Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 1: Erste Begegnung (Hallo Sku) -------------------------------------- Ich habe mir die Kanto Pokémon Akademie groß vorgestellt. Aber nicht so groß. Staunend bleibe ich stehen und lasse meinen Blick über das gigantische Gebäude gleiten, das fast die gesamte Straßenbreite einnimmt und auf einer Höhe mit dem Einkaufscenter liegt.  Schön ist der Beton- und Stahlkoloss nicht, aber allein der Gedanke an die Studenten, die aus Kanto und Johto anreisen, um hier ihre Protrainerkarriere in Gang zu bringen, bevor sie mit vierzehn Jahren losziehen dürfen, erfüllt mich mit einem mulmig guten Gefühl. „Kommst du, Abby?“, fragt Agnes, meine Tante und Dozentin an der KPA über den Lärm der Prismania City Straßen hinweg und steigt von ihrem Fahrrad. Als sie meinen Blick sieht, lächelt sie schelmisch. „Eindrucksvoll, nicht wahr? Der Anblick übermannt mich jedes Mal aufs Neue.“ Ich bleibe noch einen Moment stehen, laufe dann aber zu ihr und folge ihr durch die breiten Doppeltüren ins Innere der Akademie. Trainergrüppchen werfen uns im Vorbeigehen kuriose Blicke zu oder brüten über Stapeln von Papieren und Büchern in den Lesebalkons, die die hohe Eingangshalle an den seitlichen Wänden bevölkern. Die meisten von ihnen sind älter als ich. Mit acht Jahren bin ich eigentlich noch nicht alt genug, um ein eigenes Pokémon zu besitzen, denn der Kampf um Orden ist auf ein Mindestalter von vierzehn Jahren angehoben worden und Trainer erhalten ihre Starter oft erst kurz vor Beginn ihrer Reise. Nach Reds und Golds Steilkarrieren und ihrem anschließenden Verschwinden ist der Trainerandrang so groß gewesen, dass die Liga neue Regulationen einführen musste. Die Professoren der jeweiligen Region dürfen Pokémon nur noch an Kinder mit einer Protrainerlizenz geben, die ihnen das Sammeln von Arenaorden und die spätere Teilnahme an der PCS, der Pokémon Championship erlaubt. Und die bekommt man erst mit vierzehn. Ich straffe meine Schultern und folge Agnes durch die volle Halle zu einem Lift. Kaum sind wir eingestiegen, spreche ich aus, was mich schon seit Tagen beschäftigt. „Ist es wirklich okay, dass ich ein Akademiepokémon bekomme?“, frage ich zum gefühlt hundertsten Mal, aber Agnes legt nur beruhigend eine Hand auf meine Schulter. „Ich musste ein bisschen rumtelefonieren, aber jetzt ist alles abgesegnet“, sagt sie. „Auch wenn du nicht eingeschrieben bist, wird es keine Probleme geben. Meine Vorgesetzten kennen das Prozedere inzwischen von deinen Geschwistern, mach dir darüber also keine Sorgen.“ Ich nicke. Die Aufregung macht sich immer mehr bemerkbar und als wir das siebte Stockwerk erreichen und die Aufzugstüren sich mit einem leisen Pling öffnen, rausche ich hinaus auf den Flur und schaue mich suchend nach der Kinderstube um, wie Agnes den Raum manchmal nennt. „Andere Richtung“, ruft sie lachend und ich mache auf dem Absatz kehrt, um ihr hinterher zu laufen. Agnes führt mich durch den beleuchteten Flur und bleibt schließlich vor einer breiten Tür mit eingefasstem Glasfenster stehen. Zu blöd, dass ich nicht groß genug bin, um hindurch zu schauen. „Gleich wird es voll“, warnt sie mich. „Bewege dich langsam und achte darauf, sie nicht zu verschrecken. Es sind ausnahmslos Jungpokémon.