Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 35: Prioritäten (Blitz und Kreide) ------------------------------------------ Die nächsten Tage verlaufen friedlich. Louis trainiert weiterhin auf Route 32, während ich die Vormittage mit den Schulklassen auf Route 31 verbringe und danach im Elektronikgeschäft dem Radio lausche. Bisher sind alle meine Schüler respektvoll geblieben, aber der Freitag stellt mich auf die Probe. „Abby?“, fragt Katharina, eines der wenigen Mädchen meiner Neunergruppe. Ihr pechschwarzes Haar reicht ihr bis zum Po und ihre runde Brille erinnert mich an die von Raphael. „Luka und die anderen sind schon wieder abgehauen.“ Ich reibe mir die Schläfen, nicke ihr dankbar zu und rufe Gott zu mir, der etwas weiter entfernt im Gras liegt und ein Nickerchen macht. Als er meine Stimme hört, springt er auf und kommt in langen Sprüngen auf mich zu. Ich zurre meinen Zopf zu Recht und mache ich mich auf die Suche nach Luka. Luka und seine beiden Freunde Ron und Alphonse haben seit der Gruppenzuweisung nichts als Unsinn im Kopf. Dass ich nur vier Jahre älter bin, macht die Sache nicht gerade leichter und so haben sich die drei schon mehrmals von der Gruppe entfernt. Maria ist davon nicht begeistert, aber ich glaube, sie hofft darauf, mir aus der Angelegenheit einen Strick zu drehen. Es geht ihr sehr gegen den Strich, dass ich mit den Kindern so gut klar komme. Na ja, mit den meisten. Gott dicht auf den Fersen schlage ich mich durchs hohe Gras. Wilde Pokémon besiegt er inzwischen mit einer einzigen Attacke und so kann ich ungestört dem platt getretenen Gras folgen. Die Spur führt mich bis an den Fuß der Felswand, die auf halber Strecke der Route in die Höhe ragt und dem hohen Gras ein Ende bereitet. Rechts von mir ist Nadelwald, so dicht, dass man kaum zwischen den Bäumen hindurch kommt, zu meiner Linken steigt das Gelände an und führt schließlich Richtung See. Ich schaue mich um, aber außer dem einen oder anderen Trainer, der hier trainiert, ist niemand zu sehen. Plötzlich panisch jogge ich den Hang hinauf. Was, wenn sie in den See gefallen sind? Im nächsten Moment kommt mir der Gedanke lachhaft vor, aber ich bleibe trotzdem nicht stehen, bis ich keuchend auf dem fest getretenen Pfad stehe und mir die Seiten halte. Gott taucht wenige Sekunden später neben mir auf und faucht leise, als er einen Trainer sieht, der sich am Seeufer ausruht. Ich drehe mich einmal im Kreis. Von hier aus kann die gesamte Wiesenfläche und den Pfad sehen. Von Luka und den Anderen keine Spur. Dann sind sie wohl in Richtung Dunkelhöhle, denke ich unwirsch und stapfe los. Die letzten Male konnte ich sie im hohen Gras abfangen, bevor sie sich zu weit entfernt hatten, aber dieses Mal war ich wohl zu langsam. Ohne Kathis Hinweis wäre mir ihr Verschwinden womöglich überhaupt nicht aufgefallen. Dem Pfad Richtung Osten folgend erreiche ich schon bald den Aufstieg der Felswand, eine rudimentäre, in den Stein gelaufene Treppe, die gute drei Meter in die Höhe führt. Ich laufe die Stufen hinauf und stütze mich oben angekommen auf meine Knie. Wenn ich am Ende dieser Woche nicht fit bin, weiß ich auch nicht weiter. Ich folge dem Weg zwischen hoch gewachsenen Bäumen, bis dieser sich weitet und die dunklen Konturen der Dunkelhöhle preisgibt. Niemand ist zu sehen. Ich jogge das restliche Stück und bleibe dann vor dem Eingang stehen. Aus dem Inneren der Höhle strömt mir nur unendliche Schwärze entgegen und ich wende mich nach Süden. Hohes Gras sprießt in die Höhe und bedeckt die gesamte Breite des Weges. Weiterhin keine Spur von den