Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 22: Ein Zubat, zwei Zubat, Gefangen (Geheime Mission) ------------------------------------------------------------- Als wir in den Hauptraum zurückkommen, begrüßt Joy uns und erkundigt sich nach meiner Schwester. Ich tische ihr die typischen Klischees auf und schaue mich unruhig um. Ich hatte gehofft, Nick noch einmal abfangen zu können, bevor wir uns trennen, aber sowohl von ihm als auch von Ruth und Markus fehlt jede Spur. Seufzend fahre ich mir durchs Haar. Es ist immer noch klamm. „Abby, würdest du mir noch mit dem Aufräumen helfen?“, fragt Joy und ich nicke. Louis meldet sich ebenfalls und so verbringen wir den restlichen Abend damit, Wäsche aufzuhängen, die Küche auf Vordermann zu bringen und das Unwetter durch die Fenster zu beobachten. Es ist ein wenig abgeflaut, aber der Regen prasselt weiterhin ungerührt auf Azalea City herunter. Verdammter Vorherbst. Außerdem geht mir Nicks beunruhigter Blick nicht aus dem Kopf. Ich habe Louis immer noch nichts von dem Jungen mit dem Grinsen erzählt, aber vielleicht ist es auch egal. Obwohl, wenn ich mir Ruths Geheimnistuerei vor Augen führe… Nervös geworden lehne ich mich zu Schwester Joy über die Theke und warte, bis sie mir ihre Aufmerksamkeit schenkt. „Was haben eigentlich Ruth und die anderen morgen vor?“, frage ich unschuldig. „Sie haben doch mit ihnen gesprochen, oder?“ „Ja, habe ich.“ Joy lächelt. „Ruth erzählte mir, sie wolle ihr Glück gegen Kai versuchen.“ Hat sie das, so, so. „Hoffentlich gewinnt sie“, sage ich und erwidere Joys Lächeln aus vollem Herzen. Ich muss ja nicht erwähnen, dass ich Ruth nur von der Backe haben will. Wenn es weiter so zwischen uns brodelt, wird noch etwas passieren. Es staut sich langsam auf und wenn wir nicht bald getrennte Wege gehen, wird es zu einer großen, unschönen Entladung kommen. Ihre ernüchternde Niederlage gegen mich hat sie nur noch mehr zum Brodeln gebracht. „Ich glaube, du hast keine Ahnung.“ Jetzt hör schon auf, Abby, ermahne ich mich wütend und wische heftiger als nötig über einen der Tische. Nachdem Louis und ich mit Putzen fertig sind, schmuggeln wir noch eine Tafel Schokolade mit nach oben und verkriechen uns dann in unserem Zimmer. Der Regen trommelt leise auf das Dach, wie nervöse Finger auf einen Tisch und der Donner klingt längst weit entfernt. Wir ziehen unsere Schlafsachen an, dann kuscheln wir uns in unsere Decken, teilen die Schokolade möglichst krümelfrei unter uns aus und verbringen den restlichen Abend damit, Karten zu spielen. Und obwohl ich versuche, bei der Sache zu bleiben, schweifen meine Gedanken immer wieder zu Ruth. Ruth, gehässig. Ruth, gedemütigt. Ruth mit verweinten Augen. Ruth, verschwiegen. Kein Wunder also, dass Louis eine Runde nach der anderen für sich entscheidet. Na ja, es sei ihm gegönnt. Sein Tag war ernüchternd genug. Als wir zwei Stunden später neben einander im Bett liegen und an die Decke starren, bricht Louis auf einmal das Schweigen. „Dass du mit Raphael zusammen bist, war das ernst gemeint?“ „Was? Nein!“ Ich schaue ihn entgeistert an. „Das war Mayas Spinnerei, das ist alles. Wir sind nur Freunde.“ Er schweigt, aber als ich den Kopf drehe, wirkt er zufrieden. Trotz der Dunkelheit kann ich das kleine Lächeln auf seinen Lippen erkennen. Dann sackt sein Kopf zur Seite und er beginnt, leise zu schnarchen. Ich drehe mich auf die Seite und starre an die Wand. Ich taste auf dem Boden nach Skus Pokéball, aber ich komme nicht dran. Er liegt wie meine anderen Sachen am anderen Ende des Zimmers. Kann man nichts machen.   