Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 7: Sie gehört mir (Mit dreißig ist man quasi tot) --------------------------------------------------------- Caro ist nicht die gesprächigste Person unter der Sonne, trotzdem fangen wir immer wieder kleinere Gesprächsfetzen an. „Woher kommst du?“, frage ich sie, um eine unserer vielen Pausen aufzubrechen. Sie schaut weiterhin aus dem Fenster, ihr Kinn auf ihre delikate Hand gestützt. „Dukatia City.“ „Dann hast du es ja nicht weit.“ „Nein.“ Sie schiebt sich ein viertes Kaugummi in den Mund. „Was hast du in Kanto gemacht?“, frage ich. „Meinen Bruder besucht.“ Wir schweigen wieder. Als ich zu der nächsten Frage ansetzen will, dreht sie sich zu mir um und legt den Kopf ein wenig schief. „Niemand zwingt dich, Unterhaltung zu betreiben“, sagt sie und macht eine Kaugummiblase, bevor sie weiterspricht. „Ich persönlich komme gut mit Gesprächspausen klar.“ Ich zucke die Achseln und wir wenden uns wieder dem Fenster zu. Einige Minuten später ist sie es, die das Schweigen bricht. „Wohin willst du jetzt, nachdem du erfolgreich weg gegangen bist?“ „Keine Ahnung.“ Ich falte meine Hände hinter meinem Kopf und starre an die Decke. „Vielleicht bleibe ich erst mal ein bisschen in Dukatia City.“ Caro nickt. „Wir sind bald da“, sagt sie dann und ich schaue auf die Zuganzeige. Tatsächlich. Unsere Ankunftszeit wird auf 9:27 geschätzt. „Warst du schon mal in Dukatia?“, fragt sie mich und ich schüttele den Kopf. „Weißt du schon, wo du schlafen willst?“ „Im Pokécenter, denke ich.“ Sie prustet los. „Billig, wenn du mal für eine Nacht `ne Absteige suchst, aber nicht unbedingt eine Dauerlösung.“ „Notfalls übernachte ich draußen.“ „Uhuh.“ Sie wirft mir einen abschätzigen Blick zu. „Hast du ein Zelt?“ Ich schüttele den Kopf. „Einen Schlafsack? Irgendwas?“ „Nein.“ „Okay, wie viel Geld hast du?“ „Um die 5000 PD.“ „Tja, fuck würde ich sagen. Wie alt bist du, Abby?“ „Fünfzehn.“ „Okay, damit kann ich arbeiten.“ Sie trommelt mit ihren Fingern gegen ihren Oberschenkel. „Ich mache dir ein Angebot. Du bekommst ein Zimmer, in dem du kostenfrei übernachten kannst und im Gegenzug übernimmst du ein paar Aufgaben in meinem Laden, Aufträge ausliefern und so weiter.“ „Was für Aufträge?“, frage ich, neugierig geworden. „Nichts anspruchsvolles, keine Sorge. Außerdem hast du kein Recht, wählerisch zu sein.“ Ein paar Minuten später fährt der Magnetzug in Dukatia City ein. Caro und ich checken aus, dann verlassen wir den Bahnhof. Ich wende mich nach rechts und werde von dem Anblick, der sich mir bietet, förmlich erschlagen. Die Straße ist gesäumt mit Laternen und mit gelbem Backstein gepflastert. Gleich neben dem Bahnhof steht ein Radioturm und meine Finger beginnen schon bei dem Gedanken an all die Reporter, Journalisten und Moderatoren zu kribbeln. Das Ende der Straße weitet sich in einen großen Platz aus, dessen südlicher Teil von zwei Fontänen eingenommen wird, während im Norden ein verglastes, mehrstöckiges Gebäude thront, größer als der Radioturm. „Was ist das?“, frage ich und deute auf das Hochhaus. „Das Global Terminal, wo sie Pokémontausche, virtuelle Kämpfe und internationale Angelegenheiten abwickeln. Nicht so mein Terrain, aber wen´s interessiert...“ „Es ist riesig.“ „Gut erkannt. Komm.“ Ich bin so überwältigt, dass Caro mich mitziehen muss, um mich von dem Anblick loszureißen. Wir folgen der Straße einige Minuten in die entgegengesetzte Richtung, bis wir eine Kreuzung erreichen. „Also“, sagt Caro, spuckt ihre Kaugummis aus und zündet sich eine Zigarette an. Dann nimmt sie einen tiefen Zug und  atmet dichten, grauen Qualm durch ihre Nase aus. „Fuuuuck...“, flüstert sie und schließt genießerisch die Augen. Dann nimmt sie noch einen Zug. „Das hab ich gebraucht.“ „Also?