Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 27: Maisy (Ein Haufen Löcher) ------------------------------------- "Lass mich das nochmal zusammenfassen", sage ich, als wir uns gemeinsam mit Maisy in Richtung Einheitstunnel  begeben, Azalea City samt dankbaren und schmunzelnden Bewohnern in unserem Rücken. "Kai wollte nicht, dass wir schon wieder verschollen gehen und deshalb hat er uns einen Guide an die Seite gestellt?" "Pretty much", erwidert Maisy grinsend und fährt sich durch ihr Haar. "Aber das ist nur die halbe Wahrheit." "Klär uns auf." "Mein Großvater braucht Aprikokos, um seine Bälle herzustellen und die wachsen nur an ganz bestimmten Orten hier in Johto. Deshalb hat er sie sich immer von den Trainern bringen lassen. Aber seitdem die Technologie immer besser wurde und Trainer immer seltener regelmäßig nach Azalea kamen, mussten wir umdenken. Deshalb verkaufen wir jetzt auch vorgefertigte Bälle. Etwas mehr Arbeit, aber das schlägt sich auch in den Einnahmen wieder, von daher." Sie zuckt die Achseln. "Bisher hat mein Großvater das erledigt und mich mitgenommen. Jetzt macht sein Rücken aber nicht mehr mit und ich bin schließlich auch kein kleines Kind mehr, also übernehme von jetzt an ich die Routen." "Ich kapier´s immer noch nicht", sagt Louis, der abwesend einen kleinen Stein vor sich her kickt. Die Sonne steigt immer höher und in der Ferne kann ich schon den Tunnel erkennen. "Kai wollte sich bei euch revanchieren. Kurt wollte nicht, dass ich alleine die ganze Strecke laufe. Ihr seid starke Trainer, ich kenne die Gegend wie meine Westentasche. Ziemlich guter Deal, wenn ihr mich fragt." Sie verschränkt die Hände hinter ihrem Kopf und grinst in die Landschaft. "Ich bin auf jeden Fall froh, endlich mal aus der Stadt rauszukommen. Ich habe ein paar Sachen zu erledigen, die ich ungerne unter der Fuchtel meines Großvaters mache." Sie zwinkert uns zu. "Naja, soweit dazu." "Was für Unternehmungen?", frage ich und ziehe die Augenbrauen hoch, aber Maisy lacht nur. "God, ich freue mich echt, mal neue Gesichter zu sehen!" Ich werfe ihr einen Blick zu. Sie strahlt bis über beide Ohren. "Was denkst du, wie lange werden wir für die Strecke brauchen?", fragt Louis, als wir die Stadt endgültig hinter uns lassen und die kleine Grasfläche erreichen, auf der er mit Ethan und Winry trainiert hat. "Ach, das kommt ganz drauf an", sagt Maisy gut gelaunt. "Wenn ich wollte, könnte ich die Route bis morgen Nachmittag abklappern, aber das ist mir zu stressig. Ich will ja auch was von dem Trip haben und ihr bestimmt auch." "Stimmt", gebe ich zu. "Meinst du, wir können den Alphruinen einen kleinen Besuch abstatten, wenn wir schon in der Nähe sind? Die würden mich ziemlich interessieren." Maisy sieht mich begeistert an. "Sight-Seeing! Klar, auf jeden Fall! Die Alphruinen..." Sie starrt verträumt in die Ferne. "Ich kann es kaum erwarten. Ich glaube, wir werden noch eine Menge Spaß auf dieser Reise haben." Wir erreichen den Einheitstunnel keine 5 Minuten später. Bevor wir jedoch den kleinen Hügel erklimmen, stellt Maisy ihren Gitarrenkasten und die Umhängetasche ab und kramt eine kleine Machete und aufklappbare Verpackungen hervor, die etwas größer als ein Pokéball sind. Dann hängt sie sich eine lose Stoffbinde um. "Gebt mir ´ne Sekunde", ruft sie uns fröhlich zu, dann läuft sie zu den beiden unscheinbaren Bäumen, die am Ende der Wiese wachsen. Louis und ich folgen. Die Bäume haben einen langen dunklen Stamm mit hoch ansetzenden Ästen, deren dichtes Laub in die Höhe ragt und eine kugelartige grüne Krone bildet. Maisy nimmt den Machetengriff zwischen die Zähne, dann nimmt sie Anlauf und läuft den Stamm nach oben, stößt sich mit dem zweiten Schritt ab und greift mit der rechten Hand nach einem der Äste. Der Baum ächzt und biegt sich leicht, aber Maisy zieht sich ungerührt an dem Holz empor und klemmt ihre Beine um den obersten Teil des Stammes, wo sie sich