Das nächste, was ich merke, ist Louis´ Hand in meinem Gesicht. Schlaftrunken und genervt drehe ich mich unter ihm um und erkenne im frühen Morgenlicht Louis´ Umriss, der kreuz und quer über dem Bett verteilt liegt. Sein eines Bein hängt über den Rand und sein Arm in meinem Gesicht. Ich schiebe seinen Arm weg, klettere aus dem Bett und ziehe mir (frische!) Kleider an. Ein Blick nach draußen bestätigt meine Vermutung. Der Sturm ist vorübergezogen und außer regennassen Dächern, Schlammpfützen und überraschend sauberen Hauswänden ist nichts von ihm geblieben. Trotz der frühen Stunde ist es bereits angenehm warm, ein weiterer heißer Spätsommertag also. Nach gestern kommt mir das gar nicht mal so unangenehm vor. Ich schaue auf die Uhr. Gerade mal halb sieben. Bestimmt ist noch niemand wach. Ich werfe einen wütenden Blick zu Louis. Wäre ich auch nicht, wenn ein gewisser jemand sich nicht auf mir ausgebreitet hätte. Ich hole Skus Pokéball und lasse sie raus. Sie hat noch viel zu wenig von Azalea gesehen, wenn man mich fragt. Als sie sich in dem roten Lichtblitz materialisiert, blinzelt sie gegen die Sonne, die schräg durchs Fenster fällt, klettert mein Bein hoch und wickelt sich um meine Schultern und meinen Hals. Ich protestiere, aber sie schnurrt wohlig und eigentlich stört es mich nicht. Sie ist nur so furchtbar schwer! Als würde man ein Kind auf den Schultern tragen. Nur flauschiger. Ich setze mich mit Sku ans Fenster und gemeinsam schauen wir dem langsam anschwellenden Treiben auf den Wegen zu. Köhler und andere Arbeiter laufen hin und her, verschwinden in Hütten und schleppen Holz von einem Ort zum anderen. Vor hier aus kann ich sogar das Stückchen Wald sehen, hinter dem Louis trainiert hat. Und die Senke weiter links… kein Zweifel, das ist der Flegmonbrunnen. Eigentlich war ich noch nicht sicher gewesen, aber plötzlich habe ich tierische Lust, die kleine Höhle genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich werfe einen Blick zu Louis. Gestern sagte er, er wolle trainieren. War das Show? Oder will er wirklich nicht mitkommen? Jetzt wo ich darüber nachdenke, wirklich zugesagt hat er bei der Aktion nicht. Ich habe ihn ja noch nicht mal gefragt. Sku brummt leise an meinem Ohr und ich stütze mein Kinn auf meiner Handfläche ab, den Ellenbogen gegen das Fenstersims gelehnt. Jemand taucht hinter dem Wald auf. Drei Gestalten, dunkel aus dieser Entfernung. Ich kann sie nicht gut erkennen. Louis grummelt im Schlaf und schaue zu ihm hinüber. Seine Decke ist hoffnungslos verdreht und wenn er seine Position nicht bald ändert, wird er ganz andere Probleme als blaue Flecken und Kratzer haben. Speziell mit seiner Wirbelsäule. Ich drehe den Kopf etwas zur Seite. Ich wusste nicht mal, dass diese Haltung möglich ist. Als ich wieder aus dem Fenster gucke, sind die Gestalten verschwunden. Wahrscheinlich Trainer oder Wanderer, die durch den Einheitstunnel gekommen sind. Die Armen, die ganze Nacht in der Höhle und dann nicht mal ein freies Zimmer im Pokécenter? Pech muss man haben. Azalea ist aber auch überfüllt diese Woche. Welchen Tag haben wir überhaupt? Donnerstag? Freitag? Louis grummelt wieder leise vor sich hin. Donnerstag. Ich verschwinde im Bad und spritze Sku spaßeshalber Wasser ins Gesicht, woraufhin sie fauchend und spuckend von meiner Schulter springt und zu Louis ins Bett flieht. Ich rufe Sku zurück, bevor sie ihn aufweckt und mache mich alleine auf den Weg nach unten. Auf dem Gang vor unserem Zimmer kommt mir Nick entgegen. Als er mich sieht, schaut er sich hektisch um, dann kommt er auf mich zu. „Nick?“, erschallt Ruths unverkennbare Stimme und sie steckt den Kopf aus einer Tür weiter hinten im Gang. Als sie mich sieht, verdüstert sich ihre Miene. Nick wird unterdessen kreidebleich und dreht sich schnell zu ihr um. „W-was ist?“, fragt er und selbst aus dieser Entfernung kann ich Ruths Misstrauen spüren. „Ich dachte, du könntest mir vielleicht bei etwas helfen.