Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 10: Das Leben ist zu kurz (Teezeit) ------------------------------------------- Ich finde ihr Haus genauso schnell, wie Caro versprochen hat. Es ist klein, mit roten Dachziegeln, Blumenkästen vor den Fenstern und einem großen Schild neben der Tür: Hier wohnte Bill der Pokémaniac. Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment sein soll. Mit dem großen Korb in meinem linken Arm klingele ich. Ich höre drinnen Schritte, dann öffnet sich die Eichentür und eine kleine Frau schiebt den Kopf hinaus. Als sie den Korb sieht, stiehlt sich ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht und ich erwidere es herzlich. „Blumen für sie, Karin.“ sage ich fröhlich und sie zieht die Tür weit auf. Ich trete ein und schaue mich um. Alle Möbel wirken altmodisch, aber gepflegt, viel Holz, viele Gardinen und viele Blumen. Auf dem runden Esstisch, auf den Fensterbänken, auf den Regalen, auf dem Couchtisch. Überall stehen Caros Blumensträuße, klein und rund gebunden und voller bunter Farben. „Stell sie hier ab, Kleines“, sagt Karin und ich folge ihren Anweisungen und stelle den Korb auf den Esstisch. Sie streicht mit einer runzligen Hand eine graubraune Haarsträhne hinter ihr Ohr und schaut die Blumen glücklich an. „Hier ist dein Geld“, sagt sie und zieht eine rote Geldbörse aus ihrem knielangen Blümchenrock. Ihre weiße Bluse bauscht sich, während sie das Geld in meine Hand auszählt. „2000 PD wie immer, und 500 für dich“, sagt sie lächelnd und ich stecke das Geld ein. „Möchtest du einen Tee?“, fragt sie und ich nicke enthusiastisch. „Ich liebe Tee.“ Karin strahlt, dann geht sie zu der kleinen Küchenzeile und fängt an, Teewasser in einem alten Teekessel aufzusetzen, während ich mich an den Esstisch setze und ihr zuschaue. „Bist du neu bei Caro?“, fragt sie, als wir mit zwei großen Teetassen, Zucker, Milch und Keksen am Tisch sitzen. Ich schlürfe genüsslich den Pirsiftee und genieße jeden Schluck. Meine Liebe für Tee war nicht gelogen. „Sozusagen“, antworte ich und tunke einen Karamellkeks in den Tee. „Sie hat mich im Magnetzug aufgelesen und jetzt wohne ich übergangsweise bei ihr und helfe im Laden mit.“ „Und wie heißt du, Kleines?“, fragt Karin interessiert und tut noch einen Zuckerwürfel in ihren Tee. „Abbygail. Aber Abby reicht.“ „Ein wunderschöner Name“, nickt sie und trinkt einen kleinen Schluck, bevor sie ihre Hände auf dem Tisch faltet und mich betrachtet, während ich an meinem Keks knabbere. Um ihren Hals ist ein rotes Tuch gewickelt. „Sind die selbst gebacken?“, frage ich und nehme mir den nächsten Keks. Sie schmecken himmlisch. „Ja, aber nicht von mir. Leider. Meine Backkünste sind eher unterirdisch.“ Sie kichert und klingt dabei wie ein kleines Schulmädchen. „Von wem denn?“, frage ich neugierig. „Eine Freundin meines Sohnes hat sie gebacken. Sie ist Konditorin und bringt mir jeden Sonntag frische Plätzchen, weil sie weiß, wie gerne ich Kekse zum Tee esse. Margret. Sie ist eine wundervolle junge Frau. Genauso wie Caroline.“ Ich nicke und schiebe mir den nächsten Keks in den Mund. „Margret war mit Carolines älterer Schwester befreundet, daher kennt Bill sie“, fährt Karin fort und schaut verträumt in ihre Teetasse. „Als dieser schreckliche Unfall passierte, ist sie allerdings lange Zeit nicht mehr her gekommen.“ „Welcher Unfall?“, frage ich und halte in meiner Bewegung inne, die Teetasse auf halbem Wege zu meinem Mund. „Du weiß es nicht?