auf den Ästen abstützen kann. Warum kann hier eigentlich jeder an Wänden hochlaufen? Erst Louis, jetzt auch noch Maisy... Ich sollte mir wirklich eine sportliche Betätigung suchen, mit der ich auch in irgendeiner Notsituation angeben kann. "Cool!", ruft Louis Maisy zu, die sich nach hinten kippen lässt, bis sie nur noch mit den Beinen an dem Baum hängt und uns kopfüber zuwinkt. Dann zieht sie sich wieder hoch, nimmt die Machete und beginnt, im dichten Laub nach Aprikokos zu suchen. Nach etwa einer halben Minute wird sie fündig. Sie zieht das Laub beiseite, schneidet mit der Machete irgendetwas durch und fördert eine schwarze Aprikoko zu Tage, die sie in dem Beutel verstaut. Dann sucht sie weiter. Fünf Minuten später hat sie drei schwarze und zwei rosa Aprikokos von den beiden Bäumen geerntet und verpackt diese sorgsam in den runden Behältnissen, die sie eben aus ihrem Rucksack genommen hat. "Wofür sind die?", frage ich und betrachte eine der Verpackungen, bevor Maisy es mir grinsend aus der Hand nimmt und die letzte Aprikoko darin verstaut. "Die sorgen dafür, dass die Aprikokos nicht ihre Form verlieren oder verfaulen. Wir sind schließlich ein paar Tage unterwegs." Ich nicke und warte gemeinsam mit Louis darauf, dass Maisy fertig einpackt. "Let´s go!", sagt sie nach einer Weile grinsend und wir machen uns auf den Anstieg zum Einheitstunnel. Wobei Anstieg vielleicht nicht der treffendste Ausdruck ist. Es ist eine kleine Anhöhe, die sich ohne jegliche Probleme bewältigen lässt. "Hier ist Ruth entführt worden", flüstere ich Louis zu, der bedächtig nickt, als wir den Tunnel betreten und uns düstere Feuchte umfängt. Auf den ersten Blick ist der Einheitstunnel ein Gewirr aus Gängen, Seen und Wänden, die aus Stalagtiten und Stalagmiten bestehen. Grüngraues Moos wächst dicht auf allen Felsen und der Boden ist glitschig mit feuchtem Stein und Algen. Aber immerhin ist die Decke hier höher als im Flegmonbrunnen, sonst wäre Louis mit Sicherheit nicht so ruhig. Ich werfe einen Blick zu Louis. Sein Gesicht ist verkrampft und seine Fäuste geballt. Okay, doch nicht ganz so ruhig. Gut, dass er nicht mit in den Brunnen gekommen ist. "Wer ist Ruth?" fragt Maisy. "Eine Trainerin", sage ich. "Eine Zicke", sagt Louis. "Oh, die Rothaarige?", fragt Maisy aufgeregt und dreht sich zu uns um. Dass sie jetzt rückwärts durch die mit spitzen Steinen und tiefen, schwarzgrünen Seen gespickte Höhle geht, scheint sie nicht im Geringsten zu stören. "Sie war bei uns im Laden. Damn, hat die ein Zeug gekauft. Die muss verdammt reich sein, so wie die mit Pokédollar um sich geworfen hat." "Ist sie auch", sage ich und schmunzele, als Maisy einen Schritt zur Seite macht und gekonnt einem der Stalagmiten ausweicht, dem sie sich rückwärts immer weiter genähert hat. Sie hat nicht übertrieben, was das Auskennen in der Gegend betrifft. "Das war doch die, die mit dir entführt wurde, oder?",  fragt sie dann mit großen Augen und mir läuft ein Schauer über den Rücken. "Ja, genau die." "Fuuuck..." Ihr Blick driftet in weite Ferne, dann fängt sie sich wieder, dreht sich um und springt über eine kleine Felsspalte, bevor sie sich nach rechts wendet. Links führt ein schmalerer Gang entlang. "Sag mal, Maisy", sage ich nach einigen Sekunden und sie bleibt stehen. "Hm?" "Welcher dieser Gänge war während der letzten Woche abgesperrt?" Sie überlegt einen Moment. "Das war der Hauptweg. Also der rechte." Sie legt den Kopf schief. "Warum fragst du?" "Ich muss da gleich etwas überprüfen", sage ich und sie zuckt die Achseln. Louis wirft mir einen fragenden Blick zu. Ich forme ein stummes Später mit meinen Lippen, dann hake ich mich bei ihm unter und gemeinsam folgen wir Maisy den Gang entlang. Der Gang ist relativ schmal, weitet sich aber zum Ende hin, sehr zu Louis´ Erleichterung, dessen Anspannung ich seit Betreten der Höhle spüre. Hier löse ich mich von seinem Arm und laufe sorgsam alle Wände