“, hake ich nach. „Wenn du hier rechts gehst, kommst du zum Pokécenter, dem Kaufhaus und außerhalb der Stadt zu einer Pokémonpension“, fährt sie fort, ohne auf meine Unterbrechung einzugehen. „Hier links geht´s in Richtung Arena, falls du daran interessiert bist. Außerdem ist da der Blumenladen und wenn du durch das grüne Wachthäusschen läufst und dich weiter nördlich hältst, kommst du zum Nationalpark, wo sie das Käferturnier abhalten. Und gerade aus und dann rechts ist ein Fahrradladen.“ Ich nicke. Ich habe die Hälfte schon wieder vergessen. „Oh, und links ist auch noch ein Wahrsager, der die Namen deiner Pokémon bewertet und ihre Zukunft vorhersagt. Glaube ich nicht dran, aber was soll´s.“ Caro hält ihre halb aufgerauchte Zigarette zwischen ihren Lippen eingeklemmt, während sie die Orte an ihren Finger abzählt. „Und natürlich die Spielhalle, aber da du noch nicht volljährig bist, kann dir das eigentlich egal sein. Kennst du übrigens Bill?“ „Den Erfinder des Pokémon-Lagerungssystems? Klar!“, sage ich empört. Wer kennt ihn nicht? „Warum fragst du?“ Ein Ausdruck huscht über ihr Gesicht, den ich nicht ganz deuten kann, dann verschwindet er wieder. „Nur so“, Sie zieht noch einmal an ihrer Zigarette, dann schnippt sie den übrig gebliebenen Stummel weg und wendet sich nach links, während sie ihre nächste Zigarette anzündet. Sie hat eines dieser Aufklappfeuerzeuge, silbern, mit etwas darauf eingraviert. Ich kann es nicht erkennen. Wir laufen unter den Gleisen durch, die in einigen Metern Höhe über unseren Köpfen verlaufen, dann biegen wir einige Minuten später nach rechts in eine schmalere Straße ein. Neben der Arena steht eine Gruppe Hochhäuser, mit einigen kleinen Wohnungen davor. Der Blumenladen ist zwischen ihnen und der Arena eingequetscht und sieht höher aus als er breit ist. „Wo gehen wir hin?“, frage ich und Caro wirft mir einen komischen Blick zu. „Zum Blumenladen. `Nen anderen Laden gibt’s hier in der Ecke nicht, oder?“ „Warte.“ Ich bleibe stehen und starre sie sprachlos an. „Was?“ „Du arbeitest in einem Blumenladen?“, frage ich perplex. „Mir gehört der Blumenladen, Honey.“ Caro formt einen Rauchring mit ihren Lippen, der vor ihr in die Luft steigt und sich langsam auflöst. „Warum bist du so überrascht?“ „Tut mir Leid, du warst nur… Ich dachte nicht, dass du in einem Blumenladen arbeitest.“ Sie sieht mich mit hoch gezogenen Augenbrauen an, dann schwenkt sie ihren Kopf in Richtung Blumengeschäft. „Kommst du jetzt? Heute ist geschlossen, aber ich will morgen alles auf Vordermann gebracht haben, bevor die Kundschaft aufkreuzt.“ Nachdem Caro den kleinen Laden aufgeschlossen hat, treten wir ein. Ich bin positiv überrascht. Bunte Blumenkästen und vorgefertigte Sträuße füllen die Regale auf der linken Seite bis an die Decke aus, auf einem prunusgrünen Tisch in der Mitte des Ladens liegen einige Broschüren über Dünger, Pflanzentypen und Flyer über ein Käferturnier im Nationalpark. Rechts stehen Vasen mit einzelnen Blumensorten, die Kunden selbst zusammenstellen können. An der hinteren Wand stehen Glasschränke, die Saatgut oder ähnliches beinhalten, rechts davon ist eine Tür. Während Caro durch die Tür verschwindet und mit einer großen Gießkanne zurückkehrt, um die Pflanzen zu gießen, lese ich den Flyer aufmerksam durch. Anscheinend findet das Käferturnier jeden Dienstag-, Donnerstag- und Samstagnachmittag um 16:00 Uhr im Nationalpark statt. Für den Gewinner gibt es außergewöhnliche Preise. Aus den Augenwinkeln nehme ich ein rotes Licht war und drehe mich um. Neben Caro steht ein rot gepanzertes Käferpokémon. „Schlitzer, kannst du mir den Besenbringen?“, fragt Caro und das Scherox verschwindet mit gebückten Bewegungen in dem kleinen Hinterkämmerchen, dann kehrt es mit einem Besen und einem Handfeger in den beiden überdimensionalen Scheren zurück. „Gib sie Abby da drüben.