Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 23: Weiter, immer weiter (Jede Menge Blut) -------------------------------------------------- „Lee lässt sich aber ziemlich Zeit“, beschwert Mel sich nach einiger Zeit und schaut missmutig in Richtung Höhleneingang, der aus unserer Position verdeckt ist. „Vielleicht hebt er ein Loch aus, damit er die Leiche verstecken kann“, erwidert Teal und lehnt sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen gegen einen Felsen. „Sie darf nicht zu schnell gefunden werden.“ Bei dem Wort Leiche schießen Ruth augenblicklich wieder die Tränen in die Augen, aber entweder ist sie zu müde oder sie hat aufgegeben, denn statt wie zuvor die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und stumm um ihr Leben zu betteln, lässt sie einfach den Kopf hängen, während ihre Tränen im Boden versickern. Ich lasse meinen Blick verzweifelt durch die Gegend schweifen. Es muss doch einen Weg geben, lebendig von hier zu verschwinden! „Teal, hast du eigentlich deine Pistole dabei?“, fragt Mel schließlich und Ruth zuckt zusammen. Nicht die Nerven verlieren, denken, Abby, denken…. „Ich hatte nicht damit gerechnet, sie zu brauchen“, gibt Teal zurück. „Hast du deine wieder nicht dabei?“ „Ich benutze keine Pistolen.“ „Wir können auf Lee warten, er hat seine immer dabei.“ Mel nickt abwesend, hebt dann den Kopf und schaut skeptisch an die Höhlendecke. „Vielleicht sollten wir doch keine benutzen“, sagt sie nach einigen Sekunden und Teal folgt ihrem Blick, genauso wie Ruth und ich. „Vielleicht hast du Recht“, gibt er zu und kratzt sich genervt am Kopf. „Mann. Eine Woche ohne Zwischenfälle und dann gleich zwei an einem Tag.“ Mel fasst unter ihren Mantel und zieht etwas heraus. Ich brauche einen Moment, bis ich das Jagdmesser erkenne. Warte, sie wird doch nicht… Ruth zieht scharf die Luft ein. Mel spiegelt die Klinge im gelben Schein der Laterne und Teal wirft ihr einen trägen Blick zu. „Jemand könnte den Schuss hören“, sagt sie nachdenklich. „Außerdem habe ich keine Lust darauf, dass uns die Höhle auf den Kopf fällt.“ „Noch nicht“, sagt Teal grinsend, aber Mel bringt ihn mit einem scharfen Blick zum Verstummen. Dann seufzt sie und geht auf Ruth zu, deren Augen weit aufgerissen sind. „Ich gehe dann mal für kleine Rockets“, sagt Teal und steht auf. „Feigling“, erwidert Mel und wiegt das Messer in ihren Händen. Teal zuckt die Schultern und verschwindet um die nächste Ecke. Einige Sekunden später höre ich einen Wasserstrahl und Teals erleichtertes Aufatmen. „Dann wollen wir mal…“, murmelt Mel, packt Ruths Haarschopf und zieht ihr den Kopf grob in den Nacken, bis ihre Kehle völlig entblößt ist. Sie hebt das Messer. Oh Gott, sie wird es tun, sie wird es tun… Plötzlich steht die Zeit still. Ich sehe, wie Mels Messer sich auf Ruths Hals hinabsenkt, sehe Ruth, die ihre Augen zusammen presst, sehe meinen Rucksack mit den Pokébällen. Die Situation kommt mir sehr bekannt vor. Erinnerungen explodieren in meinem Kopf, Hypno, der mich mit seiner Konfusion davon abhält, Hunters Pokéball zu aktivieren, die Verzweiflung, die Angst… „HUNTER!“, schreie ich so laut ich kann und Mels Kopf wirbelt in meine Richtung. Ihr Messer schrammt haarscharf an Ruths Halsschlagader vorbei und ritzt ihr stattdessen harmlos durch die Haut. Und als der Blutstropfen aus der Wunde hervorquillt und in Ruths Oberteil versickert, erfüllt ein roter Lichtblitz die Höhle und Hunter materialisiert sich in seiner vollen Pracht direkt über Mel, die geschockt zu ihm aufschaut. „Furienschlag!