Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 4: Pokerface (Im Angesicht von PCN) ------------------------------------------- Die nächsten Tage verbringen Raphael und ich mit Training. Das heißt, er trainiert sein Rotomurf und ich sorge dafür, dass er es richtig macht. Ich bin vielleicht kein Ass-Trainer im eigentlichen Sinne, aber Agnes´ Vorlesungen haben auf mich abgefärbt und ich will schließlich, dass Raphael in seinem Trainerdasein noch sehr weit kommt. Raphael versteht meine Trainingsmethoden nicht, bei denen er vor allem gegen physisch starke oder sehr flinke Pokémon wie Rettan, Taubsi und Rattfratz kämpfen muss, deswegen erkläre ich ihm die Grundzüge an einem der heißesten Tage des Monats, als wir eine wohlverdiente Pause machen. Rotomurf, jetzt offiziell Murphy getauft, sitzt schmollend mit dem Rücken zu uns im Gras. Er hat Raphael nicht vergeben, dass der ihn aus seinem wundervollen Erdparadies herausgerissen hat. Ich habe schon vorgeschlagen, ihm eine Sonnenbrille aufzusetzen, was Raphael zutiefst amüsierst hat, aber wenn ich Murphy so anschaue, ist es vielleicht wirklich keine schlechte Idee. Ich beschließe, Papa demnächst zu fragen, ob es solche Items für Pokémon gibt. „Es gibt drei Dinge, die dein Pokémon stärker machen“, erkläre ich, während wir im Gras liegen und den Schatten eines hohen Baumes genießen. Wegen der Hitze habe ich meine Shorts wieder durch meinem schwarzen Bikini ersetzt. „Trainingserfahrung, Kampfeinsatz und genetische Veranlagung.“ „Huh.“ „Erfahrung erhält dein Pokémon in jedem Kampf, an dem es teilnimmt und gewinnt. Dadurch wird es stärker, was die Pokédexe in Level-Abständen messen. Und ab einem bestimmten Stärkelevel erlernen sie dann neue Attacken oder entwickeln sich.“ „So weit war ich auch schon“, sagt Raphael und ich gebe ihm das Zeichen, ruhig zu sein. „Das Potenzial deines Pokémon hängt von seiner angeborenen Stärke ab. Wenn zwei Pokémon genau gleich aufgezogen werden, wird das genetisch besser ausgestattete Pokémon stärker sein. Und zu guter Letzt: Einsatz. Das wird von vielen vergessen.“ „Und was ist es nun?“ „Wenn du Murphy gegen physisch starke Gegner kämpfen lässt, muss er sich selbst physisch mehr anstrengen, genauso wie er bei schnellen Gegnern schneller agieren muss als sonst. Dadurch erhält er Erfahrung in diesen spezifischen Fähigkeiten.“ Raphael seufzt frustriert. „Ich kann nicht fassen, dass sie einem das alles in der Akademie beibringen. Kein Wunder, dass immer so viele Ass-Trainer in die Top Sechzehn kommen.“ „Nicht nur Akademiemitglieder wissen davon“, sage ich. „Und manche Trainer gehen sogar soweit, dass sie ihre Pokémon so lange züchten, bis ihr Potenzial das Maximum erreicht. Das geht aber zu weit, wenn du mich fragst.“ „Hm. Aber vielleicht ist das der einzige Weg, oben mitmischen zu können“, überlegt Raphael laut. „Vielleicht ist das das Geheimnis der ganzen Protrainer.“ „Kann sein. Aber ich glaube, wenn du eine gute Strategie verfolgst und deine Pokémon halbwegs anständig aufgezogen hast, kannst du immer gewinnen. Auch ohne Zucht.“ „Hast du je darüber nachgedacht, Trainercoach oder Lehrer an der Akademie zu werden?“, fragt er. „Nein“, erwidere ich entschieden. Wir bleiben noch eine Weile liegen, dann steht Raphael auf und wischt sich etwas Erde von seiner Hose. „Los Murphy, ran an die Arbeit.