Die Freiheit zu weinen von Xylune (Naruto x Sasuke) ================================================================================ Prolog: -------- Der Anfang war ihm entglitten. Diese unbestrittene Tatsache stellte er nüchtern fest, als er seinen Blick auf die fiebrig glänzenden Sonne richtete. Ein Tag wie jeder andere und dennoch fühlte er, dass sich etwas verändert hatte. Nicht heute, sondern insgesamt. Er hatte es erst sehr spät bemerkt, zu spät, wie er dachte, denn zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Ereignisse längst seiner Kontrolle entzogen. Etwas, das er nicht hatte berechnen können, war geschehen. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, er kniff sie zusammen, bunte, doch farblose Flecken tanzten vor seinen Augen umher und gleichzeitig hob er die Hand, um sie vor sein Gesicht zu halten. Die Sonne blendete ihn, leicht schüttelte er mit dem Kopf in der Hoffnung es würde ihm die klare Sicht zurückbringen. Jetzt brauchte er sie, vor allem jetzt, dessen war er sich vollends bewusst. Für einen Moment hielt er inne und versuchte sich zu konzentrieren. Vergeblich, es fiel ihm schwer, die Emotionen und gedanklichen Fetzen zu fassen und in eine vermeintlich sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Womit hat es begonnen, fragte er sich stumm, und wann überhaupt?! Orientierungslos fragte er sich auch, warum es eigentlich nicht regnete. Ausgerechnet hier und heute könnte es doch regnen, dachte er. Ein Regen, dessen Tropfen wie Paukenschläge zur Erde fallen, verschwinden, um doch in ihrer unfassbaren Anzahl eine Spur zu hinterlassen. Eine Spur des Vergessens, der Reinheit. Dieser Ausdruck gefiel ihm - Reinheit - es klang irgendwie bedeutsam, beinahe schon heilig. Menschen hatten in der Vergangenheit und Gegenwart nach einem Zustand der Reinheit gestrebt, in vielerlei Hinsicht, für ihn hatte dieser Gedanke jedoch keinerlei spirituelle Hintergründe. Vielmehr erinnerte es ihn an ein weißes Blatt Papier, unbeschrieben, ungebraucht, ein Blatt mit unzähligen Möglichkeiten. Ein Blatt Papier für die Zukunft, überlegte er, auch das sagte ihm durchaus zu. Über ein Jahrzehnt lang hatte er sich kaum etwas sehnlicher gewünscht als eben so ein unbeschriebenes Blatt zu sein und den Federhalter, um es letztendlich zu beschmutzen, selbst fest in der Hand zu halten. So hatte er sich immer wieder ausgemalt, eine selbstgeschriebene Zukunft, ein Traum, ein Wunsch aus vergangenen Zeiten. Plötzlich zuckte er verwundert zusammen. Seine Fingerspitzen waren feucht, winzige Tropfen glaubte er zu erkennen und als er verständnislos mit müden Augen zur Sonne hinaufblickte, wurde ihm bewusst, dass sich nichts verändert hatte. Kein Regen. Nur die Freiheit, zu weinen. Wie von Krämpfen geschüttelt, brach er zusammen, krümmte sich auf dem trockenen Kies zusammen und die Freude, die er verspürte, hätte größer nicht sein können. Kapitel 1: Sasuke ----------------- Die Schulstraße war eine jener bedeutungsvollen Straßen, die sich ihren Namen mit abertausend anderen Straßen in dieser und auch in anderen Städten und Ländern teilte. Auf der ganzen Welt gab es sie und hätte man nun ausgerechnet, in wie vielen dieser Straßen tatsächlich noch eine Schule existierte, wäre das Ergebnis vermutlich eher ernüchternd ausgefallen. Auch in dieser Stadt gab es sie und auch hier teilte sie das Schicksal jener Straßen, die ihrem Namen keinerlei Ehre machten. Stattdessen reihten sich vereinzelte Wohnhäuser mit stellenweise mehr oder minder gepflegten Vorgärten aneinander und da es sich zudem um einen verkehrsberuhigten Bereich handelte, konnte man des Öfteren, wie auch heute Dank des strahlenden Sonnenscheins, spielende Kinder beobachten, die ihren Ball von der einen zur anderen Seite kickten. Ein Idyll, mag ein fremder Besucher vermuten, der zufällig heute hier vorbeikommt, vielleicht um Verwandte zu besuchen, womöglich auch, um einen Spaziergang unter den blühenden Kirschbäumen zu machen, um dann abschließend im gut besuchten Café an der Straßenecke einen Cappucino und ein Stück der leckeren Apfeltorte zu genießen, die Madame Yukimura so gerne bäckt. Eventuell würde der Fremde sie dann um etwas Schlagsahne, jedoch nicht zu viel, das mochte er betonen, zu bitten und sie zu ihrem Standort zu beglückwünschen. Ein Café konnte doch kaum einen schöneren Standort haben als zwischen den blühenden Kirschen, all den Apfelbäumen und der ruhigen und gepflegten Straße. "Oh ja", würde Madame Yukimura, der man ansehen konnte, dass sie ihr fünfzigtes Lebensjahr bereits hinter sich gelassen hatte, sagen, "ich bin ganz ihrer..." Als die Tür sich öffnete, verstummte sie urplötzlich. Es war kein lautes Geräusch gewesen und doch war Madame Yukimura zusammengezuckt und ihr freundliches Lächeln erstarrte im nächsten Augenblick. Der junge Mann, der das Café soeben betreten hatte, würdigte sie keines Blickes, vielmehr richtete sich sein Blick auf die zurückliegende Wand und somit auf eine sepiafarbene Kopie eines Landschaftsbildes, die das Haus in seinem Zustand vor etwa einem Jahrhundert abbildete. Schaute man genauer hin, konnte man wohl auch noch die Jahreszahl - 1910 - lesen. Diese Mühe machte sich der junge Mann jedoch nicht, sein Blick irrte ziellos über Bild, Blumentapete und den Holzboden. Madame Yukimura, die sich inzwischen wieder gefangen zu haben schien, wenn man von ihren Händen absah, die nervös wirkend an dem kleinen Papierblock herumnestelten, den sie in der Hand hielt, um etwaige Bestellungen niederzuschreiben, versuchte vergeblich Blickkontakt zu dem jungen Mann zu bekommen. Schließlich gab sie dieses Vorhaben auch auf und erhob stattdessen ihre Stimme: "Guten Tag, Sasuke, schön dich zu sehen." Der Angesprochene, von dem man nicht so recht sagen konnte, ob er sie verstanden hatte - er reagierte nämlich nicht - setzte sich nun kommentarlos auf einen der Stühle, der zu einem der kleineren Tische gehörte und griff nach wie vor schweigend zu einer der Karten, die die kleine Auswahl des Cafés von ihrer besten Seite präsentierte. Der Neffe von Madame Yukimura hatte aufwendig sämtliche Torten und teils auch etwas aufwendigere Getränke fotografiert und diese verwendet, um das ganze möglichst schmackhaft zu illustrieren. Völlig ungerührt und mit starrem Blick blätterte Sasuke durch die Karte ohne dabei innezuhalten. Er las das ganze nicht aus Interesse, schließlich wusste er genau, was hier angeboten wurde. Vielmehr hoffte er, dass Madame Yukimura sich endlich wieder ihrem eigentlich Gast zuwenden und ihn derweil in Ruhe lassen würde. Das sprach er natürlich nicht aus, jedoch atmete er unhörbar erleichtert aus, als sich die offensichtlich verwirrte Frau wieder dem Fremden zuwandte und ihm etwas über die Besonderheiten ihres Apfelkuchens erzählte. Nach einer Weile erschien ein Arm in Sasukes Blickfeld, angesichts dessen er den Kopf und auch die Karte ein Stück zurücknahm und teilnahmslos beobachtete, wie die ältere Frau ihm ein Stück ihrer Himbeertorte auf den