ab. Maisy schaut mir belustigt zu, folgt dann aber meinem Beispiel und betastet ebenfalls die Steinwände. "Wonach suchen wir?", fragt sie nach etwa drei Minuten und als ich ihr antworte, schaue ich nicht von meiner Arbeit auf. "Einkerbungen im Stein", sage ich. "Nischen. Löcher. Unnatürliche Vertiefungen in den Wänden, sowas in der Art." "Hat deine Schwester nicht so etwas gesagt?", fragt Louis und stellt sich zu mir, wo er nun ebenfalls die Wände absucht. "Ein paar..." "...ungewöhnliche Löcher in den Wänden, ganz genau." Ich nicke und Maisy wirft mir einen aufgeregten Blick zu. "OMG, ist das hier sowas wie eine Ermittlung? Das ist zu episch!" Sie wirft sich mit neu gewonnener Motivation in die Suche. "Also glaubst du, dass Team Rocket die Löcher gemacht hat?", fragt Louis nachdenklich. "Wer sonst? Außerdem haben sie etwas von einem Debakel in Marmoria gesagt. Damit können sie nur das Auffliegen ihrer Leute im Mondberg gemeint haben. Also hatten sie hier eine ähnliche Mission. Und anscheinend ist Löcher in die Wände graben verdammt wichtig, wenn sie deshalb alle Zeugen umbringen wollten." "Ich kann immer noch nicht fassen, dass Team Rocket-Mitglieder hier bei uns gelebt haben, eine Woche lang!", murmelt Maisy und zum ersten Mal höre ich sowas wie Wut in ihrer Stimme. Sowohl Louis als auch ich lassen von unserer Suche ab und drehen uns zu Maisy um, die geradeaus starrt. "Als ich noch ganz klein war, hat Team Rocket sich schon mal im Flegmonbrunnen versteckt", sagt sie schließlich. Louis und ich werfen uns einen Blick zu. "Damals hat Gold meinem Vater geholfen, sie zu vertreiben." "Gold?!", frage ich begeistert und lasse von der Wand ab, um mich zu Maisy zu setzen. "Du kennst Gold persönlich?" Der Schatten verschwindet von ihrem Gesicht. "Gold war früher unser Stammkunde, er ist alle paar Wochen bei uns vorbei gekommen, hat uns einen Sack Aprikokos da gelassen und die fertigen Bälle mitgenommen. Aber dann ist er lange Zeit nicht mehr wieder gekommen." "War er seit seiner Rückkehr wieder bei euch?", fragt Louis, der sich jetzt auch zu uns gesetzt hat. So weit zum Thema wichtige Ermittlungen. Maisy schüttelt den Kopf. "Nein. Aber er hat meinen Großvater angerufen und sich für übernächste Woche angemeldet. Deswegen will ich bis dahin auf jeden Fall wieder in der Werkstatt sein!" "Kann ich mit?", flehe ich und nehme ihre Hand. "Bitte, bitte?" "Na ja..." Sie kratzt sich am Kopf. "Eigentlich sind das geheime Infos. Ich habe mich gerade ziemlich verplappert. Sorry..." Ich lasse den Kopf hängen. "Schon okay." "Ist nichts persönliches, wirklich", beruhigt Maisy mich und grinst mich entschuldigend an. "Aber mit Gold dürfen wir es uns nicht verspaßen und ich kann ehrlich gesagt auch verstehen, dass er mal irgendwo hingehen möchte, ohne dass gleich riesige Fanscharen auf ihn warten." "Ich weiß, ich weiß." Ich grinse und stehe wieder auf. "Na los, ran an die Arbeit. Ich will diese Löcher finden." "Geht klar, Chef", sagt Louis grinsend, dann geht er zur gegenüberliegenden Wand und fährt mit den Händen sorgfältig alle Wände ab.   Wir suchen über eine Stunde, bis Maisy schließlich einige lose Steine in ihrer Wand entdeckt und gemeinsam suchen wir nun auch den restlichen Gang nach ähnlichen Stellen ab. Als wir fertig sind, haben wir acht Nischen gefunden, die fein säuberlich in die Wand gebrochen und mit dicken Steinen verschlossen wurden. "Was meint ihr, was Team Rocket damit bezwecken will?", fragt Louis und schaut auf die acht Steinbrocken hinab, die wir zusammen getragen haben und um die wir jetzt nachdenklich herum stehen. "Keine Ahnung", sage ich. "Aber bei Team Rocket müssen wir vom Schlimmsten ausgehen." "Du solltest die Polizei benachrichtigen", empfiehlt Maisy und hockt sich neben den Steinen hin. "Vielleicht wissen die mehr davon." Ich nicke. "Mache ich, sobald wir aus der Höhle raus sind. Hier hat man ja null Empfang. Aber erst sollten wir den