“, fragt Karin. „Ah, aber du kennst Caroline schließlich erst seit ein paar Tagen. Vielleicht sollte sie es dir lieber selber sagen.“ „Caro erzählt nicht viel von sich aus“, sage ich und Karin lacht. „Ja, da hast du wohl Recht“, stimmt sie mir zu. Sie nimmt noch einen Schluck Tee, dann stellt sie die Tasse ab und faltet wieder ihre Hände. „Es war vor fünf Jahren. Bill war schon immer in Carolines Schwester Eva verliebt, musst du wissen“, Eva? War der Name nicht in Caros Telefonbuch eingespeichert? „Seit er sie das erste Mal gesehen hatte, wie sie da inmitten ihrer Blumen stand, mit dem gelben Sonnenhut und dem gelben Kleid. Sie war liebenswert, lebhaft, freundlich… Eine wundervolle Person. Ihr gehörte der Blumenladen. Caro und ihr kleiner Bruder lebten damals noch bei ihren Eltern gegenüber vom Fahrradladen. Eines Tages wagte mein Sohn es endlich, Eva anzusprechen, aber sie wollte zunächst nichts von ihm wissen. Die beiden waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Eva liebte die Natur, speziell Blumen und war kein Pokémontrainer. Und dann war da Bill, der den lieben langen Tag in seinem Zimmer saß, an allen elektrischen Geräten herumbastelte, die er in die Finger bekam und seine eigenen Programme für den Computer entwickelte. Und er hatte diese Faszination mit Evoli und seinen Entwicklungen. Er war ein Pokémaniac durch und durch.“ Sie seufzt und betrachtet ihre Finger. „Sei es wie es war, eines Tages verabredeten die beiden sich freundschaftlich und Eva brachte ihre beste Freundin Margret mit. Bill erzählte mir, dass die beiden die ganze Zeit nur kicherten und er sich sehr unwohl fühlte, aber irgendetwas scheint diese Verabredung bewirkt zu haben, denn Eva und Bill trafen sich danach immer häufiger, auch alleine und schließlich wurden sie ein Paar. Eva besuchte uns oft und weil sie und Margret unzertrennlich waren, kam ihre Freundin auch oft her. Ich verstand mich wunderbar mit ihr und tue es heute noch.“ Ihr Gesicht nimmt einen schmerzhaften Ausdruck an. „Dann geschah es. Ich weiß noch ganz genau, was damals passierte. Bill wollte Eva heiraten. Er hatte einen Ring gekauft und war aufgeregter als ein junges Pokémon. Wir alle wussten, dass er um Evas Hand anhalten wollte und wir warteten nur noch auf ihre Rückkehr aus Kanto, wo sie seltene Blumensamen kaufen wollte. Aber sie kam nie an.“ Karins Stimme erstickt und sie wischt sich über die Augen. „Das arme Mädchen“, flüstert sie. „Sie war noch so jung. Sie hatte ihr ganzes Leben vor sich.“ „Was ist passiert?“, frage ich tonlos. „Der Magnetzug wurde überfallen. Sie saß ungünstig und wurde von einem der Verbrecher als Geisel genommen. Als einer der Passagiere heimlich die Polizei anrief, bemerkten ihre Geiselnehmer das und erschossen sie als Bestrafung, bevor die Polizei den Zug stürmen konnte. Der arme Mann war danach traumatisiert. Er wollte etwas Gutes tun, aber es kostete Eva das Leben. Ich glaube, er hat sich das nie verziehen.“ Karin schweigt, dann nimmt sie einen großen Schluck Tee und isst noch einen Keks. Mir ist der Appetit vergangen. „Bill war am Boden zerstört“, fährt sie nach einiger Zeit fort. „Er ertrug die Erinnerungen an sie in dieser Stadt nicht und reiste durch die Regionen. Er kommt kaum noch zu Besuch, meist telefonieren wir. Nur Margret ist nach ungefähr einem Jahr wieder gekommen. Jetzt besucht sie mich jeden Sonntag und gemeinsam halten wir Evas Andenken am Leben.“ „Und Caro?