“ Ich nicke. Tarik hat sein Wablu vor zwei Jahren ebenfalls hier bekommen, Maya ihr Teddiursa ein Jahr später. Beide haben wochenlang geprahlt und weichen ihren Pokémon auch heute nicht von der Seite. Aber jetzt bin ich dran. Agnes öffnet die Tür und wir treten nacheinander ein. Ein hüfthoher Maschendrahtzaun trennt den Eingangsbereich gleich nach der Tür vom Rest des weitläufigen Raums. Mein Blick wandert über die Regale, die mit nummerierten Pokébällen zum Bersten gefüllt sind und über die Topfpflanzen, Planschbecken und Steinbrocken, die überall im Raum verstreut liegen. Und über die Pokémon. Es müssen hunderte sein. Herumtapsende und rollende Pokémonbabys soweit das Auge reicht. Ich kann ein leises Wow nicht unterdrücken und schaue zu Agnes hinauf. „Ich kann mir irgendeins aussuchen?“, frage ich nochmal nach, sicher, dass es irgendeinen Haken geben muss. Sie lächelt. „Irgendeins“, stimmt sie zu. Dann geht sie vor mir in die Hocke und legt ihre Hände auf meine Schultern. „Aber denk daran: Dein Starter wird mit dir zusammen aufwachsen. Wähle nicht nach Aussehen oder Stärke, sondern nach seinem Wesen und Charakter. Wenn du den richtigen Partner findest, wird es ein Freund sein, den nichts und niemand ersetzen kann.“ Ich nicke ernst und steige dann vorsichtig über den Zaun. Ich habe kaum einen Fuß auf die andere Seite gesetzt, da wuseln schon die ersten Pokémon um meine Fußgelenke und klettern an meinem Hosenbein hinauf. Ich grinse breit und bewege mich langsam durch das Meer aus Fell, Schuppen und Federn. Es müssen unendlich viele kleine Pokémon sein, die meine Beine entlang streifen, über meinen Kopf hinweg flattern und über meine Füße wuseln. Ich kichere, als ein flauschiger Schwanz unter meiner Nase entlang streicht. Agnes folgt mir. „Was ist das für eins?“, frage ich und zeige auf ein beigebraunes Pokémon mit sehr langen Armen und braunen Streifen auf dem Rücken und um die Augen. Es kratzt sich gemächlich am Kopf und seufzt leise, während seine Augen langsam zufallen. „Das ist ein Bummelz“, sagt Agnes. „Art Faulpelz. Es hat zwei Entwicklungsstufen und ist vom Typ Normal.“ Agnes ist ein wandelnder Pokédex. Aber das muss sie auch sein, wenn sie an einer Akademie wie dieser Teambuilding unterrichtet. Etwas Schwarzes flattert über meinen Kopf. Als ich nach oben schaue, fliegt dort ein blauschwarzer Vogel mit krummem, gelbem Schnabel und Federn auf dem Kopf, die aussehen wie ein dreizackiger Hut. „Und das?“, frage ich und deute auf das Pokémon, das mich mit schief gelegtem Kopf anschaut. „Ein Kramurx“, sagt Agnes sofort. „Art Finsternis, eine Entwicklungsstufe, Typ Unlicht und Flug.“ Es krächzt, dann fliegt es davon. Als ich ihm mit meinem Blick folge, entdecke ich eine im Schatten liegende Ecke, die mit Vorhängen von den Lampen und Fenstern abgeschirmt ist. Darunter tummelt sich eine Gruppe nachtaktiver Pokémon, die leise schnarchen oder müde in die Gegend schauen. Ich bewege mich in Richtung des kleinen Grüppchens und begutachte sie einige Momente. Agnes sagt, ich soll meinen Starter nach seinem Wesen beurteilen, nicht nach seinem Aussehen, aber ich frage mich allmählich, wie ich unter all diesen Pokémon den richtigen Partner auswählen soll. Es kommt mir unmöglich vor. Ein tiefes, kurzes Schnurren reißt mich aus meinen Gedanken. Ich schaue zu Boden. Vor mir sitzt ein flauschiges, schwarzviolettes Fellknäuel. Ein beiger Streifen beginnt über seinen rot unterlaufenen Augen und verläuft den Rücken entlang bis zum Ende seines buschigen Schwanzes. Es hat eine breite Schnauze mit weißen Schnurrbarthaaren und kleine, spitze Krallen. Ich gehe vor ihm in die Hocke und es schaut mich mit großen schwarzen Augen an. Es schnurrt noch einmal und ich kann das Geräusch förmlich in meiner Brust fühlen. Ich strecke die Hand nach dem Pokémon aus. Als ich es streichle, schließt es genießerisch die Augen und rollt sich auf den Rücken. Sein Bauch ist weich und warm. „Das ist ein junges Skunkapuh“, sagt Agnes, ohne meine Frage abzuwarten. „Art Stinktier, Typ Unlicht und Gift. Es hat eine Entwicklungsstufe auf Level 34.