“ Etwas, sehr präzise. Ich werfe Nick einen Da-kann-man-nichts-machen-Blick zu, dann gehe ich alleine nach unten. Wie erwartet sitzt Schwester Joy schon wieder an der Theke. Ich frage mich wirklich, wie sie es schafft, mit so wenig Schlaf auszukommen, schließlich kann man sie jede Nacht wachklingeln. Dann wiederum gibt es nicht allzu viele Trainer, die nachts trainieren. Unwillkürlich muss ich an die arme Schwester Joy aus Orania denken, die mich jede Nacht mit roten Augen und geduldigen Lächeln erwartete. Sie hatte eine Aushilfe, aber das Heilen übernahm trotzdem meistens sie. Ihre Kaffeeausgaben müssen immens gewesen sein. Ich winke Joy flüchtig zu, verschwinde in der Küche und bereite das Frühstück vor. Und wenn es kalt ist, bis Ruth runter kommt, soll mir das Recht sein.   „Du willst wirklich nicht mit?“, frage ich Louis zum dritten Mal. Wir stehen vor dem Pokécenter. Ruth und die anderen sind bereits zur Arena aufgebrochen und ich habe Louis gebeten, mich zum Flegmonbrunnen zu begleiten. Er schaut betreten zu Boden. „Ich weiß nicht, Abby, ich muss noch trainieren und außerdem…“ Er stockt. „Was?“ Er holt tief Luft. „Ich habe Platzangst. Der Wald war okay, aber eine Höhle ist was anderes. Hast du den schmalen Schacht gesehen?“ Ich lege den Kopf schief. „So schmal ist er nicht“, kontere ich, aber Louis schaut immer wieder nervös nach Osten, also gebe ich es auf. „Na gut. Aber bis dorthin bringen kannst du mich, oder?“ Er grinst. „Klar.“ Gemeinsam machen wir uns auf den Weg. Nach einigen Minuten erreichen wir den Brunnen, ich umarme Louis flüchtig zum Abschied, dann steige ich die spiralförmige Absenkung hinunter zum Schacht. Als ich vor dem Brunnen stehe, beuge ich mich über den Rand und schaue nach unten. Er ist vielleicht vier Meter tief und die Dunkelheit nicht so vollkommen, wie ich zuerst erwartet habe. Ich denke an die Taschenlampe, die Joy mir vorsorglich geliehen hat und die jetzt sicher in meinem Rucksack verstaut ist. Ich befühle die Leiter, aber sie sieht sehr stabil aus, also klettere ich auf den Brunnenrand und steige hinunter. Ich brauche kaum eine Minute, bis ich den Grund erreiche, obwohl ich hin und wieder stehen bleibe und die Sprossen unter meinen Füßen begutachte. Als mein Schuh schließlich auf Wasser statt Holz trifft, springe ich von der letzten Sprosse nach hinten ab und drehe mich um. Das Wasser steht fast knöcheltief und ich bin unsagbar froh, meine wasserdichten Wanderschuhe anzuhaben. Ein kleines Flegmon sitzt auf einem Stein auf der anderen Seite des Brunnens und schaut mich mit umso größeren Augen an. Es legt den Kopf ein wenig schief,  atmet angestrengt ein und aus und legt den Kopf auf die andere Seite. Kurz denke ich darüber nach, wie es wäre, eins der rosa Pokémon im Team zu haben. Ein Wassertyp ist schließlich immer hilfreich. In dem Moment macht das Flegmon einen Schritt nach vorne, verliert den Halt und fällt kopfüber in die Wasserlache. Dort bleibt es für fast eine halbe Minute stecken, während seine Rute träge hin und her schlackert, bevor es das Gleichgewicht wieder verliert und über kippt, sodass es platt auf dem Rücken liegt. Röchelnd schnauft es nach Luft und wedelt hilflos mit dem Schweif. Vielleicht doch kein Flegmon. Ich hebe das drollige Pokémon auf und setze es richtig herum auf seine kleinen Füße, dann gehe ich weiter zum Höhleneingang, der gleich um die Ecke liegt und mich wie ein schwarzes Loch verschluckt, kaum dass ich eintrete. Im trüben Licht des Brunnens  suche ich schnell nach meiner Taschenlampe, dann knipse ich sie an und ein bläulicher, schmaler Lichtstrahl trifft die Höhle vor mir. Ich sehe mich um. Links neben mir sackt der Boden sofort ab, stattdessen glitzert die Oberfläche eines pechschwarzen Sees im Schein meiner Taschenlampe. Ich lasse den Lichtstrahl weiter nach rechts wandern, entdecke eine Art kleinen Hügel in der Mitte der Höhle, dessen Wände so steil und schroff sind, dass man ihn nie im Leben einfach so erklimmen könnte. Vor mir liegt ein steiniger Pfad, der sanft ansteigt, bis er eine kantige Erhebung erreicht, die an natürliche Treppenstufen erinnert. Weiter reicht mein Strahl nicht, also gehe ich staunend los. Zubat hängen von der Decke und blinzeln, wenn mein Lichtstrahl sie trifft und überall