“, frage ich. „Sie übernahm den Blumenladen. Ich glaube, ursprünglich hatte sie andere Pläne, aber nach Evas Tod war es für sie keine Frage, dass sie das Lebenswerk ihrer Schwester weiterführen würde. Jetzt ist sie eine anerkannte Floristin und jeder in Dukatia City kennt sie. Manchmal bestellen sogar Kunden aus anderen Städten bei ihr. Aber sie erwähnt Eva nicht. Mit keinem Wort.“ Karin schließt die Augen und nimmt einen weiteren Schluck Tee, dann schaut sie mich an. „Ich glaube nicht, dass es die beste Möglichkeit ist, mit dem Verlust umzugehen, aber es ist Caros Weg und ich habe kein Recht, sie dafür zu verurteilen. Aber Evas Tod hat ein tiefes Loch in all unsere Herzen gerissen und ich weiß nicht, ob wir es je ganz füllen können.“ Ich nicke und starre in meine fast leere Teetasse. Dann trinke ich den inzwischen kalten Rest in einem Schluck. „Kann ich noch einen Tee haben?“, frage ich und Karin lächelt mich an, dankbar für den Themenwechsel. Sie holt die Teekanne und gießt nach. „Nachdem Eva tot war, gab Bill mir seine beiden Evoli. Er behielt ihre entwickelten Kinder, aber die Eltern gab er mir. Ich sollte mich um sie kümmern, bis er zurück sei. Er ist nicht mehr zurückgekehrt, aber ich kümmerte mich trotzdem um die Beiden und eines Tages bekamen sie ein Junges. Es schlüpfte aus einem Ei und war das niedlichste kleine Pokémon, das ich je gesehen hatte. Einige Zeit später besuchte Margret mich wieder und wir begannen, uns regelmäßig zu treffen. Schließlich erzählte sie mir, dass ihre Nichte Ronya aus Sinnoh vorhatte, ihre Pokémonreise aufzugeben, weil sie nicht das gleiche Starterpokémon wie die anderen Kinder haben wollte. Ich erzählte ihr von dem kleinen Evoli, das erst vor einigen Monaten geschlüpft war und sie fragte mich, ob ich es an ihre Nichte abgeben würde.“ „Und?“, frage ich neugierig und sippe an meinem Tee. „Ich habe es ihr gegeben. Was soll ich hier mit drei Evoli?“ Sie lacht und nimmt sich noch einen Keks. „Dann, vor einem Jahr, hatte ich wieder ein Ei auf meinem Sofa liegen.“ „Nicht wahr!“, rufe ich begeistert und Karin lacht. Ich bin froh, dass die gedrückte Stimmung vorerst vorüber ist. „Doch. Also habe ich es einem Freund in Prismania City geschenkt, aber er sagte, er komme mit der Kleinen nicht gut klar. Jetzt ist sie die meiste Zeit in einem Pokéball.“ Sie lächelt traurig. „Ich würde sie ja gerne wieder zurücknehmen, aber ich bin alt und ich glaube nicht, dass ich mit einem Energiepaket wie ihr mithalten könnte.“ „Wo sind ihre Evoli?“ frage ich und sie deutet nach oben. „Sie schlafen in Bills altem Zimmer. Sie lieben seinen Geruch. Es hat sie sehr verletzt, als er sie zurück gelassen hat. Ein Pokémon bindet sich an seinen Trainer, wenn es viel Zeit mit ihm verbringt. Sie dulden mich und lassen sich von mir streicheln, aber sonst…“ „Caro hat ein gutes Gespür für Pokémon und ihre Beziehung zu ihrem Trainer“, sage ich und Karin nickt. „Warum ist das so?“ „Ich weiß es nicht“, antwortet Karin und faltet wieder ihre Hände. „Es liegt wohl in der Familie. Schon Eva war so. Sie schaute dein Pokémon an und konnte dir genau sagen, was es für dich empfindet.“ Wir schweigen wieder, während wir unseren Tee süffeln und Kekse essen. Plötzlich schaut Karin auf die Uhr und steht aufgeregt auf. „Die Nachrichten fangen gleich an“, sagt sie fröhlich und geht zu dem alten Radio auf dem Küchenschrank. „Auch eine alte Frau muss sich auf etwas freuen können.“ Sie schmunzelt und ich lache. „So alt sehen sie nicht aus“, versichere ich ihr und sie schaut mich strahlend an. „Tatsächlich?