“ Ich setze mich im Schneidersitz hin und das Skunkapuh krabbelt zu mir auf den Schoß, wo es sich einrollt. Als ich ihm den Bauch streichle, rollt es sich von innen nach außen, bis sein Rücken ganz gebogen ist. „Es ist noch nicht ausgewachsen“, sagt Agnes. „Und sein Gewicht wird sich in den nächsten Wochen noch vervielfachen.“ „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“, frage ich, während ich ihm weiter durch das weiche Fell streiche. Agnes setzt sich zu mir und streichelt ihm ebenfalls den Bauch, aber ich kann sehen, dass sie nach etwas sucht. „Weiblich“, sagt sie schließlich. Dann zieht sie einen Pokédex aus ihrer Brusttasche. Das Emblem der Schule ist darauf genäht, ein Pokéball, ein Superball und ein Hyperball in einem Dreieck angeordnet und mit den Buchstaben KPA in schwarz darüber. Ich kenne die Bälle, obwohl ich sie noch nie benutzt habe. Papa hat früher bei der Silph Co gearbeitet. Danach ist er auf Mamas Bitten mit uns nach Orania City gezogen und hat dort einen Supermarkt für Trainer eröffnet.  „Skunkapuh - das Stinktier-Pokémon“, schallt es mit metallischer Frauenstimme aus dem Gerät und ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. „Es beschützt sich, indem es aus seiner Gesäßdrüse eine 24 Stunden stinkende Flüssigkeit spritzt. Level 4. Spezialfähigkeit: Finalschlag.“ „Was ist Finalschlag?“, frage ich. „Das ist eine Fähigkeit, die in Kraft tritt, wenn dein Pokémon von einem anderen mit einer physischen Attacke besiegt wird“, erklärt Agnes, mit der Stimme einer Lehrerin, die diese Frage oft beantworten muss. „Der Angreifer erhält ein Viertel seiner maximalen Gesundheit an Schaden.“ Ich schaue sie ratlos an. „Oh, tut mir leid.“ Sie lacht. „Es ist so eine Art letzte Attacke, bevor dein Pokémon besiegt wird.“ Ich schaue das Skunkapuh noch einen Moment länger an. Es hat sich um meine Hand gerollt und als ich sie versuchshalber anhebe, bohren sich kleine Krallen in meine Haut und halten mich fest. Dann beginnt es, leise zu schnarchen. „Ich will es haben“, sage ich und hebe das Skunkapuh auf meinen Arm, bevor ich aufstehe, um es nicht zu stören. Es schlummert friedlich und reibt seine feuchte Schnauze gegen meinen Hals. Ich kichere. „Ganz sicher?“, fragt Agnes. Ich strahle sie an. Agnes nickt, dann schlängelt sie sich zwischen den ganzen Pokémon hindurch zu einem der Regale. Sie sucht ein bisschen, dann nimmt sie einen der Bälle und kommt zu mir zurück. Sie drückt ihn mir in die Hand. „Bitteschön.“ Sie geht wieder in die Hocke. „Wenn du Druck auf den Ball ausübst, wird er aktiviert und dein Pokémon kehrt entweder zurück oder wird heraus befördert. Wenn du auf diesen kleinen Knopf drückst…“ Sie zeigt mir den Knopf, der leuchtet, wenn man drauf drückt und der in der Mitte des Balls zwischen der roten und der weißen Hälfte liegt. „…dann wird er klein und wieder groß.“ Der Ball schrumpft und wächst. Ich nehme den Pokéball und drücke ihn leicht, während ich seine Öffnung in Skunkapuhs Richtung halte. Er öffnet sich mit einem leisen Klacken und rotes Licht schießt daraus hervor, ummantelt Skunkapuh und zieht sie in den Ball hinein. Dann schließt er sich wieder. Ich drücke auf den kleinen Knopf und er schrumpft von Apfel auf Walnussgröße. Agnes nickt zufrieden. „Ich habe deine ID schon in Auftrag gegeben“, erklärt sie. „Wir müssen sie nur abholen und dann bringe ich dich nach Hause, damit du den anderen dein Pokémon zeigen kannst. Ich habe außerdem noch drei Pokédexe, für jeden von euch einen.“ Ich nicke begeistert und laufe zwischen den Pokémon hindurch zurück zur Tür, Skunkapuhs Pokéball fest in meinen Händen. Ich kann es kaum erwarten, ihre Gesichter zu sehen.   