Tisch stellte. Ohne Sahne, wie er nüchtern festellte. Hinzu kam ein heißer Kakao. Mit Waffel. Sasuke setzte sich nun auf und griff mit der Hand in die Jackentasche und einen kleinen Geldschein herauszuziehen, den er auf den Rand des Tisches legte und ohne Regung beobachtete, wie Madame Yukimura diesen nahm und in ihrem überdimensionales Portmonnaie verschwinden ließ. Danach wartete er etwa eine Minute, bevor er zu der Kuchengabel griff und sich betont langsam daran machte, die Torte in mundgerechten Stücken zu verspeisen. Der fremde Gast hatte das ganze Schauspiel wortlos beobachtet und wusste es nicht so recht einzuordnen. Zwar war er keine zwanzig mehr, jedoch konnte er sich auch nicht entsinnen, dass die 'Jugend von heute' grundsätzlich solche Manieren an den Tag legte, die man schon gar nicht mehr als solche zu bezeichnen wagte. Im Gegenteil. Sein Neffe, der seiner Erinnerung nach inzwischen siebzehn oder achtzehn sein mochte, benahm sich tadellos und studierte seines Wissens nach inzwischen in einer der größeren Städte des Landes Kunstgeschichte. Nicht, dass es ihn wirklich interessierte, schließlich konnte er einen Van Gogh nicht von einem Picasso unterscheiden, aber es freute ihn doch, dass der Junge - zumindest bis jetzt - etwas aus seinem Leben gemacht und etwas erreicht hatte. Seine fortführenden Gedanken wurden je durch das - dieses Mal - geräuschvolle Öffnen der Tür unterbrochen, deren Klinke laut gegen die abgenutzte Tapete schlug. "Tante Hana, ich bin's!", schrie der soeben eingetretende Junge quer durchs Café und bewirkte somit, dass nicht nur der erschrockene Fremde, sondern selbst Sasuke - der soeben das letzte Stück seiner Himbeertorte gegessen hatte - aufblickte, wenn sich auch nicht ablesen ließ, ob er nun verwundert war über das Geschehnis oder eher weniger. Madame Yukimura, die bis eben in der angrenzenden Küche des Cafés zugebracht hatte, kehrte zurück und setzte beim Anblick des Jungen ein herzlich lächelndes Gesicht auf: "Itachi! Ist die Schule schon vorüber? Hast du deine Hausaufgaben gemacht? Möchtest du ein Stück Torte?" Der angesprochene Junge, Itachi lautete wohl sein Name, nickte eifrig auf jede der ihm gestellten Fragen hin und rief laut: "Aber ich möchte Blaubeerkuchen - mit ganz viel Sahne!" Die Frau, die Itachi 'Tante Hana' nannte, versprach ihm, dass sie ihm sogleich ein Stück besorgen würde und er sich doch schon einmal setzen solle. Danach kehrte sie eiligen Schrittes in die Küche zurück, um dort ein möglichst noch warmes Stück ihres Blaubeerkuchens hervorzuholen und dies mit einem großzügigen Klecks Sahne zu bedenken. Itachi blickte sich einen Augenblick lang um, bis sein Blick auf Sasuke fiel, der inzwischen seinen leeren Teller beiseitegeschoben und den Kakao in die Hand genommen hatte im Glauben, er habe nun zum Trinken eine annehmbare Temperatur erreicht. "Sasuke", rief Itachi laut und der Angesprochene brachte es gerade noch fertig seinen Becher wieder abzustellen, bevor der Junge vor ihm stand und leicht am Ärmel von Sasukes marinefarbener Jacke zog. "Was ist?" Der Fremde war erstaunt. Scheinbar war der junge Mann ja nicht taubstumm, was wiederum seine Theorie in Hinblick auf die schlechten Manieren wieder deutlich fundierter erscheinen ließ. "Wir haben die Mathearbeit zurückbekommen - ich hatte eine eins", Itachi legte eine dramaturgische Pause ein, "und übermorgen fahren wir alle in den Vergnügungspark. Die ganze Klasse. Ist das nicht toll?!"5 Man hatte förmlich das Gefühl Itachis Augen wären in der Lage Funken zu sprühen, so viel Begeisterung und Freude versuchte er zu vermitteln mit seiner Aussage. Sasuke wiederum schloss für einen kurzen Moment die Augen, um sich dann dem Jüngeren zuzuwenden: "Das ist wunderbar." Er bemerkte das ungläubige Gesicht des fremden Gastes nicht, der nicht so recht wusste, ob die Aussage des Jungen mit dem Namen Sasuke nun ernst gemeint war oder von Sarkasmus nur so triefte. Sein Satz hatte weder Begeisterung noch offene Ablehnung ausgedrückt. Er war schlichtweg neutral gewesen, beinahe schon gleichgültig. Sollte er das nun korrekt interpretiert haben, fühlte er sich auch weiterhin in seiner Annahme bestätigt - dieser Typ namens Sasuke hatte absolut kein Taktgefühl. Seine Überlegungen schienen jedoch nicht ungemerkt geblieben zu sein, stellte er fest, als er Sasukes Blick streifte, der ihm für einen Augenblick in die Augen gesehen, sich jedoch sofort wieder von ihm abgewandt hatte. Nicht, dass ihn dies in Erstaunen versetzte, es ist nicht immer angenehm, anderen in die Augen zu blicken, das hatte er selbst schon mehrfach festgestellt. Allem Unmut zum Trotz ertappte er sich zudem dabei, wie er weitere Überlegungen anstellte und sich fragte, was einen Menschen wohl so beeinflussen mochte, dass er ein derart 'merkwürdiges' Verhalten an den Tag legte. Wenige Minuten später erhob sich der junge Mann schließlich, ungerührt dessen, dass Itachi immer noch in seinem Stück Kuchen herumstocherte, und verließ das Café. Die Tür fiel fast schon geräuschlos ins Schloss und der Fremde raufte sich die Haare, während er aus den Augenwinkeln beobachtete, wie sich Madame Yukimura zu dem kleinen Jungen an den Tisch setzte und unüberhörbar seufzte. Itachi sah auf und blickte seine vermeintliche Tante fragend an. Diese öffnete zunächst den Mund, um ihn unmittelbar wieder zu verschließen. Als habe sie etwas sagen wollen, sich jedoch nicht dazu durchgerungen. Nachdenklich stützte der Fremde seinen Kopf auf den Händen ab und beobachtete, wie Itachi den Kopf wieder senkte und mit leicht bedrücktem Gesichtsausdruck den Rest seines Kuchens verspeiste. Deutlich weniger enthusiatisch als noch vor wenigen Minuten fiel letztendlich auch seine Verabschiedung aus: "Wir sehen uns, Tante Hana." Es klang durchaus freundlich und auch ein kleines Lächeln zierten die Lippen des Kindes, das plötzlich älter und wissender schien, als noch zu Beginn seines Auftauchens. Selbst der Fremde registrierte, dass irgendetwas in der Luft lag. Irgendetwas, das niemand von den Beteiligten auszusprechen wagte. Er zuckte ein wenig zusammen, als die Tür daraufhin mit einem lauten Knallen ins Schloss fiel. Erneut seufzte Madame Yukimura. "Was soll nur werden?", fragte sie leise in den Raum. Eine rhetorische Frage ohne Antwort. Der Fremde blickte aus den großrahmigen Fenstern hinaus und glaubte, dass schon bald ein Unwetter heranziehen würde. Kurze Zeit später verließ auch er das kleine Café und beeilte sich vor den ersten Regentropfen zu seinem ein wenig entfernt parkenden Auto zu gelangen. Zwei Tage später hatte er diesen denkwürdigen Tag vergessen und als er, Monate später, Sasuke doch tatsächlich noch einmal begegnete, erkannte er ihn schon längst nicht mehr. Sasuke selbst hatte nicht viel mitbekommen von dem nachdenklichen Fremden, der ihn im Café begutachtet hatte. Im Gegenteil, er hatte längst aufgehört, darauf zu achten, wie andere ihn sahen oder überhaupt auf ihr unverhohlenes Starren zu reagieren. Früher