“, fragt sie glücklich und posiert ein wenig, woraufhin ich laut lache. „Man soll es ja nicht meinen, aber in meiner Jugend war ich eine Kimonotänzerin in Teak City. Ich war die Schönste von allen und hatte die meisten Verehrer.“ Sie klimpert mit den Wimpern, aber als sie wieder ernst wird, kann ich ihren nachdenklichen Blick sehen. Sie sehnt sich nach ihrer Jugend, glaube ich. Sie schaltet das Radio an und Musik klimpert uns in metallischer Tonqualität entgegen. Sie setzt sich wieder und kurze Zeit später folgt die charakteristische Tonfolge und eine männliche Stimme meldet sich zu Wort.   „Es ist 13:00 und wir melden uns mit den Mittagsnachrichten. Daniel, was tut sich in der Welt?“ „Einiges, und zu meinem Bedauern nicht viel Gutes. Team Rocket ist erneut gesichtet worden und wir alle fragen uns: Wie lange wird es dauern, bis wir wieder mit einem ihrer teuflischen Pläne rechnen müssen? Noah Reynes verkündete bereits, dass er wie Red und Gold vor ihm für seine Generation einstehen und Team Rocket aufhalten werde, aber noch wissen wir nichts. Die Polizei meldet aber täglich neue Verbrechen und es scheint, dass Team Rocket sich langsam wie ein Geschwür über ganz Kanto ausbreitet. Wir können nur hoffen, dass es bald handfeste Beweise gegen diese Verbrecher gibt, denn sonst weiß niemand, was passieren wird. Ich erinnere sie noch einmal daran, Team Rocket ist es vor zwölf Jahren gelungen, die Silph Co, das am besten bewachte Gebäude Kantos, unter seine Kontrolle zu bringen, genauso wie drei Jahre später unseren Radioturm in Johto. Beide Mal sind wir um ein Haar einer Katastrophe entgangen und ich will nicht in Noahs Haut stecken, wenn er sich der gesamten Organisation widmen muss! Bisher gab es keine Berichte von Team Rocket-Sichtungen in Johto, aber wer weiß. Wir wollen nichts heraufbeschwören, aber was war, kann wieder passieren. Der ominöse Jugendliche ist mehrere Male gesichtet worden und scheint tatsächlich Teil Team Rockets zu sein. Was ein Kind in dieser Organisation zu suchen hat, ist uns bis auf weiteres nicht klar, aber Officer Rockeys Spezialeinheit ist allen Hinweisen dicht auf der Spur. Die gute Nachricht des Tages: Gold ist wieder in Johto! Gerade zwanzig geworden, ist er heute von seiner Reise durch alle Regionen zurückgekehrt und er sitzt hier neben mir! Gold, du siehst gut aus.“ „Danke, Daniel. Du auch.“ „Oho, vielen Dank! Gold, du hast Team Rocket vor neun Jahren zum zweiten Mal zerschlagen. Was sagst du zu ihrem dritten Comeback?“ „Ich kann nur sagen, was alle denken. Ich wünschte, sie würden in das Loch zurück kriechen, aus dem sie gekommen sind. Sie sind eine Organisation, die Pokémon missbraucht und Menschen Unrecht zufügt und ich werde mich mit Noah in Verbindung setzen, sobald ich einige private Angelegenheiten geregelt habe. Ich schwöre, dass wir Team Rocket auch ein drittes Mal besiegen werden.“ „Sie haben es gehört, liebe Zuhörer. Gold, gibt es Neuigkeiten von Red? Blue hüllt sich weiterhin in eisiges Schweigen.“ „Leider kann ich dazu auch keine Auskunft geben, Daniel. Aber er trainiert wie ein Besessener an einem Ort, der für Normalsterbliche nicht zugänglich ist.“ „Wie geht es deinen Pokémon, Gold? Sind sie fit?“ „Fitter denn je. Team Rocket wird seine Rückkehr schon sehr bald bereuen. Es gab lange keine Generation mit so vielen talentierten Trainern.“ „Da hat er Recht, liebe Zuhörer. Gold, welcher unserer vier Favoriten ist deiner Meinung nach der Stärkste?