“, schreie ich und Hunter schießt nach unten, hackt auf Mel ein, die kreischt und schreit, während Blut in alle Richtungen spritzt. Als Hunter von ihr ablässt, hält sie eine Hand über ihr rechtes Auge und presst fest dagegen. Blut fließt in Strömen über ihr Gesicht. Das Arbok reißt sein Maul auf und schießt in die Höhe, wo es seine Giftzähne in Ibitaks dünnen Hals schlägt. Er kreischt und trudelt flügelschlagend zu Boden. Das Messer, das Mel in der Hand gehalten hat, ist zu Boden gefallen und sie tastet blind danach. Aber sie ist nicht schnell genug. Mit einer einzigen, entschlossenen Bewegung lasse ich mich zur Seite fallen, um meine Füße frei zu bekommen, dann reiße ich mit ihnen das Messer an mich. Hunter hackt wie wild auf Arbok ein  und ich hoffe nur, dass er sie ablenken kann, so lange ich noch mit dem Messer kämpfe. Von dem Lärm angelockt taucht nun auch Teal auf. Kaum dass er die Situation erkennt, bleckt er die Zähne und rennt auf mich zu, nur um von einem Pokémonknäuel zu Boden gerissen zu werden. Die Luft wird aus seinen Lungen gepresst, als Arbok und Hunter über ihn rollen. Als Hunter einer von Arboks Bissattacken ausweicht, treffen ihre Fänge stattdessen in Teals Schulter und er heult wütend auf. Ich habe mich inzwischen aufgerichtet und zur anderen Seite fallen lassen, um mit meinen auf den Rücken gebundenen Händen an das Messer zu kommen. Als ich es endlich in den Fingern habe, ist es glitschig mit Blut und ich lasse es beinahe fallen. Ruth winselt neben mir, aber es ist wieder Leben in sie gekommen, sie reißt an ihren Fesseln und wirft sich hin und her. Ich positioniere das Messer so gut es eben geht in meiner Hand um und beginne, mit der Klinge durch das Seil an meinen Handgelenken zu schneiden. Es dauert nur wenige Sekunden, dann lösen sich die Fesseln und ich schneide mich schnell komplett frei. Dann krabbele ich zu Ruth und befreie sie ebenfalls. Sie reißt den Knebel aus ihrem Mund, wirft ihn auf Mel, die immer noch nach dem Messer sucht, die Augen fest zusammengekniffen, dann springt sie auf und rennt los. Ich folge ihrem Beispiel, packe meinen Rucksack im Vorbeirennen und stopfe mir Skus und Hunters Pokébälle in die Hosentasche. Dann heißt es rennen, rennen, rennen. Ich habe keine Zeit, mich nach Hunter umzusehen, aber wenig später höre ich sein Flügelschlagen, spüre den Wind, der mir in den Rücken peitscht. Ob er das Arbok besiegt hat oder einfach bei mir bleiben wollte, weiß ich nicht, aber es ist mir auch egal. Nur vorwärts, immer vorwärts. Wir sprinten den langen, gewundenen Gang entlang, biegen rechts ab, links, rennen die Treppe hoch… Ich kann mich kaum noch an den Weg erinnern, den ich mir heute Mittag hatte merken wollen, aber Ruth und ich bleiben trotzdem nicht stehen. Hinter uns höre ich bereits Schritte. Teal vielleicht, oder auch Mel, wenn sie die Blutung in den Griff bekommen hat. Meine Beine brennen von dem unebenen Terrain und Ruth keucht laut und heiser. Keiner von uns hat seit heute Morgen etwas gegessen oder getrunken und das spüren wir jetzt. Seitenstiche machen mir das Rennen schwer, aber ich bleibe nicht stehen. Nur weiter, immer weiter. „Wie viel Uhr ist es?“, schreit Ruth und ich würde sie am liebsten erdrosseln. „Wen kümmert´s?!“, schreie ich zurück und packe meine Seiten. „Irgendwann abends halt!“ „Mich, weil wir hier nicht mehr rauskommen, falls es nach 15:00 Uhr ist!“ Ich bin versucht, stehen zu bleiben, renne aber tapfer weiter. Hunter fliegt direkt hinter mir und sein Flugwind treibt mich vorwärts. „Warum?“, schreie ich. Ruth wirft mir einen bitteren Blick zu. „Weil sie dich… einsperren sollten!“, ruft sie atemlos zurück. „Sie haben die Leiter… entfernt. Deshalb ist Lee… noch nicht zurück.