hatte er sich häufig gefragt, ob er wohl unbemerkt ein regenbogenfarbenes Kleid trug und ihn die Leute deshalb so musterten. Ab und an kamen ihm auch diese Gedanken wieder, jedoch meist nur für einen kurzen Zeitraum. Er hatte verstanden, dass es vollkommen gleichgültig war, ob er neonpinke Pullover oder welche in blauer Farbe trug. Ebenso hatte er begriffen, dass er keine Lösung fand, die diese Differenz zwischen ihm und den anderen zu überbrücken mochte. Anfangs hatte seine Mutter noch unterschiedliche Versuche unternommen, ihn zu bestimmten Handlungen zu bewegen: "Sasuke, rede doch mal mehr mit den anderen." "Sasuke, Kiba von nebenan feiert übermorgen Geburtstag und hat dich eingeladen, möchtest du hin?" "Sasuke, es ist wichtig, dass du den Lehrern mehr entgegenkommst, denk doch an deine Zukunft!" Vor allem der letzte Satz "Denk doch an deine Zukunft" zog sich quer durch die Lebensjahre des jungen Mannes. Im Namen der Zukunft hatte man alles mögliche zu beachten. Dazu gehörten nicht nur gute Schulleistungen und ädaquate Kleidung - sondern auch in erster Linie ein "Bitte" und "Danke" verknüpft mit guten Manieren und einem fröhlichen und selbstbewussten Auftreten. Nicht nur, dass ihm die höflichen Floskeln seit frühster Kindheit schwergefallen waren - es fiel ihm ebenso schwer, verschlossene Türen zu öffnen. Oft hatte er sich schon dabei ertappt auf den Fluren dieser Welt zu stehen, die eine Tür, durch die er gehen musste, zweifelsfrei anhand des Türschilds identifiziert zu haben und dennoch hatte er es nicht tun können. Er verspürte keine Angst beim Gedanken daran, nach dem Türknauf zu greifen, sondern eher eine große, undefinierbare Leere, wenn er sich gedanklich ausmalte, sein Vorhaben zuendezubringen. Itachi, der im Jahr von Sasukes zwölften Geburtstag geboren wurde, war seit jeher anders gewesen als sein großer Bruder. Ein aufgeschlossenes, neugieriges Kind, das auf andere zuging, gleichzeitig jedoch am Rockzipfel seiner Mutter hing. Ein Kind, das jegliche Investitionen wert war, hatte Sasuke ab und an etwas verbittert gedacht, wohlwissend, dass diese Einschätzung nicht so ganz gerecht war. Er war nie in der Lage gewesen, eine wirklich enge Bindung aufzubauen zu Itachi, vielleicht aufgrund des großen Altersunterschiedes, womöglich weil er sich damals mit zwölf irgendwie betrogen gefühlt hatte von seinen Eltern, die die Aufmerksamkeit plötzlich in erster Linie dem kleinen, schreienden Bündel zu widmen hatten. Wenn viele Klischeedarstellungen davon ausgingen, dass die Eltern ihre Hoffnungen in ihr ältestes Kind hineinprojizierten, so konnte Sasuke diese Überlegung vorbehaltlos dementieren. Sicherlich hatte immer ein gewisser Druck auf ihm gelastet, jedoch bekam auch er mit, dass Itachi in der Hinsicht anders behandelt und begutachtet wurde. Es war, als habe man aus den Fehler, die man eventuell gegenüber dem Erstgeborenen begangen hatte, im Nachhinein gelernt. "Oder es ist so, dass man mich aufgegeben hat." Sasuke wusste durchaus, dass auch dieser Satz nicht wirklich gerecht gegenüber seinen Eltern war. Dennoch fiel es ihm schwer, bestimmte Gedanken abzustellen und sie bereits in der Konstruktionsphase wieder zu verwerfen. Jene, die nicht dazugehörten, versuchten häufig Ventile für ihre Wut zu finden, die sie in ihrem täglichen Leben begleitete. So gab es einige, die nach Aufmerksamkeit gierten, unabhängig davon, ob ihre Bemühungen sie zum Clown der Nation degradierten. Ebenso existierten jene, die darauf setzten andere durch körperliche und teils auch verbale Gewalt einzuschüchtern, um ihre vermeintliche Macht zu demonstrieren und sich Anerkennung durch die Furcht anderer zu verschaffen. Eine andere Möglichkeit bestand darin, den Hass auf sich selbst zu projizieren. Selbstverletzendes Verhalten nannte man das. Darüber hinaus gab es natürlich noch Drogen. Den zwanzigjährigen Sasuke suchte man vergeblich in den Jugendgangs oder unter den Junkies dieser Stadt. Wenn er ehrlich war, traute er sich nicht einmal Marihuana zu konsumieren. Nicht, weil er etwaige Strafen fürchtete, sondern weil er glaubte zu wissen, dass jegliche Suchtmittel ihn hart treffen könnten. Er war zwar nicht allzu selbstzerstörerisch veranlagt, wie er vermutete, jedoch wollte er es auch keinesfalls darauf anlegen, sich das Gegenteil zu beweisen. Sasuke wusste sehr genau, dass er nicht dazugehörte, aber er hatte ebenso verstanden, dass er auch keinen Halt in den Spinnenfäden der Gesellschaft fand, die sich bemühte auch jene aufzufangen, die versagt hatten ihr Leben normgerecht zu gestalten. Manchmal, wenn der Regen eine Symbiose zwischen Monsun und Sinflut einzugehen schien und das laute Prasseln auf dem Wellblech so ohrenbetäubend laut war, dass selbst die dumpfe Musik aus dem Kopfhörer es kaum noch zu übertönen vermochte - fühlte Sasuke eine Form von tiefer, innerer Zufriedenheit in sich aufsteigen. Zwar glaubte er nicht daran, dass dieser schier endlose Regen, der in einigen Minuten das Zeitliche segnen würde, irgendetwas verändern konnte - aber ihm gefiel der unsinnige Gedanke an einen Funken Hoffnung, der Bestand haben könnte, wenn all der Schmutz fortgewaschen war. Ein dezentes Klopfen ließ ihn aufschrecken. Es kam von der Zimmertür, die sich ohne eine Erwiderung von ihm schließlich zögernd öffnete. Was mochte jemand denken, der sich dabei soviel Zeit ließ? Hatte die Person Angst ihn zu ertappen? Wobei? Das matt lächelnde Gesicht seiner Mutter tauchte im Türspalt auf. "Sasuke?", fragte sie zögernd, doch er sah sie nur abwartend an ohne etwas zu erwidern. "Hast du nun deine Bewerbungen geschrieben?", fuhr sie schließlich fort. Im Grunde wusste Sasuke natürlich, dass dies eine rein rhetorische Frage war, die ihm vermitteln sollte, dass sich seine Mutter um ihn und seine Belange sorgte und sich auch kümmern wollte. Ebenso wusste er, dass seine Antwort, unabhängig davon, ob er die Frage bejahen oder verneinen würde, dieselbe Reaktion hervorrufen würde. Es war schlichtweg bedeutungslos. "Ich bin dabei", erwiderte er schließlich die farblose Wand musternd. Dunkel glaubte er sich zu erinnern, dass die Wand ursprünglich in einem sehr hellen Gelbton gestrichen worden war, jedoch erkannte man diese Farbe kaum und sie erschien schlichtweg ernüchternd weiß. "Gut, du weißt ja, wenn du Hilfe brauchst", sie führte den Satz nicht zuende und beließ es stattdessen bei einer etwas hilflos erscheinenden Geste, die alles und Nichts bedeuten konnte. Am Ende fügte sie lediglich hinzu, dass das Essen bald fertig sei. Sasuke würde sie natürlich nicht um Hilfe bitten, ebenso wenig, wie seine Bewerbungen je über Datum und Adresse hinauskamen. Nicht, dass Sasuke dumm oder ungebildet gewesen wäre. Im Gegenteil, er hatte die Schule zwölf Jahre besucht und zumindest auch durchschnittliche Leistungen erbracht. Zumindest bis er sich selbst in die Quere gekommen und eines Tages seine Sachen gepackt und nicht mehr hingegangen war. Ob er diese Entscheidung bedauerte? Er bedauerte in erster Linie