Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 46: Geister und Mythen (Ein ehrenhaftes Tanztheater) ------------------------------------------------------------ Nach einer allgemeinen Vorstellrunde werden die unbekannten Gesichter langsam zu Bekannten. Vierzehn der anwesenden Trainer sind auf Ordenjagd, Teak City nur eine Stadt von vielen, die sie besuchen wollen. Drei Trainer sind in Teak City geboren und die restlichen vier Trainer, mich eingeschlossen, reisen und trainieren, ohne Orden zu sammeln und haben ein anderes Berufsziel vor Augen. Wiesel ist die geborenen Anführerin. Sie findet Zeit für jeden von uns und nach etwa zwei Stunden sitzen alle einundzwanzig Trainer mitsamt Wiesel um das Lagerfeuer, essen Stockbrot mit geschmolzenen Marshmallows und lachen lauthals, wenn wieder jemand einen Witz auf Kosten eines Team-Mitglieds macht. Als Mitternacht näher rückt, wird es ruhiger, bis sich schließlich unser aller Augen vom Feuer weg und in die Dunkelheit richten. Ich bin zusammen mit einem Jungen namens Paul die einzige, die den Geist noch nicht gesehen hat, aber die anderen sagen kein Wort, sondern werfen sich nur vielsagenden Blicke zu. "Ihr werdet schon sehen", sagen sie, wieder und wieder. Ihr werdet schon sehen. Der Geist erscheint ohne Vorwarnung. In einem Moment ist die Fläche neben uns leer, im nächsten schwebt er wenige Zentimeter über dem Boden. "Ist das…", murmele ich. "Heiliger Pokéball", stimmt Paul zu, als wir das transparente Blitza beobachten, das den Kopf schief legt und uns mustert. Dann trottet es langsam in unsere Richtung. Sku brummt leise, aber es klingt nicht feindselig. Eher… verunsichert. "Ich habe noch nie den Geist eines toten Pokémon gesehen", gestehe ich. "Ich dachte, die erscheinen nur in Lavandia." "Das dachten wir alle." Wiesel trinkt den letzten Schluck ihres Dosenbiers und stellt die zerknüllte Dose dann auf den Stahlträger neben sich. "Es taucht auf und verschwindet wieder und dass fast jede Nacht zur selben Uhrzeit." "Kann man es fangen?", fragt Vivienne, eine der Pro-Trainerinnen, die erst gestern dazugekommen ist und deren ausladender Körperbau für den ein oder anderen Witz gesorgt hat, die meisten von ihr persönlich initiiert. "Ich habe es probiert, als ich es gefunden habe", sagt Wiesel. "Aber Pokébälle fallen einfach durch seinen Körper." "Schade." "Ich glaube, es will uns etwas sagen", fährt Wiesel fort. Wir schauen wieder zu dem Geisterblitza, das weiter auf uns zukommt. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet und es scheint uns kaum wahrzunehmen. "Welche Richtung ist das?", fragt Toby. Marcel zieht einen kleinen Kompass aus seiner Trainertasche und hält ihn flach auf seine Hand. "Ost, ziemlich genau." Er steckt das Gerät wieder weg. "Richtung Route 42 und Mahagonia City." Grübelnd am Feuer sitzend bemerkt Annette Blitzas Weg erst, als sein Kopf aus ihrem Bauch auftaucht. "GYAAA, MACHT ES WEG, MACHT ES WEEEEG!" Wir springen auf, doch die Panik bleibt aus, als Blitza ohne Regung durch ihren Körper schwebt und dann in Richtung des Feuers geht. "Was zur…", flüstert Annette atemlos und betastet ihren Bauch. Sie ist unbeschadet. Ich blicke zu Blitza. Es macht einen Schritt in das Feuer – und verschwindet. "Er war länger da als sonst", sagt Wiesel. "Wollen wir uns dann um die Regeln kümmern?"   Nach langem Diskutieren legt Wiesel ihren Kugelschreiber bei Seite und betrachtet zufrieden das Regelwerk, das sie auf ein ausgerissenen Blatt ihres Notizblocks geschrieben hat.   Regelwerk von Team RES-Q   1. Die Biker sind der Feind. 