Rest der Höhle absuchen. Zumindest den Hauptgang. Und die Steine wieder zurück legen." "Abby, ich will ja nichts sagen, aber...", beginnt Louis und verzieht das Gesicht. „Wir haben eine Stunde für diesen kleinen Abschnitt gebraucht und die Höhle zieht sich noch ein ganzes Stück." "True", stimmt Maisy ihm zu. "Andererseits wissen wir jetzt, wonach wir suchen. Und wenn wir uns etwas aufteilen, können wir die ganze Höhle bis heute Nachmittag abklappern." "Aber nicht zu sehr, Maisy", fügt Louis hinzu. "Denk dran, Abby und ich kennen die Höhle nicht." "Kein Problem. Wir bleiben einfach in Sichtweite." "Dann wäre das geklärt." Ich strecke mich, dann checke ich mein Handy. Wie erwartet ist kein Empfang, aber vorerst interessiert mich nur die Uhrzeit. Es ist fast 11 Uhr. "Haben alle genug Wasser dabei?" Maisy und Louis nicken. Ich ziehe meinen Pokéball und rufe Sku, die verschlafen zu mir hoch blinzelt, aber dank der Dunkelheit in der Höhle nicht allzu viel an der Umgebung auszusetzen hat. "Nice, so geht´s noch schneller", sagt Maisy begeistert und ruft ihr eigenes Pokémon, genauso wie Louis. Im nächsten Moment ist er von einer seiner anhänglichen Winry umschlungen, während neben Maisy ein sehr altes und sehr weise wirkendes Noctuh sitzt, das sich abwesend das Gefieder putzt. "Na dann, los geht’s", sage ich grinsend und halte meine Hand in die Mitte. Maisy schlägt sofort ein. Louis zögert. "Nur damit das klar ist, ich bin immer noch dafür, einfach die Polizei zu rufen", sagt er. Ich werfe ihm einen bittenden Blick zu. Er seufzt, schlägt aber ebenfalls ein.   Etwa drei Stunden später erreiche ich im wahrsten Sinne des Wortes das Licht am Ende des Tunnels. Oder Einheitstunnels, wie auch immer. Mein Rücken fühlt sich an, als hätte jemand ein Geowaz darauf fallen lassen und meine Hände sind voller Schwielen, wo ich immer wieder über Stein gestrichen habe oder Felsbrocken aus dem Weg räumen musste. Sku hingegen ist mit der Zeit immer aktiver geworden. Sie hat seit Tagen nichts mehr zu tun gehabt und scheint sich jetzt über die Bewegung sehr zu freuen. Wer hätte das vermutet? "Wir sind durch!", rufe ich nach hinten. Als Antwort kommt nur Louis´ erleichtertes Stöhnen und ein Jauchzen von Maisy. Ich gebe zu, das war nicht der beste Start unserer Reise, aber jetzt haben wir immerhin etwas in der Hand, wenn wir die Polizei benachrichtigen. Ich hoffe, man kann mich mit Holly oder Jack verbinden, dann muss ich nicht nochmal durch das ganze "Ist das ein Scherz"-Spielchen durchgeschleift werden. Als ich die Höhle verlasse, muss ich sofort meine Augen verdecken, so hell ist es im Vergleich. Die Sonne steht hoch über mir und strahlt erbarmungslos auf mich herab. Sku macht einen Schritt nach draußen, winselt und verschwindet sofort wieder im Tunnel. Ich seufze und rufe sie zurück. Louis kommt als nächstes, dicht gefolgt von Winry und Maisy. Ihr Noctuh hat sie bereits zurück gerufen. Klug von ihr. Draußen angekommen lässt Louis sich auf den Boden sinken und nach hinten fallen, alle Viere von sich gestreckt. "Vier Stunden", sagt er und ich folge Maisys Bespiel, die sich zu ihm ins Gras setzt. "Vier geschlagene Stunden in dieser Höhle. War das nötig, Abby? War das wirklich nötig?" "Wie viele Löcher habt ihr gefunden?" "Zwölf", sagt Louis ohne aufzusehen. "Neun." "Gut, mit meinen elf und den acht, die wir zusammen gefunden haben, macht das insgesamt Vierzig." "Vierzig!", stöhnt Louis und reibt sich die Augen. "Ich kann es nicht fassen..." "Keine Sorge, dein Opfer bleibt nicht vergessen, oh großer Held", spotte ich und hole mein Handy aus meiner Hosentasche. Vier Balken. Na bitte, wer sagt´s denn. "Gebt mir mal ne Sekunde." "Tob dich aus." Louis legt die Arme über die Augen und bleibt reglos liegen, Maisy hingegen setzt sich in einen Schneidersitz und schaut mir gespannt zu, während sie hin und her wippt. Ich wähle die 01010, dann warte ich auf das Freizeichen. Nach