den Grund, den er gehabt hatte, so zu handeln, doch hatte er in den vergangenen zwei Jahren darauf verzichtet, ihn der Mutter mitzuteilen, die inzwischen längst aufgehört hatte, nachzuhaken. Wozu auch? Die Tatsachen und die Gegenwart veränderte sich nicht, nur weil man die Vergangenheit erneut durchkaute und ausspuckte. Selbst, wenn er eines Tages sich sagen konnte, dass er nun in der Lage war, anders zu handeln - selbst dann würde sich all das nicht in Luft auflösen. Er war und würde kein Mensch werden, den man auf der verwandschaftlichen Geburtstagsfeier als erfolgreichen Sprössling preisen konnte. Sicherlich, er wusste nicht, was seine Eltern all den neugierigen und klatschsüchtigen Tanten und Onkels erzählen mochten, jedoch ging er nicht davon aus, dass es besonders aufregend war. Vermutlich sprachen sie gar nicht über ihn. Sasuke kannte nicht einmal alle bei Namen hätte er ihnen gegenübergestanden. Einmal hatte auch sein Vater ihn deshalb kritisiert - er sprach damals davon, dass es ihm irgendwann schaden könne, wenn er keinerlei Kontakte pflege. Was wäre denn, wenn er Hilfe gebrauchen konnte? Wobei denn, hatte sich Sasuke damals gefragt, jedoch nur etwas fadenscheinige Antworten erhalten. Bis jetzt konnte er sich nicht so recht die Situation vorstellen, in der er die Hilfe jener Leute gebrauchen könnte. Am meisten beschäftigte ihn jedoch die Frage nach dem Ursprung, dem wahren Grund für all das. Zwanzig Jahre waren vergangen und er, der durchschnittliche Sohn aus dem gesellschaftlichen Mittelstand hatte weniger Perspektive als jeder Sonderschulabbrecher sie haben könnte. Dennoch hatte er nichts vorzuweisen - kein gewaltätiges Elternhaus, keine Alkoholiker, keinen pädophilen Onkel, nichts. Gar nichts. Absolut gar nichts. Sicherlich war das Leben nicht immer nett zu ihm gewesen, in der Schule hatten sie ihn grundsätzlich neben den Klassenclown gesetzt in der Hoffnung, Sasuke würde ihn verstummen lassen - was primär dazu führte, dass seine Federtasche täglich dreimal auf wundersame Weise verschwand und sein Radiergummi alle paar Wochen ersetzt werden musste. Auch seinen ersten Kuss konnte man als Desaster bezeichnen. Er hatte nicht recht gewusst, wie er dem Mädchen hätte deutlich machen können, dass er nicht interessiert war, was wiederum zu einem spontanen Kuss auf dem Schulhof inmitten einer pfeifenden Menge amüsierter Schüler geführt hatte, an den er sich ungern zurückerinnerte. Es hatte nichts Romantisches an sich gehabt, ein entrückter Moment ohne tiefere Bedeutung - und dass er anschließend sich wortlos an den johlenden Schülern vorbeigeschoben hatte, um die Schule zu verlassen und auf die letzten beiden Stunden zu verzichten, hatte er sowieso längst wieder verdrängt. "Wo liegt eigentlich der Tiefpunkt im Leben eines Menschen", überlegte er, seinen Kinn auf die Hand stützend und aus dem Fenster starrend, "und wie weit bin ich eigentlich davon entfernt?" Kapitel 2: Naruto? ------------------ Es fröstelte ihn und seine Hand tastete zitternd über das kühle Bettlaken ohne auf ernstzunehmenden Widerstand zu treffen. Schlaftrunken suchte er eine Weile, bevor er schwerfällig die Augen öffnete und mit verklebter Sicht und lichtempfindlichen Pupillen versuchte, die verfluchte Decke zu finden. Der nahestehende Wecker teilte ihm mit, dass das Zimmer nur etwa eine Temperatur von 14° C aufwies und als er den Stoff schließlich neben dem Bett auf dem Boden ausgemacht hatte, ergriff er die Decke blitzschnell und schlang sie um den frierenden, zusammengerollten Körper. Als er mit der Zeit ein wenig wacher wurde, registrierte er, dass jemand einen kleinen, weißen Zettel unter den Wecker geklemmt hatte. Sich überwindend tastete er mit den eiskalten Fingern danach, um diese ohne zu zögern wieder halb unter die Decke zu ziehen, den Zettel vors Gesicht haltend. Ruf mich bitte nicht mehr an Ein hörbares Seufzen entfloh seinen kalten Lippen. Er selbst wusste nicht so recht, ob es ein erleichtertes oder eher ein trauriges Seufzen war. Vermutlich von beidem etwas. Die Botschaft war unmissverständlich und kompromisslos. Typisch, dachte er, so typisch. Er wollte lachen, laut und kraftvoll, doch nur ein röchelnder Huster verließ seine Lippen. Es war ihm kalt und er wollte schlafen. Nun erst recht. Seinen schweren Kopf auf das Federkissen bettend, schloss er erneut die Augen und versuchte vergeblich seine umherirrenden Gedanken zu sortieren. Was war gestern eigentlich passiert? Womit hatte es angefangen? Dunkel erinnerte er sich, dass ihn gestern Abend seine Mutter angerufen hatte. Er hatte den Hörer abgenommen und seinen Namen genannt. "Ich bin es, Mutter - du kennst dich doch mit Computern aus, oder?" Er bejahte es und fragte sich, ob seine Mutter denn noch recht bei Trost war, wenn sie ihn nach Monaten zum ersten Mal anrief, nur um ihm eine rhetorische und irgendwie auch ziemlich belanglose Frage zu stellen. "Ich möchte gerne eine Lied vom Computer auf CD brennen, für die Beerdigung deines Vaters", sie machte eine kurze Pause, die Stimme vermittelte ihm weder Trauer noch Freude, "wusstest du eigentlich, dass er letzte Woche gestorben ist?" Nein, erwiderte er, das habe er nicht gewusst. Ohne näher nachzufragen, erklärte er die Bedienung des CD-Brenners, um nach kurzer Verabschiedung das Telefon mit zitternder Hand auf die Kommode zu legen. Er ließ sich auf einem der Küchenstühle nieder, vergaß jedoch nicht das kochende Wasser vorher herunterzuschalten und die Spaghetti in den Topf zu befördern. An sich war es ja gar nicht sein Vater gewesen. Das war der erste Gedanke, der ihm zu dem kurzen Telefonat einfiel. Ein Vater, der keiner gewesen war. Eine Mutter, die eine war und ihm dennoch wie eine Fremde erschien. Er verlor keinen Gedanken darüber, ob sie ihn angerufen hatte, um ihn zu informieren und einen Vorwand gesucht hatte um es zu tun oder ob sie tatsächlich rein pragmatisch darüber nachgedacht hatte, wie ein CD-Brenner funktionierte. Für einen Moment dachte er stattdessen über den Mann nach, der letzte Woche verstorben war. An die Schokoladenbrötchen, die er jeden Morgen vom Bäcker geholt hatte, als sie noch zusammenwohnten. An die Standpauken, er sollte mehr lernen und fließiger sein. Und vor allem daran, dass sie sich bei ihrer letzten Begegnung nichts versprochen hatten. Keine uneingelösten Versprechen. "Wie...", er suchte nach einem Wort, um die Misere klarer zu definieren ohne jedoch fündig zu werden. Das Gefühl, dass er verspürte, sprengte den Horizont seiner Worte und als ihn diese Erkenntnis ereilte, erhob er sich und kippte die halbgaren Spaghetti samt des köchelnden Wassers in den Mülleimer. Danach zog er sich Schuhe und Jacke an, lief die Treppen des Altbaus hinunter und trat hinaus auf die nachthelle Straße. Keine Sterne, dafür altmodische Straßenlaternen erhellten die Umgebung und der Wind trug Gesprächsfetzen und Gelächter an sein Ohr heran. Ein lauer Frühlingstag, zu schön, um daheim zu sitzen, zu bitter, um sich in billigem Wein zu