Wir fahren mit dem Fahrrad zurück. Als wir die Akademie verlassen, setze ich mich hinten auf den Gepäckträger, dann schwingt Agnes sich in den Sattel. Sie winkt einigen Studenten zu, die sie aus ihren Vorlesungen kennt und radelt schließlich mit mir aus Prismania City heraus und in Richtung Saffronia City. Saffronia ist eine große Stadt und ich meine damit nicht nur den Bahnhof. Sogar zwei Arenen gibt es. Das Herzstück der Stadt bildet allerdings die Silph Co. Bevor Papa den Laden in Orania übernommen hat, hat er dort gearbeitet und Pokébälle entwickelt. Aber dann ist vor fünf Jahren etwas Schlimmes passiert. Papa redet nicht gerne darüber, aber Mama hat mir erzählt, dass es einen Anschlag auf die Silph Co gab und alle Mitarbeiter als Geiseln genommen wurden. Red hat Team Rocket damals im Alleingang besiegt und die Silph Co gerettet. Red ist toll. Er ist der stärkste Trainer, den es gibt. Selbst heute noch, nachdem er schon seit vielen Jahren verschwunden ist und es nur Gerüchte über seinen Aufenthaltsort gibt, laufen im Fernsehen immer noch Dokumentationen über ihn. Interviews, Kampfmitschnitte und dergleichen. Wann immer PCN solche Reportagen bringt, muss Mama mich vom Bildschirm wegziehen. Ich kann nicht anders. Red fasziniert mich. Offiziell ist er nicht mehr Champion, aber dann wiederum ist er untergetaucht, bevor ihn jemand herausfordern konnte. Bis heute bleibt er ungeschlagen. Wir fahren an der Silph Co vorbei und folgen der Straße südlich in Richtung Orania. Wir sind zwei Stunden unterwegs, bevor der See und die Voltilammherden in Sicht kommen. Ich rufe dem Hirten etwas zu und als er mich sieht, winkt er zurück und zieht seinen Strohhut. Bis wir in Orania City ankommen, dämmert es bereits. Ich entdecke Mama, die gerade aus einer Seitenstraße kommt und eine lange Umhängetasche schultert. Sie wirkt müde. Ich winke ihr zu und Agnes bleibt mit dem Fahrrad neben ihr stehen. „Natalie, wie geht’s dir?“, begrüßt sie meine Mutter und steigt vom Rad, um ihre Schwester zu umarmen. „Ich hab dich heute Morgen gar nicht mehr gesehen.“ „Tut mir leid, ich musste die Konferenz vorbereiten und es gab noch so viel zu tun…“ Mama seufzt. „So ein Aufwand, nur für diese kurze Besprechung.“ „Hast du viel Stress in letzter Zeit?“, fragt Agnes und sieht Mama forschend an. Sie zuckt mit den Achseln. „Seit wir die neuen Pokémonarten national eingeführt haben, ist der Stressfaktor in allen Bereichen hoch, denke ich. Aber ja, es gibt viel zu erledigen.“ Sie schaut zu mir und ein strahlendes Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Wie geht es dir, Abby? Hast du ein schönes Pokémon ausgesucht?“, fragt sie. Ich nicke enthusiastisch. „Warum fahren wir nicht nach Hause und Abby zeigt es dir dort?“, fragt Agnes und lächelt geheimnisvoll. „Ich habe unheimlichen Hunger.“ „Ich hoffe, Bernhard hat die Kartoffeln schon gekocht, die ich raus gelegt habe“, sagt Mama. „Dann könnten wir direkt essen.“ Unser Haus ist am anderen Ende der Stadt gleich am Meer, wo die M.S. Anne und die M.S. Aqua anlegen. Der Steg ist direkt vor unserer Haustür, was gut ist, denn ich schwimme unheimlich gerne im Meer, auch wenn der Wellengang stärker ist als im angrenzenden See vor der Stadt. Nur bei Schiffverkehr dürfen wir nicht hinein. Tarik steht auf besagtem Steg und lässt Wablu das Wasser attackieren. Das kleine blaue Pokémon schießt vor und zurück und pickt mehrmals schnell hintereinander nach den Wellen. Ich schaue ihm fasziniert zu, dann springe ich vom Fahrrad und laufe zu ihm. „Riki!