“ „Du willst mich verarschen“, keuche ich tonlos und beschleunige meine Schritte. Ich will sie schlagen, sie schubsen, ihr das rote Haar ausreißen, jede Strähne einzeln, aber die Erinnerung an Mel und das Messer hält mich davon ab. Stattdessen laufe ich weiter, tiefer in die Höhle, Stufen hinauf. „Da ist der Ausgang!“, rufe ich, als ich den Weg zum Brunnen auf der anderen Seite des Sees erkenne. Vor uns ist der Höhlenabschnitt, an dem ich Team Rocket das erste Mal gesehen habe. „Das bringt uns leider gar nichts!“, keucht Ruth und setzt zu einer weiteren Erklärung an, lässt es dann aber doch bleiben. Sie hat keine Luft mehr, Und ich weiß ja schließlich, dass die Leiter weg ist. Verdammt, verdammt, verdammt. Wenn Hunter doch nur schon fliegen könnte! Und da passiert es. Als wir gerade die nächste Treppe erreicht haben, knicke ich um und ein stechender Schmerz breitet sich in meinem rechten Knöchel aus. Ich stöhne, werde langsamer, Ruths Vorsprung immer größer. Hinter mir werden die Schritte lauter. Ich zwinge mich, weiter zu laufen, aber mein Fuß gibt immer wieder nach und schließlich spüre ich spitze Zähne, die sich in mein Fleisch bohren. Ich schreie, als Arboks Fänge sich in meinem Knöchel verhaken und Blut in meine Schuhe sickert. Hunter ist sofort zur Stelle. Er stürzt sich wild kreischend auf Arbok, das von mir ablässt und sich ihm zuwendet, aber als ich mich hochkämpfe, verliere ich sofort wieder den Halt. Ruth ist inzwischen schon gute zwanzig Meter vor mir. Als sie den anschwellenden Lärm hört, dreht sie sich um. Rennt weiter. Dreht sich wieder um. Ihre Augen huschen in Richtung Teal, der auf mich zurennt. Sie zögert. Dann macht sie auf dem Absatz kehrt und rennt zu mir zurück. Ich gebe mir keine Mühe, die Überraschung aus meinem Gesicht fern zu halten, als Ruth mich unter den Achseln packt, mich hochhievt und halb über ihre Schulter zerrt. Gemeinsam humpeln wir los, viel zu langsam, aber zusammen. Als ich zu ihr hochschaue, ist ihr Blick stur geradeaus gerichtet. Sie ist nur auf unser Ziel konzentriert. Dank Hunters Eingreifen gelingt es uns, die Distanz zu halten, auch wenn Teal immer noch gefährlich nahe ist. Dann erreichen wir den Brunnenschacht und mein Herz sackt mir endgültig in die Hose. Ruth hatte Recht, die Leiter ist nirgends zu sehen. Dafür grinst mich das Flegmon von heute Morgen träge an. Als ich hochschaue, kann ich den Himmel erkennen. Es ist noch nicht dunkel, aber die Sonne erreicht den Brunnenboden nicht mehr und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es stockduster wird. „Das war´s für euch.“ Wir drehen uns um und schauen Teal an, dessen Arme zahllose Kratzer aufweisen. Seine Schulter blutet, wo Arbok ihn versehentlich gebissen hat, aber seine grünen Augen bohren sich tief in mich hinein und mir wird eiskalt. Ich ziehe meinen Pokéball, Hunter ist immer noch mit Arbok beschäftigt. Ohne die Anweisungen ihrer Trainer scheinen Pokémon sich weniger auf ihre Attacken zu verlassen als auf einfacherer Angriffsmethoden. Teal tut es mir gleich, er zieht gleich zwei Pokébälle und hält sie beidhändig vor sich. Rotes Licht erfüllt den Brunnenschacht mit ungewohnter Intensität, als sich unsere drei Pokémon gleichzeitig materialisieren. Skus Schweif schießt bedrohlich in die Höhe, als sie ihre Gegner sieht und das Blut riecht, dessen Geruch klebrig und dick in der Luft hängt. Vor Teal flattert ein Golbat, und obwohl es nur wenige Zentimeter über dem Boden schwebt, ist es so groß wie ich. Sein gigantisches Maul ist weit aufgerissen und seine scharfen Eckzähne leuchten weiß. Neben ihm sitzt, etwas kleiner aber nicht weniger bedrohlich, ein Sengo. Verfilztes Fell bedeckt seinen ganzen Körper, die fingerlangen Krallen trommeln gelangweilt auf den Steinboden und die roten, blitzförmigen Fellmuster zeichnen sich krass gegen das Weiß seines Körpers ab. Es seufzt genervt und wirft seinem Trainer einen vorwurfsvollen Blick zu. Da hat wohl jemand keine Lust auf einen Kampf. Als es Sku entdeckt, zuckt eins seiner Ohren, aber sonst rührt es sich nicht. Golbat hingegen schlägt wild mit den Flügeln und Geifer trieft aus seinem Maul. „Sku, Kreideschrei!