Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 33: Wind und Rauch (Ich wähle dich?) -------------------------------------------- „Wart ihr gestern Nacht noch unterwegs?“, fragt Heike zwischen zwei Bissen Brötchen und ich schiele zu Louis, der sich an seinem Kakao verschluckt und anfängt, zu husten. Sehr diskret. „Wir sind im See schwimmen gewesen“, sage ich und schmiere mir etwas Morbbeermarmelade auf mein Brötchen. „Wir wollten das letzte sonnige Wochenende ausnutzen.“ „Jaja, der Wetterdienst sagt, es wird kalt die nächste Woche“, nickt Heike. Louis wischt sich über den Mund und atmet tief durch. „Habt ihr zwei überhaupt ordentliche Jacken?“ „Leider nicht, aber ich werde mir eine kaufen, sobald ich meine erste Bezahlung bekomme“, sage ich und denke sehnsüchtig an das Gefühl von Geldscheinen in meinen Händen. Ich muss so viel kaufen… „Ich hab eine Windjacke“, sagt Louis. „Aber ich werde meine Wintersachen trotzdem noch aufstocken müssen.“ „Kommt Oliver vorbei?“, frage ich Heike, aber sie schüttelt den Kopf. „Er ist mit seiner Familie über das Wochenende campen.“ Sie lächelt. „Aber er wird bestimmt überrascht sein, dich am Montag zu sehen.“ „Ich bin schon sehr gespannt“, gestehe ich und beiße dann gedankenverloren in mein Brötchen. Vielleicht sollte ich Gott heute schon ein wenig austesten, damit ich morgen nicht wie ein Anfänger dastehe. Wenn es hier wirklich so viele Knofensa gibt, wie Mathilda sagt, dann sollte er hier keine Probleme haben. Andererseits… „Louis, wir gehen“, sage ich und stehe auf. „Waf?“ „Wir kommen erst heute Nachmittag wieder, Heike, du brauchst uns also nicht für das Mittagessen einzurechnen.“ Sie lächelt wissend.   „Warum warst du denn plötzlich so in Eile?“, fragt Louis, während er hinter mir her joggt. Ich gehe zügigen Schrittes voran, einen Stift hinter mein Ohr geklemmt und einen kleinen Notizblock in meinen Händen. Gott sitzt auf meiner Schulter und dreht immer wieder misstrauisch den Kopf zu Louis. Hunter ist vorgeflogen. „Ich muss Gott auf sein Potenzial testen“, sage ich und Louis kommt endlich neben mir an. Er fährt sich durchs Haar. „Sein Potenzial?“ „Tornupto hat sehr gute Basiswerte. Wenn seine DV stimmen, dann werde ich sein Training ernst nehmen“, erkläre ich. „Ein oder zwei Powerhouses sollte ein Trainer haben, auch wenn er nicht professionell ist.“ „Ich verstehe nur Bahnhof, aber wie du meinst. Ein Brötchen hätte ich trotzdem noch geschafft.“ Wir durchqueren das Durchgangshäuschen, an dessen Theke ein älterer Mann mit Schnauzbart ist. Louis zeigt ihm seine ID und er winkt uns durch. Ich habe Route 31 nur noch von unserem letzten Abend mit Maisy in Erinnerung, als es schon dunkel war, aber viel heller ist es trotzdem nicht. Der dichte Nadelwald zu beiden Seiten des Weges blockt einen großen Anteil des Sonnenlichts und das hohe Gras, das nach einigen Minuten zu unserer Rechten auftaucht, liegt in dunkelgrünem Schatten. Ich ziehe Skus Pokéball und lasse sie raus. Sie kneift die Augen zusammen, brummt dann zufrieden und schlängelt sich um mein Bein. Gott zischt, als sie mir so Nahe kommt, aber Sku knurrt bedrohlich zurück und damit ist die Rangordnung vorerst hergestellt. Gott duckt sich und eine kleine Flamme flackert mein Ohr entlang, bevor