“ Rotomurf steht langsam auf und wirft seinem Trainer einen giftigen Blick zu. Ich stehe auf und geselle mich zu ihnen. Murphy hat bereits ein Rettan gewittert und als Raphael ihm einen Klauenwetzer befiehlt, gräbt Murphy sich für einen Schaufler in die Erde. Raphael seufzt theatralisch. Das Maulfwurfpokémon schießt direkt unter dem violetten Schlangenkörper empor und rammt das Giftpokémon mit gewaltiger Kraft hoch in die Luft, wo es für einen langgezogenen Moment zwischen den Erdbrocken zu schweben scheint, bevor es mit einem dumpfen Wump auf dem Boden aufschlägt. Murphy klappert mit seinen dreigliedrigen Schaufelhänden, um die Erde loszuwerden und wirft Raphael einen verächtlichen Blick zu. Der fährt sich durch seine roten Locken. „Er mag mich nicht“, sagt er niedergeschlagen und betrachtet Rotomurf. „Und er macht nicht das, was ich ihm sage.“ Murphy hat sich inzwischen weggedreht und betrachtet gelangweilt die kleinen weißen Blumen, die überall auf der Wiese wachsen. „Das wird schon“, meine ich bestimmt. „Eine Freundschaft ist nicht innerhalb von ein paar Tagen geschlossen.“ „Nicht?“, fragt er und zwinkert mir zu. „Naja, nicht jede“, sage ich grinsend. „Na los, weiter geht’s.“ Murphy besiegt noch ungefähr zwanzig weitere Rettan und Rattfratz, bevor es auch uns zu viel wird. In einem Anflug von Einfühlsamkeit lässt Raphael sich neben ihm auf dem Boden nieder und beginnt ein Gespräch. Oder einen Monolog. Was auch immer. „Hör zu“, sagt er. „Ich verstehe, warum du mich nicht magst. Du wärst jetzt lieber in deiner kalten, dunklen Höhle, als hier oben in der Sonne zu brutzeln und vielleicht magst du mich auch einfach nicht.“ Murphy grunzt zustimmend und Raphael schaut mich niedergeschlagen an. Dann seufzt er, als hätte er einen schwierigen Entschluss getroffen und faltet die Hände in seinem Schoß. „Okay, meinetwegen.“ Murphy schaut ihn an. „Wenn du mich nicht magst, dann mache ich jetzt einen Deal mit dir. Ich bin Protrainer und ich möchte Major Bob herausfordern, einen Elektrotrainer. Er ist sehr stark, deswegen werde ich Hilfe brauchen. Starke Hilfe.“ Für einen Moment scheint es mir, als würden Murphys Augen stolz aufleuchten. „Ich trainiere dich, damit du noch stärker wirst. Und wenn ich den Orden habe und du immer noch nichts von mir wissen willst, dann lasse ich dich frei.“ Jetzt hebt Murphy interessiert den Kopf. Ich schaue dem Wortwechsel aufmerksam zu. Murphy erhebt sich und streckt seine rechte Grabklaue aus. Raphael schaut sie verwirrt an, dann breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus und er packt die dargebotene Hand. „Deal. Danke für deine Hilfe.“ Trotz ihres kleinen Paktes verläuft das Training nicht viel anders als vorher, sehr zu Raphaels Frustration. Die giftigen Blicke bleiben aus, aber Murphy gehorcht weiterhin nur den Befehlen, die er ohnehin zu tun vorhatte und benimmt sich ganz wie ein Pokémon, das seinem Trainer weniger zutraut als sich selbst. Keine gute Voraussetzung, denn gefangene Pokémon werden nicht nur durch das Training stärker, sondern vor allem durch die Leitung durch einen erfahrenen Trainer. Als er später am Abend Murphy zurückruft und mich nach Hause bringt, nehme ich seine Hand und drücke sie. „Er wird schon noch auf dich hören“, beruhige ich ihn. "Er spürt wahrscheinlich, dass ich noch nicht so viel Erfahrung als Trainer habe“, sagt Raphael. Er klingt ein wenig resigniert. „Wenn ich Glück habe, legt sich das bis zum Arenakampf, ansonsten hoffe ich nur, dass er auch gegen Bob die richtigen Entscheidungen trifft. Aber ich will wirklich nicht, dass er geht. Ich habe ihn irgendwie ziemlich ins Herz geschlossen, trotz der kurzen Zeit.“ „Er ist süß“, stimme ich zu. „Auf eine sture, wiederborstige Maulwurfart.“ „Charmant wie immer.