ertränken. Letztendlich war er über die Schweller einer der Kneipen gestolpert, die er häufig frequentierte, hatte zwei oder drei Gläser Bier getrunken und mit dem einen oder anderen Stammgast über Bedeutungslosigkeiten sinniert. Etwa beschäftigte sie sehr, wie und ob man im fernen China wohl Katzen oder Hunde zubereitete. Angetrunken verließ er nach einiger Zeit diesen Ort wieder um sich mehr oder minder gradlinig nach Hause zu begeben, wo ihn bereits seine On-Off-Beziehung auf der Couch erwartete. "Wir waren verabredet", erboste sich sein Partner mit einer scharfen Geste in Richtung der Wanduhr. "Tatsächlich? Das habe ich wohl - vergessen", ein wenig müde kratzte er sich am Kopf und gähnte unter vorgehaltener Hand. "Wo warst du?", lautete die Erwiderung, die er mit einem schiefen Lächeln beantwortete, "Du hast getrunken." Letzteres war lediglich eine erstaunlich nüchterne Feststellung. Was genau danach geschah, konnte er jedoch im Nachhinein nur schwerlich rekonstruieren. Vermutlich waren dem einige Gläser billiger Wein, belanglose Gespräche und unbefriedigender Geschlechtsverkehr gefolgt. Wie sooft. Wahrscheinlich hatte sein tendenziell eifersüchtiger und beinahe schon anstrengender Partner nun auch verstanden, dass sein nun Verflossener so gar nicht den Vorstellungen einer romantischen Liebschaft entsprach und dass eine Beziehung auf Basis einseitiger Emotionen keine reelle Zukunft hatte. Es war besser so. Wobei es aller Wahrscheinlichkeit noch besser gewesen wäre, wenn sie überhaupt keine Beziehung geführt hätten. Von Anfang an. Nun gut, es hatte immerhin einige Monate überdauert und der Sex war zumindest in der Kategorie 'in Ordnung' einsortierbar gewesen, jedoch hatte er bereits nach einigen Tagen ebenso verstanden, dass es vorwiegend eine einseitige Beziehung gewesen war, die sie zusammengehalten hatte. Eine Mischung aus einseitiger Liebe, Mitleid und Charakterschwäche, wie er nun vorbehaltlos einräumen musste. Nachdem er seine Erinnerungen soweit sortiert hatte, streckte er sich aus und gähnte noch einmal herzhaft, bevor er sich erhob und zusammenzuckte als die Türklingel schellte. "Wer ist das das nun wieder?", überlegte er und hoffte, es handele sich nicht um seinen reuigen Verflossenen. Schnell zog er sich wahllos einige Sachen über, bevor er sich kurz mit der Hand über die Haare fuhr und annährend präsentabel die Tür öffnete: "Ja bitte...?" "Naruto!", rief eine weibliche Stimme laut, die man sicherlich im halben Treppenhaus hatte vernehmen können. "Ach du bist es, Sakura", seufzte der Angesprochene und trat ein Stück beiseite, damit das Mädchen eintreten konnte. "Kankurou hat mich verständigt, ihr habt euch getrennt?" Die Frage war natürlich rein rhetorischer Natur, denn vermutlich hatte sein Ex-Freund ihr längst sämtliche Details des Dramas offenbart. Von daher verzichtete Naruto auch auf eine Antwort und stellte stattdessen eine Gegenfrage - "Was willst du hier?" "Deinen nicht vorhandenen Kummer trösten", erwiderte sie und ließ sich auf dem orangegemusterten Sofa nieder. Natürlich hatte sie ihn längst durchschaut, dämmerte es Naruto, im Grunde hatte er auch nichts anderes von ihr erwartet. Sakura war kein naives Mädchen, das der vermutlich ziemlich dick aufgetragenen Soap Opera, die ihr Kankurou aller Wahrscheinlichkeit nach aufgetischt hatte, ernsthaft Glauben schenken würde. Sie wusste recht genau wie viel diese Beziehung Naruto bedeutet hatte - nämlich nichts - und wenn man auf die Champagnerflasche schaute, die aus ihrer Handtasche hervorlugte, konnte man sich ausmalen, dass sie nicht hier war, um ihn zu bemitleiden, sondern um sein frisches Singledasein gebührend zu feiern. Auf solche Ideen konnte nur Sakura Haruno kommen. Er selbst würde nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden dasselbe bei ihr zu versuchen, im Gegenteil, jener Versuch würde vermutlich eher tödlich für ihn enden und trotz allem hing er am Leben. "Mein Kopf bringt mich zwar gerade um, aber ich schätze du möchtest mir suggerieren, ich solle doch zwei Gläser holen", sagte er schließlich mit leicht näselnder Stimme. "Mich dünkt du hast es kapiert", antwortete Sakura mit einem breiten Lächeln, bevor sie die Beine übereinander schlug und sich zurücklehnte. Als seine beste Freundin war sie schon oft hier gewesen und es kam nicht selten vor, dass sie ihn - wie heute - spontan aufsuchte, um Belanglosigkeiten auszutauschen oder ihn auf Trab zu halten. An sich war er natürlich kein inaktiver Mensch, jedoch fiel es ihm ab und an schwer, dem quirligen Mädchen hinterherzukommen. Wie heute. Er schüttelte mit dem Kopf. Sakura sah ihrem besten Freund hinterher, wie er in der Küche verschwand und seufzte leise. Trotz allem hatte sie den leisen Verdacht, dass Narutos Zurückhaltung nicht nur mit dem Ende seiner unnötigen Beziehung zusammenhing, sondern dass es tiefergehende Gründe gab. Jedoch wusste sie auch, dass ihr Drängen, wenn sie denn nachfragte, kaum beantwortet werden würde. Naruto war durchaus jemand, den sie als offenherzig und unkompliziert und bezeichnen wagte, dennoch kam es vor, dass er Gedanken und Probleme zurückhielt und es vorzog, sie mit niemandem zu teilen. Auch nicht mit ihr. Er war und blieb eben ein Mann. Für Sakura hatte die Art von Feststellung keine sexuellen Hintergründe, im Gegenteil, sie konnte sich eine etwaige Beziehung mit Naruto absolut nicht vorstellen. Eher hätte sie ihre achtzigjährige Nachbarin geehelicht, bevor sie auf die Idee gekommen wäre, Naruto den Hof zu machen. Vermutlich dachte er ähnlich darüber. Nicht, dass er etwas gegen Beziehungen mit anderen Frauen gehabt hätte, nein, Naruto hatte durchaus eine Auswahl an Freundinnen gehabt in den vergangenen Jahren, aber die Beziehung zu Sakura war anderer Natur. Zum Glück. Schließlich hatte kaum etwas im Leben mehr Wert als ein guter Freund. Egal wie viele Männer bei ihr kommen und gehen würden, bei einigen hatte sie gar den Namen verdrängt, Naruto würde ihr erhalten bleiben. Das wusste sie - oder sie hoffte es zumindest und wollte gar nicht daran denken, dass es anders aussehen könnte eines Tages. Kurz darauf kehrte Naruto mit zwei Gläsern zurück, die er auf dem kleinen Tisch neben dem Sofa abstellte. "Schwedische Originale", kommentierte er und zog die Flasche aus Sakuras Handtasche, um ihn zu entkorken. Minuten später saßen sie schweigend nebeneinander und genossen den mehr oder minder edlen Tropfen. Sakura blickte ihren Freund neugierig von der Seite und als dieser ihren Blick bemerkte, hob er spöttisch die Augenbrauen. "Hast du dich in mein wunderschönes Anlitz verliebt oder was beschäftigt dich?" "Spinner", antwortete sie zunächst lachend, um dann doch innezuhalten, "nein, ich frage mich, was du jetzt vorhast." "Jetzt?", erkundigte er sich und erntete ein zustimmendes Nicken, "Jetzt erhole ich mich erst einmal von den Strapazen deines Besuches." "Witzbold", murmelte sie beinahe schon eingeschnappt, "ich dachte eher an dein schnödes Singleleben." "Irgendwer