“ „Das kann ich nicht beurteilen, ich habe noch keinen von ihnen live kämpfen sehen. Außerdem ist jeder Kampf anders. Letztendlich entscheidet die Siegesquote, wie gut ein Trainer wirklich ist.“ „Und was hältst du von Noah Reynes, dem amtierenden Champion?“ „Ich zähle Noah zu den besten Trainern der letzten Jahre, aber wie ich immer sage: Jeder Trainer, mag er auch noch so gut sein, wird eines Tages einen Trainer treffen, der besser ist.“ „Wer war es bei dir, Gold?“ „Ich würde dir sehr gerne von ihm berichten, aber dann wird Alfred mich köpfen. Wenn du es wissen willst, schalte am Sonntag um 20:15 Uhr bei PCN ein.“ „Jetzt kann ich das Wochenende nicht mehr erwarten! Und damit verabschieden wir uns, liebe Zuhörer. Gold, möchtest du noch ein paar letzte Worte loswerden?“ „An alle Trainer da draußen, gebt nicht auf. Was immer ihr euch als Ziel gesetzt habt, haltet daran fest, glaubt an euch selbst und eure Pokémon und verfolgt es hartnäckig und mit all eurer Kraft. Eines Tages werden sich eure Anstrengungen auszahlen.“   Die Tonfolge ertönt, dann plätschert wieder Musik aus dem Radio. Karin und ich sitzen ganz still am Tisch und trinken unseren Tee. „Die Radiosendung wurde nicht zufällig live im Radioturm aufgenommen?“, frage ich unschuldig und Karin schlürft an ihrer Tasse. „Doch, doch.“ Ich springe auf, nehme die Blumen aus dem Korb und reiße ihn vom Tisch. „Ich muss weg. Ich komme morgen wieder!“, rufe ich Karin noch zu, dann renne ich aus der Tür und sprinte die Straße hoch Richtung Pokécenter, biege an der Hauptstraße zweimal links ab und stehe schließlich keuchend vor dem Radioturm. Ich bin nicht die Einzige. Eine riesige Schlange hat sich vor dem Eingang gebildet und versucht verzweifelt, Einlass zu erhalten, aber vor der Tür stehen zwei schwarz gekleidete Bodyguards mit Sonnenbrille und Headset und halten die Kinder und Jugendlichen mit ausgestreckten Armen zurück. Ich bleibe etwas abseits stehen und warte. Wenn Gold den Turm in nächster Zeit verlassen will, muss er entweder den Vordereingang benutzen, oder es gibt einen Geheimausgang und ich werde ihn nicht zu Gesicht bekommen, selbst wenn ich mich anstelle. Ich warte fast eine halbe Stunde, bevor sich die Situation verändert. Die Bodyguards gehen langsam nach vorne und machen den Eingang frei. Eine Gestalt tritt ins Licht und ich bekomme Schnappatmung. Gold. Er ist größer als ich erwartet hätte und als er seine Fans sieht, hebt er die Hand und lächelt. Ich muss mich sehr davon abhalten, nicht wie die anderen los zu kreischen. „Schaltet am Sonntag ein“, sagt er laut, um über das Geschrei gehört zu werden, dann schlängelt er sich hinter seinen Bodyguards vorbei, die immer noch versuchen, seine Fans von ihm fern zu halten. Er trägt eine Jeans, ein legeres, weißes Hemd, eine lose Krawatte mit Goldstreifen und eine schwarzgelbe Cappi. Sein schwarzes Haar schaut durch den Spalt an der Mütze heraus und weht fröhlich im Wind. Er wirft einen Pokéball in die Luft und alle halten ihren Atem an. Der rote Lichtblitz schießt hoch in die Luft, wo er gigantische Ausmaße annimmt. Dann materialisiert sich Golds Pokémon. Riesige, weiße Schwingen, die wie große Hände aussehen, schlagen gegen den schwülen Sommerwind und ich kann den Windstoß, den sie erschaffen, selbst aus vielen Metern Entfernung spüren. Der runde blaue Bauch senkt sich langsam, als das Lugia zu Boden gleitet, sein schnabelartiges Maul öffnet sich und ein lautes, tiefes Kreischen dringt an meine Ohren. Die weißen Füße setzen mit einem dumpfen Knall