2. Die Mitglieder sind in einer Hierarchie geordnet: Mitglieder (Qs) < Teamleiter der jeweiligen Mission < Rechte Hand < Anführer 3. Missionen müssen zu der vereinbarten Zeit wahrgenommen werden, die restliche Zeit steht den Mitgliedern zur freien Verfügung. 4. Mit anderen Trainern, die nicht Teil von Team RES-Q sind, darf nicht über Teaminterne Missionen gesprochen werden. 5. Das Geheimnis des Geisterblitzas soll neben dem Krieg gegen die Biker in Erfahrung gebracht werden, Missionen können dafür von den Teammitgliedern selbst organisiert und bei dem Anführer abgesegnet werden. 6. Jedes Mitglied muss jederzeit erreichbar sein, Handys müssen immer aufgeladen und Nummern ausgetauscht werden. 7. Bei einer Begegnung mit den Bikern außerhalb einer Mission muss das entsprechende Mitglied Verstärkung holen und oder selbst gegen den Biker kämpfen, wenn er sich eines Sieges sicher ist. 8. Bei einer Begegnung mit den Bikern innerhalb einer Mission hat das Ziel der Mission Vorrang, teilnehmende Mitglieder können aber nach Verstärkung rufen, um den Kampf gegen die Biker nicht aufzugeben. 9. Informationen müssen an den Anführer oder seine rechte Hand weitergeleitet werden, sobald möglich. 10. Team RES-Q verbringt jede Nacht auf dem verlassenen Anwesen in Teak City, um seinen Teamgeist zu stärken.   Bestrafungen werden dem Vergehen angepasst und von dem Anführer ausgeführt bzw. entschieden. Im Falle starker Proteste der Mitglieder kann ein Votum vorgenommen werden.   "Jeder schreibt sich diese Regeln ab, dann tauschen wir unsere Handynummern aus. Ab morgen beginnt Team RES-Qs Einsatz!" Eine Welle leisen Jubels folgt, es ist schon fast ein Uhr nachts und keiner von uns ist noch richtig wach. Außer Sku, natürlich. Sie stromert über das Anwesen und verschmilzt mit den Schatten, nur wenn sie in unsere Richtung sieht, kann ich die roten Flecken ihrer reflektierenden Augen in der Dunkelheit erkennen. Nachdem alle Nummern ausgetauscht wurden, falte ich das in kritzliger Schrift abgeschriebene Regelwerk zusammen und stecke es in meine Tasche, dann packe ich meinen Schafsack aus und schlafe, noch bevor das Geraune und Getuschel der anderen verstummt ist.   Der nächste Morgen bricht laut und viel zu früh an. "Alle aufstehen, wir haben einen langen Tag vor uns!", ruft Wiesel viel zu munter. Stöhnen und unwilliges Gemurmel wird laut, aber die Anführerin der RES-Qs lässt nicht locker, bis alle Anwesenden schlaftrunken und mit dunkel umrandeten Augen auf ihren Schlafsäcken sitzen und Wiesel aufmerksam zuhören. "Für heute habe ich mehrere kleine Missionen geplant, damit ich eure Fähigkeiten und euren Charakter besser einschätzen kann. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass ein Biker regelmäßig Besucher des Markts belästigt oder ihre Waren klaut. Erasmus, Edward und Carlotta, wir werden dort die erste Schicht um 8:00 Uhr übernehmen. Toby, Vivienne und Heather lösen euch drei um 12:00 Uhr ab, Luke, Kyle und Abby um 16:00 Uhr. Diejenigen, deren Namen ich nicht genannt habe, sind heute freigestellt, stehen aber bitte auf Abruf bereit, falls es irgendwo kritisch werden sollte. Noch Fragen?" "Ich würde gerne die Kimono-Girls wegen dem Blitza befragen", sage ich. "Sie trainieren schon immer Evolis Entwicklungen, es könnte sein, dass sie etwas wissen." "Guter Plan. Ich ernenne Abby zur Teamleiterin der Aufklärungsgruppe. Abby, such dir zwei Qs aus, die dich begleiten." "Wer will mit?", frage ich grinsend. "Wir werden spätestens um 16:00 Uhr fertig sein." "Ich komme mit." Ein dünnes Mädchen mit schulterlangem, pechschwarzen Haar tritt vor. ich meine mich zu erinnern, dass es sich bei