sie wieder erlischt. Vorsichtig ziehe ich meinen Zopf auf die andere Seite. Louis ruft seinerseits Winry, mit der er sein Knofensa fangen will. Bei dem Gedanken an Ethan, der gegen das kleine Pflanzenpokémon kämpft, muss ich ein Lachen unterdrücken. Wir nähern uns dem hohen Gras, das zu unserer Rechten einen flachen Abhang hinabführt und einen großen Teil meines Sichtfeldes einnimmt. Weit dahinter kann ich Felswände erkennen, auf denen sich der Nadelwald fortsetzt. Der Weg, von dem wir uns jetzt langsam entfernen, führt zu dem steilen Hügel, auf dem wir mit Maisy die Sterne beobachtet haben. Der See liegt irgendwo nördlich hinter der Kuppe, ist heute aber nicht unser Ziel. Die dicht bewachsene Wiese ist perfekt für unsere Zwecke. Das Gras raschelt um unsere Beine und Hüften und während Louis einen Weg für uns frei tritt, krame ich meinen Pokédex aus meiner Tasche. Es wird Zeit, Gott genauer unter die Lupe zu nehmen. „Also, was ist dein Plan?“, frage ich Louis, der, Winry um den Körper gewickelt, durch das Gras streift und nach Knofensas Ausschau hält, während ich meinen Notizblock zücke und auf meinem Kugelschreiber herumkaue. Er dreht sich verständnislos um. „Was für ein Plan?“ „Keine Ahnung, wie du dir dein Knofensa aussuchst zum Beispiel.“ Ich hebe Gott von meiner Schulter herunter und setzte ihn vor mich ins Gras. Sku nutzt die Gelegenheit und krabbelt meinen Rücken hoch, wo sie es sich in ihrer beliebten Position gemütlich macht: Unterleib um meinen Hals gewickelt, Oberkörper auf meinem Kopf und Vorderpfoten auf meine Stirn gelegt. Ich lasse sie gewähren und halte meinen Pokédex auf Gott. „Ich fange einfach das Nächstbeste, was ich treffe“, meint Louis. Ich bedenke ihn mit einem kritischen Blick. „Feurigel – das Feuermaus-Pokémon“, erschallt es in dem Moment aus dem roten Gerät. „Typ Feuer. Erschrickt sich dieses scheue Pokémon, lodern die Flammen auf seinem Rücken kräftiger. Level 6. Spezialfähigkeit: Großbrand.“ „Gut…“, murmele ich und durchforste den Pokédex nach Feurigels Attacken und Entwicklungsstufen. „Warte. Das Nächstbeste?“ Ich schaue zu Louis hoch. „Ich dachte, Trainer suchen sich ihre Pokémon nach irgendeinem speziellen Verfahren aus!“ „Ehm.“ Louis dreht sich zu mir um. „Nein. Ich fange eins und dann trainiere ich es. So habe ich Winry und Ethan bekommen.“ Ich denke nach, aber wenn ich genauer darüber nachdenke, habe ich keins meiner Pokémon einfach gefangen. Sku durfte ich mir von Agnes aussuchen, Hunter hat sich mir quasi aufgedrängt und Gott musste ich fangen, um aus den Ruinen fliehen zu können. Vielleicht hat Louis Recht. Aber es scheint schließlich auch Pokémon zu geben, die sich ihre Trainer aussuchen. So wie Hunter. „Na gut, dann such du mal. Ich brauche hier noch eine Weile.“ „Wie du meinst“, sagt Louis, dann verschwindet er im hohen Gras. Es dauert keine zehn Minuten, bevor ich sein Rufen höre. Ich stehe ächzend auf und ignoriere Skus empörten Blick, als sie sich von mir lösen muss. Sie und Gott trotten hinter mir her, während ich zu Louis laufe, der mit Winry etwas Kleinem gegenüber steht. Das Knofensa steht auf schwankenden Wurzeln und wiegt sich tänzelnd im Wind. Es ist größer als ich erwartet habe und würde mir leicht bis zur Hüfte reichen, wenn es neben mir stände. Seine schwarzen Knopfaugen verengen sich zu Schlitzen, als es Gott sieht, der seine Flammen bedrohlich auflodern lässt. „Und jetzt?