wird schon kommen", erwiderte er langsam, ohne näher darüber nachzudenken. Irgendwen gab es immer irgendwo und so wie er Sakura kannte, durfte er einige der nächsten Abende in den Kneipen und Bars der Millionenstadt zubringen. Nicht, dass er dagegen etwas einzuwenden hatte, er besuchte die Leute, die Szene, wie man sie nannte, recht gerne und ab und an tanzte er auch gern mal. Wie er wusste hatte auch Sakura ähnliche Interessen, sodass ihre Freizeitgestaltung allgemein sich recht kompatibel gestaltete. In einem stillen Moment wanderten seine Gedanken jedoch wieder zum gestrigen Anruf. Er fragte sich wann die Beerdigung stattfinden und ob er hingehen sollte. Zwar mochte er diese Art von Zusammenkünften nicht besonders, vor allem nicht, wenn er sich ausmalte, wie alle beisammen sitzen, Kuchen in sich hineinstopften und dann positiv über die Vergangenheit und Gegenwart schwadronierten. Ebenso waren ihm diese aufgesetzten Trauerreden zuwider. Auf der anderen Seite war er es dem Verstorbenen wohl irgendwie schuldig, ihm sichtbar zu gedenken. Sakura, die inzwischen ihren Redefluss unterbrochen hatte, merkte, dass ihr Freund ihr gerade nicht ernsthaft zuhörte und wohl irgendwie abgeschweift war. Dennoch hielt sie sich zurück und stellte keine Fragen. Nicht jetzt, dachte sie, noch nicht. Zwei Wochen später stand er vor dem frischen Grab. Man hatte einen billigen, simpel gravierten Stein aufgestellt und einige Blumen und Kränze niedergelegt, die inzwischen schon wieder verwelkten. Auf die Beerdigung hatte er verzichtet, im Grunde hatte er auch gar keine Zeit gehabt, die Semesterprüfungen standen ihm bevor und dass er heute hier stand, hatte ihn bereits einiges an Überwindung gekostet. Auch kostete es ihn einige Mühe, sich zusammenzureißen. Am liebsten hätte er hemmungslos geweint, hier und jetzt. Nicht darüber, dass er jemanden verloren hatte, der ihm nicht fremd gewesen war, das war es nicht, was ihn wirklich traurig machte. Vielmehr war es dieses lieblose Grab, die verwelkten Blumen und seine eigene Gleichgültigkeit, die ihn trauern ließen. Um sich, um ihn, um das, was sie verbunden hatte. Frische Blumen hatte er nicht gekauft, aber er hob einige von den vollkommen Verwelkten auf und warf sie in den nahen Mülleimer am Wegesrand. Er ertappte sich auch bei der Frage, ob sich seine Mutter kümmern würde, wohlwissend, dass sie es wohl irgendwie tun würde. Nicht, weil diese Verbundenheit so eine große Bedeutung für sie haben mochte, sondern weil es vielmehr pflichtgemäß dazugehörte. Familienbande. Für immer und ewig. Naruto hatte immer ein dumpfes Gefühl von Sehnsucht verspürt, wenn er seine Freunde über ihre Eltern fluchen hörte. Du hast es gut, hatten sie zu ihm dagegen gesagt, du wohnst nicht daheim und musst dir das Gejammer anhören, wenn du mal zwei Stunden zu spät daheim bist und das Essen kalt geworden ist. An sich wusste er auf solche Ausführungen nichts zu erwidern. Selbst zu der Zeit als er noch daheim gewohnt hatte, war das gemeinsame Essen eher ein besonders rares Ereignis gewesen. Etwas ohne tiefere Bedeutung für ihn. Und jetzt war sein Vater dahingegangen ohne ein Versprechen und ohne, dass sich etwas zwischen ihnen geändert hatte oder je ändern würde. Er starrte auf den schlichten Grabstein herab und bewegte stumm seine Lippen, ungehört - "Warum habe ich dich nicht geliebt?" Kapitel 3: Begegnungen ---------------------- Zwölf oder dreizehn war er gewesen, als seine Mutter ihn eines mittags mit dem Auto von der Schule abholte und er neben ihr saß, nachdenklich aus dem Seitenfenster starrend. Vorbeiziehende Landschaftsbilder, vertraut und doch unbekannt. Nach einer Weile hatte er dann gesprochen, unvermittelt. "Was ist das eigentlich, die Liebe?" Seine Mutter hatte gelacht, es war kein unfreundliches Lacheln, sondern vielmehr eines, das Verständnis ausdrücken sollte, wie auch die Verwunderung über diese aus dem Zusammenhang gegriffene Frage. "Das ist etwas, was sich jeder selbst beantworten muss", erwiderte sie, den Blick auf die Straße gerichtet. Tage später, er hatte die Frage beinahe schon wieder vergessen, hatte sie ihm ein Buch mitgebracht. Voller Liebesgeschichten. Vielleicht hilft dir das, hatte sie gesagt und die Zimmertür wieder hinter sich verschlossen. Zunächst war er dem Buch mit Skepsis begegnet, letztendlich hatte er es doch gelesen. Liebespaare aller Art, manche erfolgreicher als andere. Kurze Geschichten über Menschen, die ihm fremd waren. Einmal hatte seine Mutter ihn gefragt, ob das Buch ihm seine Frage beantworten konnte. Nein, hatte er geantwortet, ich weiß zwar nun, wie man die Liebe auslebt, aber was das eigentlich ist, dieses Gefühl, das habe ich noch nicht verstanden. Die unbedarften Fragen eines Kindes in Zeiten, in denen jeder zweite Klassenkamerad schon Freund oder Freundin gehabt hatte. Er hatte dieses Verhalten nicht verstanden und es fiel ihm bis heute schwer. Zwar hatte er begriffen, dass kaum ein Mensch, egal welche Lebenserfahrung er aufwies, ihm diese tiefgründige Frage zu beantworten wusste, aber den Durst gestillt hatte diese Erkenntnis nicht. Nie. Als er sich dann ein oder zwei Jahre später tatsächlich zum ersten Mal verliebte, wusste er sofort, dass man diese schwer zu definierende Emotion nur als Liebe bezeichnen konnte. Die Freude, den anderen zu sehen, der Person zuzusehen, der Stimme zuzuhören. Der stumme Wunsch, dieses Wissen zu teilen. Tamaki, so lautete ihr Name. Sasuke hatte nie mit ihr über dieses Thema geredet und wenn er sich recht erinnerte, war sie inzwischen sogar verheiratet und erwartete bereits ihr erstes Kind. Diese Vorstellung war ihm fremd und wenn er sich ausmalte, was womöglich passiert wäre, hätte er damals anders gehandelt, ängstigte ihn dieser Gedanke ein wenig. Tatsächlich wusste er nicht so genau, was aus den Klassenkameraden geworden war, mit denen er über die Jahre eine gemeinsame Schule besucht hatte. Die meisten Namen waren ihm entfallen und sollte er je von einem angesprochen werden, würde er die Person vermutlich auch schwerlich erkennen. Womöglich wollte er sich auch gar nicht an sie erinnern. Oder sie an ihn. Schließlich verband sie nichts außer ein Ort, eine Zeit, ein winziges Stück gemeinsame Geschichte ohne Berührungspunkte. Schon damals hatten sie nicht miteinander geredet und Sasuke erinnerte sich, dass er auch in dieser Zeit mit einem skeptischen Blick beäugt worden war. Daran hatte sich nichts verändert. Nur hatte er sich in jener Zeit noch ab und an dabei ertappt, diese Situation zu bedauern. Liebend gern wäre er manchmal gerne in den Kreis getreten und hätte irgendwie ein bisschen dazugehört. Mit den Jahren waren ihm diese Gedanken und Gefühle abhanden gekommen. Der Blick der anderen veränderte sich nicht und ihm war es letztendlich auch gleichgültig, ob er die Ansichten bestätigte oder nicht. Es war keine Depression oder Trauer, die ihn empfing, sondern vollkommene Gleichgültigkeit. "Sasuke", rief seine Mutter, bevor sie die Tür zu seinem Zimmer