Für immer verloren? von Kyo-chi ================================================================================ Kapitel 2: ----------- Als ich wieder zu mir komme, steigt mir ein steriler, widerlicher Gestank in die Nase und nur träge öffnen sich meine Augen. Alles um mich herum ist strahlend weiß, blendet mich, so dass ich sie sofort wieder schließe, sie fest zusammenkneife. Wo bin ich? Was ist passiert? Als ich das regelmäßige, dennoch penetrant nervige Piepsen neben mir wahrnehme, den ekligen Geruch und das kalte Weiß zuordnen kann, weiß ich jedoch, wo ich mich befinde. Einige Minuten lang liege ich einfach nur da, die Augen noch immer geschlossen, dem Piepsen lauschend und nachdenkend. Gedankenfetzen, Erinnerungsstücke fügen sich nach und nach in meinem Kopf zusammen und Stück für Stück ergeben sie Sinn für mich. Hastig setze ich mich auf, als sich das Bild zusammenfügt, ignoriere meinen pochenden Schädel, schaue mich hektisch, beinahe panisch um, wimmere und suche - nach dir. „Dai…“ Meine Stimme klingt wie das Krächzen eines Raben und ein lautes, heiseres Husten folgt, schüttelt meinen ganzen Körper. Ich sitze einfach nur da und versuche mich zu beruhigen, was mir kaum gelingt. Erst nach einer ganzen Weile, in der ich mir regelrecht die Seele aus dem Leib gehustet habe, komme ich wieder zu mir, entspanne meinen verkrampften Körper, der bereits zu schmerzen beginnt. Wieder suche ich den Raum ab, suche nach dir, analysiere jeden Zentimeter - doch ich entdecke dich nirgends. Ohne Nachzudenken springe ich aus dem Bett, spüre gar nicht, wie die Kanülen aus meinem Arm reißen, fühle nicht, wie der Schmerz meine Glieder befällt und verlasse ohne zu überlegen das Zimmer. Apathisch streife ich durch die Gänge, die langen Flure entlang und suche weiterhin nach dir, ignoriere den Schmerz in meinen Füßen, meinen Beinen, eigentlich in meinem ganzen Körper, den ich erst jetzt wirklich wahrnehme. Was kümmert mich der Schmerz? Ich will dich finden. Wo bist du? Zeig dich, bitte! Doch du bist nicht hier. Ich kann dich einfach nicht finden, egal wie lange ich durch die Flure streife, egal wie viele Türen ich aufreiße, egal wie lange ich den Schmerz einfach weiter ignoriere. Und nur langsam sickert die Erinnerung vollständig durch. Die Erinnerung daran, dass wir gerannt sind, gefallen. Die Erinnerung daran, wie die Welle uns erwischt und mitgerissen hat. Die Erinnerung daran, dass ich dich losgelassen, dass ich dich verloren habe. „Dai…“ Ein verzweifeltes Wimmen entflieht meiner Kehle und erschöpft sinke ich zu Boden, spüre, wie brennend heiße Tränen über meine Wangen fließen, höre, wie ich aufschluchze, fühle, wie die letzte Kraft aus mir weicht. Wie in Trance liege ich auf dem kalten, grauen Boden, vernehme Stimmen um mich herum, aufgeregt gesprochene Worte und spüre, wie man mich hochhebt, mich auf eine Trage legt und wieder zurück in das Zimmer bringt, aus dem ich zuvor gerannt bin. Still weinend lasse ich es zu, blicke starr vor mich auf meine Hand, mit der ich dich gehalten habe, auf mein Handgelenk, auf die unverkennbaren Spuren, die du dort hinterlassen hast. Ich habe dich verloren. Für immer… Drei Tage sind seitdem vergangen. Ich habe mich auf eigene Gefahr selbst aus dem Krankenhaus entlassen, will einfach nicht mehr Tag ein, Tag aus in meinem Bett liegen und vor mich hin vegetieren. Und was sollen mir eine Gehirnerschütterung, mehrere geprellte und angebrochene Körperteile sowie Schürf- und