“, rufe ich und Sku öffnet ihr Maul, doch bevor sie einen Laut von sich geben kann, unterbricht Teal sie mit seinem eigenen Kommando. „Sengo, Scanner, Golbat, Konfustrahl.“ Sengo hebt gelangweilt eine klauenbewehrte Pfote und als Sku schließlich schreit, prallt ihr Angriff an einer Art unsichtbaren Barriere ab, die sich um ihn gebildet hat. Sengo gähnt und lässt die Pfote wieder sinken. Golbat reißt sein Maul noch weiter auf und stößt mehrere, schrille Töne aus, die ich kaum hören kann. Sku schon. Sie schleudert ihren Kopf verwirrt hin und her, weiß nicht, wie ihr geschieht. Ruth stöhnt. „Du musst gewinnen!“, zischt sie. „Ich weiß, verdammt!“, keife ich zurück. „Sku, Toxin auf sein Sengo.“ „Sengo, komm ihr zuvor mit Zermalmklaue, Golbat, Kreideschrei.“ Ich zische, aber es hilft nichts. Sengo springt blitzschnell auf, sprintet auf Sku zu, verschwindet für einen Moment und taucht dann direkt vor ihr auf, wo seine Pranken sie von beiden Seiten treffen. Sku kreischt, windet sich, kann Sengos Griff aber nicht entgehen. Als es sie schließlich loslässt, sackt sie ein wenig ein, ihr Schweif schleift über den Boden. Als Golbat dann mit seinem Kreideschrei nachlegt, krümmt sie sich nur noch hilflos. Ich werde verlieren. Ich weiß es. Sku ist völlig wehrlos. Ein Tackle würde sie jetzt wahrscheinlich besiegen. „Hunter!“, rufe ich, aber ich höre nur sein Krächzen in der Ferne. Ist er auch besiegt? Ich wage nicht, ihn zurück zu rufen, aus Angst, damit Arbok die Chance zu geben, sich ebenfalls in den Kampf einzumischen. Nicht, dass es noch einen Unterschied machen würde. Sku bemüht sich um eine Toxinattacke, aber sie ist geschwächt und verwirrt. Statt Sengo zu treffen spuckt sie das Gift in Richtung Flegmon, das weiterhin auf dem Stein sitzt. Als es die violette Flüssigkeit bemerkt, die sich rasend schnell auf es zubewegt, rollt Flegmon verzweifelt zur Seite und fällt mit einem Platschen von seinem Stein herunter in die Wasserlache. Ruth zieht mich etwas höher auf ihre Schulter und ich spüre, dass ihre Hände zittern. Ob jemand das rote Licht gesehen hat? Immerhin ist es schon annähernd dunkel. „Hast du kein Handy?“, fragt Ruth verzweifelt und ich denke an das Gerät, das hinten in meinem Rucksack liegt. „Probier es aus“, meine ich, bevor ich mich wieder Sku zuwende. „Ich glaube aber nicht, dass wir hier unten Empfang haben.“ Während Ruth in meinem Rucksack herumkramt, befehle ich Sku eine Säurespeierattacke auf Sengo. Diesmal trifft sie, aber Sengo ist schnell und weicht ihrer Attacke zum größten Teil aus. „Sengo, nochmal Zermalmklaue!“, ruft Teal, ein siegessicheres Grinsen im Gesicht. Ich befehle Sku, auszuweichen, aber es ist zu spät. Sengo schießt nach vorne, seine Klauen graben sich ins Skus Fell und sie stößt ein letztes, schmerzvolles Stöhnen aus, bevor sie kraftlos zu Boden sinkt und liegen bleibt. Ruth murmelt etwas unverständliches. Also kein Empfang. War ja klar. Ich rufe Sku zurück und frage mich, wie wir hier jemals wieder lebend rauskommen sollen. Eigentlich kann uns nur noch ein Wunder- „Abby?