drei Jungs. „Mist…“, murmele ich und schaue wieder zur Höhle zurück. So dumm können sie nicht gewesen sein. Niemand geht unvorbereitet in die Dunkelhöhle. Gott läuft an mir vorbei zum Eingang und schaut vorsichtig hinein. Dann faucht er, so wie er es immer tut, wenn er andere Menschen sieht. Also ist tatsächlich jemand in der Höhle. Ich seufze und gehe Richtung Eingang. Seit unserer Verschüttung in den Alph-Ruinen habe ich wirklich keine Lust darauf, mich wieder durch absolute Dunkelheit schlagen zu müssen. Als könnte er meine Gedanken hören, glühen Gotts Rückenflammen stärker auf und werfen zittrige Schatten durch den Höhleneingang. „Danke“, sage ich und tätschele seinen Kopf, dann hole ich tief Luft und trete ein. Die Dunkelhöhle macht ihrem Namen alle Ehre. Es ist nicht nur stockduster, die Höhle scheint irgendwie alles Licht zu schlucken, denn trotz Gotts lodernder Flamme kann ich kaum zwei Meter weit sehen. „Hallo?“, rufe ich zaghaft, aus Angst, eine Steinlawine oder ähnliches auszulösen, aber außer dem Echo meiner Stimme höre ich nichts. „Luka? Al? Ron?“ Ihre Namen zu rufen erweist sich als genauso sinnlos, trotzdem gebe ich nicht auf. Ich werde nicht ohne die drei zu Frau Lock zurückkehren, oh nein. Das könnte ihnen so passen. Gott läuft voran und beleuchtet meinen Weg durch das Labyrinth aus Tropfsteinen, Felswänden und Gesteinsbrocken, die auf dem Boden liegen und einige der Passagen blockieren. Ich folge dem einzigen Weg so lange, bis meine Nerven blank liegen. Es ist dunkel, jede Steinformation sieht im Halbschatten aus wie ein Monster und mehr als einmal höre ich über mir ein Knirschen oder das Klackern kleiner Steine auf dem Höhlenboden. Plötzlich höre ich ein Klacken, gefolgt von einem gespenstischen Stöhnen. Ich drehe mich ganz langsam in Richtung des Geräuschs um. „GAAAHH!“ Eine dunkle Gestalt steht auf einem der umstehenden Felsvorsprünge und murmelt leise. Ich sinke zu Boden und rutsche rückwärts von dem Wesen weg. Plötzlich spüre ich Finger, die sich auf meine Schulter legen und ich kreische, schlage um mich. Ich höre nur noch Gotts lautes Fauchen, dann Schreie und das Klackern von Krallen auf Fels. Immer noch die Hände über den Kopf geschlagen, schaue ich auf, Tränen in den Augen. Gotts Maul ist um Lukas Arm geschlossen, Luka schreit wie am Spieß und schlägt nach Gott, der nicht locker lässt. Seine Rückenflamme lodert heller denn je. Al taucht hinter einem der Felsen auf und als ich mich umdrehe, entdecke ich Ron. Es waren seine Hände auf meinen Schultern – und Luka war anscheinend die murmelnde Gestalt. Meine Angst verwandelt sich augenblicklich in Wut und ich stehe auf. Meine Hände sind aufgeschrammt und blutig. „Er soll mich loslassen!“, winselt Luka und ich spiele mit dem Gedanken, Gott nicht zurück zu rufen. Aber als ich Lukas schmerzverzerrtes Gesicht sehe, gebe ich nach. „Gott, komm her“, rufe ich ihm zu. Er lässt augenblicklich von Lukas Arm ab und kommt an meine Seite getrottet, wo er sich beschützend neben mir aufstellt und bedrohlich knurrt. „Findet ihr das lustig?“, frage ich wütend und bin dankbar für Gotts lang gezogenes Knurren, das meiner Stimme den nötigen Nachdruck verleiht. Er bäumt sich neben mir zu seiner vollen Größe auf und das Feuer auf seinem Rücken lodert heftig. Luka umklammert seinen Unterarm und schaut zur Seite. Al tritt neben ihn und erwidert stur meinen Blick. „Wir wollten dich erschrecken, damit du uns in Ruhe lässt“, sagt er und macht einen Schritt nach vorne. „Du musst nicht gleich dein Pokémon auf uns hetzen!