ihr um Corinna handelt. "Ich auch, ich habe ja sonst nichts zu tun." Ein kompakt aussehender Junge namens Julian hebt eine gelangweilte Hand. Seine Augen aber sprühen Funken. "Olivia und ich werden uns in der Stadt ein bisschen nach Klatsch umhören", sagt der braun gebrannte Robin. "Wir kennen uns hier gut aus. Heute Abend haben wir Infos über die Biker, verlass dich drauf, Wiesel." "Fantastisch. Was ist mit dem Rest?" Die verbliebenen sieben schauen sich an. Dann tritt Paul vor, der genau wie ich erst gestern auf die Gruppe gestoßen ist. "Wir verteilen uns in der Stadt, um überall hinkommen zu können, sollte es bremslich werden. Und wenn wir einen von diesen Bikern sehen, dann heißt es tschüss und auf Wiedersehen." Wiesel lacht und klippt sich einige lose, feuerrote Haarsträhnen aus dem Gesicht. "Dann wäre das geklärt. Team RES-Q, ausschwärmen!"   Das Tanztheater, in dem die Kimono Girls ihre Auftritte haben, liegt östlich von unserem Revier und nördlich des Pokécenters. Wir erreichen das ausgeschmückte Gebäude keine zehn Minuten, nachdem wir uns von den anderen Teammitgliedern getrennt haben, die später den selben Weg nachkommen wollen. Obwohl wir jetzt ein Team sind, können wir nicht mit zwanzig Leuten durch die Straßen Teak Citys marschieren. Das Tanztheater ist mit indigoblauen Ziegel gedeckt, rote Holzfassaden und runde, rote Fenster geben dem ganzen einen asiatischen Touch. "Dürfen wir da einfach rein?", fragt Corinna skeptisch und schaut an sich herunter. Ihre Kleider sind staubig von der Nacht auf dem Grundstück und sie stinkt nach Rauch. Julian und mir geht es nicht anders. "Finden wir es heraus." Ich klopfe. Die Tür wird zur Seite geschoben und eine ältere Frau taucht im offenen Spalt auf. Als sie mich sieht, schiebt sie die Tür wieder zu. "Das war wohl nichts", sagt Julian. "Nicht aufgeben." Ich gehe zu einem der Fenster und schaue unauffällig hinein. Im Inneren erkenne ich Sitzkissen, auf denen alte, in Anzüge gekleidete Herren mit Gehstock sitzen. Die Kimono-Girls tanzen einen langsamen Tanz auf der Bühne, Fächer in beiden Händen. "In unserem Aufzug kommen wir da nicht rein", gebe ich zu. "Habt ihr Ersatzklamotten?" Die beiden nicken. "In Ordnung. Wo kann man sich hier waschen?" "Wir können in ein Pokécenter gehen, oder…" "Oder wir nehmen den See." "Welchen See?", frage ich Corinna überrascht. Ich habe keinen See gesehen. "Hinter dem Markt ist einer, gleich bei dem Haus, das zum Glockenpfad führt. Da können wir uns frisch machen und umziehen. Die Bäume dort bieten eine guten Sichtschutz." "Klingt perfekt. Nichts wie hin." Der "See" ist meiner Meinung nach einer ein kleiner Teich, aber er ist sauber genug und so stehen wir schon bald nacheinander im hüfthohen Wasser, tauchen unter, waschen Staub und Rauchreste von unserer Haut und fahren mit Fingern durch unser Haar. Als wir fertig sind, triefen wir Pfützen auf die Straße. "Das war eine richtig blöde Idee", merkt Julian an, der sich als erstes umziehen darf. Als er hinter den Bäumen hervorkommt, ist sein Haar immer noch feucht, aber seine Klamotten sind trocken und sauber und er riecht kaum noch nach Rauch. Und so stehen wir etwa eine Stunde nach unserem ersten Versuch wieder vor dem Tanztheater der Kimono-Girls. "Auf ein Neues…", murmele ich und klopfe. Die selbe Frau wie eben schiebt die Tür bei Seite. Dieses Mal zögert sie einen Moment länger, aber schließlich scheint sie mein Gesicht doch zu erkennen und zieht die Tür wieder zu. Nur, dass ich dieses Mal einen Fuß in den Spalt klemme. Sie schaut mich feindselig an. "Was wollt ihr hier?", zischt sie tonlos und