auf dem Boden auf und sein mit blauen Hornplatten besetzter Schwanz schlägt hin und her, als es den langen Hals neigt und seinen Kopf auf Golds Höhe bringt. Es muss über fünf Meter lang sein, allein sein Kopf ist schon größer als Golds gesamter Oberkörper. Er tätschelt den Hals des legendären Pokémon, dann schwingt er sich geübt auf seinen Rücken, wo die Hornplatten auf seiner Wirbelsäule beginnen und hält sich in dem dichten weißen Gefieder fest, das fast wie eine silbrig glänzende Haut wirkt. Dann hebt Lugia seine Schwingen und schlägt mehrere Male, bevor es sich langsam in die Höhe hievt. Gold winkt seinen Fans, die mit ihren Handys ein Foto nach dem anderen schießen und ich verdamme mich dafür, dass ich meins bei Caro gelassen habe. Verdammt, verdammt, verdammt! „GOLD!“, schreie ich und obwohl er schon viele Meter über unseren Köpfen ist, dreht er sich zu mir um und schaut mich an. „DANKE FÜR ALLES!“ Ich bin nicht sicher, ob er mich verstanden hat, aber er zieht seine Mütze und verbeugt sich. Dann ruft er in gleicher Lautstärke zurück. „KEINE URSACHE!“ Lugia nimmt Geschwindigkeit auf und fliegt davon. Innerhalb weniger Sekunden ist Gold in Richtung Meer verschwunden und ich kann nur noch einen kleinen weißen Fleck am Horizont erkennen. Als ich den Blick senke, entdecke ich an die fünfzig Fans, die mich mit Blicken aufspießen, die von bewundernd bis tödlich reichen, also nehme ich die Beine in die Hand und renne so schnell ich kann zurück zu Caros Blumenladen.   Ich erreiche ihn, ohne von der Fan-Meute verfolgt zu werden, was ich mir als ziemlichen Erfolg anrechne. Bevor ich eintrete, muss ich tief durch atmen. Ich habe mit Gold gesprochen. Und er hat geantwortet. Ich unterdrücke ein Quietschen, dann betrete ich den Verkaufsraum. Der Ventilator an der Decke läuft auf Hochtouren, trotzdem staut sich die Hitze. Es stehen zwei Kunden im Laden, die eine unterhält sich mit Linda, die ihr Ratschläge für irgendein Gesteck gibt, die andere begutachtet die fertigen Blumensträuße. Caro ist nirgends zu sehen. Ich gehe durch den Raum und durch die Tür am anderen Ende, dann betrete ich Caros Werkstatt. Wie erwartet arbeitet sie an einem großen Blumenstrauß, vielleicht für die zweite Frau. Als sie mich sieht, nickt sie mir wortlos zu. Ich stelle den Korb auf einen freien Tisch, dann lehne ich mich an Caros Werkbank. „Und?“, fragt sie, während sie die Blumen mit Draht an ihrer jeweiligen Stelle befestigt. „Sie ist sehr nett. Ich hab ihr versprochen, morgen wieder zu kommen“, antworte ich und schaue ihr bei der Arbeit zu. „Habt ihr euch ausgiebig unterhalten?“ „Ja, über eine Stunde“, sage ich. „Dann haben wir die Nachrichten gehört.“ „Die 13:00 Uhr Nachrichten?“, fragt Caro und zieht eine Augenbraue hoch, ohne mich anzusehen. „Sind die nicht schon eine Stunde her?“ „Ich wollte Gold sehen. Er war gerade im Radioturm, also bin ich hin und habe auf ihn gewartet.“ Caro schaut mich skeptisch an. „Er ist so alt wie ich. Lass lieber die Finger von ihm.“ „Ich habe einen Satz mit ihm gesprochen, Caro! Ich bin einfach ein großer Fan von berühmten Pokémontrainern, das ist alles.“ „Unfug“, murmelt Caro, während sie auf einem Kaugummi herum kaut. „Und? Hast du etwas Interessantes bei Karin erfahren?“ „Ach, dies und das.