“ Scherox knurrt und kommt auf mich zu, seine Flügel in ständiger Bewegung. Es ist fast einen Kopf größer als ich. „Danke“, sage ich, als er mir den Besen und die Schaufel in die Hände drückt, dann mache ich mich an die Arbeit, lose Blütenblätter und Erde aufzukehren. „Du bist Pokémontrainerin?“, frage ich sie, während ich mich vom hinteren Teil des Ladens nach vorne durcharbeite. Caro lehnt inzwischen an dem Flyertisch und raucht ihre dritte Zigarette. Der Raum füllt sich mit dem süßlichen Qualm und Scherox geht zu einem der Fenster, um es weit zu öffnen. Der Blick auf einen Garten wird frei. „Nicht wirklich“, erwidert sie und formt einen weiteren Rauchring mit ihren Lippen. „Schlitzer kommt gut genug mit den meisten Pokémon klar, aber abgesehen davon trainiere ich ihn kaum noch. Er hilft mir im Laden und leistet mir Gesellschaft. Darin ist er wesentlich besser als ein Großteil der menschlichen Rasse. Hast du den Leuten mal zugehört, wenn sie reden? Alles Schwachsinn.“ „Hast du keine menschlichen Freunde?“, frage ich, während ich den Dreckhaufen auf die Schaufel kehre und in den Mülleimer unter dem Tisch werfe. „Ein oder zwei. Linda wirst du morgen kennen lernen, sie arbeitet hier. Meinen Bruder vielleicht noch, aber eigentlich sehen wir uns kaum.“ „Was macht dein Bruder in Kanto?“, hake ich nach, weil ich mich daran erinnere, was sie im Zug erzählt hat. „Er ist Pokémontrainer. Professionell. Orden und all das.“ „Mein bester Freund ist auch Pokémontrainer“, sage ich. „Er ist einer der Favoriten für die Championship nächstes Jahr.“ „Kein Scheiß?“ Sie wirft mir ihr blendend weißes Lächeln entgegen. „Ich kenn mich da nicht so aus. Hey, Schlitzer.“ Scherox dreht sich zu ihr um und klappert mit seinen Scherenhänden. „Mähst du bitte den Rasen?“, fragt sie und Scherox knurrt, dann verschwindet er in der kleinen Hintertür und taucht wenige Sekunden später in dem Garten vor dem Fenster auf. Ich beobachte interessiert, wie Scherox seine Zornklinge benutzt, um den Rasen in Rekordzeit zu mähen. Caro wirft ihre aufgerauchte Kippe in den Mülleimer, dann klopft sie mir auf den Rücken. „Ich zeig dir die Wohnung.“ Ich folge ihr durch die hintere Tür und staune nicht schlecht, als sich das von mir erwartete Kämmerchen zu einem scharf nach links führenden Flur entpuppt, an dessen linke Wand sich eine Treppe nach oben anschmiegt. Am Ende des Flurs führt eine Tür in den Garten, eine zweite Tür zweigt nach rechts in einen weiteren Raum ab. Wir haben die knarzende Holztreppe schon zur Hälfte hinter uns, als Caro mir den letzten unbekannten Raum vorstellt. „Das ist meine Werkstatt“, sagt sie und deutet vage in die Richtung. Ich muss mich runter beugen, um die Tür mit der Aufschrift PRIVAT – FUCK OFF ein letztes Mal zu sehen. „Da entwerfe ich neue Blumensträuße, verpacke Geschenkartikel und so weiter.“ Sie bleibt stehen. „Da sind wir.“ Die Treppe endet vor einer Holztür mit Milchglaseinlagen. Caro schließt auf und wir treten in den kleinen geraden Flur, der dahinter liegt. Nach links ist der Flur offen, rechts wird er von einer Tür abgeschnitten. Caro führt mich nach links. „Hier links ist das Bad“, sagt sie und deutet zu der weißen Tür, die gleich neben uns auftaucht. „Der Rest ist Wohn-Essbereich plus Küche.“ Wir folgen dem L-förmigen Raum nach links. Er ist klein, wirkt aber trotzdem nicht eng, was mich überrascht. Die Küchenzeile ist an der gegenüberliegenden Wand angebracht, ein grünblau kariertes Sofa ziert die Wand rechts von uns und ein kleiner Tisch mit drei Stühlen steht an der letzten freien Wand. Die Wohnung windet sich mehr oder weniger um das Bad herum und umschließt es. Die letzte Tür führt in Caros Schlafzimmer, ein heller Raum mit einem breiten Bett auf der einen und einem Schrank auf der anderen Seite. Die Wände sind wie schon im Wohnzimmer graubraun gestrichen und der Boden sieht wie ausgeblichenes Holz aus, dessen Farbe schon fast an Weiß grenzt. „Dein Zimmer ist von der Treppe aus im rechten Flügel. Es ist klein, aber in dem Bett lässt es sich ganz gut schlafen.