“ „Keine Komplimente nach Feierabend.“ Ich drücke seine Hand noch einmal, dann lasse ich los. „Schläfst du wieder im Pokécenter?“, frage ich ihn, als wir vor meiner Haustür stehen. „Du weißt ja, Mama hat dir das Sofa zur Verfügung gestellt, solange du hier bist. Sie kann den Gedanken nicht ertragen, dass ein Kind ohne seine Eltern unterwegs ist und Dinge alleine tun muss.“ „Du solltest sie nicht so runter machen“, sagt Raphael leise und ich lege überrascht den Kopf schief. „Es ist ehrlich gesagt ziemlich schön, wieder so etwas wie eine Familie um sich zu haben. Mir ist nicht aufgefallen, wie sehr ich das vermisst habe.“ „Wollen wir uns noch kurz an den Steg setzen?“, frage ich, weil ich merke, dass ihm etwas auf dem Herzen liegt. „Nein, ist schon okay“, winkt er ab. „Man wird nur ein wenig einsam, wenn man keine Gruppe hat, die mit einem reist.“ „War in Vertania City niemand, der mit dir hätte gehen können?“ „Doch, jede Menge.“ Er verzieht das Gesicht. „Ich war nur nie die Art Gesellschaft, die sich die meisten dort gewünscht hätten. Lag vielleicht an dem alleine im Zimmer hocken und keine Bekanntschaften machen.“ „Ich mag dich“, sage ich ernst. „Mama und Papa mögen dich auch. Penny liebt dich und Sku findet dich attraktiv.“ Raphael verschluckt sich, aber ich ignoriere ihn und  fahre fort. „Murphy respektiert dich, er weiß es nur noch nicht, Tarik bewundert dich, weil du tust, was er insgeheim will, sich aber nicht traut und für Maya bist du eine Art Gott, weil du schon mal in Marmoria City warst. Also vergiss diese Idioten, die dich nicht mögen. Die haben nämlich nicht mehr alle Tassen im Schrank.“ Er lacht und schaut verlegen zur Seite. „Weißt du, ich glaube, ich nehme heute das Sofa.“ Ich schließe die Tür auf und lasse ihn hinein. „Es gehört dir.“   Drei Tage später ist es soweit. Laut Pokédex ist Rotomurf jetzt auf Level 24, während Kapilz Level 25 erreicht und Konter erlernt hat. Sowohl Raphael als auch ich sind optimistisch, dass er heute mit dem Donnerorden die Arena verlassen wird. Unsere größten bedenken sind aber, dass Murphy in den Kämpfen weiterhin seinen eigenen Kopf durchsetzt. Immerhin schaut er Raphael nicht mehr so grimmig an und lässt sich manchmal sogar zu einer High-Five bewegen. Sku verkriecht sich schon seit Tagen tagsüber in ihrem Pokéball, selbst in den Nächten kommt sie nur ungerne raus, weil es so heiß ist. Ihr dickes Fell hilft nicht gerade bei der Temperaturregulation, aber als ich vorgeschlagen habe, es zu trimmen, ist sie empört auf meinen Kopf gesprungen. Und so gehen wir, Pokébälle beruhigend in unseren Taschen, zur Arena von Orania City. Als wir eintreten, wird es schlagartig kühler. Zwei Trainer stehen mit verschränkten Armen hintereinander gestaffelt vor einer elektrischen Barriere und schauen uns überheblich an. An den Wänden sind rote Knöpfe in mehreren Reihen angebracht und der Boden ist gefliest und so stark poliert, dass ich mein Spiegelbild darin sehen kann. Direkt hinter dem Eingang stehen zwei Säulen, deren Spitze jeweils ein steinernes Raichu krönt. In eine Metallplakette am Fuß der Säule sind hunderte Namen eingraviert. Namen von Trainern, die dieses Jahr hier einen Orden erhalten haben. Neben der rechten Säule stehen zwei Männer. Der eine trägt eine Brille und einen violetten Längsstreifenanzug. Sein dunkles Haar ist platt gegen seinen Kopf gegelt und in der Hand hält er ein Mikrofon. Der andere hat eine Kamera in der Hand und ist eher leger gekleidet. Er sieht fast aus wie… aber nein. Das kann nicht sein. „Findet irgendetwas besonderes statt?