhe an dem Rucksack und steige ins Meer. Die Wochen in Unterwäsche waren kalt, aber ich hatte mich an die Temperatur gewöhnt. Jetzt, da ich isolierende Kleidung trage, wird mir erst bewusst, wie kalt das Wasser wirklich war. Ich schwimme zunächst ein wenig in Strandnähe, um mich an den langen Bikini zu gewöhnen, dann schwimme ich weiter hinaus aufs Meer, bis ich die ersten Schwimmer entdecke. Wenn ich mich nicht irre, nehmen sie alle die Turnierstrecke. Ich tauche unter und paddele los.   Als ich am Abend erschöpft aber zufrieden zum Pokécenter zurückkomme, wartet Louis bereits am Eingang auf mich. Die Türen öffnen sich sirrend und ich werfe einen flüchtigen Blick zu der Plakattafel, vor der ein kleiner Tisch mit Papierstapeln aufgebaut wurde. „Warum guckst du so?“, frage ich, als Louis sich ebenfalls umdreht und den unbesetzten Tisch mit Missfallen begutachtet. „Wirst du gleich sehen“, meint er. Kaum haben die Worte seinen Mund verlassen, taucht zusammen mit Schwester Joy ein Junge aus den hinteren Räumen auf, bedankt sich und steuert dann auf den Anmeldetisch zu, wo er sich hinsetzt und mich kurz unschlüssig mustert, bevor seine Miene sich verfinstert. Ich brauche etwas länger, bevor ich den Schwimmer von gestern in ihm erkenne. Sein braunes Haar hat er sich zu einem losen Zopf nach hinten gebunden und sein Pony wird wie gestern durch ein Stirnband aus seiner Stirn gehalten. Er trägt ein dunkelblaues Langarmshirt mit schwarzen Nähten. ASV ist in großen roten Lettern auf die Brusttasche gestickt, gefolgt von einem kleineren aber trotzdem gut sichtbaren Senior. Ich schlucke. „Bist du sicher, dass du immer noch mitmachen möchtest?“, fragt Louis leise und liefert sich ein kurzes Blickduell mit dem Jungen, der wieder zu uns sieht. Ihr Kampf wird durch ein Mädchen unterbrochen, das an den Tisch tritt und etwas sagt. Der Junge lacht. Erst jetzt fällt mir auf, dass das halbe Dutzend anwesender Trainer fast allesamt mit den blauen Formularen an den umstehenden Tischen beschäftigt sind. „Ich habe das Schwimmset schon gekauft“, sage ich und trete an den Tisch heran. Der Junge mustert mich von oben bis unten, bevor er die Hände vor dem Kinn faltet und mir in die Augen schaut. „Womit kann ich helfen?“ „Ich möchte mich für das Strudelinselrennen anmelden. Bitte.“ Ein leichtes Schmunzeln huscht über sein Gesicht. „Sicher, dass du das schaffst?“, fragt er dann, ein wenig lauter als nötig. „Wasserpokémon sind bei dem Rennen nicht gestattet.“ Hinter mir ertönt leises Kichern, gefolgt von dem ein oder anderen Lass sie, Val. „Ich besitze kein Wasserpokémon.“ „Das hat dich nicht daran gehindert, auf einem Garados herzukommen und gleichzeitig Karpador an dein Ibitak zu verfüttern.“ Entrüstetes Gemurmel. Gott, sind hier alle so extremistisch drauf? Ibitak sind eben Fleischfresser, was soll ich daran ändern? „Dein Ibitak frisst Karpador?“, fragt Louis entsetzt. Okay. Bei ihm ist das was anderes. „Kann ich bitte einfach die Anmeldung haben?“, frage ich und strecke eine Hand aus. Der Junge zuckt die Achseln, dann reicht er mir eins der blauen Formulare. „Füll das aus und bring es zurück.“ Genervt setze ich mich an den letzten freien Tisch und nehme mir einen der Kugelschreiber, die in kleinen Bechern auf den Tischen verteilt sind. Während ich meine Trainer-ID in die betreffende Zeile kopiere, Namen, Geburtstag und andere persönliche Angaben mache, redet Louis leise über seinen Nachmittag. „Ich war in der Arena“, meint er gerade. „Da ist eine Wasserpumpe, die man ausmachen muss, bevor man Zugang zu dem Hauptdojo erhält, aber dazu muss man gegen vier Trainer gewinnen. Und wenn-“ Er unterbricht sich, als das allgemeine Gemurmel mit einem Schlag verstummt und die Blicke sich Richtung Eingang richten. Ich hebe den Kopf und lehne mich zur Seite, um an Louis vorbei gucken zu können. Sirrend öffnet sich die gläserne Doppeltür. Hinein tritt ein Hüne. Außer einer weißgrauen Trainingshose, die mit einem schwarzen Gürtel um seine Hüfte befestigt ist und Bandagen um Hand- und Fußgelenke ist der Mann unbekleidet. Gewaltige Muskelstränge zeichnen sich durch seine Haut ab und ein ergrauender Vollbart umrahmt seinen Mund. „Das ist er“, murmelt Louis tonlos. „Hartwig.