“ In dem Moment knurrt mein Magen und Caro grinst. „Ich koch uns in der Zwischenzeit etwas.“ Ich nicke und folge ihr aus dem Schlafzimmer heraus, dann mache ich mich zu meinem Zimmer auf, während sie Eier, Milch und Käse aus dem Kühlschrank holt. Als ich in den Flur zurückkehre, kommt mir Scherox entgegen, das eindeutig zu groß für diese Wohnung ist. Ich bin kaum größer als 1,65m und obwohl Caro größer ist, überragt Scherox sie trotzdem noch. Es zischt mich an und das Geräusch klingt wie eine Mischung aus metallischem Summen und Skus Fauchen, wenn sie wütend ist. Ich trete respektvoll zur Seite und lasse ihn durch, dann atme ich erleichtert aus. Ich glaube, Caros Scherox mag mich nicht. Bevor ich weitergehe, drehe ich mich ein letztes Mal zu ihr um. Scherox schmiegt sich von hinten an Caro an und sie krault ihn im Nacken, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Sie wirken fast wie ein Liebespaar. Mein Zimmer ist ähnlich schlicht gehalten wie Caros und liegt direkt neben der Rumpelkammer. Es gibt einen kleinen Schrank, einen Schreibtisch ohne Stuhl und ein unbezogenes Bett. Ich werfe einen Blick in den Schiebeschrank und entdecke Bettwäsche, weiß mit schwarzem Blumenmuster. Komische Kombination, aber dann wiederum passt sie sehr gut zu Caro und ihrem Blumenladen, also hole ich sie heraus und beziehe mein Bett. Als ich fertig bin, räume ich meinen Rucksack aus, sodass meine Kleider und die unhandlichen Schuhe und Inliner im Schrank verschwinden, dann gehe ich zurück in die Küche. Caro deutet wortlos auf einen der Schränke und ich hole zwei Teller, Besteck und Gläser heraus und decke den Tisch. Scherox sitzt auf dem Sofa und gibt ein keckerndes Geräusch von sich, als würde er sich über mich lustig machen. Dann, als ich die beiden Teller auf den Tisch gestellt habe, bricht sein Lachen plötzlich ab und er springt blitzschnell auf. Er drückt mich zur Seite, bevor er einen weiteren Teller aus dem Schrank holt und ihn, ein wenig mühevoll, zwischen seinen Scheren balanciert und auf den Tisch stellt. „Isst Scherox mit uns am Tisch?“, frage ich und Caro wirft mir einen ungläubigen Blick zu. „Wo soll er denn sonst essen?“ Guter Punkt. Ich setze mich zu Scherox an den Tisch, der mir tödliche Blicke zuwirft und fühle mich alles andere als wohl, aber kaum hat Caro Käsebrote und Rührei auf den Tisch gestellt, hellt sich sein Gesicht auf. Caro tut ihm zuerst auf, bis sein Teller mit Ei voll getürmt ist, dann mir. Wir schweigen, während wir essen, nur Scherox gibt schmatzende Laute von sich, während er das Ei von seinem Teller frisst. Besteck benutzt er verständlicher Weise nicht. Als wir fertig gegessen haben, räumt Caro den Tisch ab und Scherox verzieht sich wieder auf das Sofa. Caro setzt sich zu mir und zündet sich eine neue Zigarette an, dann schaut sie mich an. Ihre Augen sind eisblau. „Also, was hast du heute noch vor?“, fragt sie. „Ich wollte mich ein bisschen in der Stadt umsehen, dachte ich“, antworte ich und nehme einen Schluck von meinem Pirsifbeersaft. Er ist zuckersüß und die kleinen Fruchtstückchen zergehen mir auf der Zunge. „Ich habe hier noch ein bisschen zu tun, aber wir können heute Abend etwas unternehmen, wenn du Lust hast“, schlägt sie vor. „Klar! Hast du was Bestimmtes vor?“ „Kommt drauf an.“ Sie wirft einen Blick auf meinen Gürtel. „Willst du deinem Skuntank nichts zu essen geben?“, fragt sie dann. „Oh, ich dachte, ich finde ihr gleich in der Stadt etwas, du kannst nicht zwei von uns durchfüttern und…“ Ich stocke und sie grinst mich mit makellosen Zähnen an. „Woher weißt du, dass ich ein Skuntank habe?