“ Ich reiße den Kopf hoch, genauso wie Ruth. Über uns, am Brunnenrand, lugt Louis´ sommersprossiges Gesicht in den Schacht hinunter. Er kann Teal nicht gesehen haben, denn der steht noch ganz nah am Höhlenrand. „Wo ist die Leiter?“ „Louis!“, schreie ich und schlucke Tränen der Erleichterung hinunter. „Ruf die Polizei! Team-“ „Sengo, Trugschlag!“, unterbricht Teal mich mit eisiger Stimme und es dauert einen Moment, bis ich den Zusammenhang zwischen dem Befehl und dem plötzlichen, pochenden Schmerz in meinem Bauch verstehe. Ich werde ein Stück in die Höhe gehoben und knicke ein, als Sengo seine Pfote aus meiner Magengrube entfernt und leichtfüßig zurückspringt. Alles dreht sich und ich muss würgen, spucke Galle auf den Boden. Ruth lässt mich los, wahrscheinlich kann sie nicht mein ganzes Gewicht tragen. Tränen steigen mir in die Augen und ich hebe den Kopf. „Hol die Polizei, verdammt!“, schreit nun auch Ruth, aber ich höre keine Schritte. Keine Handygeräusche. Louis bleibt stehen wo er ist. „Was ist los bei euch?“, ruft er hinunter und ich muss nicht aufsehen, um mir Ruths Gesichtsausdruck vorzustellen. „War das ein Pokémon?“ „Sei einmal hilfreich und ruf verdammt nochmal die verfickte Polizei, oder ich schwöre dir, dass ich-“ „Golbat, Horrorblick.“ Ruth verstummt und ich hebe vorsichtig den Kopf. Sie ist erstarrt, ihr Körper zittert und bebt, aber ihr Mund bleibt unbeweglich und sie macht keinen Mucks mehr. Als ich ihrem entsetzten Blick folge, dreht sich auch mir der Magen um. Golbats Augen sind weit aufgerissen und starren genau in ihre Richtung. Er hält sie mit seinem Blick gefangen. Alles wird ruhig. Louis, der nicht sieht, was vor sich geht, schwingt ein Bein über den Brunnenrand und beginnt, langsam den Schacht hinunter zu klettern, während ich versuche, mich aufzurichten, aber jetzt ist es nicht mehr nur mein Fuß, der streikt, sondern auch alles andere. Der einzige, der weiterhin entspannt wirkt, ist Flegmon. Es watschelt träge in Richtung Teal, der genervt das Gesicht verzieht und das Pokémon mit einem gezielten Tritt aus seinem Sichtfeld schleudert. Ich schaue nochmal zu Louis. Er ist bereits zwei Meter nach unten geklettert und lässt sich jetzt das letzte Stück runterfallen. Als er Ruth sieht, zieht er die Augenbrauen hoch. Und als er Teal sieht, weiten sich seine Augen. „Team… Rocket wolltest du sagen?“, fragt er perplex und ich ziehe mich mühsam an seinem Arm hoch. Als er merkt, dass ich mich kaum alleine auf den Beinen halten kann, geht er schnell in die Hocke, zieht mich über seine Schulter und richtet sich vorsichtig auf. „Was ist passiert?“, flüstert er. „Tja, einer mehr macht auch keinen Unterschied mehr“, murmelt Teal und fährt sich durch sein dunkles Haar. „Sengo, Zer-“ Flegmon jault laut auf und strampelt mit den kleinen Beinchen, während es sich auf seinem Rücken wälzt und mit der Rute wedelt. Teal stockt und schaut zu dem Wasserpokémon hinunter, sichtlich verwirrt. Ich schüttele nur noch den Kopf. Hat es erst jetzt bemerkt, dass Teal es getreten hat? Dann passieren zwei Dinge gleichzeitig. Hunter taucht flügelschlagend und krächzend im Höhleneingang auf, das besiegte Arbok in seinem Schnabel, dessen Körper über den schroffen Höhlenboden schleift. Er flattert schwerfällig auf mich zu, dann reißt er den Schnabel auf und lässt das bewusstlose und zerkratzte Pokémon zufrieden vor meine Füße fallen. Und Flegmon richtet sich auf seine Hinterbeine und gähnt Teal an. Die beiden beobachten einander aufmerksam, bis Teal die Konsequenzen dieser Attacke mit einem Mal bewusst werden. Er reißt die Augen auf, dreht sich blitzschnell um und rennt auf uns zu. Dann fallen seine Augen zu und er sackt bewusstlos in sich zusammen. Zufrieden watschelt Flegmon an ihm vorbei und verschwindet in der Höhle. Golbat schaut verwirrt zu seinem Trainer, während Sengo erleichtert seufzt und sich wieder auf den Boden setzt. Ruths Starre löst sich, jetzt, da der Horrorblick gebrochen ist. Sie zittert und lässt sich, wo sie steht, auf die Knie sinken, aber sonst scheint es ihr gut zu gehen. Erleichtert rufe ich Hunter zurück. „Ist er… tot?