dreimaligem Klingeln nimmt jemand ab. "Polizeiwache Dukatia City, mit wem spreche ich?" "Hallo, hier ist Abbygail Hampton." "...Du schon wieder? Womit kann ich euch dieses Mal helfen? Es ist hoffentlich nicht schon wieder jemand von Team Rocket entführt worden." "Nein, es geht um einige Details bezüglich des Vorfalls, die mir nachträglich noch eingefallen sind." "Also gut. Soll ich dich zu den Verantwortlichen durchleiten?" "Das wäre sehr freundlich." Ich gebe Maisy ein Daumenhochzeichen und sie erwidert es doppelt. "Hallo?" Die brüske Stimme gehört eindeutig zu Holly. Mist, ich hatte gehofft, Jack an die Leitung zu kriegen. Dann wiederum sieht er nicht wie der Typ aus, der freiwillig die Telefondienste übernimmt. Oder vielleicht traut Holly ihm Büroarbeit auch einfach nicht zu. "Hallo Holly, hier ist Abby." "Abby. Was gibt es?" "Mir ist noch etwas zu dem Gespräch eingefallen, das ich in der Höhle mitgehört habe." Es folgt eine kurze Pause, in der ich nur das Aufklappen eines Notizblocks und das Klacken eines sich öffnenden Kugelschreibers vernehme, dann erklingt wieder Hollys scharfe Stimme. "Fahr fort." "Es ging um Lees Arbeit im Einheitstunnel. Sie haben ihre Mission mit dem Debakel in Marmoria verglichen, deshalb gehe ich davon aus, dass sie auch hier Löcher in die Höhlenwände gebohrt haben." Das Kratzen des Kugelschreibers stoppt. "Und woher weißt du so genau über den Vorfall in Marmoria City Bescheid?" fragt Holly mit eiskalter Stimme und mein Herz schlägt mir mit einem Mal bis zum Hals. "Ich kann mich nicht erinnern, dass die Details in den Nachrichtenausgestrahlt wurden. Schon gar nicht hier in Johto." "Meine Schwester lebt dort", sage ich schnell. Verdammt, warum bin ich plötzlich so nervös? Ich bin unschuldig! "Sie arbeitet in der Fossilforschungsanstalt, deshalb wusste sie Bescheid." "Wie heißt deine Schwester?" "Maya Hampton." "Gut, wir werden das Überprüfen. Also, was wolltest du sagen?" "Wir haben die Höhle überprüft. Lee hat Löcher in den Einheitstunnel gebohrt. Es sind insgesamt vierzig, aber vielleicht haben wir-" "Ihr habt die Höhle überprüft?" "Ja, aber-" "Diese Löcher sind Beweismaterial! Ihr seid Zivilisten, ihr könnt nicht einfach in der Polizeiarbeit rumfuschen!" "Tut uns Leid", sage ich kleinlaut. "Aber wir wollten sicher sein, dass wir richtig liegen, bevor wir die Polizei damit belästigen." Das scheint Holly zu besänftigen. Sie seufzt theatralisch und ich höre wieder das Kratzen ihres Kugelschreibers. "Ich bedanke mich für den Hinweis, Abbygail. Allerdings wird es dich freuen, zu hören, dass die Polizei die Höhle schon durchsucht hat und wir uns über die Löcher längst im Klaren sind. Vielen Dank für den zusätzlichen Papierkram. Ich hoffe nur, ihr habt keine Spuren zerstört. Wenn dir noch etwas einfällt, zögere nicht, mich anzurufen, auch wenn du nicht ganz sicher bist. Die Leute, die hier arbeiten, wissen, was sie tun. Auf Wiedersehen." Sie legt auf. Ich lasse das Handy in meinen Schoß sinken und schaue Louis dabei zu, wie er sich etwas aufsetzt, sein Gewicht auf seine Unterarme gestützt, und mich mit einem merkwürdig überheblichen Grinsen ansieht. "Weißt du, Abby“, beginnt er, "wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass wir gerade ziemlich Anschiss für unsere vier Stunden Arbeit bekommen haben. Zum Glück weiß ich, dass das unmöglich ist. Immerhin hast du den Plan ja vorgeschlagen. Nicht wahr?" Maisy lässt sich nach hinten fallen und kugelt sich vor Lachen. Ich werfe mein Handy nach Louis, der es lachend fängt. "Ach, halt die Klappe."   