“, fragt Louis und hält unschlüssig einen leeren Pokéball in der Hand. „Wenn Winry es angreift, besiege ich es wahrscheinlich.“ „Wirf einfach, vielleicht geht es auch so“, schlage ich vor und er nickt. Er hebt den Arm und wirft. Der Ball schießt mit einem Sirren durch die Luft und obwohl ich schwören könnte, dass Knofensa sich keinen Millimeter bewegt, fliegt er an dem Pokémon vorbei und landet wirkungslos im Gras. „Daneben“, stelle ich fest und Sku keckert. Knofensa nutzt die Gelegenheit und wächst. Sein ganzer Körper schwillt an, bis es eine gute Handbreit größer ist als noch vor einigen Sekunden. Murrend zieht Louis seinen zweiten Pokéball. Als er dieses Mal wirft, schaue ich genauer hin und kann es sehen. Blitzschnell windet Knofensas gertenschlanker Körper sich um den Pokéball herum und nimmt fast augenblicklich wieder seine Ausgangsposition ein. „Nicht übel…“, murmele ich und Louis schaut fragend zu mir. Ich zucke mit den Achseln. „Es ist verdammt schnell“, sage ich. „Soll Gott dir mit einer Rauchwolke aushelfen?“ „Nein.“ Louis schaut verbissen zurück zu Knofensa. „Ich werde wohl noch in der Lage sein, alleine ein Pokémon zu fangen.“ Ich lasse mich neben ihm ins Gras sinken und warte geduldig, bis Sku es sich auf mir gemütlich gemacht hat, bevor ich mit meiner Recherche fortfahre. Drei Pokébälle später weht Knofensa weiterhin im Wind und Louis lässt geknickt den Kopf hängen. „Rauchwolke, bitte“, sagt er niedergeschlagen. „Ich hab nur noch einen Ball.“ „Dann hoffen wir mal, dass es jetzt auf Anhieb klappt. Gott, Rauchwolke auf Knofensa.“ Gott fletscht die kleinen Zähnchen, dann springt er auf Knofensa zu und das Feuer auf seinem Rücken flackert stark auf, bevor es erstickend an- und ausgeht. Schwarzer Rauch steigt von den Flammen auf und verdichtet sich um die beiden Pokémon. Louis kneift die Augen zusammen, zielt – und wirft. Gott taucht wieder neben mir auf und ich strecke meine Hand nach ihm aus. Sein Feuer erlischt und er erlaubt mir, einige Male über seinen Rücken zu streichen, bevor er sich wieder auf dem Boden zusammenrollt und kleine Flämmchen zwischen seinen grünblauen Rückenschuppen hervor züngeln. Der Qualm seiner Attacke verflüchtigt sich und wir entdecken Louis´ Pokéball, der blinkend im Gras hin und her rollt. Dann bleibt er reglos liegen. „JIHAA!“, schreit Louis und schlägt mit seiner Faust in die Luft. Ich grinse und Winry imitiert ein Klatschen, auch wenn ihre Pfoten zu kurz sind und sie kaum ein Geräusch hervorbringt. Sku schnurrt genüsslich und legt ihren großen Kopf auf ihren Pfoten ab, die immer noch auf meiner Stirn liegen. „Das war ein Akt“, sage ich und Louis lässt sich neben mir ins dichte Gras fallen. „Kannst du laut sagen.“ Eine Weile bleiben wir so, er im Gras, alle Viere von sich gestreckt, ich verrenkt sitzend mit einem Pokémon auf dem Kopf und einem Notizblock in der Hand. Schließlich dreht Louis den Kopf zu mir und schaut mich von unten her an. „Wegen gestern…“, fängt er an und mir läuft ein heißkalter Schauer über den Rücken. „War das… okay für dich?