schaut sich verstohlen um. "Das ist eine geschlossene Veranstaltung und nicht für drei dahergelaufene-" "Es tut mir unendlich leid, sie stören zu müssen", sage ich hastig. "Aber wir müssen wegen einem Vorkommnis dringend mit den Kimono-Girls sprechen. Könnten sie uns wohl sagen, wie und wann wir sie am Besten kontaktieren können?" "Ihr wollt nicht die Vorstellung sprengen?", fragt sie misstrauisch. "Ihr wollt keinen Kampf?" "Kampf?", frage ich verdattert. "Warum sollten wir kämpfen wollen?" "Du wärst überrascht, wie viele Trainer in den letzten neun Jahren hier aufgetaucht sind, um die Kimono-Girls herauszufordern." Sie schaut zu der Bühne. "Keine Vorstellung, ohne dass irgendein dahergelaufener Trainer hier rein spazierte und seinen Pokéball zückte. Alles nur wegen diesem Gold. Jeder will in seine Fußstapfen treten, ich hätte den Burschen damals schon nicht herein lassen sollen. Aber den Zuschauern gefällt das natürlich, manche geben den siegreichen Trainern sogar Belohnungen, aber das hier ist ein ehrenhaften Tanztheater und ich werde nicht zulassen, dass jahrhundertelange Generationen in den Staub getreten werden von dahergelaufenen Trainern wie euch!" Außer Atem beendet sie ihre Tirade. "Ehm", beginne ich etwas überrumpelt. "Tut mir leid?" Die Türwächterin atmet tief aus, dann öffnet sie die Tür einen Spalt weiter. "Worüber möchtet ihr mit meinen Schützlingen reden?" Ich schaue fragend zu den anderen Beiden. Die zucken mit den Achseln. "Wir wollten wissen, ob in letzter Zeit ein Blitza verstorben ist", sage ich schließlich. Die alte Frau zieht die Augenbrauen hoch. "Ich kann mich nicht entsinnen", sagt sie brüsk. "Ist das alles?" "Wir würden das gerne die Kimono-Girls fragen, wenn sie nichts dagegen haben." "Ich habe etwas dagegen." Sie zieht an der Tür und quetscht meinen Fuß etwas fester ein. Ich beiße mir auf die Lippe. "Meine Mädchen haben keine Zeit für so etwas. Sie haben Vorführungen und müssen Trainieren." "Wann haben sie denn Mittagspause?", frage ich verzweifelt, aber die Frau zerrt so fest an der Tür, dass ich einen kurzen Schrei ausstoße und meinen Fuß instinktiv zurückziehe. Die Tür zum Tanztheater schlägt zu. "Wir sind zumindest weiter gekommen als beim letzten Mal", tröstet Julian mich. Corinna kichert, als ich zu den beiden zurück humpele. "Doofe Alte…", murre ich. Mein Fuß tut höllisch weh und es ist nicht so, als hätte ich in der letzten Zeit an Schmerzmangel gelitten. "Da kann man nichts machen." "Was ist der Plan, Teamleiterin?" Ich zögere. "Wir sollten Wiesel Bescheid geben. Wir wollen keine negative Aufmerksamkeit auf unsere Gruppe ziehen und das werden wir, wenn wir weiter nachforschen. Ich schlage vor, wir teilen uns auf und treffen uns in zwei Stunden im RES-Q Revier zur Besprechung. Wir müssen herausfinden, ob hier vor kurzem ein Blitza ums Leben gekommen ist."   Meine Suche führt mich, wie erwartet, ins Pokécenter. Eine klatschliebende Schwester Joy sollte doch über merkwürdige Todesfälle Bescheid wissen. "Tut mir leid, davon weiß ich nichts." Sie legt einen Finger an die Lippen. "Ich hätte davon sicherlich erfahren, schwer verletzte Pokémon kommen schließlich zu mir. Aber ich kann mich wirklich nicht entsinnen." Niedergeschlagen lasse ich den Kopf hängen. Ich will Wiesel etwas anderes präsentieren können als: Keiner weiß was. "Oh, aber du kannst Chris fragen." Ich schaue auf. Schwester Joy schaut mich stolz an. "Soweit ich weiß, kennt sie sich gut mit den Mythen aus Teak City aus, schließlich will sie eine dieser Mythen fangen. Wenn jemand etwas über unheimliche Dinge hier weiß, dann bestimmt sie." Ich