“ Caro wirft mir einen kurzen Blick zu. Dann widmet sie sich wieder den Blumen. „Dann ist gut“, sagt sie. Könnte Caro… gewollt haben, dass ich von Karin über ihre Vergangenheit erfahre? Hat sie vielleicht sogar damit gerechnet? Ich kann es eigentlich kaum glauben, aber Caros prüfender Blick geht mir nicht aus dem Kopf. Warum? Damit sie nicht selbst über Eva reden muss, denke ich sofort. Ich ringe einen Moment lang mit mir, weil ich sie unbedingt nach Eva fragen will, aber ich halte mich zurück. Caro redet nicht über Eva, das hat Karin gesagt. Es wäre unfair von mir, sie dazu zu zwingen. Aber ich will wissen, ob sie wirklich wollte, dass ich es so erfahre, also gehe ich einen Schritt weiter. „Danke für dein Vertrauen“, sage ich. Das kann man auch auf den Lieferauftrag beziehen. „Du hast es dir verdient“, erwidert sie. „Du hast gestern ziemlich schnell geschaltet. Ohne deine Hilfe wären wir vielleicht nicht heil da raus gekommen. Und du hast Scherox vor weiterem Schaden bewahrt.“ Sie lacht leise. „Außerdem hab ich doch schon gesagt: Das Leben ist zu kurz, um auf etwas zu warten.“ Ich schlucke. Caros Finger zittern, als sie die Blumen bindet. Sie versucht es zu verstecken, indem sie nach der Kaugummipackung tastet und sich ein neues in den Mund schiebt, aber sie lässt es fallen und es landet auf der Werkbank neben den Blumen. Ich zögere, dann umarme ich sie von hinten. Sie versteift sich, aber dann löst sich ihre Anspannung und ich kann spüren, wie ihre Atmung ruhiger wird. Als ich sie etwas später loslasse und anschaue erwarte ich, dass sie weint, aber ihre Augen sind trocken, so wie immer. „Zurück an die Arbeit“, sagt sie mit heiserer Stimme und ich nicke, dann verschwinde ich aus ihrer Werkstatt. Ich glaube, diese Seite von Caro kennen nur wenige. Und es macht mich plötzlich unglaublich glücklich, dass ich an dieser Caro teilhaben kann, auch wenn es eine traurige, verletzliche Caro ist.   Eine Stunde später verabschieden Caro und ich uns von Linda, die den Laden für den Rest des Tages übernimmt und machen uns auf in Richtung Nationalpark, wo das Käferturnier stattfindet. Ich habe meine Inliner angezogen und mein Handy eingesteckt. Ich will nicht noch mal eine einmalige Situation auf diese Weise verpassen. Während wir über den gepflasterten Weg gehen beziehungsweise rollen, erklärt Caro mir die Regeln. „Jeder Teilnehmer erhält zwanzig Parkbälle und muss alle seine Pokémon bis auf ein einziges an einen der Wärter übergeben. Dann haben alle Teilnehmer zwanzig Minuten Zeit, um ein möglichst starkes und seltenes Käferpokémon innerhalb des Parks zu fangen. Man darf nur das zuletzt gefangene behalten und zur Bewertung übergeben. Die Juroren analysieren die Pokémon dann auf ihre Werte und der Gewinner ist der mit den meisten Punkten.“ „Und warum fängst du dir nicht einfach woanders ein Käferpokémon? Du musst ja nicht unbedingt an einem Wettbewerb teilnehmen.“ „Speziell für die Turniere lassen sie hier seltene Käferpokémon ins Gras. Sie werden nach dem Wettbewerb wieder eingesammelt. Deshalb findest du hier die besten Käferpokémon der Umgebung. Schlitzer habe ich hier gefangen, als er noch ein Sichlor war.“ „Ah“, sage ich. Dann kommt der Nationalpark in Sicht. Von Wald umsäumt ist der runde Park wirklich schön angelegt. In der Mitte plätschert eine riesige Fontäne, die die Luft ein wenig abkühlt und kreisförmig um den Brunnen sind zwei Wiesen angelegt, das Gras in jeder so hoch, das es einem ausgewachsenen Menschen bis zu den Hüften geht. Weil die umrundende Wiese nicht durchgängig ist, sondern links und rechts einen waagerechten Durchgang freilässt, sieht das Ganze von oben wie ein großer Pokéball aus. Nach rechts führt ein kleines Durchgangshäuschen auf die nächste Route. „Ich werde mich jetzt registrieren. Willst du auch mitmachen?