“ „Honey. Im Gegensatz zu anderen beobachte ich, was um mich herum passiert. Wenn ein kleines Mädchen jemandem sein Ticket klaut, während ihr Pokémon für eine nicht ganz subtile Ablenkung sorgt, entgeht mir das nicht.“ Ich schaue sie mit offenem Mund an und sie lacht heiser. Schlitzer wirft mir einen zornigen Blick zu, als könne er den Gedanken nicht ertragen, dass jemand anderes als er seine Trainerin zum Lachen bringt. „Keine Sorge, wenn ich dich anzeigen wollte, hätte ich das schon längst gemacht“, beruhigt sie mich. „Ich fand es mutig. Du bist nicht mal erwischt worden, obwohl du dich ziemlich ungeschickt angestellt hast.“ „Und du kannst es so viel besser?“, entgegne ich, ein wenig gereizt. Sie zieht eine Trainer-ID aus ihrer Tasche. Es ist meine. „Wann hast du…“ „Als du die Teller aus dem Regal geholt hast. Scherox hat sich köstlich amüsiert.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Okay, du kannst besser stehlen als ich“, gebe ich zu und nehme ihr meine ID ab. Sie bläst mir einen Mund voll Rauch ins Gesicht. „Gut erkannt.“ Sie lehnt sich zurück und lässt beide Arme über der Stuhllehne hängen. „Also, lässt du sie nun essen oder nicht?“ Ich nehme Skus Pokéball und lasse sie raus. Überrascht dreht sie den Kopf hin und her, dann schaut sie mich fragend an. „Sku, das ist Caroline“, stelle ich die Beiden vor. „Sie lässt uns bei sich wohnen, während wir in Dukatia City sind. Und das ist ihr Scherox, Schlitzer.“ Sku schaut Caro skeptisch an, dann landet ihr Blick auf Scherox und ihr Fell sträubt sich, bis es seine doppelte Größe erreicht hat. Caro betrachtet sie aufmerksam, dann schaufelt sie eine große Portion Rührei auf Scherox´ leeren Teller und stellt ihn vor Sku auf den Boden. „Für dich, Große“, sagt sie und lächelt Sku geradezu freundlich an. Während Sku sich mit gewohntem Elan über ihr Futter hermacht, sieht Caro mich an. „Du hast dich gut um sie gekümmert. Sie liebt dich sehr.“ Ich werde rot und schaue zu Sku, die schon die Hälfte des Rühreis aufgefressen hat. Es stimmt, denke ich. Sku liebt mich. Und ich liebe sie auch. Ich kann mir gar nicht vorstellen, mehrere Pokémon zu haben, die ich alle auf diese Weise liebe. Ist das überhaupt möglich? Aber dann denke ich an Raphael und an seinen Abschied von Murphy, der gar kein Abschied war. Sie waren gerade Mal eine Woche zusammen und trotzdem waren sie schon durch ein tiefes Band verbunden. Raphael weinte damals. Ich bezweifle nicht, dass er Murphy liebt, aber liebt er ihn so sehr wie Penny? „Du glaubst nicht, wie vielen schlechten Trainern ich schon begegnet bin“, fährt Caro fort. „Irgendwelche Arschlöcher, die ihren Pokémon alles abverlangen und ihnen die Schuld geben, wenn ihre Trainingsmethoden scheiße sind oder sie einfach keine Ahnung von Pokémonkämpfen haben.“ Sie drückt ihre Zigarette in einem schwarzen Aschenbecher aus und stützt ihr Kinn auf eine Hand. „Merk dir eins, Abby“, sagt sie und schaut mich ernst an. „Die meisten Menschen sind dumm, böse oder beides. Wenn du jemanden triffst, der keins von den dreien ist, dann zögere nicht. Rede mit ihm. Du wirst nicht viele von diesen Leuten in deinem Leben treffen. Jedenfalls hatte ich bisher nicht viel Glück.“ „Wie alt bist du eigentlich?“, frage ich sie. Sie wirkt jung, aber die Art wie sie redet… „Zwanzig. Traurig, oder? Ab jetzt geht es nur noch abwärts.“ „Zwanzig ist doch noch jung!“, erwidere ich entrüstet, aber sie winkt ab. „Das sagst du, weil du jung bist. Mit achtzehn ist man immerhin noch jugendlich, aber sobald du die zwei vorne stehen hast, bist du erwachsen und es gibt nichts, was du daran ändern kannst. Man wird älter und älter und mit dreißig ist man quasi tot.