sitzen, liegen oder laufen Flegmon. Sogar ein Karpador sehe ich, dass wild platschend aus dem See zu meiner Linken empor springt und zurück im Wasser landet. Die Oberfläche kräuselt sich und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Ich hoffe nur, diese Höhle beherbergt nicht auch ein wild gewordenes Hypno. Nach einigen Minuten langsamen Gehens erreiche ich die Treppen und steige hinauf. Es sind nicht wirklich Treppenstufen, aber die regelmäßigen Absprünge funktionieren genauso gut und befördern mich gut einen Meter in die Höhe. Unruhig schaue ich nach oben. Die Zubat sind mir bereits gefährlich nahe, nicht mal zwei Meter trennen mich von dem Höhlengewölbe. Vielleicht war es wirklich klug von Louis, nicht herzukommen, wenn er Platzangst hat. Ich folge dem Vorsprung, links von mir fällt der Weg jetzt steil ab und grüngraue Steinbrocken versperren meine Sicht. Plötzlich höre ich etwas. Leise zunächst, dann lauter. Stimmen. „-gesehen?“, fragt eine Stimme. Eine zweite antwortet, aber ich kann sie nicht verstehen. Wer ist außer mir hier? Ich gehe weiter und senke vorsichtshalber den Strahl meiner Taschenlampe. Als ich tiefer in die Höhle gehe, kann ich weit hinten Licht sehen. Zwei dunkle Gestalten stehen neben einer Laterne, die auf dem Boden steht. Ich kann nur ihre Umrisse erkennen. Die Stimmen werden jetzt deutlicher. „-wo er ist. Sollte bald zurück sein.“ „Wir müssen das Hauptquartier kontaktieren“, sagt die zweite, weibliche Stimme. Vorsichtig lasse ich mich zu Boden sinken und schalte meine Taschenlampe aus. Wer ist das? „Ich kann diese Höhle nicht mehr sehen“, flucht die Männerstimme und als ich über einen großen Stein luge, sehe ich, wie einer der Gestalten sich hinsetzt. „Wir sollten nicht zu lange bleiben“, sagt die Frau. Vorsichtig bewege ich mich vorwärts. Irgendetwas ist faul an diesen Beiden, das spüre ich bis in die Knochen. Hauptquartier? Könnten sie tatsächlich… Ein Kreischen reißt mich aus meinen Gedanken und mein Kopf schnellt in die Höhe. Die Zubat an der Höhlendecke scheinen beschlossen zu haben, dass ich sie störe. Eines nach dem anderen spreizen sie ihre ledrigen Flügel und fallen wie eine blaue Wolke über mich her. Ich schlage wild um mich, aber sie kommen von allen Seiten, ihr Flügelschlagen erfüllt die ganze Höhle und ich muss all meine Willenskraft aufbieten, nicht zu schreien. Kleine Zähne ritzen meine Haut auf und einige besonders hartnäckige Zubats verbeißen sich sogar in meinen Armen und meinem Hals. Eins nach dem anderen reiße ich sie von mir und schleudere sie  davon, aber es kommen immer neue nach. Schließlich verteilen sie sich und ich sinke erleichtert auf die Knie. Zu meinen Füßen liegen zwei oder drei, die noch etwas benommen von meinem Angriff sind, aber abgesehen davon kann ich keine mehr sehen. Ich atme tief durch, dann luge ich an dem grüngrauen Fels zu meiner Linken vorbei zu den beiden ominösen Gestalten. Sie sind verschwunden. Außer der Laterne ist nichts zu sehen. „Pack sie!“, ruft die weibliche Stimme, viel lauter und näher als eben noch. Ich reiße den Kopf herum und sehe gerade noch, wie ein gigantisches Arbok auf mich zuschießt und sich blitzschnell um mich wickelt. Sein kräftiger Schlangenkörper presst mir die Luft aus der Lunge und drückt meine Arme so eng gegen meinen Körper, dass ich sie keinen Millimeter mehr bewegen kann. Ich schreie, aber das Arbok drückt nur noch fester zu, bis ich nicht mal mehr Luft bekomme. Verdammt! Verzweifelt strecke ich meine Finger nach Skus oder Hunters Pokéball aus, nach irgendetwas, aber sie tasten durchs Leere und ich ringe mühsam nach Luft. Arbok lässt nicht locker und als ich den Kopf drehe, entdecke ich die Gestalten von eben, jetzt näher. Sie tragen schwarz. Schwarze Hosen, schwarze Schuhe und Handschuhe. Der Mantel der Frau ist aufgegangen. Auf ihrer Brust prangt ein rotes R. Ich höre noch, wie sie ihrem Partner etwas zuruft, dann bleibt mir die Luft endgültig weg und mein Kopf sackt kraftlos zur Seite.   