“, frage ich und sehe aus den Augenwinkeln, dass Raphael hinter mir stehen geblieben ist und stocksteif steht. Der Reporter entdeckt uns und sein Gesicht hellt sich schlagartig auf. „Herausforderer am frühen Morgen, wunderbar! Hast du das, Erik?“ Der Kameramann nickt, während er seine Linse auf uns richtet. Verdammt. Er sieht genauso aus wie er. Kann es sein… Ich drehe den Kopf und schaue zu Raphael. Der öffnet den Mund, bleibt aber stumm und schaut überall hin, nur nicht auf die Kamera. Die Panik steht im quasi ins Gesicht geschrieben. „Kamera aus, Erik, Kamera aus, sage ich!“ Erik nimmt die Kamera runter. Der Reporter schaut Raphael ernst an, der nun endlich den Augenkontakt erwidert. Dass er nicht zittert, ist alles.  „Ich bin Alfred Phirello, Reporter und Live-Moderator bei Pokémon Camera Network“, stellt er sich überschwänglich vor und mir fällt die Kinnlade herunter. Er ist es. „Wir von PCN sind auf Talentsuche“, erklärt er. „Deswegen besuchen wir Arenen und filmen die Kämpfe junger, vielversprechender Trainer, damit sie groß rauskommen.“ Er sieht Raphael über den Rand seiner Metallbrille ernst an. „Warum kommt ihr zwei Hübschen nicht nochmal rein und seit dieses Mal völlig ignorant gegenüber uns Kameraleuten? Ihr seid Pokémon in eurem natürlichen Habitat und wir sind die Ranger. Tut so, als wären wir nicht da. Legt eine Wahnsinnsshow hin und ich verspreche euch, dass ihr berühmt werdet.“ Er reibt sich die Hände. „Also, wer von euch kämpft? Erik muss wissen, auf wen er den Fokus legen muss.“ „Ich“, sagt Raphael, nachdem er einen Moment lang einfach nur perplex da steht. Dann schaut er mich hilfesuchend an, aber ich bin gerade mit etwas ganz anderem beschäftigt. PCN ist hier. Oh. Mein. Gott. Ich kann es nicht fassen! Sie sind die Hauptberichterstatter bei allen guten Red-Reportagen. Bei der Championship und bei den Pokéligakämpfen. PCN ist der Sender. Und hier steht ein Team von ihnen, direkt vor uns. Und nicht nur ein Team. Alfred Phirello höchstpersönlich. Ich wollte es zuerst nicht glauben, aber er ist es. Der Anzug mit dem grünen Taschentuch in der Brusttasche hätte mich von Anfang an überzeugen müssen, aber wie hätte ich denn ahnen sollen… „Ich bin Abbygail Hampton, freut mich, Leute vom PCN persönlich kennen zu lernen!“, plappere ich los und reiche dem Reporter meine Hand. „Tut mir leid, aber ich bin ein Riesenfan von PCN. Könnten sie mir gleich ein paar Fragen beantworten? Nachdem wir eine Wahnsinnsshow hingelegt haben, versteht sich?“ „Junge Lady, du bist mir sofort sympathisch!“ Er ergreift meine Hand und lächelt ein weißes Fernsehlächeln. „Es freut mich, einen charismatischen Fan wie dich kennen lernen zu dürfen.“ „Ich bin so froh, sie treffen zu können, Alfred. Wirklich, es ist mir eine Riesenehre. Wir gehen jetzt raus und kommen wieder rein und ich verspreche ihnen, sie werden perfektes Bildmaterial bekommen.“ „Abbygail, ich werde mir deinen Namen merken.“ Er tippt sich an seine Stirn und ich schiebe Raphael raus. „Los, los Erik, Kamera hoch, uns wurde eine Show versprochen, wir werden eine Show kriegen!“ „Was ist das denn für einer?“, fragt Raphael, als wir draußen stehen und ich dafür sorge, dass seine Haare ein wenig wilder aussehen, so als käme er gerade aus einem dramatischen Sturm und nicht aus dem heißesten Tag des Jahres. Ich antworte, während ich seine Brille zu Recht rücke und sein Hemd ein wenig weiter aufknöpfe. Er muss perfekt aussehen. „Hast du ihn nicht erkannt?