“, fragt Louis und ich schüttele den Kopf. „Er schläft, glaube ich.“ Ich setze meinen Fuß auf und belaste ihn unglücklicherweise etwas zu sehr, denn ich knicke sofort ein und atme tief durch, um nicht loszuheulen. Ich kann nicht mehr. Ich will hier nur noch raus. Für einige Momente bleiben wir erwartungsvoll stehen. Ich rechne damit, dass Golbat und Sengo sich auf uns stürzen werden, aber nichts passiert. Sengo scheint einfach erleichtert zu sein, in Ruhe gelassen zu werden und kratzt mit seinen Krallen im Höhlenboden herum, während Golbat verwirrt zu seinem Trainer schaut und sich dann flatternd aufmacht, das Flegmon zu verfolgen. „Das war knapp“, murmele ich und lehne mich an Louis´ Schulter. Mein Fußgelenk pocht höllisch. „Jetzt müssen wir hier nur noch raus, bevor Teal aufwacht.“ „Oder Mel uns findet“, meint Ruth mürrisch und steht langsam wieder auf, dann wischt sie sich den Staub von den Knien. Ihre rote, perfekt gestylte Frisur ist völlig hinüber. „Was ist hier überhaupt passiert?“, fragt Louis und legt einen Arm um meine Taille, damit er mich besser stützen kann. „Dieser Typ ist von Team Rocket, oder? Das wolltest du doch sagen.“ „Ja, wollte ich“, sage ich bissig. „Ich wollte auch, dass du die Polizei rufst! Wie sollen wir hier jetzt bitte rauskommen?“ „Genau“, sagt Ruth und wirft Louis einen vernichtenden Blick zu. „Hier ist kein Handyempfang.“ Sie wirft mir mein Handy zu und ich fange es etwas ungeschickt mit beiden Händen auf. „Du hattest Recht.“ Louis blinzelt zweimal, dann schaut er zwischen Ruth und mir hin und her. Ich kann es ihm nicht verübeln. Wir beide sind zu ausgelaugt, um unsere Feindseligkeit aufrechtzuerhalten. „Ich kann hochklettern und Hilfe holen“, schlägt er schließlich vor. „Reagan hilft uns bestimmt.“ „Du müsstest Nick finden“, sage ich. „Er und Markus wissen, wo die Leiter versteckt ist. Und du musst die Polizei rufen.“ „Moment Mal.“ Ruth kommt zu uns rüber und schaut mich wütend an. „Du willst ihn doch nicht ernsthaft wegschicken, oder? Was, wenn Teal in der Zwischenzeit aufwacht? Dein Pokémon ist besiegt, zumindest das Starke und dein Ibitak hat gegen sein Sengo keine Chance.“ Wir schauen beide zu dem Pokémon hinüber, das weiterhin gelangweilt auf dem Boden hockt. Solange Teal ihm nichts befehlen kann, ist es ungefährlich, aber wenn es erstmal zu kämpfen beginnt… „Die wollen uns umbringen, falls es dir entgangen ist, Abby“, zischt Ruth und fährt mit der Hand unwillkürlich über den blutigen Schnitt an ihrem Hals. Ich schlucke. „Egal was wir machen, wir sollten es schnell erledigen", sage ich müde. "Der Gähner wird nicht ewig halten. Teal könnte jeden Moment aufwachen.“ „Bis wir Verstärkung geholt haben, dauert es zu lange“, flüstert Ruth und die Angst, die Louis´ plötzliches Erscheinen von ihrem Gesicht gewaschen hat, nimmt es wieder in eisigen Griff. „Es ist völlig egal, was wir jetzt machen, wir werden so oder so sterben.“ „Jetzt reiß dich zusammen“, zische ich sie an. „Wir finden schon einen Weg. Wir können Teal mit einem Stein bewusstlos schlagen oder so was.“ „Mit einem- bist du jetzt völlig übergeschnappt?