Als ich aufwache, bin ich gefesselt, geknebelt und ohne Rucksack. Mein Blick, immer noch verschwommen, wandert über meine Brust, meine Beine, den Boden vor mir und schließlich zu den beiden Team Rocket Mitgliedern, die im flackernden Schein der Laterne mit dem Rücken zu mir stehen und leise diskutieren. Als ich den Kopf zur Seite sacken lasse, entdecke ich Arbok, das sich nur einen Meter von mir entfernt auf dem Boden eingerollt hat und mich mit wachsamen, schlitzförmigen Augen beobachtet. Die violette Nackenhaut mit den roten und gelben Zeichnungen ist ausgebreitet und seine geschlitzte Zunge flackert hin und wieder aus seinem Maul hervor. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich bewusstlos war, aber mein Mund ist trocken und meine Rippen schmerzen höllisch. Hoffentlich sind sie nicht gebrochen. Ich winde mich ein bisschen, um die Festigkeit meiner Fesseln zu überprüfen, aber da habe ich kein Glück. Sie sind eng genug, um mir schmerzhaft in die Haut zu schneiden und reichen von knapp über meinen Brüsten bis hinunter zu meiner Taille. Meine Fuß- und Handgelenke sind separat gefesselt und meine Finger streifen rauen Stein, an dem ich lehne. Durch die Position meiner Arme sind meine Schultern und mein Rücken bereits steif und mein rechtes Bein kribbelt wegen der mangelnden Blutzufuhr. Mein Rucksack steht etwas abseits, bei den beiden Rockets. Als Arbok meine Bewegungen merkt, zischt es bedrohlich und die beiden drehen sich zu mir um. Die Frau hat eine gebogene, hakige Nase und blondes hochgestecktes Haar, das sie sich mit einer Unzahl Spangen aus dem Gesicht hält. Sie stützt eine Hand auf ihre Hüfte und schaut mich mit einem unzufriedenen Blick an. Ihr Partner ist kleiner, mit kurzem pechschwarzem Haar und einer Narbe unter dem linken Auge. Auch er wirkt nicht glücklich, seine Lippen sind bereits blutig gekaut. „Du kannst es ihm gerne erklären“, sagt die Frau und sieht genervt zu ihm hinüber. „An mir wird´s nicht liegen.“ „Dann mach du es doch“, zischt er zurück, seine Stimme tiefer als ich erwartet habe. „Niemand hält dich davon ab.“ „Warten wir lieber auf Lee“, erwidert sie und verzieht das Gesicht. „Er wird wissen, was zu tun ist.“ „Immer warten“, murrt der andere, aber er widerspricht nicht. Stattdessen kommt er auf mich zu und geht einen Meter vor mir in die Hocke. Er zieht den Knebel aus meinem Mund und hält ihn in der rechten Hand. „Wie heißt du?“, fragt er. Ich zögere. Ich will ihm nicht antworten, aber die Frau durchbohrt mich mit einem Blick, der mich sehr an Harpy erinnert und mir wird meine Situation mit einem Mal nur allzu deutlich bewusst. Ich werde gefesselt in einer Höhle gefangen gehalten, meine Pokémon sind außer Reichweite und zwei Mitglieder des Team Rockets haben mich in ihrer Gewalt. Louis wird mich nicht vor dem Abend suchen kommen. Bis dahin können sie schon wer weiß was mit mir angestellt haben. Alles in allem halte ich es für besser, mein Schicksal nicht unnötig auf die Probe zu stellen. „Abbygail“, erwidere ich heiser und huste. „Tja, Abby, du bist in einen ziemlichen Schlamassel geraten“, sagt er und stopft mir den Knebel wieder in den Mund. „Du hast Dinge gesehen, die geheim bleiben sollten. Vielleicht auch Dinge gehört, die geheim bleiben sollten. Du weißt sicher, dass wir da kein Risiko eingehen können, nicht wahr?“ „Was soll das, Teal?“ Seine Partnerin verschränkt die Arme und schaut mich scharf an. „Du musst nicht mit ihr reden.“ „Schon gut, schon gut.“ Er steht ächzend auf. „Wollte nur ein bisschen plaudern.“ „Lass sie einfach.