“, frage ich entsetzt. „Das ist Alfred, der Starreporter von PCN, du weißt schon, dem größten Fernsehsender in Kanto und Johto. Wenn ein Kampf feurig wird, ist seine Moderation mindestens auf Weltuntergangsniveau. Du müsstest ihn aus dem Fernsehen und dem Radio kennen.“ „Ach, das ist er?“ Raphael schaut wenig begeistert zur Arena zurück und schiebt meine Hände von seinem Hemd weg. „Ich weiß nicht, ob ich so begeistert von der Situation bin, wie du.“ „Ach was“, sage ich. „Wenn Alfred dabei ist, kannst du nur über Nacht berühmt werden.“ „Wer sagt, dass ich das will?“ Er schaut wieder nach drinnen. „Ich will nicht beim Kämpfen gefilmt werden. Ich weiß nicht mal, ob Murphy mir gehorchen wird oder nicht. Und nachdem du so eine große Ankündigung gemacht hast, wäre eine Niederlage wirklich peinlich.“ „Du wirst gewinnen, keine Sorge“, sage ich. „Kämpf einfach und alles wird gut.“ Raphael schüttelt den Kopf und schaut zu Boden. „Du verstehst das nicht! Ich kann nicht einfach so tun, als würde mich niemand beobachten.“ „Ich will ja nichts sagen“, beginne ich. „Aber spätestens bei der Pokémon Championship wirst du ein verdammt großes Publikum haben und gefilmt werden. Das hier sollte für dich kein Problem sein, wenn du jemals oben mitmischen willst.“ Er wird kreidebleich. „Vielleicht sollte ich noch etwas trainieren, nur um sicher zu gehen.“ Er macht Anstalten, sich umzudrehen, aber ich packe sein Handgelenk und schaue ihm in die Augen. „Wenn du jetzt nicht reingehst, wirst du dich nie wieder trauen“, sage ich ernst. „Wenn du Angst hast, stell dir vor… stell dir vor, du bist jemand anderes. Tu so, als wärst du schon Champion und berühmt und beliebt und all das könnte dir nichts anhaben.“ „Wenn es so einfach wäre, hätte ich das schon früher gemacht“, sagt Raphael, nun ein wenig genervt. „Du verstehst nicht, wie sich das für mich anfühlt, okay?“ „Du hast es noch nie versucht“, kontere ich. „Du weißt nicht, ob es funktioniert oder nicht. Komm schon! Sei ein Kämpfer! Sei der coolste Trainer, den du dir vorstellen kannst. Spiel eine Rolle, setz ein Pokerface auf, was auch immer dir hilft, aber tu es!“ Er schaut mich lange an. Dann seufzt er. „Ich probier´s.“ „Das ist die richtige Einstellung“, lobe ich ihn und zupfe ein paar letzte Flusen von seinem Hemd. „Jetzt rein da, Pro.“ Als Raphael und ich die Arena zum zweiten Mal betreten, fehlen eigentlich nur der dramatische Luftzug und die Explosion im Hintergrund. Dafür, dass Raphael eben noch fast alles hingeschmissen hat, kontrolliert er sich wahnsinnig gut. Er ignoriert die Kamera vollkommen, die ihm auf Schritt und Tritt folgt und hält den Kopf stur auf seinen ersten Gegner gerichtet. Ich halte mich schräg hinter ihm, gerade so, dass ich erkennbar bin, ohne die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Wir gehen zwischen den Säulen hindurch zum ersten Vortrainer. Er zieht seine Cappie nach hinten und stellt sich ein bisschen breitbeiniger hin. „Wer von euch Schlappschwänzen glaubt, er hätte das Zeug dazu, Major Bob herauszufordern?“, fragt er. Raphael sagt nichts, sondern macht nur einen Schritt nach vorne. „Also gut.“ Der Junge grinst. „Das läuft hier so ab. Siehst du die elektrische Barriere da hinten? Zwei Stromkreisläufe halten sie aufrecht. Zwei Knöpfe an diesen Wänden können sie ausschalten. Du weißt nicht, welche. Ich schon. Wenn du mich besiegst, schalte ich den ersten Stromkreislauf ab. Wenn du es dann noch schaffen solltest, meinen Freund zu besiegen, darfst du dich Major Bob entgegen stellen. Aber ich würde dir empfehlen, sofort aufzugeben. Wenn du erst bei Major Bob bist, kann dich nichts mehr retten.