Schnittwunden schon tun? Den Schmerz meines Körpers spüre ich sowieso kaum. Ohne dich ist einfach alles egal und nichts ist mehr von Bedeutung. Die ganze Zeit habe ich von meinem Krankenbett aus nach draußen gesehen, beobachtet, wie immer wieder Rettungswagen mit lauter Sirene und Blaulicht vor dem Gebäude hielten, Leichen oder Verletzte in das winzige Krankenhaus brachten. Am Ende war es so voll, so beengt in dem Gebäude, dass sogar in mein Doppelzimmer Betten geschoben, so weitere acht Leute untergebracht wurden. Und auch die Gänge waren vollgestopft mit Verletzten, die teilweise einfach nur auf dem Boden saßen, in Decken gewickelt auf Hilfe hofften oder darauf, dass wieder jemand seinen Verletzungen erlag und ein Bett für sie frei wurde. In meinem Zimmer wechselten die Verletzten ebenso alle paar Stunden und immer wieder wurden Personen hinausgefahren und neue wieder hineingebracht. Doch nie warst du dabei. Nie haben sie dich in mein Zimmer gebracht, nie habe ich dich auf einer der Tragen gesehen, nie irgendwo in den Fluren auf dem Boden, nie in einem der Zimmer, die ich nachts heimlich geöffnet und nach dir abgesucht habe. Nicht einmal unter den vielen Toten habe ich dich entdeckt. Zuerst war ich verzweifelt, habe immer wieder nach dir geschrien, gefleht, gebetet und gehofft. Doch nach dem zweiten Tag, der zweiten Nacht kam die Gewissheit, dass ich dich wohl nie wiedersehe, dass du hinaus ins Meer getrieben wurdest und ich mich nicht einmal von dir verabschieden kann, nicht so wie die vielen anderen, die ihre Bekannten, Verwandten, Freunde oder Geliebten auf den Tragen und Betten fanden, ihnen noch einmal ins Gesicht sehen, ein letztes Mal mit ihnen reden konnten. Warum nur? Warum hat es dich getroffen? Warum nicht mich? Warum habe ich dich losgelassen? Immer und immer wieder stelle ich mir diese Fragen, doch ich finde einfach keine Antworten. Und auch jetzt, als ich zum Strand gehe, mir mühselig meinen Weg durch die Trümmer kämpfe, bekomme ich keine Antworten. Ich hätte alles dafür geben sollen, dass wenigstens du in Sicherheit bist, dass wenigstens du es schaffst. Müde schweift mein Blick über die Reste von kleinen Hütten, über umgerissene Pflanzen und Bäume, über Autos, die zerdrückt an irgendwelchen Häuserwänden liegen. Überall ist Schlamm und Dreck und es stinkt bestialisch nach Verwesung. Vögel picken hier und da zwischen dem Geröll herum, finden immer wieder etwas und fliegen davon. Ich will nicht wissen, was sie da essen und so beschleunige ich humpelnd meinen Schritt, in einer Hand eine Krücke, um mit meinem angebrochenen Fuß irgendwie vorwärts zu kommen und in der anderen eine weiße Lilie, die ich mir aus dem Krankenhaus genommen habe. Sie stand in einer der vielen Vasen rings um die Verstorbenen. Ich will mich von dir verabschieden, auch wenn ich nicht weiß, wo du jetzt bist. Wurdest du wirklich aufs Meer hinaus getrieben? Gibt es wirklich keine Möglichkeit, dass wir uns wiedersehen? Nur langsam führt mich mein Weg zum Strand und ich bleibe immer wieder stehen, um kurz zu verschnaufen und mich von den wenigen Metern zu erholen, die ich Stück für Stück hinter mir lasse. Das Elend um mich herum kann ich dabei nicht einfach ausblenden und mein Blick schweift erneut träge umher. Menschen hocken zwischen den Überresten ihres Zuhauses, schreien, schlagen, beten. Rettungsleute durchsuchen noch immer die Gegend, durchforsten jeden Zentimeter und Leichenspürhunde durchkämmen alles, was