schaue auf mein Handy. Inzwischen ist es fast 12:00 Uhr. Ich habe nur noch zwanzig Minuten, bis ich am Treffpunkt sein soll. "Ist sie nicht schon auf dem Weg zum Glockenpfad?" "Sie ist erst vor ein paar Minuten gegangen, wenn du dich beeilst, kann du sie noch einholen." "Danke für den Hinweis!", rufe ich noch, bevor ich aus dem Pokécenter renne und die Straße Richtung Norden entlang sprinte. All das Rennen und Flüchten vor wahnsinnigen Team Rocket-Mitgliedern scheint sich bezahlt gemacht zu haben, denn ich schaffe es tatsächlich, die ganze Strecke durch Teak City in unter fünf Minuten hinter mich zu bringen. Als ich Chris sehe, die schon an der Tür zum Haus der Weisen steht, schreie ich ihren Namen. Sie schaut sich um. Ihr Blick gleitet suchend über mich. Winkend und weiter rufend gehe ich außer Atem und völlig erschöpft auf sie zu. "Sorry, dass ich… dich verfolgt… habe…", keuche ich und stütze mich auf meine Knie. "Kann ich… dich was fragen?" "Wer bist du?" Uh. Das tat weh. Ich richte mich auf. "Abby. Wir haben uns gestern Abend im Pokécenter getroffen, erinnerst du dich?" Sie schaut mich prüfend an. Dann nickt sie. "Ich habe dich nicht erkannt. Du siehst anders aus." "Ich habe die Haare offen", gebe ich zu. "Daran wird es liegen." Ich räuspere mich. "Also, darf ich dich etwas fragen?" Sie verschränkt die Arme. "Nur zu." "Du kennst dich ziemlich gut mit den Legenden in Teak City aus, oder?" Sie nickt. "Gibt es vielleicht eine Legende, die ein… Blitza beinhaltet? Ein totes? Oder seinen Geist?" Chris denkt einen Moment lang nach. "Nein." Ich lasse den Kopf hängen. "Es gibt allerdings eine Theorie." "Eine Theorie klingt super", sage ich. Vielleicht ist diese Chris doch nützlicher als ich dachte. "Wollen wir uns setzen?" "Nein, ich werde ohnehin gleich weiter gehen. Die Legende von Ho-Oh kennst du, nehme ich an?" Ich erinnere mich an Heikes Erzählung der Geschichte. "Drei Pokémon sind in dem Brand im Bronzeturm umgekommen, Ho-Oh hat sie wiederbelebt und alle vier sind geflohen, richtig?" Chris verzieht das Gesicht. "So ungefähr. Einige Elemente dieser Geschichte sind in unterschiedlichen Erzählung verändert worden, aber der Kern der Geschichte bleibt derselbe. Um welche Pokémon es sich handelte, wird nie gesagt." Sie streicht sich den kurzen Pony aus der Stirn. "Vermutungen legen jedoch nahe, dass es sich bei den drei Pokémon um die Evoli-Entwicklungen Flamara, Aquana und Blitza handelte. Was Sinn machen würde, schließlich sind die legendären Raubkatzen ebenfalls Feuer, Wasser und Elektrotypen." "Warte, warte. Legendäre Raubkatzen?" Das ist das erste Mal, dass ich davon etwas höre. Chris seufzt. "Jede Region ist bekannt für die legendären Pokémon, die sie beherbergt. Kanto ist Heimat von den drei legendären Vogelpokémon, Zapdos, Arktos und Lavados, sowie dem genetischen Experiment Mewtu. Johtos bekannte Legenden sind Lugia, das Gold gefangen hat und Ho-Oh, das ich fangen werde. Weniger bekannt sind die drei Wanderpokémon, die durch das Land ziehen und nur durch Zufall oder sorgfältige Jagd gefunden werden können. Die Pokémon Suicune, Raikou und Entei." "Also sind in dem Feuer diese drei Entwicklungen umgekommen, Ho-Oh hat sie wiederbelebt und dadurch wurden sie zu komplett anderen Pokémon, die nun ebenfalls als legendär gelten?" "Das ist die Theorie. Wenn es das war, ich habe einen weiteren Pfad im Glockenturm, den ich nach Ho-Ohs Spuren absuchen muss." Sie wendet sich ab und mein Blick fällt auf ihren Hintern. Verdammt. Ihre Shorts sind wirklich knapp.   