“, unterbricht Ruth mich sofort. „Wenn wir ihn zu hart treffen, stirbt er vielleicht, wenn wir nicht hart genug schlagen, dann könnte er aufwachen! Und was ist mit Sengo? Woher wissen wir, dass es uns nicht doch angreift, wenn wir auf seinen Trainer losgehen?“ Wir schweigen. Dann hellt sich Louis Gesicht auf. „Wie hoch ist der Brunnen, was denkt ihr?“ „Keine Ahnung, an die fünf Meter schätze ich.“ Ich schaue ihn neugierig an. „Warum?“ „Ich hätte da eine Idee…“ Während Louis uns am Rand des Brunnens beim Höhleneingang positioniert, werfe ich immer wieder besorgte Blicke in Richtung Teal. Er zuckt hin und wieder. Wir haben vielleicht noch maximal eine Minute, eher weniger. „Okay, dann los“, murmelt Louis, der vor uns steht. Er zieht einen Pokéball aus seiner Tasche und mir geht ein Licht auf. „Warum hast du das nicht vorher gesagt?“, frage ich sofort, jetzt hoffnungsvoll.  Louis wirft mir ein schiefes Zahnlückengrinsen zu. „Wirst du gleich sehen. Los, Ethan!“ Der rote Lichtblitz erhellt den Brunnenschacht nicht nur, er füllt ihn auch aus. Das Licht wächst und wächst, bis es den Großteil des Schachtes einnimmt. Louis´ frisch entwickeltes Garados materialisiert sich, windet sich in die Höhe und brüllt, die gewaltigen Kiefer aufgerissen. Dann verschwindet sein Kopf im Schacht. „Wow…“, flüstere ich ehrfürchtig und betaste zaghaft die blauen Schuppen seines Körpers, der vor uns leicht eingerollt auf dem Boden liegt. Ruth, über deren Schulter ich inzwischen hänge, pfeift anerkennend. Da kommt Bewegung in Ethan. Sein sechs Meter langer Körper krümmt sich und sein Kopf taucht wieder in unserem Sichtfeld auf. Als er Louis sieht, werden seine Augen zu Schlitzen. Sein Schweif hebt sich – und schnellt in Richtung Louis, der nach hinten geworfen wird und unsanft gegen die Höhlenwand prallt. Garados brüllt ein weiteres Mal und Teal zuckt zusammen. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Louis steht mühsam auf, dann hebt er die Arme in einer unterwürfigen Geste. „Ethan, ich weiß, du bist derzeit nicht gut auf mich zu sprechen und das hat seine Gründe.“ Garados brummt zustimmend und es klingt, als würde die ganze Höhle zusammenbrechen. „Aber wir müssen hier sofort raus. Meine Freunde sind in Gefahr und wir brauchen deine Hilfe, um sie aus dem Brunnenschacht nach oben zu bringen. Wenn du dich streckst, kannst du das Ende des Brunnens erreichen.“ Garados streckt sich und sein Kopf verschwindet. Einige Sekunden später taucht er wieder auf. Es nickt, aber seine Augen sind immer noch zu Schlitzen verengt und sein Schweif zuckt hin und her. „Du darfst mit mir machen, was du willst, sobald wir in Sicherheit sind, aber erst müssen wir hier raus. Bitte hilf uns, Ethan.“ „Das ist sein Pokémon“, flüstert Ruth unwirsch. „Warum muss er es erst überreden, ihm zu gehorchen?“ „Die beiden sind nicht ganz auf einer Wellenlänge“, erkläre ich leise. „Wenn Louis nicht vorsichtig ist, beißt es ihm noch den Kopf ab.“ „Einen feinen Trainer hast du da aufgegabelt“, murmelt Ruth und zieht mich etwas höher. „Warum zur Hölle seid ihr überhaupt zusammen? Er ist ein totaler Loser.“ „Louis ist kein Loser!“, zische ich und schaue Ruth böse an. „Und wer sagt überhaupt, dass wir-“ „Abby? Ethan wäre soweit“, unterbricht Louis mich und Ruth grinst mich vielsagend an. Gemeinsam stapfen wir vorwärts. Garados hat seinen Kopf zu uns nach unten auf den Boden gelegt und wartet geduldig, bis Louis sich auf seinen Nacken gesetzt hat. Ruth setzt sich direkt hinter ihn, dann ziehen die beiden mich gemeinsam hoch. Obwohl Garados flach auf dem Boden liegt, ist sein Nacken fast einen Meter hoch. Irgendwie fällt es mir plötzlich schwer, mich mit so einem großen Pokémon vorzustellen. Es ist fast so imposant wie Golds Lugia. Aber