öffnete und seinen fragenden Blick auffing, "könntest du vielleicht diesen Briefumschlag bei der Krankenversicherung in den Briefkasten werfen? Er muss dringend weg, aber ich komme einfach nicht dazu." Wortlos musterte er die Frau, die seine Mutter war, sie wirkte ein wenig müde und gestresst. Es kam recht selten vor, dass sie ihn um etwas bat. "Sicher", antwortete er schließlich leise, sah zu, wie sie erleichtert nickte und den Raum wieder verließ. Seine Mutter, Mikoto ihr Name, ähnelte ihm - abgesehen von ihrer äußeren Erscheinung - kaum. Zwar teilten sich sie Eigenschaften wie der Hang zur Ordnung, aber der Fleiß, den sie mit zwei Kindern, Beruf und unzähligen Nebentätigkeiten an den Tag legte, lag fernab seiner persönlichen Vorstellungen. Nicht nur, dass sie erfolgreich studiert hatte und seit jeher einem festen Beruf nachging, sie fand auch noch Zeit, sich weiterzubilden und im Elternrat von Itachis derzeitiger Schule mitzuwirken. Ob sie sich manchmal fragte, was sie falsch gemacht hatte bei ihm? Er wusste diese Frage nicht zu beantworten. Weder ob es zutraf, noch ob sie darüber überhaupt nachdachte. Nach einiger Zeit erhob er sich schließlich, griff nach dem Briefumschlag und verließ, nachdem er sich Jacke und Schuhe übergezogen hatte, das Haus. Er rechnete aus, dass der Weg etwa fünfzehn Minuten in Anspruch nehmen wurde und zog sein Smartphone aus der Tasche, um sich die Zeit zumindest mit Musik vertreiben zu können. And there's a silent storm inside me Looking for a home* Es war angenehm warm, wie er feststellte, ein lauer Frühlingstag. Manche seiner Nachbarn standen in ihren Vorgärten, herumwerkelnd, sich auf den Wechsel der Jahreszeiten vorbereitend. Sie grüßten ihn nicht und er verzichtete darauf, sie anzusehen. Ihre Namen kannte er nicht. Ohne besondere Eile schlenderte er den Weg entlang, den Blick zwischen Pflastersteinen und blühenden Bäumen umherschweifend. Er passierte die Eisdiele, die bald öffnen würde und blieb schließlich vor einem roten Backsteingebäude stehen. Es unterschied sich kaum von den umherliegenden Gebäuden und hätte nicht in großen, grünen Lettern der Name der Krankenkasse an der Vorderseite geprangt, hätte man es womöglich auch verwechseln können. So machte er sich jedoch nur auf die Suche nach dem Schlitz mit der Aufschrift 'Briefe' und wurde auch recht schnell fündig. Er öffnete seine Umhängetasche, zog den besagten Brief hervor und warf ihn ein. Wollte es zumindest. Irgendetwas prallte nämlich plötzlich gegen seinen Rücken und brachte ihn um sein Gleichgewicht. Der Brief glitt ihm aus der Hand, er stürzte nach hinten und streckte reflexartig die Hände von sich, um den nahenden Aufprall sanfter zu gestalten. Ein erschrockener Ausruf, er wusste nicht, ob es sich um seine eigene Stimme handelte und seine Hände begegneten ungeschützt dem harten Steinboden. Zunächst Verwunderung, dann breiteten sich dumpfe Schmerzen auf seinen Handflächen und in der Nähe des Steißbeins aus. Die Hände hob er an, drehte sie, um festzustellen, dass sie dreckig und blutig waren. Sein nächster Blick richtete sich auf den Umschlag, der neben ihm auf dem Boden lag. Eine Hand hob ihn an, es handelte sich nicht um seine eigene. "Das tut mir Leid", sprach plötzlich eine aufgeregte, weibliche Stimme, "haben Sie sich verletzt? Das tut mir wirklich Leid, ich wollte nicht..." Die junge Frau, vermutlich war sie in einem ähnlichen Alter wie er selbst, entschuldigte sich repetitiv und schien nicht so recht zu wissen, wie sie mit ihm oder diesem Zwischenfall im Allgemeinen umgehen sollte. Sasuke biss wortlos die Zähne zusammen und benutzte die schmerzenden Hände, um sich vom Boden abzustützen, um aufzustehen. Ebenso stumm nahm er den Brief aus der Hand der Frau und beförderte ihn ohne Zögern, wie es geplant gewesen war, in den Briefkasten. Anschließend ballte er die Hände zu Fäusten und schob sie in seine Jackentasche. Sein Blick erreichte ihre Augen nicht, aber er versuchte ihr durch ein Kopfschütteln zu verdeutlichen, dass es nicht so schlimm und alles in Ordnung sei. Die Situation behagte ihm nicht so recht und er wollte diese Szene so schnell wie möglich wieder verlassen. Bevor er sich jedoch umdrehen und den Heimweg einschlagen konnte, packte ihn die junge Frau mit den mittellangen Haaren am Arm und murmelte unzusammenhängende Worte, die er nur schwer ausmachen konnte. Es hatte wohl etwas mit "Auto" und "Pflaster" zu tun und Sasuke reimte sich zusammen, dass sie wohl mit dem Auto gekommen war und einen Verbandskasten im Auto hatte. Daraus schloss er, dass sie seine zerschrammten Hände gesehen hatte. Er seufzte unhörbar und versuchte ihre Hand abzuschütteln, es missfiel ihm, wenn Fremde ihm derart nah kamen. Doch er hatte nicht mit der Sturheit der Frau gerechnet, die nicht losließ und ihn mehr oder minder quer über den Marktplatz zu einem parkenden, roten Kleinwagen zog. Sasuke wollte wirklich protestieren, aber seine Abwehrmechanismen wurden schlichtweg übersehen und scheinbar auch ganz bewusst von der energischen Frau ignoriert, die nun vor dem Kofferraum des Wagens zum Stehen kam und die Klappe mit der freien Hand öffnete. Sasuke blickte unabsichtlich hinein. Eine Decke, einige Wasserflaschen, ein Eiskratzer, Frostschutzmittel und - was ihn verwunderte - ein Paket Briketts befanden sich unordentlich verteilt im Inneren. Briketts im Frühling? Währenddessen hatte die junge Frau nicht aufgehört zu reden, wobei ihr Sasuke nicht weiter zugehört hatte, jedoch erregte es seine Aufmerksamkeit als sich plötzlich die Beifahrertür öffnete und ein junger Mann ausstieg und sich zu ihnen stellte. Sasuke hatte die Augen nicht so schnell abwenden können, sodass sich ihre Blicke für einen Augenblick trafen. Er konnte Verwunderung in seinen Augen lesen. Offene Verwunderung. Wie in einem geöffneten Buch. "Was machst du da Sakura und wer zum Teufel", er wies mit dem ausgestreckten Arm auf Sasuke, der sich zunehmend unwohler fühlte, "ist das jetzt wieder?" Erneut folgte ein längerer Wortschwall und Sasuke hört dieses Mal mehr oder weniger bewusst ein wenig intensiver zu. "Ich habe ihn versehentlich angerempelt und er hat sich dabei verletzt und weil ich ja einen Verbandskasten im Auto habe", sie gestikulierte wild und ohne Rücksicht auf Verluste mit Händen und Armen, "dachte ich, ich könne mich hier um ihn kümmern. Schließlich ist es ja meine Schuld." Ihr vermeintlicher Freund kratzte sich hieraufhin am Kopf und nickte letztendlich verstehend, er schien die Umstände nun begriffen zu haben. Für einen Augenblick herrschte Stille zwischen ihnen. Sakura, so hieß sie, wenn sich Sasuke recht entsann, schwieg ebenso wie der junge Mann. Es handelte sich um einen dieser unangenehmen Momente in denen niemand so recht weiß, was er als nächstes sagen soll. Sasuke berief sich wie sooft darauf, einfach zu schweigen, während sich Sakura und der junge Mann für einen Augenblick gegenseitig hilfesuchend anblickten. Nach einer Weile zuckte der junge Mann mit den Schultern