“ „Das werden wir Frau Lock sagen“, fügt Ron hinzu und ich lache humorlos auf. „Ich werde ihr sagen, dass ihr drei heute schon mehrmals abgehauen, in diese Höhle gegangen seid und mir im Dunkeln aufgelauert habt.“ Die Jungs verstummen und ich seufze. „Hört mal“, sage ich dann und versuche, etwas versöhnlicher zu klingen. „Ich bin nicht euer Feind. Ihr werdet mich nach heute noch genau einmal sehen, danach habt ihr wieder eure Ruhe vor mir. Können wir bis dahin nicht einfach zusammenarbeiten?“ Luka schaut zu Al hinüber, der mit den Schultern zuckt. Er ist groß für einen Elfjährigen und seine braunen Locken fallen ihm schwitzig ins Gesicht. Neben dem kopfkleineren Luka wirkt er umso älter. Es ist Ron, der als erster das Schweigen bricht. Seine Sommersprossen bedecken sein Gesicht und seine Arme so dicht, dass ich die Hautfarbe darunter nur erahnen kann. „Lässt du uns alleine trainieren?“, fragt er und ich seufze. „Seid ihr deshalb abgehauen?“, frage ich ungläubig. „Weil ich euch Tipps gegeben habe?“ „Wir kommen alleine zurecht“, erwidert Luka unwirsch und ich reibe mir die Augen. „Meinetwegen. Solange ihr in Sichtweite bleibt, lasse ich euch in Ruhe“, stimme ich zu. „Aber wenn ihr nochmal abhaut, weiß Frau Lock schneller von eurer Aktion hier Bescheid, als ihr Pokémon sagen könnt.“ Sie zögern noch einen Moment, dann nickt Luka schließlich. „Einverstanden.“ „Fein.“ Ich schweige einen Moment, dann gehe ich zu den Dreien. „Lass mal deinen Arm sehen.“ „Der ist okay!“, zischt Luka, aber ich packe sein Handgelenk und betrachte Gotts Bisswunde. Sie ist nicht so tief, wie ich befürchtet habe, aber ich will trotzdem eine Infektion ausschließen. „Wenn wir zurückgehen, bringen wir dich zu Frau Lock“, sage ich entscheiden, bevor Luka seinen Arm losreißt. „Sie hat bestimmt Verbandszeug.“ „Brauche ich nicht“, murmelt Luka gereizt und ich unterdrücke ein gehässiges Grinsen. „Ich kenne jemanden, der in Azalea City wohnt“, sage ich und schaue Luka ernst an. „Er ist auch von einem Pokémon gebissen worden und hat die Wunde nicht behandeln lassen.“ Ich mache eine Pause und wie erwartet hakt Luka nach. „Und?“, fragt er und ich beuge mich zu ihm nach vorne. „Jetzt hat er nur noch einen Arm.“ Luka schluckt. Ich drehe mich um. „Naja, es ist dein Arm. Ich zwinge dich zu nichts.“ Dann gehe ich zurück Richtung Ausgang, Gott dicht vor mir. Ich lausche und atme erleichtert aus, als ich die Schritte hinter mir wahrnehme. Der Rückweg fällt mir leichter, vielleicht deshalb, weil ich nicht mehr ganz alleine bin. Plötzlich höre ich hinter mir einen Knall. „Was ist?“, frage ich, als ich mich umdrehe und die drei Jungen sehe, die um etwas herum stehen. „Nichts. Nur ein Stein“, meint Ron und ich komme zu ihnen. „Runtergefallen?“, frage ich und schaue misstrauisch zur Decke hoch. Wenn einem von uns so ein Ding auf den Kopf fällt, war´s das. „Nein, er ist aus der Wand gebrochen.“ Al deutet auf den Felsen zu meiner Linken und ich winke Gott zu mir, der sich mit dem Rücken zur Wand platziert. Etwa auf Schulterhöhe entdecke ich ein großes, rundes Loch, dass in die Wand hinein gebrochen ist. Ich betaste vorsichtig die Innenseiten, dann den Stein, der zerbrochen auf dem Boden liegt. Der Bruch geht gegen die Maserung und die Größe… „Gott, etwas mehr Licht bitte.“ Gott brummt, dann entflammt sein Rücken mit neuer Intensität. Der Lichtschein breitet sich an der Wand aus und ich fahre mit den Fingern langsam über den Fels. Nur weniger Meter weiter in der Höhle ertaste ich die Einkerbungen, nach denen Louis, Maisy und ich schon im Einheitstunnel gesucht haben. Ich habe elf solche Rillen gefunden und die lose gemachten Steine daraus entfernt. Ich weiß, wann ich Team Rocket Löcher vor mir habe. „Was suchst du?