Wir machen eine Stunde Pause, trinken etwas und liegen ansonsten faul im Gras. Es ist ein gutes Gefühl und da der Herbst immer näher rückt, müssen wir jede sonnige Gelegenheit nutzen. Maisy ist die erste, die aufsteht, sich Erde und Gras von der locker sitzenden Hose klopft und uns zum Weitergehen ermuntert. "C´mon, wir sind ganz nah bei einem Pokécenter. Da können wir zu Mittag essen." "Also, ehrlich gesagt..." Ich schaue betreten zu Boden. "...bin ich pleite." "Ich auch", verkündet Louis und setzt sich ebenfalls auf. "Aber wir haben Essen dabei, keine Sorge. Wir werden schon nicht verhungern." "Na gut, wie ihr meint." Maisy kommt zu mir und zieht mich hoch. "Aber reinschauen kostet nichts." "Stimmt", sage ich."Ich könnte meine Mails mal wieder checken, wenn ich jetzt so darüber nachdenke." Und Caro anrufen. Sie weiß schließlich gar nicht, ob ich heil angekommen bin. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg. Der Pfad wird links von Steinwänden des Einheitstunnels und rechts von einem schmalen Stück Wald gesäumt. Dahinter kann ich das Rauschen von Wellen und das Gekreische der Wingulls vernehmen. Wir sind wieder ganz nah am Meer. Der Weg steigt ein gutes Stück lang an und als wir endlich über den Hügel sind, sind Louis und ich ziemlich außer Atem. Nur Maisy wirkt, als wäre das für sie nur ein kleiner Spaziergang, sie hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und schaut sich entspannt um. Auf der Hügelkuppel angekommen verschnaufen wir einen Moment. Als ich dann den restlichen Weg nach unten gucke, entdecke ich am Fuß des Hügels das Pokécenter. Es ist kleiner, als die in den Städten, aber größer als das in Azalea City und scheint großen Andrang zu finden, denn während wir uns auf den Abstieg begeben, sehe ich immer wieder einzelne Trainer oder kleine Grüppchen, die ins Pokécenter gehen oder herauskommen. Route 32 scheint ein ziemlicher Trainermagnet zu sein. "Ist hier immer so viel Betrieb?", fragt Louis, als hätte er meine Gedanken gelesen. Maisy nickt. "Es ist eine der längsten Routen Johtos und liegt zwischen zwei Arenastädten. Da häuft es sich mit den Trainern, gerade jetzt, wo das Wetter noch so gut ist. Im Winter ist hier weniger los, das könnt ihr mir glauben." Wir erreichen das Pokécenter nach etwa 15 weiteren Minuten. Als wir uns der Tür nähern, kommt uns eine kleine Gruppe Trainer entgegen, drei Jungen und ein Mädchen. Der größte von ihnen, ein schlaksiger Typ mit unreiner Haut und zwanzig verschiedenen Flechtbändern um den Arm, sieht uns zuerst. Sein dunkelbraunes Haar ist hinter seine Ohren geklemmt und seine Augen leuchten in einem intensiven olivgrün. "Maisy?", fragt er und schlängelt sich an seinen Mitreisenden vorbei. "Seit wann bist du denn nicht mehr mit Kurt unterwegs?" "Yo, Toby!", begrüßt Maisy ihn und stellt sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu umarmen. "Opa ist der Trip zu anstrengend geworden, deswegen hab ich Unterstützung von zwei Trainern. Das sind Louis und Abby." "Hey", begrüßt Toby uns und reicht uns die Hand. "Das sind Carla, George und Timothy." Er deutet nacheinander auf das Mädchen und die beiden Jungs. Carla ist etwas größer und augenscheinlich auch älter als ich, mit wilden blonden Locken und einem runden Gesicht, das ihren molligen Körper wiederspiegelt. Sie trägt einen flattrigen Rock und ein geringeltes Langarmshirt mit Ellenbogenpatches aus Leder. George ist etwas größer als Louis, trägt einen schwarzen Rollkragenpullover, der in starkem Kontrast zu seiner hellen Haut steht und sein schwarzes Haar fällt ihm strähnig in die Augen. Seine Lippen sind zu einer schmalen Linie gepresst. Timothy grinst uns dagegen freundlich an, seine kaffeebraune Haut wird nur durch ein weißes T-Shirt und eine Jeans bedeckt und sein krauses Haar ist kurz getrimmt. "Das ist ja echt Pech, dass du ausgerechnet jetzt deine Runde machst." sagt Toby und kratzt sich an seinem stoppligen Kinn. "Ich hatte gehofft, dich öfter zu sehen, wenn wir in Azalea sind." "Bad Luck", sagt Maisy und zuckt mit den Schultern. "Wenn ich Glück hab, bin ich wieder zurück, bevor ihr weiterreist." "Nicht wahrscheinlich", sagt George und schüttelt seinen Kopf so, dass ihm die schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht fliegen. Sie fallen fast augenblicklich