“ „Wenn es nicht okay gewesen wäre, hättest du es gemerkt“, erwidere ich und starre konzentriert auf die Attackenbuilds, die ich mir für ein späteres Tornupto zu Recht gelegt habe. „Okay. Gut.“ Er schweigt. Dann streckt er seine rechte Hand nach mir aus und legt sie – behutsam – an meinen Oberschenkel. Sonst tut er nichts. Mein Atem stockt. Er lässt seine Hand dort liegen und sagt nichts mehr, aber die Stille zieht sich in die Länge, als hätte er eine Frage gestellt, auf die ich immer noch nicht geantwortet habe. Ich denke an Gott zurück, der vor meiner Hand zurückgeschreckt ist, nur um später darauf zu schlafen. Vorsichtig lasse ich meine linke Hand auf seine sinken. Louis´ Augen sind geschlossen, aber als ich zu ihm hinunter schiele, kann ich das glückselige Grinsen auf seinem Gesicht sehen, als er meine Finger drückt. Schließlich setzt er sich schwungvoll auf und ruft das frisch gefangene Knofensa. Von nahem wirkt es noch größer. Knofensa werden im Normalfall nicht größer als siebzig Zentimeter, aber dieses reicht fast an die neunzig heran. Seine schwarzen Augen verengen sich, als es Louis sieht, dann streckt es die kleinen Blattärmchen aus und schwingt hin und her. „Soll ich mal?“ frage ich und halte den Pokédex hoch. Louis nickt und ich klicke auf die Analysefunktion, dann halte ich das Gerät in Knofensas Richtung. „Knofensa – das Blumen-Pokémon. Typ Pflanze/Gift. Knofensas schlanker und elastischer Körper ermöglicht es ihm, jedem Angriff auszuweichen. Es spuckt eine ätzende Flüssigkeit aus, die Eisen zersetzen kann. Level 7. Spezialfähigkeit: Chlorophyll.“ „Nicht schlecht“, gebe ich grinsend zu. „Die Ausweichmanöver haben wir schon gesehen, fehlt nur noch das Eisen.“ „Säure erlernt es erst später“, erwidert Louis und schaut sein neues Pokémon neugierig an. „Es ist weiblich, oder?“ Ich kneife die Augen zusammen. „Scheint so. Aber sicher bin ich nicht. Hast du schon einen Namen?“ „Ich dachte an etwas Cooles.“ Ich lache. „Das hoffe ich doch.“ „Was hältst du von Harley?“ „Harley klingt gut“, sage ich und betrachte das Pokémon erneut. Seine Augen huschen abschätzend zwischen uns hin und her und ich frage mich, was in dem kleinen Pflanzenkopf vor sich geht. „Wollen wir loslegen?“ Louis nickt und steht schwungvoll auf. „Also gut Harley, wir sind jetzt Partner, also lass uns zusammen stärker werden. Was hältst du davon?“ Harley legt den Kopf schief, dann gibt sie ein zustimmendes Glucksen von sich und tänzelt voran durchs hohe Gras. Louis und ich folgen.   Wir begegnen noch vielen weiteren Knofensas, während sich unser Training in die Länge zieht und die Sonne in Richtung Westen wandert, aber mit Harley scheint Louis einen guten Fang gemacht zu haben. Sie ist größer und geschickter als die meisten ihrer Gegner und ihre Bewegungen sind blitzschnell. Ich trainiere etwas abseits mit Gott und bemühe mich, nur gegen Taubsi, Zickzachs und Bamelin zu kämpfen. Ich hatte von Anfang an ein gutes Gefühl bei ihm und das finde ich nun bestätigt. Seine ersten richtigen Gegner fegt Gott geradezu weg, seine Initiative ist für seinen Level ungewöhnlich hoch und ich beobachte ihn wohlwollend, während ich mir Notizen zu den Initiative EVs mache, die er sammelt. Diese Art von Training ist sehr mühsam, aber das Endergebnis wird sich lohnen und Gotts Potential