“, fragt Al und ich lasse meine Hand sinken. „Nichts“, lüge ich und kehre zu ihnen zurück. „Kommt, wir werden bestimmt schon vermisst.“   Kaum, dass wir den Hauptpfad erreicht haben, lasse ich die Jungen vorlaufen und ziehe mein Handy aus meiner Tasche. Es ist schon halb zwei. Wenn ich jetzt anrufe… Ich wähle 01010 und warte auf das Freizeichen. "Polizeiwache Dukatia City, mit wem spreche ich?" „Hallo, hier ist Ab-“ Ich höre ein Klicken, dann ertönt Musik. Geduldig warte ich, bis Holly abnimmt und mich brüsk begrüßt. „Abby.“ Sie klingt wenig begeistert. „Hallo Holly“, sage ich und verziehe das Gesicht. „Es tut mir furchtbar Leid, dass ich schon wieder anrufe.“ Ein Seufzen. „Was hast du für mich?“ „Ich glaube, Team Rocket hat auch in der Dunkelhöhle auf Route 31 Löcher platziert. Ich habe nur zwei gefunden, es war zu dunkel, um Genaueres zu erkennen. Aber sie sind genauso groß wie die im Einheitstunnel und fühlten sich genauso an.“ Holly schweigt. Als sie schließlich spricht, klingt sie zu kontrolliert, selbst für ihre Verhältnisse. „Das ist beunruhigend. Wenn du Recht hast, macht das drei Höhlen.“ „Mondberg, Einheitstunnel, Dunkelhöhle…“, zähle ich auf und stelle mir die drei Höhlen auf einer großen Karte vor. „Aber das sind doch-“ „Verbindungen zwischen Städten“, beendet Holly meinen Gedankengang. „Dementsprechend sind mit Sicherheit noch weitere Höhlen betroffen. Ich werde mit meinen Vorgesetzten sprechen müssen.“ „Was ist mit der Dunkelhöhle?“, frage ich und drehe mich zu dem Eingang um. Die Schwärze scheint geradezu heraus zu strömen. „Ich schicke Jack vorbei, er soll sich die Löcher ansehen. Kannst du vor dem Eingang auf ihn warten? Das beschleunigt die Suche.“ „Klar, kann ich machen.“ „Und Abby?“ „Ja?“ „Danke für deine Hilfe“, sagt Holly nach einer kurzen Pause und ich ziehe überrascht die Augenbrauen nach oben. „Deine Hinweise sind hilfreich, auch wenn ich mir wünschte, dass du nicht beteiligt wärst. Aber einen Insider auf Reisen zu haben ist praktisch. Wenn du mehr Löcher findest, zögere nicht, mich anzurufen.“ Sie gibt mir ihre private Handynummer durch und ich kratze sie hastig mit einem Stock in den Boden. „Übrigens“, sage ich, als ich fertig mitgeschrieben habe und spüre, dass Holly auflegen will. „Hast du gestern die Nachrichten gehört?“ „Natürlich. Warum?“ „Sie haben davon berichtet, dass Team Rocket-Mitglieder in den Alph-Ruinen gesichtet wurden“, sage ich. „Mel und Teal sind nicht dumm. Wir sind die einzigen, die sie gesehen haben könnten. Sie werden wieder nach uns suchen.“ Holly schweigt, dann seufzt sie genervt. „Das tut mir Leid“, sagt sie dann, aber sie klingt eher wütend. „Ich werde diese Informationen nicht mehr an andere Polizeimitglieder weitergeben. Danke für deinen Hinweis, Abby. Bis dann.“ „Bis dann“, sage ich noch, aber da hat sie schon aufgelegt. Gott knurrt leise und reibt sich dann gegen mein Bein, seine Flammen so weit herunter gefahren, dass sie meine Hose nicht mehr ansengen können. Gemeinsam folgen wir dem Pfad bis zu der Steintreppe. Von hier aus habe ich einen guten Überblick über den Rest der Route und kann sehen, dass Frau Lock die Schüler schon zusammentrommelt. Wie erwartet ignoriert sie mein Fehlen und macht sich alleine mit den knapp zwanzig Schülern auf den Rückweg zur Schule. Ich gehe zurück zum Höhleneingang und lasse mich gegen die Steinwand gelehnt zu Boden gleiten, wo ich es mir im Schneidersitz bequem mache, Hollys Nummer einspeichere und Louis eine SMS schreibe, damit er weiß, dass ich später komme. Dann warte ich.   