zurück in seine Augen und er wiederholt die Geste. "Wir hatten nicht vor, lange in Azalea zu bleiben, gerade lang genug, um die Orden einzusammeln." "Dann seid ihr hoffentlich gut vorbereitet", sage ich. "Kai ist gar nicht mal ohne." "Hast du gegen ihn gekämpft?", fragt Clara, nun doch interessiert. Auch Timothy macht gespannt einen Schritt nach vorne. "Sie nicht, aber ich", sagt Louis und lächelt breit in die Runde. "Ich hätte ihn fast nicht gepackt." "Wir sind gut vorbereitet, keine Sorge", sagt George und schüttelt sich wieder das Haar aus der Stirn. "Er sollte kein Problem darstellen." "Bianca macht mir mehr Sorgen", sagt Timothy. "Ihr Miltank soll abnormal drauf sein." "Das sagt man", stimme ich ihm zu. "Aber wenn ihr Pech habt, ist sie noch nicht zurück, wenn ihr in Dukatia ankommt. Sie ist mit ihrem Freund in Urlaub." Die Gruppe stöhnt einstimmig. "Jetzt echt?", fragt Toby und reibt sich die Schläfen. "Dann haben wir uns umsonst so beeilt?" "Vielleicht ist sie auch schon wieder zurück", beruhige ich ihn. "Es sind schon drei Wochen." "Dann ist sie vermutlich wieder in der Arena", stimmt Clara mir zu. "Trotzdem danke für den Hinweis." "War nett, mal wieder mit dir geredet zu haben, Maisy, aber wir müssen jetzt weiter. Wir wollen bis heute Abend in Azalea sein." "Klar, viel Spaß." Sie grinst. "Grüßt Opa von mir." Wir verabschieden uns von der Gruppe, dann gehen wir ins Pokécenter, das bereits völlig überfüllt ist. Selbst, wenn wir das Geld hätten, Zimmer sind hier mit Sicherheit nicht mehr frei. Schwester Joy wuselt zwischen Heilmaschine und Hinterzimmern hin und her, während zwei Angestellte Suppe und Brot an die Trainer austeilen und Fragen von einigen jüngeren Trainern beantworten. "Ich bin mal am PC", verkünde ich. Louis nickt und verschwindet gemeinsam mit Maisy im Gewusel der Trainer. Ich schlängele mich ebenfalls zwischen den Jugendlichen und wenigen Erwachsenen hindurch und stelle mich in die kleine Schlange, die sich hinter dem einzigen Computer gebildet hat. Als ich endlich an der Reihe bin, logge ich mich ein und checke mein Postfach. Absender: Raphael Berni. Betreff: Update Hallo Abby! Hoenn ist wunderschön, wenn du mit deiner Reise durch Kanto/Johto (?) fertig bist, müssen wir dort unbedingt mal zusammen hin fliegen! Ich bin jetzt seit ungefähr einer Woche hier und das Training läuft problemlos. Man kennt Kantos Favoriten hier nicht so gut, deswegen kann ich mir nervige Interviews und Kameraleute sparen, ohne inkognito durch die Welt laufen zu müssen ;) Ich werde in zwei bis drei Wochen wieder zurückkommen, halte dich also bereit. Ich freue mich, dich wieder zu sehen! Raphael Als nächstes nehme ich mir Mamas zwanzig Mails vor. Gott, kann sie mir nicht wenigstens ein bisschen Freiraum gönnen? Ich bin gerade mal vier Wochen von zu Hause weg! Ich schreibe ihr eine kurze Nachricht, lese sie durch, lösche sie und mache mich dann an eine ausführlichere Antwort. Vielleicht lässt sie mich dann ein paar Tage in Ruhe. Eine Hand auf meiner Schulter reißt mich aus meinen Gedanken und ich hebe erschrocken den Kopf, aber es ist nur Louis, der hinter mir steht. "Maisy scheint hier ziemlich bekannt zu sein", sagt er und späht über meine Schulter auf die Mail. "Sie wird von jedem zweiten Trainer angesprochen." "Kein Wunder", erwidere ich und wende mich wieder der Nachricht zu. "Sie ist diese Strecke wahrscheinlich alle paar Wochen mit Kurt abgelaufen. Und die meisten der Trainer kommen schließlich aus Viola City und Umgebung." "Ich kannte sie nicht", sagt Louis und legt sein Kinn auf meine Schulter. Ich ignoriere ihn und tippe weiter. "Ist das nicht ein bisschen... unwahr?" "Was?" "Bisher läuft alles nach Plan und ich bin in keinerlei Schwierigkeiten geraten, auch wenn du das Gegenteil denkst. Ich würde sagen, wir sind in einen ganzen Haufen Schwierigkeiten geraten, und das nur in der Woche, die du mit mir verbracht hast. Ich weiß