sie erreichen, schnüffeln und finden hier und da jemanden zwischen den Trümmern. Eine Katastrophe, wie sie nur selten in diesem Ausmaß geschieht und mit dem größten Verlust, den es für mich hätte geben können - dich. Brennende Tränen kämpfen sich in meine Augen, fließen über meine geröteten, bereits vom vielen Weinen wunden Wangen. Doch ich wische sie grob mit dem Handrücken weg und bahne mir weiter den Weg durch Schlamm und Müll, durch Schutt und Trümmer, durch Überreste egal welcher Natur, kümmere mich nicht um die Kleidung, die ich trage. Sie ist vom Krankenhaus gestellt und mir sowieso viel zu groß. Aber etwas anderes besitze ich nicht mehr. Mein Shirt und meine Badeshorts waren nur noch Fetzen und bereits im Krankenhaus habe ich sie entsorgt. Sie erinnern mich an dieses Ereignis, welches ich am liebsten für immer aus meinem Gedächtnis streichen will, daran, dass ich dich losgelassen, dich verloren habe. Warum kann ich nicht alles rückgängig machen? Egal wie weit, meinetwegen auch Jahre zurück, zu der Zeit, in der wir nur Freunde waren. Lieber habe ich dich als besten Freund bei mir, als dich als meine große Liebe für immer zu verlieren. Weiter gehe ich Richtung Strand, komme nach einer halben Ewigkeit endlich an diesem an. Doch nichts sieht mehr aus wie zuvor. Nichts erinnert mehr an die friedliche Idylle, den schönen, weißen Sand und die Zeit, die wir hier verbracht haben. Überall liegen abgeknickte Palmen, Schlick bedeckt den Sand und auch das Meer, welches nun wieder so ruhig und fast romantisch wirkt, schafft es nicht, die Massen an Dreck zu beseitigen. Vorsichtig gehe ich weiter, passe auf, dass ich nicht ausrutsche und mich noch mehr verletze als ohnehin schon. Nicht, dass es mich kümmert, aber wenigstens das hier möchte ich noch zu Ende bringen. Wenigstens verabschieden möchte ich mich von dir. Auch hier sitzen überall Vögel, gieren nach den Überresten dieses Unglücks, schreien, krähen, piepen und entreißen sich sogar gegenseitig das, was sie zwischen all dem Elend entdecken. Doch ich versuche dieses Bild auszublenden, zu unterdrücken, was dieser Anblick ihn mir auslöst, die Übelkeit herunterzuschlucken, die in mir aufsteigt. Stattdessen versuche ich den Platz zu finden, an dem wir die letzten Tage stundenlang gesessen und die warme Sonne genossen, an dem wir so oft die Nähe des anderen gespürt haben. Es fällt mir schwer diese Stelle zu entdecken, gleicht doch jeder Meter dem nächsten, Schlamm zieht sich über alles und auch an dem kleinen Städtchen neben mir kann ich mich nicht mehr orientieren, da alles umgerissen und zerstört ist, ich keine Hütte, keinen Baum, keine Straße mehr erkenne und es nicht schaffe Vergleiche mit der einstigen Schönheit dieser Insel zu ziehen. So bleibe ich einfach irgendwann stehen, den Blick in den Himmel gerichtet, so dass mich die Sonne blendet, die gleißend ihr Licht auf die Erde schickt, beinahe über das alles hier zu lachen scheint. Und auch mir entkommt ein Lachen. Ein bitteres, verzweifeltes Lachen, das deutlich zeigt, wie es mir geht, wie ich mich fühle. Ich bin allein. Ganz allein. Natürlich gibt es noch unsere Freunde, die bereits in Japan auf uns warten, vielleicht noch nicht einmal etwas von all dem wissen und sich darauf freuen, dass wir wieder zurückkehren. Aber du bist weg. Der Sinn meines Lebens ist binnen weniger Sekunden verschwunden, einfach ausgelöscht und ich spüre tief in mir drin, dass ein Teil von mir fehlt, dass mein