“, schreie ich und renne ihm in die Arme, die er im letzten Moment hoch bekommt. Wir fallen beide um. Tarik ist zwei Jahre älter als ich. Er hat Mamas braunes Haar, das er kurz trägt und weil Sommer ist, trägt er eine kurze Latzhose. „Was willst du, Abs?“, fragt er und schiebt mich weg. Stolz überreiche ich ihm einen der Pokédexe. Seine Augen glühen vor Begeisterung förmlich auf. „Danke, Tante Agnes!“, ruft er ihr zu und schaltet das rote Gerät ehrfürchtig an. Agnes kommt zu uns. „Das neuste Modell“, erklärt sie. „Er speichert deine Pokemondaten und liest den Level, hat Platz für mehrere Kartenmodule und sammelt natürlich Informationen über alle neuen Pokémon, die du fängst oder siehst.“ Sie zwinkert ihm zu. „Er verwendet ein drahtloses System, das dich mit anderen Pokédexen verbindet und es dir ermöglicht, Pokédexeinträge anderer Trainer runter zu laden. So musst du nicht die ganze Arbeit alleine machen.“ Tarik schaut das Gerät begeistert an. Ich habe nur die Hälfte von dem verstanden, was Agnes ihm erzählt hat, aber Rikis Reaktion nach ist das neue Modell ziemlich cool. „Probier ihn doch mal aus“, schlägt Agnes vor. Tarik nickt. „Wablu, komm her“, sagt er und Wablu flattert wild fiepend zu ihm, wo sie sich auf seine Schulter setzt und den Kopf liebevoll an seine Wange reibt. Er streicht ihr abwesend über den Kopf, dann zeigt er mit dem Pokédex auf sie. „Wablu – Das Wollvogel-Pokémon. Wablu liebt die Sauberkeit und reinigt umgehend jede schmutzige Fläche mit seinen baumwollartigen Flügeln. Level 14. Spezialfähigkeit: Innere Kraft“, verkündet die Frauenstimme. Tarik sieht das Gerät geknickt an. „Wann entwickelt sich Wablu nochmal?“, fragt er. „Auf Level 35“, sagt Agnes sofort. Enttäuscht lässt er den Kopf hängen. Ich laufe zu Mama und sie streicht mir über den Kopf. Als ich hoch schaue, wirft sie mir ein Lächeln zu. „Wer hat Hunger?“, fragt sie gut gelaunt und ich laufe sofort an ihr vorbei zum Haus. Ich klopfe zweimal laut, dann macht Marcel die Tür auf. Ich bin ein bisschen größer als das Machollo, was nicht immer der Fall war. „Macho“, sagt er und geht zur Seite, um mich durchzulassen. Die anderen folgen. Papa hat tatsächlich schon gekocht. Nancy, Mamas Snobilikat, liegt wie immer neben dem Sofa und betrachtet uns mit glasigen Augen. Sie ist das faulste Pokémon, das ich kenne. Wir setzen uns alle an den Tisch. Maya kommt auch, nachdem Mama sie zweimal gerufen hat, ihr Teddiursa, das sie Ursula getauft hat, fest in ihren Armen. Sie laufen immer so rum. Allein für den Spitznamen wäre ich an ihrer Stelle von Maya weggelaufen. Die Erwachsenen reden, aber ich höre nur mit halbem Ohr hin. In Gedanken bin ich bei Skunkapuh. Meine Hand tastet immer wieder nach der Wölbung in meiner Hosentasche wo der kleine Pokéball ist. Mama, Papa und Agnes lassen sich unendlich viel Zeit mit dem Reden. Irgendwann stehe ich auf und laufe rastlos durchs Wohnzimmer. Als alle mit dem Essen fertig sind, drehen sie sich neugierig zu mir um. Ich springe vom Sofa auf und ziehe meinen Pokéball aus meiner Tasche. „Los, Skunkapuh“, sage ich. Der Pokéball öffnet sich, ein rotes Licht strömt heraus und einen Moment später steht Skunkapuh vor meiner Familie. Eingeschüchtert legt sie sich flach auf den Boden, den flauschigen Schwanz eng an den Körper gepresst. „Oh je“, sagt Mama. „Ist das…“ „Ein Skunkapuh! Igitt!“ schreit Maya und klammert sich an Ursula. Selbst Papa verzieht das Gesicht und Tarik krault angewidert Wablus Kopf. Was? Agnes lächelt mir stolz zu, aber die anderen schauen Skunkapuh an, als wäre sie irgendetwas… Ekliges. Warum sehen sie nicht, wie süß mein Pokémon ist? Warum schauen sie so komisch? „Hättest du dir kein… anderes Pokémon aussuchen können?“, fragt Mama. „Skunkapuhs stinken fürchterlich.