“ Raphael schaut ihn gelangweilt an. „Bist du zum Reden oder zum Kämpfen hier?“, fragt er mit einer lässig coolen Stimme, die ich ihm nie zugetraut hätte und ich würde ihn am liebsten abknutschen. Aber das käme nicht gut. Stattdessen setze ich mein wissendstes Lächeln auf und mache ein paar langsame Schritte zur Seite, damit die beiden mehr Platz für ihren Kampf haben. Jetzt muss nur noch Murphy mitspielen. Der Junge knirscht mit den Zähnen, dann zieht er seinen Pokéball. „Los, Plusle!“ Das Plusle materialisiert sich vor seinem Trainer, seine Wangen sprühen Funken und es sieht überhaupt nicht so süß aus, wie ich mir Plusle immer vorgestellt habe. Es bleckt die spitzen Zähnchen und faucht. „Penny, zeig, was du kannst“, sagt Raphael ruhig und hält ihren Pokéball hoch. Sein Kapilz taucht vor ihm auf und hüpft leichtfüßig von einem Bein zum anderen, während sein Schwanz sacht hin und her peitscht. „Plusle, Ruckzuckhieb!“, befiehlt der Junge und Plusle verschwindet so schnell, dass ich es erst wieder sehe, als es schon gegen Kapilz geprallt ist. Der Aufprall ist heftig, aber die Attacke scheint Penny nur wenig Schaden zugefügt zu haben. „Egelsamen, dann Tempohieb!“, ruft Raphael und Kapilz nutzt die Nähe des Plusles, um es mit ihren Lianen einzuwickeln, bevor es wieder fliehen kann. Dann holt Penny weit aus und schlägt mit unglaublicher Geschwindigkeit seitlich gegen Plusles Kopf. Das kleine Pokémon wird zur Seite geworfen, bleibt aber in den Egelsamlianen hängen und schlittert nur ein kleines Stück über den Boden. „Plusle, Funkensprung, jetzt!“, ruft der Junge und Plusles Wangen beginnen zu knistern, bevor sich die Elektrizität über die Lianen auf Kapilz überträgt und es in pulsierende Blitze hüllt. Penny kreischt und ihr Körper verkrampft sich. „Damit hast du nicht gerechnet!“, ruft er Raphael zu. „Eine Elektroattacke von einem Elektropokémon? Unvorhersehbar“, erwidert Raphael kühl. Ich liebe ihn. „Penny, nochmal Tempohieb, sein Plusle ist quasi schon erledigt.“ „Schreib uns noch nicht ab! Plusle, nochmal Funkensprung!“ Plusle lädt sich mit Elektrizität auf, aber es ist zu spät. Kapilz schießt auf Plusle zu und trifft seinen kleinen Kopf mit einem unangenehmen Knacken. Ich kneife angewidert ein Auge zu. Plusle zuckt noch ein paar Sekunden, dann hängt es bewusstlos in Penny Egelsamen, die sich jetzt ablösen und wieder in ihren Kopfknospen verschwinden. „Plusle, zurück.“ Der Junge wirft Raphael einen vernichtenden Blick zu. „Wir sind noch nicht fertig. Los, Minun!“ Raphael sieht ihn herablassend an, als die blaugelbe Maus auftaucht, weit weniger blutrünstig aussehend als ihr Partner. „Wirklich?“, fragt er. „Das gleiche Spiel nochmal von vorne?“ „Klappe. Minun, Charme! Mach seinen Angriff zunichte!“ Minun schaut Penny mit großen, glänzenden Augen an und es scheint fast, als würde es irgendeine Droge ausschütten, denn Kapilz starrt es mit feuchten Augen an und rührt sich nicht mehr. „Denkst du, das hält sie zurück?“, fragt Raphael und schiebt seine Brille zu Recht. „Penny, Megasauger.“ Der grüne Lichtball schießt aus Pennys weit geöffnetem Maul und trifft das Minun frontal. Es wird zurückgeschleudert und kleine grüne Lichter fliegen zu Kapilz zurück, das diese über seinen ganzen Körper aufsaugt. Als Minun sich wieder aufrappelt, wirkt es sehr geschwächt. „Funkensprung Minun, komm schon!