“ „Wow. Das ist die negativste Einstellung, die ich je gehört habe“, sage ich schockiert und Caro zuckt die Schultern. „Ich sag´s nur wie es ist.“ „Würdest du dich besser fühlen, wenn ich dir sage, dass ich dich auf maximal siebzehn geschätzt hätte?“, frage ich und grinse sie an. „Kaum. Aber vielleicht reicht es, um meine heutige Depression im Zaum zu halten.“ „Da bin ich ja erleichtert.“ „Solltest du“, erwidert sie kühl, aber mit einem Glitzern in ihren Augen. „Nur Schlitzer kann mich dann noch ertragen.“ Wie auf Kommando erhebt Scherox sich und kommt zu uns rüber. Dann bückt er sich und umarmt Caro von hinten. Sie hebt ihren Arm und krault ihn wieder am Nacken, so wie schon vorher beim Kochen. „Ich verrate dir etwas.“ fährt sie fort. „Menschen sind scheiße. Frauen sind scheiße. Männer sind scheiße. Gott, Männer, lass mich nicht von ihnen anfangen. Es gibt nur einen Mann, den ich an meiner Seite ertrage, und das ist Schlitzer hier.“ Er vergräbt sein metallisches Gesicht in ihrer Halsbeuge und für eine Trainer-Pokémon Beziehung kommt mir der Moment irgendwie zu innig vor. „Wie viele Männer hattest du schon?“ frage ich und als Caro die Augenbrauen hochzieht, werde ich knallrot. „Ich hatte drei feste Freunde. Keinen länger als vier Wochen“, antwortet Caro schließlich. „Und sie waren alle unerträglich.“ Schlitzer hebt den Kopf und seine Augen funkeln mich an, als wolle er sagen, dass es nicht mehr lange dauert, bevor ich auch als unerträglich abgestempelt werde. Sku bemerkt seinen Blick, springt auf meinen Schoß und faucht Scherox giftig an. Ich unterdrücke ein Stöhnen bei dem plötzlichen Gewicht auf meinen Oberschenkeln und fahre mit der Hand über ihren aufgebauschten Schweif. „Ruhig“, flüstere ich. Dann, lauter, „Wo wollen wir uns heute Abend treffen?“ Caro krault weiter Scherox´ Kopf, während sie kurz überlegt. „Komm um 18 Uhr zum Haus des Wahrsagers. Ich habe in der Ecke noch einen Termin, den können wir dann zusammen abklappern.“ Ich schubse Sku von meinem Schoß und stehe auf, aber bevor ich gehen kann, hält sie mich am Handgelenk fest. „Nimm dir was Warmes mit“, sagt sie grinsend, dann lässt sie mich los. Geringfügig verwirrt gehe ich mit Sku in mein Zimmer und hole meine graue Hoodie und die Handschuhe aus dem Schrank und stecke sie zurück in meinen Rucksack. Dann verlassen wir Caros Haus.   Sku und ich verbringen den Mittag und Großteil des Nachmittags damit, staunend durch Dukatia City zu wandern. Die Straßen füllen sich langsam und ich stelle fest, dass Dukatia viel größer ist als Orania. Oder Saffronia. Wenn ich von einem Ende meiner Heimatstadt zum nächsten laufen wollte, dauerte das höchstens fünfzehn Minuten. In Dukatia bin ich über eine Stunde unterwegs. Als erstes besuche ich natürlich den Radioturm, doch zu meiner großen Enttäuschung sind Besuchertage nur am Wochenende, an Werktagen lassen sie nicht autorisierte Besucher nicht weiter als das Erdgeschoss. Als ich nach dem Grund frage, bedenkt mich die Sekretärin mit einem mitleidigen Lächeln. „Team Rocket hat sich hier vor vielen Jahren eingeschlichen und beinahe eine gefährliche Radiofrequenz über ganz Johto ausgesendet. Der Vorfall konnte nur dank Golds Hilfe abgewendet werden. Von Gold hast du gehört?