“ „Wirklich, Abby, das ist widerlich“, stimmt nun auch Tarik zu. Ich blinzele. Wie können sie so etwas sagen? Agnes wirft Mama einen bösen Blick zu und murmelt leise etwas, aber ich höre nicht mehr richtig zu. Ich schlucke die Tränen hinunter, greife Skunkapuh unter den Achseln und laufe hoch in mein Zimmer. Kaum dass ich die Tür hinter mir zu gerissen habe, werfe ich mich auf mein Bett und spüre, wie heiße Tränen meine Wangen hinunter kullern. Ich hatte mich so auf Mamas Gesicht gefreut, so wie bei Tarik und Maya, als alle begeistert waren und Wablu und Teddiursa gestreichelt haben. Skunkapuh kommt zu mir aufs Bett gesprungen und rollt sich auf meinen Armen zusammen, wo sie einschläft. Obwohl ich immer noch schluchze, muss ich für einen Moment lächeln und schmiege mein Gesicht an ihren warmen Bauch. Ich höre Gesprächsfetzen, die aus dem Wohnzimmer zu mir hochdriften, aber ich kann keine Worte verstehen. Etwas später klopft Mama an die Tür und sagt, Skunkapuh wäre ein tolles Pokémon, sie wäre nur überrascht gewesen und ob ich nicht raus kommen wolle. „Nein!“, rufe ich. „Geh weg.“ Sie bleibt noch ein paar Sekunden stehen, dann höre ich ihre Schritte, als sie die Treppe hinunter geht. „Skunka?“, frage ich leise. Sie rührt sich nicht. „Sku?“ Sie öffnet ein Auge und schaut mich verschlafen an. „Sku.“ Ich lasse den Namen auf mich wirken. Bis mir ein besserer eingefallen ist, ist Sku okay, denke ich. Immerhin besser als Ursula. Ich krame die beiden übrigen Pokédexe aus meiner Hosentasche. Von mir wird Maya ihren ganz sicher nicht kriegen. Ich spiele ein bisschen mit den Programmen herum, bis ich auf Skunkapuhs Pokédexeintrag stoße. Da kommt mir eine Idee. „Sku, wach auf.“ Sie öffnet die Augen und schaut mich träge an. „Kannst du runter gehen und alle anstinken? Außer Agnes, wenn das geht?“, frage ich. Sie blinzelt einmal. Vielleicht muss ich eine Attacke sagen. Oder gehorcht sie mir nicht? Frustriert schaue ich noch einmal auf den Eintrag. Dann stehe ich kurzentschlossen auf. Sku rollt von meinen Armen hinunter und schaut mich vorwurfsvoll an, tut aber sonst nicht viel. Ich hebe sie hoch und verlasse leise mein Zimmer. Ich muss aufpassen, weil die Tür manchmal knarzt. Sku hänge ich mir um den Hals. Unten höre ich Stimmen. Agnes sagt etwas. Dann Papa. Ich taste mich mit den Zehenspitzen voran, bis ich die Treppe erreiche, dann setze ich Sku ab. „Sku, Giftwolke ins Esszimmer“, befehle ich. Sku lässt ein leises Geräusch hören, das wie ein Seufzen klingt, dann hopst sie die erste Stufe hinunter. „Aber ohne Gift, nur Gestank“, füge ich schnell hinzu. Sku wirft mir einen kurzen, trägen Blick zu, als wolle sie sagen, dass ihr das alles viel zu anstrengend ist, dann klettert sie gehorsam die restlichen Stufen hinunter und läuft durchs Wohnzimmer zu meiner Familie. Ich höre noch ein Geräusch, das wie ein lauter, langgezogener Pups klingt, dann bricht Geschrei und Gezeter los. Mayas Kreischen klingt wie Musik in meinen Ohren. „Abbyyyyy!“, schreit Mama und ich laufe lachend nach oben. Ich will schon die Tür zuschlagen, da huscht Sku an mir vorbei in mein Zimmer, klettert den Bettpfosten hinauf und rollt sich auf meinem Kissen ein. Ich grinse, dann ziehe ich meinen Schlafanzug mit den Pokébällen drauf an und lege mich zu Sku unter die Decke. Ich hebe sie von meinem Kissen und lege mich hin, die Augen geschlossen. Wenige Sekunden später klettert Sku auf meinen Kopf und rollt sich dort zusammen. Ihre Krallen ziepen in meinem Haar, aber das macht mir nichts aus. Ich hab mein eigenes Pokémon. Und es ist das Beste auf der ganzen Welt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)