“, fragt Caro, aber ich schüttele den Kopf. „Mach´s dir hier irgendwo bequem, ich bin gleich wieder da.“ Ich gehe zu der Fontäne und setze mich auf den Rand, dann lasse ich Sku raus. Sie blinzelt in das helle Sonnenlicht, dann springt sie wenig elegant zu mir auf den Brunnen und legt sich dort hin. Sie schließt sofort die Augen und ich seufze. Zehn Minuten später kommt Caro wieder. Sie hat eine Stofftüte in der Hand mit nummerierten Taschen für die Parkbälle. Scherox´ Pokéball liegt locker in ihrer anderen Hand. Sie ist nicht die einzige Teilnehmerin, wie es scheint. Hinter ihr laufen vier weitere aufgeregte Trainer, die meisten mit Fangnetzen bewaffnet und kaum älter als ich. Caro ist in hervorragender Gesellschaft und als sie mich mit leidendem Gesichtsausdruck ansieht, kann ich nicht mehr und pruste los. „Ich werde heute das coolste Pokémon aller Zeiten fangen!“, ruft das einzige Mädchen der Gruppe mit zwei roten Zöpfen und einer Sommersprossen übersäten Stupsnase. „Niemals!“, sagt einer der Jungs und stemmt die Hände in die Hüften. „Ich werde das beste Pokémon aller Zeiten fangen. „Quatsch“, sagt der nächste und stülpt seinem Freund sein Käfernetz über den Kopf, woraufhin dieser erschrocken quietscht. Die anderen drei halten sich die Bäuche vor Lachen. Caro kommt zu mir rüber und streicht Sku über den Kopf. Sie öffnet nur ein Auge, dann schließt sie es wieder und lässt Caro gewähren. „Sie ist eher der faule, verfressene Typ, oder?“, fragt Caro und ein seltenes Schmunzeln stiehlt sich in ihre Mundwinkel. „Wer, Sku? Neeeeein“, sage ich langgezogen und lache. Sku hebt den Kopf und schaut mich beleidigt an. „Ich hab dich trotzdem lieb“, beruhige ich sie und strecke ihr die Zunge raus. Sie verdreht die Augen, dann bettet sie ihren Kopf wieder auf ihre Vorderpfoten und, um zu zeigen, dass ich sie nicht im geringsten interessiere, legt sie ihren Schweif dekorativ über ihren Kopf. Dann erscheint ein Wärter. Er ruft die Turnierteilnehmer zu sich und Caro zwinkert mir zu, dann bauscht sie ihr blaues Haar auf und folgt den Kindern zu dem jungen Mann, der ein Klemmbrett in den Händen hält. Der Wärter redet kurz mit ihnen, dann schwärmen die fünf aus und verschwinden im hohen Gras. Die Geräusche von Kämpfen dringen an meine Ohren, aber ich bleibe, wo ich bin. Ich bin nicht sicher, ob Nicht-Teilnehmer während des Turniers überhaupt das hohe Gras betreten dürfen. Wegen der Hitze ziehe ich meine Inliner aus und stelle sie neben mich auf den Boden. Dann hole ich mein Handy aus meiner Gürteltasche und fotografiere Sku. Zufrieden mit dem Bild lege ich das Handy neben mich auf den Fontänenrand und suche nach Caros blauem Haar. Sie ist weit weg, ihr Scherox ein grellroter Signalposten im grünen Gras. Ich greife nach meinem Handy, um den Kontrast einzufangen – und greife ins Leere. Verwirrt drehe ich mich um und schaue auf den Fontänenrand. Mein Handy ist nicht mehr da. Ich stehe auf und schaue mich um. Kein Trainer weit und breit, alle sind mit dem Turnier beschäftigt. Dann höre ich ein Geräusch. Ich schaue nach unten. Direkt neben mir steht ein kleines Habitak, mit meinem Handy im Schnabel. Als es sieht, dass es entdeckt worden ist, hüpft es ein paar Mal wild auf und ab, dann rennt es davon. „Hey! HEY!“, schreie ich, dann renne ich los und dem Habitak hinterher. Ich habe keine Chance. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)