“ Ich laufe rot an. Natürlich kenne ich Gold, mir ist nur entfallen, dass er Team Rocket genau hier zerschlagen hat. „Dann komme ich einfach am Wochenende wieder“, sage ich geknickt und verabschiede mich. Als nächstes nehmen Sku und ich uns das Global Terminal vor. Drei Stockwerke voller hochtechnischer Geräte, Tauschmaschinen und Menschen aus allen fünf Regionen. Ich unterhalte mich mit einigen der Angestellten, treffe den ein oder anderen Pokémontrainer und tausche mich kurz mit ihm aus, aber nach zwei Stunden tun mir die Füße vom vielen Treppensteigen weh und Sku und ich verlassen das Terminal wieder. So interessant es dort ist, so wenig hat man dort zu tun, wenn man nicht gerade einen Freund in einer anderen Region hat, mit dem man virtuell kämpfen oder Pokémon tauschen kann. Sku und ich setzen uns auf den Rand der äußeren Fontäne und schauen uns das Meer an, während ich meine nackten Füße in dem kühlen sprudelnden Wasser erfrische. Als nächstes nehmen wir uns die Arena vor. Sku und ich haben nicht vor, jetzt mit dem Orden-Sammeln anzufangen, aber wer weiß, vielleicht treffen wir ja ein paar Mitglieder von PCN. Falls ich erkannt werde und ins Fernsehen komme, werde ich auf jeden Fall eine persönliche Nachricht an Raphael weitergeben, damit der Idiot sich mal meldet. Vielleicht sollten wir auch noch einen Zwischenstopp im Pokécenter machen, nur für den Fall, dass er mir in den letzten vierundzwanzig Stunden eine E-Mail geschrieben hat. Als wir die Arena erreichen, ist außer den Vorkämpferinnen niemand da. Kein Herausforderer und kein PCN. Mist. Als ich allerdings über eine Treppe auf die erhöhten Emporen steige, kann ich sehen, dass diese in Form eines Piepis angeordnet sind. Das ist immerhin ziemlich cool. Ich mache ein Foto mit meinem Handy und halte Sku davon ab, alles voll zu stinken. Sie mag Normaltypen nicht. Mit Nancy hat sie sich nur verstanden, weil die beiden sich in ihrer Faulheit verbündet haben. Nachdem wir die Arena verlassen haben, kaut Sku an meinem Bein und ich rufe sie zurück. Es ist 14 Uhr, die paar Stunden draußen in der Hitze haben sie bereits ziemlich ausgelaugt. Und es ist wirklich heiß. Ich weiß nicht, warum ich etwas Warmes mitnehmen sollte, aber Caro scheint wie immer mehr zu wissen als sie mir sagt, also vertraue ich ihr einfach. Mein Abstecher zum Pokécenter wird länger als geplant, denn die Klimaanlage funktioniert einwandfrei und ich sitze mindestens dreißig Minuten einfach nur unter dem Ventilator und lasse mich mit kalter Luft belüften. Als ich mich wieder halbwegs menschlich fühle und mein ganzer Schweiß verdunstet ist, logge ich mich über den Computer auf mein offizielles Profil ein. Und, Überraschung, gleich fünf  Nachrichten! Ist jemand gestorben? Der erste Absender ist Mama. Natürlich. Ihre Mail ist mindestens zwei Seiten lang, aber ich überfliege sie nur, weil ich gerade nicht in der Stimmung bin, meine neugewonnene Freiheit durch ihre Beschuldigungen zu verunreinigen. Sie ist enttäuscht, sie ist traurig, sie wird es mir nie verzeihen, sie hofft, es geht mir gut, sie hofft, ich sehe bald ein, was für eine dumme Idee das war und komme wieder heim. Nichts, was ich nicht erwartet hätte. Ich schließe das Fenster und scrolle ein wenig runter. Die zweite ist von Tarik. Er schreibt: Hätte es mir ja denken können. Hat Raphael dich dazu angestiftet? Ne, ich glaub nicht. So bist du halt. Halt die Ohren steif, Abs, mach was aus dir. Aber komm demnächst mal zu Besuch, Mama stirbt sonst noch an akuten schlechten Vorahnungen. Seit du weg bist (also heute Morgen) kriegt sie ständig diese Gefühle. „Ich weiß, dass etwas passiert ist, bestimmt stirbt sie jetzt gerade in diesem Moment“… Du kennst sie. Grüß Skunk von mir. Tarik Die danach ist von Agnes. Sie schreibt nur: Wurde aber auch Zeit! Erobere die Welt, du schaffst alles, was du willst, Abby, ich zähle auf dich. Wehe, du tauchst nicht demnächst in den Nachrichten auf. Kümmere dich gut um Sku! Alles Liebe, Agnes Ich muss grinsen, als ich ihre E-Mail lese. Agnes versteht mich. Ich schreibe ihr eine kurze Nachricht, wo ich bin, dass es mir gut geht und dass sie Mama nichts sagen soll, egal, wie sehr die auf die Mitleidsdrüse drückt. Bei Agnes kann man sich darauf verlassen, dass sie ein Geheimnis für sich behält. Sie ist schon toll, meine Tante. Die nächste ist von Papa. Hallo