will ich nicht verkommen lassen. Ein leidenschaftliches Pokémon wie er, das aus seiner Heimat flieht und auf Level 6 durch halb Johto wandert, sollte nicht als Schmusepokémon verkommen. Und so zwinge ich mich zu dem langwierigen Training, auf das ich gut und gerne verzichten könnte und lasse Sku gewähren, die dem Spektakel von meinem Rücken aus zuschaut. „Du kommst auch noch dran“, drohe ich und schiele zu ihr hoch, aber außer ihrem dichten, violetten Fell kann ich nichts erkennen. Ihr wenig begeistertes Schnurren ist aber Antwort genug. Wenn es nicht anders geht, meinetwegen. „Abby! Schau dir das an!“ Ich hebe den Kopf und entdecke Louis etwa zwanzig Meter zu meiner Linken, etwas den Hang hinauf. Harley und er sind in einen Kampf verwickelt. Ich schaue zu Gott zurück, der seinen Gegner – ein Zickzachs – mühelos mit einem Tackle niederstreckt und dann zu mir hinüber läuft. Ich laufe den Hang zu Louis hoch und schaue Harley dabei zu, wie sie sich um das gegnerische Ledyba wickelt und es so fest zusammendrückt, dass das arme Käferpokémon leise winselt. „Es hat schon Wickel erlernt? Wow“, sage ich und klopfe Louis auf den Rücken. „Zwei Stunden und schon vier Level, das läuft doch super!“ „Ja.“ Er nickt breit grinsend. „Aber ab jetzt wird es langsamer gehen, oder? Die Pokémon hier sind allmählich zu schwach.“ „Du kannst immer noch die Route wechseln“, erinnere ich ihn. „Aber die Angriff EVs werden ihr gut tun, glaub mir.“ „Die was?“ Ich seufze. „Nicht so wichtig.“ „Ich bleibe auf jeden Fall hier“, sagt Louis grinsend und schaut Harley dabei zu, wie sie das Ledyba fester umschlingt und mit ihren freien Ranken schlägt, bis seine runden Augen nach hinten kippen und es regungslos in Knofensas Griff hängen bleibt. „Wenn wir ´eh noch zwei Wochen hier bleiben, muss ich mich nicht beeilen.“ „Guter Plan.“ Ich gähne und strecke mich ausgiebig, dann schaue ich in den Himmel. Im Osten ziehen Wolken auf, die düster auf uns zu rollen. „Ist für heute Gewitter gemeldet?“ Louis hebt den Kopf und als er die Sturmfront entdeckt, verzieht er das Gesicht. „Sieht so aus, als müssten wir früher zurück“, sagt er wenig begeistert. „Ich will nicht hier sein, wenn das runter kommt.“ „Komm.“ Ich nehme seine Hand und rufe Gott und Sku zurück, dann ziehe ich ihn den Wiesenhang hoch. „Genau wegen sowas brauche ich ein Radio“, murre ich, während wir uns den Hügel hinauf durch das hüfthohe Gras kämpfen. Der Aufstieg ist weit beschwerlicher als andersherum und nach wenigen Minuten sind wir außer Puste. „So eins wie Maisy hatte?“ „Genau. Tragbar, handlich, praktisch.“ Ich seufze. „Ich bin schon total auf Nachrichtenentzug. Hast du bei Heike einen Fernseher gesehen?“ „Nein.“ „Ein Radio?“, frage ich hoffnungsvoll, aber Louis lacht nur. „Du wohnst auch bei ihr“, erwidert er. „Wenn du keins gesehen hast, dann ich erst recht nicht.“ „Ich will Geld…“ Mein Jammern ignorierend folgt Louis mir die Route hinauf und als wir endlich wieder den Hauptweg erreichen, ist es dunkel geworden. Ich drehe mich um. Die Wolken kommen immer näher, schon jetzt bedecken sie den Himmel wie eine schwarze Decke und die Sonne ist kaum noch zu erkennen. „Hoffentlich schaffen wir das noch…“, murmele ich. In dem Moment schießt ein Schatten aus Richtung See auf uns zu. Ich hebe einen Arm und winke und keine Sekunde später landet Hunter mit schlagenden Flügeln auf meinen Schultern. „Warum sitzen alle Pokémon immer auf meinem Rücken?