nur fast. Oben angelangt ist es ziemlich eng. Ethans zackigen Rückenflossen drücken mir von hinten in die Wirbelsäule, aber immerhin bietet seine schuppige Haut genug Möglichkeiten, sich festzuhalten. Ich klammere mich an einem der blauen Auswüchse fest, aber kaum hebt Ethan ruckartig den Kopf, schlinge ich stattdessen instinktiv meine Arme um Ruths Taille. Da sie nichts sagt, gehe ich davon aus, dass sie unbewusst dasselbe bei Louis gemacht hat. Ich schaue seitlich nach unten und sehe, wie sich der Brunnengrund langsam von uns entfernt. Garados bewegt sich in Zeitlupe, damit es uns nicht versehentlich runterwirft. Und dann höre ich es. Ein wütendes, verzweifeltes Schreien. Ein weibliches Schreien. „Schneller!“, rufe ich noch, doch im nächsten Moment taucht auch schon Mel im Höhleneingang auf. Ihr rechtes Auge ist nur noch ein blutiges Loch, aber ihr linkes ist weit geöffnet. Als sie uns sieht, kreischt sie, rennt los und springt in die Höhe. Ihre Finger packen mein Fußgelenk mit aller Macht und ihre Fingernägel graben sich schmerzhaft in meine Haut. Ich schreie, rüttele mit dem Bein hin und her, aber Mels Griff lässt nicht nach und als ihre Füße endgültig vom Boden abheben, zieht ihr Gewicht mich zur Seite. Ruth spürt meinen Zug, hört meinen Schrei und als sie sich umdreht und Mel sieht, wird sie wieder aschfahl. Aber statt wie zuvor die Nerven zu verlieren, lässt sie mit einem Arm Louis los, schlingt ihn um mich und zieht mich zurück in die andere Richtung. Mel strampelt und kreischt während ihre Fingernägel sich unerbittlich in mein Fleisch graben. Ich rutsche immer weiter zur Seite, obwohl Ruth ihr Bestes tut, mich auf Garados´ Nacken zu halten. Und als Ethan einer kleinen Steinchenkaskade ausweicht, die sich durch das ganze Geschrei gelöst hat, verliere ich endgültig den Halt. Ich rutsche zur Seite. Ruths Hand schnellt nach unten und packt mein Handgelenk. Es fühlt sich an, als würde man mich in zwei Hälften reißen. Louis hält inzwischen Ruth mit der einen und Garados mit der anderen Hand fest. Wenn das so weiter geht, werden wir noch alle runterfallen. Ich strampele mit meinem Bein und versuche, Mel im Gesicht zu erwischen, aber selbst dann lässt sie nicht locker. Stattdessen zieht sie sich an mir wie an einem Seil hoch, packt mit der einen Hand meine Wade und greift mit der anderen nach meinem freien Arm. Als sie ihre Zähne in mein Bein gräbt und zubeißt, kreische ich auf und trete wild in jede erdenkliche Richtung, aber Mel hat sich inzwischen schon halb an mir hochgezogen. „Lass los!“, schreie ich sie an, aber es hilft nichts. Mein Gezeter macht es Ruth nicht gerade einfacher, mich festzuhalten. Mel kämpft sich immer weiter nach oben. Warum ist Garados nicht schneller? Plötzlich schnellt ein Fuß an mir vorbei und trifft Mel mit voller Wucht im Gesicht. Ich höre das scharfe Knirschen, als ihre Nase bricht, dann lässt Mel mich abrupt los und fällt fast zwei Meter zu Boden, wo sie sich winselnd auf dem Boden krümmt. Ich atme tief durch, während Ruth  mich schwerfällig in die Höhe zieht. Als ich wieder sicher hinter ihr sitze, schaue ich noch einmal nach unten. Teal hat sich inzwischen verschlafen aufgesetzt. Als er Mel sieht, kriecht er zu ihr. Dann hebt er den Kopf und schaut uns hinter her. Mehr sehe ich nicht, denn der Brunnenschacht blockiert meine Sicht. Ethan hebt den Kopf aus dem Brunnen und vor Erleichterung kommen mir die Tränen. „Wir haben es geschafft…“, flüstere ich ungläubig und Ruth dreht sich zu mir um. Ich erwarte eine schnippische Bemerkung, aber sie lächelt nur matt und nickt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)