Kleines, schreibt er. Natalie ist ziemlich durch den Wind, aber sie wird sich schon wieder beruhigen. Wo bist du gerade? Nein, sag es mir lieber nicht, ich könnte es ihr vermutlich nicht verheimlichen. Ich hoffe, du hast deine erste Nacht weg von zu Hause gut überstanden und bist nicht entführt worden. Das wäre nicht so gut, aber ich vertraue mal auf Skunka, sie wird schon alle Kriminellen von meiner lieben Tochter wegstinken. Ich will dich nicht groß aufhalten, genieß die Zeit von zu Hause weg, lerne viele neue Menschen kennen und sammle wundervolle Erfahrungen. Ich liebe dich, Papa Bei seiner E-Mail kommen mir tatsächlich die Tränen und ich lasse ein oder zwei über meine Wangen kullern, während ich den Text anstarre, dann entdecke ich einen kleinen Zusatz. ps. Check deine Items. Du hattest schließlich Geburtstag. HAPPY BIRTHDAY Ich wische die Tränen weg und öffne mein Itemlager. Es ist leer, bis auf ein paar Tränke, die ich dort eingelagert habe. Und Papas Geschenk natürlich. Giftschleim. Ich blinzele ein paar Mal, dann suche ich es in der Item-Datenbank des Computers. Erst dann geht mir ein Licht auf. Es stellt im Kampf nach jeder Aktion des Trägerpokémons 1/16 seiner Energie wieder her, sofern der Träger ein Giftpokémon ist. Kluger Papa. Er hat bestimmt Agnes gefragt. Ich drucke den Beleg aus und stecke ihn mir in die Tasche. Wenn ich damit in einen Supermarkt oder ein Kaufhaus gehe, wird das Item bestellt und ich kann es in ein paar Tagen abholen. Ich will mich schon wieder abmelden, da fällt mir die letzte E-Mail ein. Vielleicht hat Maya ja auch noch etwas geschrieben. Wer weiß, wem Mama schon von meinem Auszug erzählt hat. Wahrscheinlich weiß es schon die halbe Stadt. Und morgen hängen dann überall in den fünf Regionen Steckbriefe mit meinem Foto. Mir läuft es kalt über den Rücken. Absender: Raphael Berni. Betreff: Wo bist du? :D Mein Herz macht einen Satz. Hey Abby. Tut mir Leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, aber die Presse rennt mir langsam die Türen ein. Alle wollen Interviews und Kommentare, mein Postfach läuft mit Einladungen zu diesem Event und jener Fernsehsendung über. Wie soll man da bitte in Ruhe trainieren? Du verstehst daher vielleicht, dass ich keine Lust mehr auf E-Mails hatte. Sorry :/ Jedenfalls bin ich heute Morgen nach Orania City gekommen, um dir zum Geburtstag zu gratulieren und, Überraschung, du warst weg. Ich weiß, du hattest das irgendwann mal erwähnt, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass du mitten in der Nacht verschwindest. Jedenfalls musste ich mir eine Stunde lang deine Mutter anhören, weil sie sich bei jemandem über dich beschweren wollte. Naja, was soll´s. Immerhin wollte sie kein Interview ;) Mein Geschenk kriegst du aber nur persönlich. Also, hier ist der Plan. Keine Ahnung wo du bist, aber Mandy kann mich überall hin fliegen, also egal wohin, kein Problem. Vielleicht willst du auch erst mal ein bisschen alleine rumrennen, kann ich verstehen. Ich werde nächsten Monat nach Hoenn oder Sinnoh fliegen und da ein paar Wochen trainieren. Danach komme ich zurück nach Kanto, aber ich kann dich vorher noch besuchen. Sag mir nur, wo du dann bist und wir machen ein Treffen aus. Sei nicht böse Abby, du bist meine beste Freundin und ohne dich wäre ich nie so weit gekommen. Liebe Grüße von Penny und Murphy. Er trägt die Sonnenbrille seit zwei Jahren, Abby, er nimmt sie nie ab. NIE. Ich weiß nicht mal mehr, wie seine Augen aussehen… In diesem Sinne, hau rein, hab eine geile Zeit und wir sehen uns hoffentlich in knapp zwei Monaten. Grüß Sku von mir. Raphael Ich lese die Mail dreimal durch, dann schließe ich das Fenster, logge mich aus und verlasse das Pokécenter, ein breites Lächeln auf den Lippen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)