Obwohl ich mich beeile, bin ich etwa zehn Minuten zu spät am Treffpunkt. "Tut mir leid", keuche ich. Julian und Corinna rutschen zur Seite, um mir auf dem Stahlträger Platz zu machen. "Was habt ihr herausgefunden?" "Nichts, nur dass niemand etwas von einem toten Blitza weiß", sagt Corinna. "Ich habe erfahren, wie teuer Unterhosen im Vergleich zu früher sind", verkündet Julian und als wir ihn anstarren, lacht er. "Ich habe eine alte Dame befragt. Sie konnte mir nicht helfen, hat sich dann aber dreißig Minuten bei mir über die Unterwäschepreise beklagt." "Ich bin vielleicht fündig geworden", gestehe ich. Corinna und Julian horchen auf. "Eine Trainerin, die derzeit in Teak City ist, Chris, hat es sich in den Kopf gesetzt, Ho-Oh zu fangen." Julian prustet los. "Ich glaube auch nicht, dass sie das schafft, aber sie kennt sich gut mit den Mythen in Teak City aus. Anscheinend sind bei dem Brand im Bronzeturm ein Aquana, ein Flamara und ein Blitza umgekommen. Sie wurden wiederbelebt und sind nun selbst legendäre Pokémon, die durch Johto laufen." "Ich kenne die Legende von den drei Raubkatzen", sagt Corinna nachdenklich. "Mein Großvater hat sie mir damals immer erzählt. Aber das sie aus den Evoli-Entwicklungen entstanden sind, ist mir neu." "Aber… der Brand ist doch schon ewig her." Julian faltet seine Hände vor seinem Gesicht. "Warum sollte der Geist eines toten Blitzas plötzlich hier auftauchen? Warum nicht früher? Und wenn es wirklich wiederbelebt wurde, warum hat es überhaupt einen Geist?" "Ich weiß es nicht", gestehe ich. "Aber wir haben unser Bestes getan. Ich erkläre die Aufklärungsmission für heute abgeschlossen. Ich werde Wiesel bei meinem Schichtwechsel Bescheid geben und dann sehen wir weiter. Gute Arbeit, Qs." "Du auch Abby." Julian klopft mir auf die Schulter. "Mit dir kann man gut arbeiten." "Ich werde ein bisschen shoppen gehen, kommt jemand mit?", fragt Corinna. "Ich muss meine Pokémon trainieren", sage ich grinsend. "Wenn es bald hart auf hart kommt, möchte ich mich ungern nur auf eins meiner Pokémon verlassen können." Sie zuckt die Achseln. "Wir sehen uns dann heute Abend."   Das Training auf Route 37 ist ein angenehmes Stück Normalität. Hätte man mir vor zwei Monaten gesagt, dass ich einmal eine lange Trainingseinheit genießen würde, hätte ich denjenigen ausgelacht. Sku wird in der nächsten Zeit genug mit den Bikern zu tun haben, deshalb konzentriere ich mich vorerst auf Gott, der mir mit einer Reihe Stichflammen und Rauchwolken unmissverständlich zu verstehen gibt, dass er mir die lange Kampfpause übel nimmt. Seit dem Vorfall auf dem Plateau habe ich ihn tatsächlich nicht mehr gerufen, ich hatte Angst, dass er versehentlich das Krankenhauszimmer in Brand steckt, wenn dauernd unbekannte Personen in mein Zimmer kommen. Seine Feindseligkeit gegenüber Fremden, gegenüber jedem außer mir, ist nicht zu unterschätzen. Jetzt versuche ich, seine Vernachlässigung mit Streicheleinheiten und anspruchsvollen Kämpfen wieder gut zu machen. Level 20 erreicht er innerhalb der ersten Stunde und wir beide sind aufgeregt wie kleine Kinder, als er die Attacke Flammenrad erlernt. Um 15:00 Uhr breche ich unser Training ab, rufe ihn zurück und gebe Hunter freie Bahn, der zufrieden krächzend davon flattert. Er wird mich schon wieder finden. Zurück in der Stadt suche ich mir einen Imbiss, in dem es Teigtaschen gefüllt mit scharfem Gemüse gibt und esse mein Mittagessen auf dem Weg zum Markt. Ich bin nur noch zwei Abbiegungen entfernt, da höre ich plötzlich Schreie, das Jaulen eines Motors und das Quietschen beschleunigender Reifen. Und es kommt direkt auf mich zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)