Jack taucht erst eine gute halbe Stunde später auf. Als ich ein lautes Brummen höre, hebe ich den Kopf von meinen Knien und entdecke ein Motorrad, das in meine Richtung brettert. Unter dem Helm kann ich sein Gesicht nicht erkennen, aber die blaue Uniform spricht für sich. Vor dem Treppenaufstieg bremst er, steigt ab und zieht seinen Helm von seinem Kopf. Dann steigt er zu mir hinauf und begrüßt mich mit erhobener Hand. Gott knurrt bedrohlich und ich rufe ihn kurzerhand zurück. Ich habe jetzt keine Zeit für seine Feindseligkeiten. „Abby, gut, dich zu sehen.“ „Gleichfalls.“ Ich schaue an ihm vorbei, aber außer Jack ist niemand zu sehen. „Bist du ganz alleine?“, frage ich und er kratzt sich am Kinn. „Wir sind etwas unterbesetzt, seit Team Rocket überall auftaucht und Löcher in Höhlenwände gräbt. Dann noch die Sache in Teak City…“ Ich folge ihm ins Innere der Dunkelhöhle. Absolute Schwärze umfängt uns und ich greife nach Gotts Pokéball, aber da schießt schon ein roter Lichtblitz aus Jacks Hand hervor. „Blitz, Pachi“, sagt er und ich höre ein leises Kichern, bevor Licht in alle Richtungen explodiert, von den Wänden hin und her geschleudert wird und in Sekundenschnelle die kriechende Dunkelheit vertreibt. Mit einem Mal ist die Höhle nicht mehr so beängstigend wie noch vor einer Stunde. Pachi entpuppt sich als ein pummeliges Pachirisu, das mit zufrieden verschränkten Ärmchen auf dem Felsboden hockt, der buschige weißblaue Schweif auf und ab schlagend. „Deins?“, frage ich und gehe in die Knie, um das Pokémon zu streicheln, aber Jack schüttelt den Kopf. „Eins von den öffentlichen Pokémon unserer Polizeistation. Blitz ist in manchen Höhlen sehr hilfreich, wird aber nur selten gebraucht, deswegen verleiht die Station Pokémon mit speziellen Attacken, wenn sie gebraucht werden.“ Ich nicke und erhebe mich. „Was meinst du mit der Sache in Teak City?“, frage ich, während wir zu der Stelle gehen, an der ich das erste Loch in Erinnerung habe. Auf dem Weg dorthin entdecken wir noch andere Stellen, die verdächtig aussehen. Jack markiert sie mit einem kleinen Stück Kreide. „Die Biker sind dieses Jahr ein großes Problem“, sagt er nach einer Weile. „Bisher sind sie hauptsächlich in Kanto geblieben, aber anscheinend breitet sich alles Übel jetzt auch nach Johto aus. Jedenfalls lauern sie nahe Teak City jungen Trainern und alten Menschen auf, bestehlen sie oder kämpfen in Gruppen gegen einzelne Trainer, um ihnen ihr Geld abzuknüpfen.“ Ich verziehe das Gesicht. „Vor zwei Jahren ist eine Gruppe bis nach Orania City gekommen“, sage ich und Jack nickt wissend. „Sie breiten ihr Territorium aus. Mir wäre es egal, ich bike auch ab und zu, aber dass sie Kinder belästigen, geht zu weit. Leider sind wir zu wenige, um uns auch noch darum zu kümmern. Team Rocket ist derzeit die größere Bedrohung.“ „Kann man nicht stärkere Trainer organisieren, die die Biker verscheuchen?“, frage ich, kurz bevor wir den herausgefallenen Stein erreichen. Jack geht daneben in die Hocke und befühlt mit Handschuhen die Steinkanten. „Fände ich super“, sagt er schließlich und zieht eine Kamera aus seiner Tasche. Dann macht er einige Fotos von dem Licht und dem Stein und bedeutet mir, ihn zum nächsten Loch zu führen. „Aber die heutigen Kids sind ja nur mit Orden und Turnieren beschäftigt. Und die wirklich guten Trainer wie Gold und Noah müssen ohnehin schon den Großteil der Team Rocket Probleme schultern.“ „Warum?