“ Und damit ist die Konversation beendet. Der Mann namens Teal schaut immer wieder zu mir rüber und manchmal huscht so etwas wie milde Beunruhigung über sein Gesicht, aber er redet nicht nochmal mit mir und für die Frau könnte ich genauso gut Luft sein. Die Zeit verstreicht langsam und ich muss immer wieder würgen, weil Teal den Knebel zu fest in meinen Mund gedrückt hat. Meine Zunge fühlt sich wie ein pelziger Fremdkörper an und wird gegen meinen trockenen Gaumen gedrückt. Ich bilde mir ein, dass es dunkler wird, aber sicher bin ich nicht. Manchmal schnappe ich Gesprächsfetzen der beiden Rockets auf, aber ich kann keinen Zusammenhang erkennen. Einmal fällt der Name Atlas, woraufhin die Frau Teal wütend ansieht, der nur mit den Schultern zuckt. „Als wenn sie mit dem Namen was anfangen kann“, murmelt er und die Frau zischt. „Sie nicht, aber genug andere“, faucht sie zurück und Arbok zischelt zustimmend, sein Kopf richtet sich auf und wiegt bedrohlich hin und her. „Und wenn, Mel. Sie kommt hier ´eh nicht raus.“ Er schaut wieder zu mir und ich wende den Blick ab. Ich kann seine grünen Augen nicht ertragen. Plötzlich höre ich laute Stimmen und hebe hoffungsvoll den Kopf. Ein Suchtrupp? Vielleicht sogar Louis? Aber dann sehe ich Mel und Teal, die sich langsam aufrichten und meine Hoffnung schwindet. Stimmt, sie warten ja auf diesen Lee. Lee entpuppt sich als schlaksiger Typ mit starken Armen und einen aschblonden Haarschopf, der in alle Richtungen von seinem Kopf absteht. Die Schreie stammen allerdings nicht von ihm. Er hält ein Mädchen im Klammergriff. Ein Mädchen mit feuerrotem, kurzem Haar und einer verdammt nervigen Stimme. Ich beobachte entsetzt, wie er Ruth auf den Boden schubst und Arbok sich blitzschnell um sie wickelt, wie zuvor auch um mich. Als Ruth mich sieht, wird sie kreidebleich und senkt schnell den Blick, nur um im nächsten Moment in eine aufrechte Position gezwungen zu werden. Arboks Körper wickelt sich mehrmals um ihren Oberkörper und ihr Kopf wippt bedrohlich hin und her. „Was, ihr auch?“, fragt Lee und zieht eine Zigarette aus seiner schwarzen Hosentasche. „Und ich dachte, ich wäre der einzige Tollpatsch heute.“ „Wo hast du sie aufgegabelt?“, will Mel wissen und betrachtet Ruth mit offensichtlichem Abscheu. „Hey.“ Teal hebt einen Fuß an und drückt ihn bestimmt gegen Ruths Kehle. Sie zuckt zurück, aber Arbok hält sie fest an ihrem Platz und Teals Schuh drückt ein wenig fester auf ihren Hals. „Kennst du die da?“ fragt er und deutet in meine Richtung. Ruths Augen huschen in meine Richtung, dann nickt sie. „Flüchtig“, sagt sie leise und schluckt. Teal nickt und lässt den Fuß sinken. „Verdammt“, murmelt er und kratzt sich am Kopf. „Was machen wir mit ihnen, Lee? Wir können nicht zwei Kinder umbringen. Eins wäre vertretbar gewesen, aber zwei am selben Tag fallen auf. Wenn sie sich untereinander kennen, dann kennt man sie bestimmt auch im Dorf. Wer weiß, ob sie Freunde haben, die schon nach ihnen suchen.“ „Das ist echt nicht gut“, stimmt Lee ihm zu. „Aber wir haben keine große Wahl. Ich weiß ja nicht, was eure weiß, aber der Rotschopf hier hat mich bei der Montierung erwischt. Nicht gut, wenn das rauskommt, schon gar nicht nach dem Debakel in Marmoria.“ „Shit“, flüstert Mel und Arboks Zunge zischelt Ruths Ohr entlang. Sie zuckt zusammen und windet sich verzweifelt, aber das Giftpokémon klammert sich nur noch fester um sie, bis Ruth außer einem Wimmern keinen Laut mehr hervorbringt. „Atlas wird uns degradieren.“ „Wir sollten ihn kontaktieren“, sagt Teal. „Fragen, wie wir vorgehen sollen. Dann sind wir nicht für alles verantwortlich, was ab jetzt schief geht.“ „Hättest du nicht vorsichtiger sein können, Lee?“, wendet Mel sich nun an ihn. „Du weißt, wie wichtig unsere Mission ist.“ „Was kann ich dafür?“, fragt er zurück. „Ich habe den Gang abgesperrt, mehr kann ich jetzt echt nicht tun. Sie ist trotzdem reingekommen.“ Aber warum? Ich betrachte Ruth sorgsam. Heute Morgen hat sie sich zur Arena aufgemacht. Was wollte sie im Einheitstunnel? Ruth scheint meinen Gedankengang verfolgt zu haben, denn sie durchbohrt mich mit Blicken und tastet mit ihren Fingern verzweifelt nach ihrem Gürtel. „Ich rufe jetzt Atlas an“, verkündet Teal und zieht ein Handy aus seinem Mantel, das mit mehreren Kabeln und Geräten vernetzt ist. Dann verschwindet er tiefer in der Höhle, während er auf die Tasten tippt. Jede Zahl wird von einem hohen Piepton begleitet. „Wir sollten die beiden weiter reinbringen“, schlägt Lee vor. „Nur für den Fall, dass man nach ihnen sucht.