“ Minun sammelt seine Kräfte und ein Funkenregen prasselt auf Kapilz nieder, das hin und her hüpft, ihm aber nicht ausweichen kann. Raphael wirkt nicht weiter bekümmert. „Beende es mit Tempohieb“, ruft er seinem Pokémon zu und Penny nickt. Mit desaströser Geschwindigkeit schießt sie auf Minun zu und ihr Schlag schleudert es ans andere Ende des Kampffeldes gegen die Wand. Es bleibt reglos liegen. „Minun, du hast gut gekämpft“, sagt der Junge, als er sein Pokémon zurück ruft. „Ich bin noch nicht fertig“, droht er dann und Raphael stöhnt. „Was kommt jetzt? Neutron?“ Der Junge läuft rot an und holt einen dritten Pokéball aus seiner Tasche. „Warte nur ab“, zischt er. „Waaty, du bist dran!“ „Penny, selbe Vorgehensweise. Zapf es mit Egelsamen an.“ Penny macht ein zustimmendes Geräusch, dann schießen wieder Ranken aus ihrem Kopf und umwickeln ihren Gegner mit einem dichten Geflecht aus Energie abzapfenden Noppen. Waaty windet sich, hat aber keine Chance, sich zu befreien. „Waaty, Baumwollsaat, dann Ladevorgang!“ Waaty schüttelt sich, schneller und schneller, bis sich rosa Wolle von ihrem Körper ablöst und in alle Richtungen fliegt. Dort, wie die Wolle mit Kapilz in Berührung kommt, bleibt sie haften, verklebt seine Glieder und senkt seine Beweglichkeit. Dann lädt Waaty sich auf. Ihre Wolle beginnt vor Elektrizität zu sprühen. „Penny, Megasauger, sofort!“, ruft Raphael und der grüne Lichtball trifft Waaty mitten ins Gesicht. Doch sie ignoriert ihn, ihre ganze Konzentration gilt der Ladung, die sich in ihrem Körper sammelt. „Donnerschock Waaty, gib alles, was du hast!“, schreit der Junge verzweifelt. Was würde er wohl denken, wenn er wüsste, dass nach Kapilz noch ein Bodentyp auf ihn wartet? Waaty kreischt und all die angestaute Elektrizität entlädt sich in einem einzigen Stromstoß, der Kapilz aus nächster Nähe trifft. Ich werfe einen schnellen Blick zu Raphael. Sein Pokerface ist weiterhin in Takt, aber diese Attacke hat es in sich, das wissen wir beide. Für den nächsten Kampf wird er Murphy benutzen müssen, wenn er Penny ein wenig Ruhe gönnen will, bevor sie gegen Bob antreten müssen. Kapilz wird von Stromstößen geschockt und zuckt noch eine ganze Weile. Der Egelsamen ist ihre Rettung, da bin ich sicher, denn ununterbrochen gibt er ihr die Energie von Waaty zurück. „Noch einmal Megasauger, Penny, dann kannst du dich ausruhen!“, ruft Raphael ihr zu und sie holt ein letztes Mal Luft, um einen grünen Energieball auf das sich windende Waaty abzufeuern, das hilflos in ihrem Egelsamengriff festsitzt. Die Attacke trifft sie mit voller Wucht, und noch während Kapilz die Energie wieder in sich aufnimmt, wird Waaty schlaff und fällt zu Boden. Der Junge stöhnt und sinkt auf die Knie. „Aber… ich habe doch unter Major Bob trainiert…“, flüstert er. Besiegt zieht er seinen Pokéball hervor und ruft Waaty zurück. Dann steht er auf. „Ich werde wohl weiter trainieren müssen“, sagt er und geht auf Raphael zu, der Penny bereits zurück gerufen hat. Er reicht ihm seine Hand. „Du warst der Stärkere.“ „Wir alle müssen weiter trainieren“, erwidert Raphael und lächelt leicht. „Jeder von uns ist stärker als die einen und schwächer als die anderen. Wir steigen nur in dieser Hierarchie auf, aber egal wie gut wir sind, es wird immer jene geben, die höher stehen.“ „Du hast Recht.“ Der Junge grinst und lässt Raphaels Hand los. „Wir werden sehen, ob du auch besser als Tobias bist. Ich aktiviere den ersten Schalter.“ Mit diesen Worten geht er zu der rechten Wand und drückt einen roten Knopf irgendwo links außen. Hinter Tobias öffnet sich das erste Elektrogitter. Tobias tritt nach vorne. „Ich bin die letzte Barriere. Zeig mir, was du drauf hast.