“ beschwere ich mich und Hunter flattert keckernd mit den Flügeln, um sein Gewicht von meinen Schultern zu nehmen. Ich bereite seinem Gezappel ein Ende und rufe ihn zurück. „Warum fliegen wir nicht auf ihm zurück?“, fragt Louis, während wir in Richtung Viola City zurücklaufen. Der Regen setzt ein und fette Tropfen platschen in mein Gesicht, auf meine Haare und auf mein T-Shirt. „Hunter kann die Attacke nicht“, erwidere ich keuchend und unterdrücke ein Schlottern meiner Zähne, als der  heftige Regen mich daran erinnert, dass der Herbst vor der Tür steht. Die Kälte kriecht mir innerhalb von Sekunden in die Knochen. „Wenn ich mich auf ihn setzen würde, käme er keinen Meter weit.“ „Ich verstehe die Logik nicht, aber wenn du´s sagst…“ Wir erreichen das Durchgangshäuschen in einem letzten Sprint und stürzen in das kleine Gebäude hinein. Der alte Mann sitzt immer noch da und sieht uns verdutzt an. Dann lächelt er grimmig. „Hat euch aber übel erwischt“, meint er mit grollenden Stimme. „Ja, ziemlich“, erwidere ich und reibe mir die pitschnassen Arme. Dann drehe ich mich zu Louis um, der sich durch die Haare strubbelt, um das Wasser loszuwerden. „Sollen wir hier warten, bis es aufhört oder direkt zu Heike?“ „Lieber noch einmal nass werden und dann im Warmen sitzen“, murmelt er. „Ich habe keine Lust, hier für die nächsten paar Stunden rumzusitzen.“ Wir verabschieden uns von dem Mann, dann holen wir tief Luft und rennen zurück in den Regen. Wasser füllt die Rillen im Kopfsteinpflaster und hinter uns hören wir fernes Donnergrollen. Wir brauchen fünf Minuten, bis wir Heikes Haus erreichen, während derer wir zwischen kurzen Sprints, kleinen Joggs und Gehpausen hin und her wechseln, aber als Louis an ihrer Tür klopft, öffnet diese sich fast augenblicklich. „Das seid ihr ja, kommt rein, kommt rein, ihr holt euch noch den Tod!“ Heike schiebt uns in die warme Wohnung und unser Bibbern verklingt langsam, während wir neben ihrem warmen Ofen stehen, in dem ein Auflauf knusprig hochbackt. „Hat der Wetterbericht irgendwas von dem Gewitter berichtet?“, frage ich später, als wir mit vollen Bäuchen um den Esstisch herum sitzen und ich mir eine Tasse puren Tamottee gönne. Meine Zunge brennt angenehm und der scharfe Nachgeschmack macht mir Lust auf mehr. Louis schaut immer wieder verständnislos zwischen der Tasse und mir hin und her. „Das weiß ich nicht“, sagt Heike und rückt ihre Brille zurecht. „Ich bin technisch nicht auf dem neusten Stand.“ Eher auf gar keinem Stand, denke ich zerknirscht und schaue mich sicherheitshalber noch einmal in ihrer Wohnung um, aber von einem Fernseher oder Radio ist keine Spur zu sehen. Sobald ich morgen von der Arbeit zurückkomme, werde ich mich in den Elektronikladen setzen und Nachrichten schauen. Ich fühle mich so abgeschnitten wie noch nie – und ich war immerhin schon in einer Höhle verschüttet. Da hatte ich aber Maisys tragbares Radio dabei, aus dem wenigstens gruselige Musik kam. Besser als gar nichts.   