“ „Du nimmst unsere. Arbok übernimmt den Rotschopf.“ Als Arbok Ruth in die Höhe hebt und sich langsam mit ihr vorwärts bewegt, beginnt sie plötzlich wie am Spieß zu schreien. „HILFEEEE! HIL-!“ Ein gezielter Schlag von Mels Faust lässt sie abrupt verstummen, ihr Kopf lallt zur Seite und Arbok zischt dankbar. Lee kommt auf mich zu, hebt mich kurzerhand hoch und wirft mich über seine Schulter wie einen Kartoffelsack. Ich winde mich in seinem Griff, aber meine Fesseln verhindern jede Fluchtmöglichkeit und schließlich lasse ich es sein. Während Lee mich hinter Arbok herträgt, merke ich mir die Umgebung. Ich habe vor, hier lebend wieder rauszukommen, ganz egal was dieser Atlas sagt. Nach ungefähr zehn Minuten erreichen wir einen von hohen Wänden und Felsbrocken umschlossenen Bereich. Lee lässt mich zu Boden fallen und wendet sich dann Ruth zu, die noch immer benommen in Arboks Klammergriff hängt. Mel lässt meinen Rucksack neben sich auf den Boden fallen und wirft Lee dann ein paar Seile zu, die er aus der Luft fängt und sich damit über Ruth hermacht. Innerhalb weniger Minuten ist sie genauso gut verpackt wie ich. Nur der Knebel fehlt, aber mit Sicherheit nicht mehr lange. Ein paar Minuten später stößt Teal wieder zu uns. Er wirkt zerknirscht. Ich schaue schnell zu Ruth. Sie wirkt noch immer schlapp, aber ihre Augen huschen zwischen den drei Rockets hin und her, also nehme ich an, dass sie mehr oder weniger bei Verstand ist. „Atlas war alles andere als erfreut“, beginnt er und kratzt sich genervt am Kopf. „Lee, du sollst zurück gehen, mögliche Spuren verwischen und deinen Job zu Ende bringen. Mel und ich bleiben hier und passen auf die Beiden auf. Eine sollen wir heute Nacht töten und die Leiche im Einheitstunnel verstecken, die zweite morgen Nacht irgendwo hier.“ Wie auf ein unsichtbares Signal drehen sich die drei zu uns um und schauen uns an. Kalt, berechnend. „Ich sage, wir töten die Rote zuerst“, sagt Mel. „Sie fuckt mich ab mit ihrem Geschrei.“ „Stimmt“, sagt Lee nickend und betrachtet Ruth mit verschränkten Armen. "Das können wir uns echt nicht leisten." Auch ich werfe ihr einen raschen Blick zu. Ihre Augen sind geweitet, ihr Blick entsetzt zu Boden gerichtet und ihre gefesselten Hände zittern. Sie ist aschfahl. „Bitte nicht…“, flüstert sie und hebt den Kopf. „Bitte, ich tue alles, was ihr sagt, nur bitte-“ Weiter kommt sie nicht, Mel scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, Ruth im Zaum zu halten, denn sie hebt ihren rechten Fuß, der in einem hoch geschlossenen schwarzen Stiefel steckt und drückt ihn fest in Ruths Gesicht. „Schnauze“, zischt sie bedrohlich und als sie den Fuß wieder sinken lässt, kann ich Tränen in Ruths Augen glitzern sehen. Ich atme konzentriert durch meine Nase ein und aus und zwinge mich, nicht ebenfalls die Kontrolle zu verlieren. „Bitte…“, wimmert sie und sieht nun verzweifelt zu Teal und Lee. Ihre Stimme klingt hektisch, schwach, als würde sie jeden Moment einen Nervenzusammenbruch. „Meine Eltern sind reich, ihr könnt Lösegeld einfordern, bitte, ich werde nichts sagen, nur bitte, tötet mich nicht!“ Teal kaut auf seiner Lippe herum und Lee zieht an seiner Zigarette. Er ist es, der antwortet. „Sorry Kleine, aber dieses Mal geht es um mehr als Geld. Wir können die Mission echt nicht gefährden.“ „BITTE!“, schreit Ruth und Tränen fließen ungehemmt ihre Wangen hinunter. Ich kann es ihr nicht verübeln. Mel stöhnt, kommt zu mir, presst meine Wangen zusammen und zieht den Knebel mit einem Ruck zwischen meinen Zähnen hervor. Dann stopft sie ihn Ruth in den Mund, so fest, dass sie hustet und würgt und wimmernd den Kopf hin und her wirft. Als sie fertig ist, schaut Mel mich eisig an. Ihre braunen Augen sind bar jeder Wärme. „Wenn du auch so ein Theater veranstaltest wie deine Freundin hier, dann reiße ich dir die Zunge raus und gebe sie Arbok zum Frühstück. Verstanden?