“ „Weil die Polizeieinheit nicht viel Zeit für das Training hat“, sagt Jack und es klingt verbittert. „Bis vor zwei Jahren hat die Einheit nur aus Vorsicht und Gewohnheit existiert, niemand hat damit gerechnet, Team Rocket könnte tatsächlich ein drittes Mal wieder auferstehen. Wir sind auf normale Einsätze geschickt worden und jetzt sind alle furchtbar überrascht, dass unsere Pokémon unterlevelt sind. Die unteren Ränge sind kein Problem, aber ab Rang drei wird es für uns problematisch. Wir vermuten derzeit, dass die Vorstände und die Rockets von Rang eins auf einem ähnlichen Niveau wie die Top Vier stehen.“ „Das kann nicht sein“, murmele ich, geschockt. Dann wiederum… Ich erinnere mich an Teals Sengo, das Sku im Nu ausgeschaltet hat. Das die Ruinendecke zum Einsturz gebracht hat. Und Teal und Mel unterstanden Lee. Lee ist also noch stärker. Und er ist vermutlich nicht mal Mitglied des Vorstands. „Das bedeutet also, dass ihr nur im Namen für die Vernichtung der Organisation verantwortlich seid?“, frage ich und Jack schnalzt mit der Zunge. „Ich will nicht sagen, dass wir nutzlos sind“, sagt er. „Wir haben ein paar Mitglieder, die erstklassige Trainer sind und wir können Rockets allein mit unserer Zahl einkesseln und unter Druck setzen. Aber das Ende der Rockets liegt nicht in unserer Hand. Ohne die Hilfe der besten Trainer unserer beiden Regionen haben wir keine Chance.“   Gemeinsam mit Jack suche ich die Dunkelhöhle nach weiteren Löchern ab. Zusammen sind wir schneller, vor allem, weil Pachirisus Licht jeden Winkel der Höhle ausleuchtet. Außerdem kenne ich mich inzwischen mit den typischen Merkmalen aus. Innerhalb einer Stunde haben wir fünfundzwanzig Löcher ausfindig gemacht, die Jack alle mit einem kleinen Kreide-X markiert. „Danke für deine Hilfe“, sagt er, als wir fertig sind, und vor dem Höhleneingang stehen. „Kein Problem“, sage ich grinsend. „Je schneller wir Team Rockets Pläne aufdecken, umso besser, oder?“ Er klopft mir auf die Schulter. „Da hast du verdammt nochmal Recht.“   Ich treffe mich mit Louis vor dem Elektronikgeschäft, meine Geldbörse gefüllt mit wundervollen, grünglänzenden Pokédollar-Scheinen. Zehn 500 PD-Scheine, frisch aus Madeleine Dervishs wulstigen Fingern. Ich könnte singen vor Freude. Nach über einer Woche des Pleiteseins kommt mir dieses Geld wie ein Vermögen vor. Und das ist es auch. Mir ist vage bewusst, dass ich vor knapp sechs Wochen mit genau dieser Geldmenge in Richtung Dukatia City aufgebrochen bin, aber als ich Louis mit einer Umarmung begrüße und seine rote Wangen sehe, verschwinden alle anderen Gedanken aus meinem Kopf. Seit wir uns auf Ethans Rücken geküsst haben, sind fünf Tage vergangen und eigentlich hat sich unser Verhalten miteinander kaum verändert, aber manchmal, so wie jetzt, kommt die Erinnerung zurück wie ein Schlag. Ich lasse Louis schnell los. Meine Wangen müssen genauso rot sein wie seine, denn wir drehen uns in beschämtem Einverständnis zur Eingangstür um und treten ein.   „Weißt du…“, sagt Louis, als wir nur zehn Minuten später den Laden wieder verlassen und durch den feinen Nieselregen zurück zu Heikes Haus gehen „Eigentlich hätte ich es mir denken können.“ „Hättest du“, stimme ich breit grinsend zu, mein frisch gekaufter PokéCom beruhigend in meinem Rucksack verstaut. Es ist das alte Modell, aber für Radioempfang reicht es allemal. Die Kopfhörer, die es im Angebot dazugab, baumeln fröhlich um meinen Hals. Damit bin ich zwar wieder gefährlich knapp bei Kasse, aber man muss eben Prioritäten setzen. Und ohne Radio gehe ich nirgendwo mehr hin. Hosted by Animexx e.V. 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