schließlich nicht, was du davor getrieben hast." Er grinst mich frech an und ich lächele unschuldig zurück. "Ich gebe zu, dass ich vielleicht das ein oder andere Ereignis ausgelassen habe, aber wenn ich meiner Mutter schreibe, dass ich von Team Rocket entführt und beinahe umgebracht wurde, dann fahndet bald die Polizei nach mir." Er nickt, dann seufzt er. "Meine Mutter würde mich wahrscheinlich an den Ohren zurückschleifen", sagt er und nimmt den Kopf von meiner Schulter. "Sie war von Anfang an dagegen, dass ich Rosalia City verlasse. Zu gefährlich, zu riskant, zu alles. Ich glaube, sie hat mir nicht Mal zugetraut, bis Azalea City zu kommen." Er verzieht das Gesicht. "Was mich am meisten nervt, ist, dass sie zumindest damit Recht hatte." Ich schmunzele und schreibe die letzten paar Zeilen, dann klicke ich auf Senden und logge mich wieder aus. „Wollen wir uns noch die Karte angucken? Ich will nicht versehentlich an den Ruinen vorbei laufen.“ „Klar.“ Gemeinsam schlängeln wir uns zwischen den Trainern und einigen Erwachsenen vorbei bis zur Karte. „Kurz vor Viola City links“, sagt Louis und deutet auf die Stelle, wo die Alph-Ruinen auf der Karte markiert sind. „Übermorgen sollten wir dort sein.“ Ich nicke. "Wo ist überhaupt Maisy?" Louis nickt in Richtung Rolltreppe. Ich folge seiner Geste und entdecke Maisy, die neben zwei Anglern steht und sich wild gestikulierend und mit großem Grinsen mit ihnen unterhält. Der Kleinere der Beiden, ein glatzköpfiger Mann mit faltigem Gesicht, lacht laut und klopft Maisy auf den Rücken, während der Größere sich verlegen am Kopf kratzt. Sein Hemd spannt über seinem Bierbauch. Als Maisy uns sieht, verabschiedet sie sich von den beiden Männern und läuft zu uns, wobei sie einer kleinen Gruppe Jungen ausweichen muss, die in dem Moment ihren Weg kreuzen. Gemeinsam verlassen wir das Pokécenter und machen uns wieder auf den Weg.   Wir nutzen noch etwa zwei Stunden des frühen Abends, um der Route 32 weiter Richtung Norden zu folgen. Je später es wird, umso weniger Trainer kommen uns entgegen, denn die meisten sind nur zum Trainieren hier und bauen ihre Schlafplätze auf, wenn sie sich nicht schon im Pokécenter eingeschrieben haben. In der Ferne tauchen bereits die ersten flackernden Lichter von Lagerfeuern anderer Grüppchen auf. Der Pfad, dem wir folgen, ist breit und aus kahl getretener Erde. An den Seiten wächst saftig grünes Gras und die Ausläufe kleiner Wälder verdecken die Sicht auf das Meer. Zu unserer Linken steigt ein bewaldeter Hang an, der durch einen schräg ansteigenden Vorsprung erklommen werden kann, wenn man sich vorher durch das hohe Gras kämpft. Hier machen wir Rast. Maisy erklärt uns, dass es zwei alternative Wege nach Viola City gibt, einer von ihnen weniger trainerlastig, aber dafür unwegsamer als der lange Holzsteg, der über die kleine Bucht führt. Im Himmel kann ich in einiger Entfernung die Gleise des Magnetzugs erkennen. Obwohl es schon Abend ist, bleibt die Sonne noch eine lange Zeit am Himmel. Wir platzieren unsere Schlafsäcke etwas abseits von dem Weg, aber weit genug von dem hohen Gras entfernt, um nachts nicht von wilden Pokémon attackiert zu werden. Dann sammeln Louis und ich trockenes Holz und Steine, während Maisy unsere Vorräte unter Augenschein nimmt. Eine weitere Stunde später sitzen wir um ein knisterndes Lagerfeuer. Die Sonne senkt sich langsam und ist kaum noch über den Bäumen zu erkennen. Ravioli kochen in ihrer Dose und einige Kartoffeln kokeln im Feuer, während wir dem ansteigenden Zirpen der Käferpokémon lauschen und ein Wingull einsam über uns seine Kreise zieht, bis es wieder in Richtung Meer davon fliegt. Und als Mitternacht näher rückt, starre ich gemeinsam mit Maisy und Louis in den schwarzen Nachthimmel, die Sterne kleine weiße Lichter in der Ferne. Es ist jetzt genau ein Monat, seit ich von zu Hause fort bin - und ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)