Wir unterhalten uns noch bis in den Abend mit Heike, spielen Karten und lassen uns von ihr über die Legende des Bronzeturms berichten. „Die Turmruine war einst einer der beiden großen Türme, die in Teak City herausstachen“, sagt sie gerade und ihr Blick schweift in weite Ferne. Ihre Worte klingen wie ein Text, den sie so oft gelesen hat, dass er sich in ihr Gedächtnis gebrannt hat und als sie fortfährt, läuft mir ein leichter Schauer über den Rücken. Ich erinnere mich an die Bilder der beiden Türme aus einer Touristenbroschüre, der eine strahlend schön hinter einem Wald-Hain versteckt, der andere verkohlt und niedergebrannt. „Auf ihnen sollen zwei legendäre Vogel-Pokémon gelebt haben, die von den Menschen verehrt wurden. Lugia auf dem Bronzeturm im Westen und Ho-Oh auf dem Glockenturm im Osten“, fährt sie in derselben Stimmlage fort. „Doch als vor etwa 160 Jahren ein drei Tage andauernder Brand ausbrach, musste Lugia fliehen. Dabei sind drei Pokémon in den Flammen umgekommen. Ho-Oh hat ihnen mit seiner Zauberasche wieder neues Leben eingehaucht und die Pokémon sind in alle Richtungen davongelaufen. Nach diesem Ereignis ist auch das goldene Regenbogen-Pokémon aus der Stadt geflogen und seitdem nicht mehr gesehen worden.“ „Wird es zurückkehren?“, fragt Louis, leise, als fürchte er, den Zauber ihrer Geschichte zu brechen. Heike nickt. „Ich glaube fest daran. Der Legende nach wird seine Rückkehr mit dem Glockenläuten des Turms angekündigt werden.“ Sie lächelt. „Und es ist noch nicht lange her, da haben sie geläutet.“ „Wirklich?“, frage ich aufgeregt. „Wann?“ „Es muss gewesen sein, als Gold seine Orden sammelte. Oder war er damals schon der neue Champion? Ich kann mich nicht mehr erinnern.“ Ich stutze. „Aber… das ist mindestens neun Jahre her!“ „Ja.“ Heike strahlt. „Was sind schon neun Jahre. Gold fing damals Lugia, aber ich bin sicher, Ho-Oh wird auch einen würdigen Trainer finden.“ „Aber sind Legendäre nicht unglaublich schwer zu fangen?“, fragt Louis mit gerunzelter Stirn und ich nicke. Wenn dem nicht so wäre, warum hießen sie dann Legendär? „Wisst ihr…“, sagt Heike und faltet ihre Hände auf dem Tisch. „Ich glaube, jeder starke Trainer mit genug Bällen könnte ein Legendäres Pokémon fangen. Aber sie zu finden, das ist die wahre Prüfung. Ein so mächtiges Pokémon zeigt sich nicht jedem dahergelaufenem Trainer.“ „Glaubst du, Pokémon suchen sich ihre Trainer aus?“, frage ich vorsichtig und denke an Hunter, der mir von Anfang an gefolgt ist. Sie lehnt sich etwas auf ihrem Stuhl zurück. „Warum nicht? Pokémon spüren bestimmt, ob ihnen ein guter Trainer gegenüber steht. Aber die meisten Wald und Wiesen-Pokémon sind nicht besonders wählerisch. Wenn du ein Legendäres von dir überzeugen willst, dann musst du wohl ein ausgesprochen besonderer Trainer sein.“   Als ich in dieser Nacht auf meinem Schlafsack liege, kann ich trotz der mich befallenden Müdigkeit kein Auge zu tun. Louis ist unauffällig etwas näher gerutscht, sein Schlafsack jetzt nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt und sein Arm liegt ausgestreckt auf meinem Bauch, während er leise schnarcht. Hunter hat mich ausgesucht. Wie hat er sich entschieden? Was waren seine Kriterien? Ich drehe den Kopf und betrachte Louis´ friedlich schlafendes Gesicht. Ein vorsichtiges Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)