Herz danach schreit dich wieder bei mir zu haben, dich nie mehr gehen zu lassen. Ich versuche an die Zeit vor dieser Sache zu denken, an dein Lachen, welches in mir immer diese wohlige Wärme ausgelöst hat, an deine Stimme, die so liebevoll, so zärtlich meinen Namen ausgesprochen hat - an alles. „Dai…“ Wie schon so oft in den letzten Tagen kommt dein Name über meine Lippen und ich spüre, wie die Realität brutal auf mich einströmt, fühle, wie die Einsamkeit in mir hochkriecht, die Angst, wie ich das jetzt alles ohne dich schaffen, wie ich mein Leben ohne dich meistern soll. Morgen geht es zurück nach Japan, ein Flug organisiert von der Regierung dieses Landes, um die nur leicht verletzten Menschen schnellstmöglich in ihr Heimatland zurück zu transportieren und so das Chaos nach und nach zu beseitigen. Doch am liebsten will ich nie mehr weg von hier, warten und hoffen, dass du wieder zurückkommst, dass du doch irgendwann vor mir stehst, mit diesem unverkennbaren Grinsen, welches mir zeigt, dass alles okay ist, dass es dir gut geht. Du kannst doch nicht einfach weg sein, verdammt! Warum hast du dich nicht weiter an mir festgehalten? Und warum hab ich dich einfach losgelassen? Warum konnte es nicht mich treffen? Wut steigt in mir auf - auf mich, auf dich, auf alles - und ich schmeiße die Lilie einfach in das salzige Nass vor mir, schreie so laut ich gerade kann, sinke auf meine Knie, ignoriere den Schmerz, der sich in mir ausbreitet, nicht gegen den ankommt, der mein Herz fest umschlossen hält, mich von innen heraus zerfrisst. Ich will und kann nicht ohne dich. Ich schreie immer weiter, solange, bis ich einfach nicht mehr kann, weinend und zitternd im Sand hocke, mich fest in diesen kralle, spüre, wie sich einige Scherben in meine Handflächen schneiden. Ich fühle keinen Schmerz, sehe nur das Blut, das langsam meinen dreckigen Händen hinabfließt, lautlos auf den Boden tropft. „Kyo…?“ Mein Körper verkrampft sich, beginnt noch stärker zu zittern, als ich eine raue, kratzige Stimme hinter mir vernehme und heiße Tränen beginnen erneut über meine Wangen zu laufen, tropfen wie mein Blut zuvor einfach in den Sand. Ich traue mich nicht mich umzudrehen, habe Angst, dass ich mir das gerade alles einfach nur einbilde, dass mein Verstand der Realität entflieht und mir mein Hirn irgendetwas vorgaukelt, nur damit ich mich besser fühle. Aber… das ist doch deine Stimme, oder? Werde ich jetzt wahnsinnig? Drehe ich jetzt völlig durch? Fest beiße ich mir auf meine Unterlippe, schüttelte immer wieder meinen Kopf und versuche dem allen zu entkommen, will es nicht hören, will nicht mehr fühlen. Kann es nicht einfach aufhören? „Kyo…“ Doch wieder dringt mein Name an meine Ohren, so zärtlich und sanft, so voller Liebe, wie du ihn mir immer in mein Ohr gehaucht hast, kurz bevor du mich an dich drücktest, mir einen Kuss gabst. Und plötzlich ist es mir egal, ob ich halluziniere, ob mir mein Hirn und meine Ohren einen Streich spielen. Ich will dich einfach nur bei mir haben. Wie mechanisch drehe ich mich um, versuche zu erkennen, was hinter mir geschieht. Jedoch erblicke ich nur noch einen roten Schopf, lange Strähnen, bevor ich spüre, wie sich ein Arm fest um mich schlingt, mich verzweifelt hält und fest an den so bekannten Körper drückt, der genauso sehr zittert wir mein eigener. Ich vernehme lautes Schluchzen, mein eigens, deines und kralle mich einfach an dir fest. „Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)