“ „Was macht er hier?“, flüstere ich zurück, während Hartwig Schwester Joy kurz angebunden zunickt und dann auf den erbauten Tisch zugeht, an dem der Junge stocksteif sitzt und keine Miene verzieht. „Wo bleibst du, Valentin?“, fragt Hartwig mit grollender Stimme. „Das Training hat vor einer Stunde angefangen! Maschock wartet auf dich.“ „Ich bin heute mit Anmeldungen verteilen dran“, sagt Valentin und schaut dem Arenaleiter unerschrocken ins Gesicht. „Ich komme um sieben Uhr nach.“ „Das ist keine Art, die Kampfkunst zu behandeln, Sohn!“ Hartwig stemmt eine gewaltige Hand auf den Tisch, der unter der Muskelmasse gefährlich nachgibt. „Ich erlaube dein Hobby nur, weil es deinen Körper stärkt und deinem Training im Dojo nicht in die Quere kommt. Aber wenn es dich von deinen Verantwortungen abhält, dann werde ich dir das Schwimmen verbieten!“ Valentin steht langsam auf. Erst jetzt wird mir bewusst, wie groß er ist. „Ich bin Senior Mitglied im ASV, Vater. Ich werde das Schwimmen nicht aufgeben, nur damit du die Arena auf mich abwälzen kannst.“ „So wirst du nicht mit mir sprechen!“, donnert Hartwig und das gesamte Pokécenter zuckt zusammen. Alle, außer Valentin. „Wir sollten das an einem anderen Ort klären“, sagt er. „Du wirfst ein schlechtes Licht auf die Arena.“ Hartwig dreht sich zu uns um. Die ängstlichen Gesichter scheinen ihn zu überzeugen, denn er atmet tief durch und verlässt das Pokécenter. Valentin reibt sich die Nasenwurzel. „Kat, übernimmst du für mich?“ Das Mädchen von zuvor nickt. Wie er trägt sie das Shirt des ASV, laut dem auch sie ein Senior ist. Sie klopft Valentin auf die Schulter und murmelt etwas, das ihn wohl aufheitern soll, denn er schmunzelt und folgt dann seinem Vater vor das Center. „Das war gruselig“, meint Louis leise, aber er hätte sich nicht so anstrengen müssen. Kaum haben Valentin und Hartwig das Pokécenter verlassen, zerbricht die Stille in angeregte Unterhaltung. Kat macht es sich hinter dem Klapptisch bequem und überfliegt einige Listen. Nach und nach treten die Trainer zu ihr und überreichen die blauen Anmeldeformulare. Als ich an der Reihe bin, mustert sie meine ausgefüllten Antworten skeptisch. „Du warst noch nie Mitglied in einem Schwimmclub?“, fragt sie. Ich schüttele den Kopf. Einige der Trainerblicke richten sich wieder auf mich. Normalerweise macht mir Aufmerksamkeit nichts aus, aber hier fühle ich mich mit einem Mal verdammt unwohl. „Ich will dich nicht bevormunden…“ Sie überprüft meinen Namen auf der Anmeldung. „…Abbygail. Aber das Strudelinselrennen ist nicht ungefährlich. Bist du sicher, dass du teilnehmen möchtest?“ „Ich habe noch drei Wochen, um mich vorzubereiten“, sage ich, ein wenig genervt. Kat hebt entschuldigend die Hände. „Wie du meinst. Ich will dich nur vorwarnen, dass du vermutlich nicht besonders gut abschneiden wirst.“ Nun schaltet sich auch Louis ein. „Ich dachte, die Teilnehmerzahl wäre zurückgegangen.“ Kat schnaubt. „Wer hat dir denn den Blödsinn erzählt? Wir haben eine konstante Teilnehmerzahl von etwa vierzig. Wenn überhaupt sind es in den letzten Jahren mehr geworden.“ Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Kann es sein… Kat schaut mich fragend an, dann ziehen sich ihre Augenbrauen zusammen. „Hast du vor kurzem die Sandmuschel besucht?“ „Ich habe dort heute einen Bikini gekauft“, gebe ich zu. Kat kratzt sich an der Wange. „Das tut mir leid. Annabelle lügt dir die Sterne vom Himmel, wenn sie dadurch ein bisschen Gewinn herausschlagen kann. Wie viel hast du ausgegeben?“ „4000 PD.“ „Immerhin hat sich dich nicht mit dem Preis über den Tisch gezogen“, sagt Kat und legt mein Anmeldeformular auf einen blauen Stapel neben sich. „Wir verleihen Schwimmbrillen in unserem Vereinshaus. Wenn du morgen vorbei kommst, kann ich dir ein Paar geben.“   „Ich bin froh, dass nicht alle ASV-Mitglieder so eingebildet sind“, meine ich etwas später, als Louis und ich auf meinem Bett sitzen und uns über unseren ersten Tag in Anemonia City austauschen. „Aber dass die alte Frau mich so reingelegt hat…“ „Noch hast du nicht verloren“, entgegnet Louis. „Du trainierst jetzt einfach bis zu dem Wettbewerb und dann läuft schon alles glatt.“ Hoffentlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)