“ „Murphy, dein Auftritt.“ Raphael wirft seinen Pokéball hoch in die Luft, fängt ihn wieder und hält ihn in Richtung Kampffläche, wo Rotomurf sich materialisiert. Tobias grinst hämisch. „Ein Bodenpokémon? Glaubst du, damit rechnet ein Elektrotrainer nicht?“ Er tippt gegen seinen Pokéball und ein rotes Licht kündigt das Erscheinen seines Pokémon an. Es ist klein, mit einem weißen Körper und schwarzen Ohren und Schwanz. Und es fliegt. „Damit hast du nicht gerechnet, hm?“, fragt Tobias und verschränkt die Arme. „Deine hübschen Bodenattacken werden dir jetzt nichts nutzen. Wie fühlt es sich an, hilflos zu sein?“ „Vielleicht solltest du jemanden fragen, der schon mal hilflos war“, erwidert Raphael seelenruhig. Der Junge von eben lacht. „Unterschätz ihn nicht, Tobi! Der Typ hat´s echt drauf.“ „Fangen wir nun an oder nicht?“, fragt Raphael. „Emolga, Doppelteam“, befiehlt Tobi und Emolga beginnt, so schnell um Murphy herumzufliegen, das sie an mehreren Orten gleichzeitig zu sein scheint. „Murphy“, sagt Raphael nur und sein Rotomurf beginnt, seine Klauen aneinander zu wetzen. Clever. So kaschiert er die Tatsache, dass Murphy ihm nicht gehorcht. Hoffen wir, dass Murphy weiß, was er tut. „Jetzt Rutenschlag!“ Emolga schießt aus allen möglichen Richtungen auf Murphy zu und schlägt ihn mit ihrem Schwanz wieder und wieder, bis Rotomurf sich nur noch desorientiert umsehen kann. Rotomurf fährt fort, seine Klauen zu schärfen. Sollte er nicht langsam angreifen? Ich schaue zu Raphael, versuche, mir nichts anmerken zu lassen, aber er sieht seelenruhig aus. Entweder seine Maske ist besser, als ich jemals hätte ahnen können oder er vertraut seinem Pokémon mehr als ich. Emolga trifft Murphy problemlos mit einer Verfolgung und er strauchelt rückwärts. Dann schlägt er mit seinen Pranken nach Emolga, doch das ist schneller und weicht geschickt aus, bevor es im großen Bogen um Murphy herum segelt und zu seiner nächsten Attacke ansetzt. Murphy will wieder angreifen, da erklingt Raphaels Stimme hinter ihm und er dreht sich um. „Warte…“, sagt er und hebt einen einzigen Finger. „Warte…“ Murphy blinzelt, dann wendet er sich wieder seinem Gegner zu, die Klauen erhoben. „Nochmal Verfolgung, Emolga!“, schreit Tobi und im selben Moment schreit Raphael „Jetzt!“ Was nun geschieht, kann ich mit bloßem Auge nicht mehr erkennen. Im einen Moment schießt Emolga auf Murphy zu, im nächsten Moment liegt es besiegt zu seinen Füßen. „Wa-was? Wie konnte…“ Tobi starrt sein Pokémon an. Da geht mir ein Licht auf und ich mache einen Schritt nach vorne. „Raphael hat auf den Moment gewartet, in dem Emolga das Doppelteam für einen kurzen Moment aufgeben würde, um anzugreifen“, analysiere ich laut. Ich spüre, wie die Kamera sich auf mich richtet. „Er wusste, dass er diese Schwachstelle nur einmal ausnutzen kann, also hat er Murphy unauffällig befohlen, seinen Angriff und seine Genauigkeit zweimal mit Klauenwetzer zu steigern, bevor er mit einer typneutralen Attacke angreift. Und weil Rotomurf einen ohnehin starken Angriff und Emolga eine schwache Verteidigung hat, war das der Anfang vom Ende“, sage ich mit einem dramatischem Unterton. Dass Murphy erst ganz zum Schluss beschlossen hat, Raphael zu vertrauen, lasse ich außen vor. Als ich den Blick senke und dann von unten direkt in die Kamera hineinschaue, sehe ich Alfred im Hintergrund wild mit seinen Daumen gestikulieren. Er ist begeistert. Und ich auch. Wer hätte gedacht, dass Raphaels Pokerface so überzeugend sein würde? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)