“ Ich öffne den Mund um zu antworten, dann überlege ich es mir anders und nicke nur. Mel kneift misstrauisch die Augen zusammen, dann nickt sie und richtet sich auf. „Was hat Atlas sonst noch gesagt?“ „Nicht viel. Dark war bei ihm“, erwidert Teal und setzt sich wo er steht auf den Boden, wo er sein Kinn gelangweilt auf seiner Handfläche abstützt. „Wollte sich wohl nicht lange mit dir aufhalten“, sagt Lee wissend und wirft seine Zigarette auf den Boden. „Ich kann es ihm nicht verübeln. Der Junge gefällt mir echt nicht.“ „Lass ihn das nicht hören“, warnt Teal und Lee macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ach was, der Boss weiß, dass sein Sohn nicht bei uns rein passt.“ „Er sollte dankbarer sein“, zischt Mel und geht neben Arbok in die Hocke. Sie streicht abwesend mit zwei Fingern über ihren violetten Schuppenhals und Arbok züngelt sie liebevoll an. „Alles was er hat, hat er von uns. Ich kann undankbare Kinder wie ihn nicht ausstehen.“ „Kinder?“ Teal lacht. „Er ist fünfzehn, Mel. Der ist kein Kind mehr.“ „Nein, er ist ein Scheißteenager. Das sind die schlimmsten.“ Sie wirft einen Blick zu mir. „Wie alt bist du?“, fragt sie mit harter Stimme und ich hoffe inständig, dass das keine Fangfrage ist. „Fünfzehn“, sage ich mit heiserer Stimme und unterdrücke einen Hustenreiz. Mein Mund ist trockener als Sandpapier. „Sei froh, dass wir euch den Rest ersparen. Wird nicht besser“, sagt Mel und steht auf. „Du solltest los, Lee. Es ist schon nach Mittag, wenn du Glück hast, sind gleich alle mit Essen beschäftigt. Mittag also. Dann kann ich maximal ein oder zwei Stunden bewusstlos gewesen sein. Lee hebt ergeben die Hände in die Luft, dann dreht er sich um und verschwindet hinter den Steinwänden. Mein Bein beginnt wieder zu kribbeln, aber ich wage nicht, meine Position zu ändern. Mein Blick fällt auf meinen Rucksack, während ich meinen Kiefer hin und her bewege, um ihn zu entspannen. Ruth ist inzwischen leise am Schluchzen, aber der Knebel dämpft die Geräusche. Wo ist überhaupt ihr Rucksack? Sie würde doch wohl nicht ohne ihre Pokémon in den Einheitstunnel gehen, oder? Nachdem Lee verschwunden ist, wird es stiller. Teal passt auf uns auf, während Mel die Laterne holt und sie zu uns bringt. Irgendwann später, es könnte eine Stunde gewesen sein, hören wir leise Stimmen, aber sie sind weit entfernt und verschwinden genauso schnell wieder, wie sie gekommen sind. Vermutlich Leute, die am Brunnen vorbei gehen. Irgendwann beginnen Teal und Mel, Würfel zu spielen und um Geld zu wetten. Nach einer weiteren Stunde hat Mel ihn völlig abgezockt und Teal blättert zerknirscht in seinem Geldbeutel, während er irgendetwas murmelt, das sich stark nach Mannsweib anhört. Mel grinst nur und streicht eine blonde Haarsträhne hinter ihr Ohr. Immer wieder schaut sie zu mir rüber, als könne sie nicht glauben, dass ich immer noch kein Wort gesagt habe. Selbst Ruth ist lauter als ich, und sie ist immerhin geknebelt. Sie wimmert und winselt und schluchzt tonlos. Hustet. Scharrt mit den Füßen verzweifelt über den Boden. Heute Nacht. Vielleicht wäre ich auch so verstört, wenn mein Tod nur noch wenige Stunden entfernt wäre, aber irgendwie fühle ich mich ganz ruhig. Abwesend. Gleichgültig. Vielleicht habe ich auch einfach noch nicht verstanden, was hier vor sich geht. Aber immerhin ein Mysterium ist aufgeklärt – der ominöse Teenager, den man die letzten Wochen immer wieder bei Team Rocket gesichtet hat, ist also Atlas´  fünfzehnjähriger Sohn Dark. Und Atlas scheint irgendein hochrangiger Team Rocket zu sein. Wenn ich hier wieder rauskomme, muss ich das unbedingt Alfred sagen. Wenn. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)