und richtete seinen Blick schließlich wieder auf Sasuke, der seinen Blick starr auf dem Hemdkragen seines Gegenübers ruhen ließ. "Hi, ich bin übrigens Naruto", sagte er schließlich mit offenkundig freundlicher Stimme und Sasuke seufzte innerlich. Smalltalk. Kaum etwas verachtete er mehr als Smalltalk. Menschen, die sich vielleicht etwas oder auch gar nichts zu sagen hatten und die dazu übergingen unnötige Offensichtlichkeiten auszutauschen. Kurz spielte Sasuke mit dem Gedanken sich umzudrehen und einfach zu gehen, jedoch hätte er damit vermutlich noch mehr von der verachteten Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weshalb er sich entschied, die Vorstellung zu erwidern. "Hallo." Nicht mehr und nicht weniger. Es waren leise Worte gewesen und er wusste selbst nicht so recht, ob dieser Naruto ihn nun eigentlich verstanden hatte oder nicht. "Und ich bin Sakura Haruno", fügte das Mädchen mit der leicht quietschigen Stimme hinzu, "es tut mir wirklich Leid." Wie eine Schallplatte mit Sprung. Entschuldigungen wurden weder besser noch hochwertiger, wenn man sie oft wiederholte. Nachdem wieder eine dezent peinliche Stille zu entstehen drohte, erwiderte Sasuke leise das Wort "egal" und blickte abwesend auf eine Frau, die mühsam mit zwei schweren Taschen die kleine Treppe zum Gehweg hoch erklomm. Unbemerkt von ihm, blickten sich Sakura und Naruto erneut fragend an, bevor erstere sich wieder Sasuke zuwendete und mit sanfter Gewalt eine der Hände aus den Jackentaschen hervorzug, um diese zu begutachten. "Gib mir mal Wasser", sprach sie an Naruto gewandt und begann kurze Zeit darauf die Wunde zu säubern und ihn soweit zu verpflegen, bevor sie das ganze mit der anderen Hand wiederholte. "Das sollte eigentlich von selbst heilen", sagte sie schließlich zu Sasuke, der nur stumm und kaum erkennbar nickte. Er wollte endlich fort von hier und die erdrückende Freundlichkeit der beiden strengte ihn so langsam an. "Wohnst du eigentlich in der Nähe?", überlegte Sakura anschließend noch laut und glaubte ausmachen zu können, dass Sasuke dies bejahte und etwas weniger gestenreich in Richtung seines Hauses zeígte. "So ein Zufall, das liegt auf unserem Weg", schaltete sich Naruto ein, Sasukes genervten Blick schonungslos ignorant gegenüber, "wir können dich doch eben dort absetzen - oder hast du noch etwas hier zu erledigen?" Der Angesprochene schüttelte leicht mit dem Kopf und sah zu, wie ihm Naruto die Hintertür des Kleinwagens öffnete und ihn bat doch einzusteigen. Schließlich sei das ja das mindeste, was man tun könnte. Kurze Zeit später dirigierte Sasuke, dessen Abwehrversuche vergeblich gewesen waren, die beiden zu seinem Haus. Er stieg aus und wollte das aufdringliche Paar gerade verlassen, als er bemerkte, dass Naruto das Seitenfenster heruntergekurbelt hatte: "Nächsten Samstag findet eine Feier bei mir statt, wir würden dich gern dazu einladen, du hast doch nichts vor, oder?" Sasuke überlegte fieberhaft, wie er sich aus dieser unerwünschten Lage befreien und sich vor diesem vermeintlich Horrorszenario retten konnte, als er registrierte, dass Sakura bereits den Motor wieder gestartet hatte und nun anfuhr: "Ich hole dich gegen neunzehn Uhr ab. Samstag, vergiss es nicht, bis dann!" Bevor Sasuke etwas hatte erwidern können, waren die beiden schon davongebraust und er lehnte sich für einen Augenblick gegen das weißgestrichene Gartentor. Ihm war zumute wie nach einem Tausendkilometerlauf und er ärgerte sich, dass er den beiden nervtötenden Individuen nicht deutlicher die Stirn geboten hatte und dass seine üblichen Maßnahmen vollkommen an ihnen abgeprallt waren. Sie hatten es einfach nicht wahrgenommen. Stattdessen war er, dessen Namen sie nicht einmal kannten, zu einer Feier eingeladen worden, die ihn in etwa so sehr reizte wie der nette Familiengeburtstag, den seine Tante demnächst feiern würde. Bereits in seiner Schulzeit hatte er jegliche Feiern gemieden und war dazu übergegangen, kategorisch auf solche Angebote zu verzichten. Beziehungsweise schienen die anderen vielmehr gemerkt zu haben, dass er nichts mit ihnen zu tun haben wollte und hatten nicht weiter versucht, ihn in irgendwelche Aktivitäten jeglicher Art weiter mit einzubinden. Die wenigen Feiern, die er besucht hatte, waren ihm zudem in negativer Erinnerung geblieben. Viele Menschen, zuviele, Gedränge, Alkohol, aufdringliche Unterhaltungen, schlechte Musik und dieser Zwang sich in Schale zu werfen. Er hatte es gehasst. Zudem er keine Freude empfand dort mit jenen Leuten zu sitzen, zu tanzen oder zu lachen. Er hatte ihnen nichts zu sagen, die Gespräche verliefen im Sand bevor sie überhaupt anfingen und wagte er es, einen längeren Satz zu erwidern, hatten die meisten Augenpaare ihn für Sekunden ungläubig gemustert, bevor der nächste Witz gerissen wurde. Das war nicht Teil seiner Welt und das würde all das auch nie sein. Weder gestern noch heute. Am besten er öffnete einfach die Tür nicht. Obwohl er sowieso eher vermutete, dass sie ihn Ende der Woche längst wieder vergessen haben würden. Menschen wie er brannten sich nicht in die Gedächtnisse der anderen, schließlich erinnerte er sich auch kaum an andere. Nach einer kleinen Pause kramte er seinen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Haustür. Endlich Ruhe. Währenddessen hatten Naruto und Sakura den wortkargen Zeitgenossen noch nicht aus ihrem Gedächtnis getilgt. "Hat er eigentlich seinen Namen genannt?", fragte Sakura an Naruto gewandt, während sie einem parkenden Wagen auswich. "Ich glaube nicht", erwiderte Naruto nachdenklich, "und ich weiß auch nicht, was ich mir eben dabei gedacht habe." "Warum?", Sakura warf ihm einen verwunderten Seitenblick zu, "Wolltest du ihn nicht einladen?" Naruto dachte kurz nach, bevor er langsam antwortete: "Das nicht, aber ich weiß nicht, ob er überhaupt Interesse hatte. Ich meine wir haben ihn schon ziemlich überrollt." "Ach was", sie machte eine wegwerfende Handbewegung, "ihm wird es schon gefallen - außerdem sah er nicht schlecht aus." Sakura kicherte in einem hohen Ton und Naruto wusste nicht so recht, ob sie es ernstmeinte oder sich gar verlegen fühlte aufgrund ihrer vorherigen Äußerung. "So stellst du dir also deinen potenziellen Partner vor? Was kommt danach?", er lachte laut. "Wer weiß, vielleicht heirate ich einen Bänker und bekomme drei chinesisch sprechende Kinder", sie holte ihre Sonnenbrille aus einem Etui hervor und setzte sie breit grinsend auf. Naruto lehnte sich zurück und antwortete ihr in einem vollkommen neutralen Ton, der keinen Spielraum für Vermutungen offenließ. "Bestimmt." ----- * Auszug -> Carl Espen - Silent Storm Kapitel 4: Gleich und gleich gesellt sich gern ---------------------------------------------- Sasuke hatte keinen Mühen gescheut, sich diverse Szenarien auszumalen in Hinblick auf das, was das kommende Wochenende mit sich bringen würde. Hinterher hatte er sich lediglich über seine eigenen Gedanken geärgert und seine Ideen wieder verworfen. Schließlich führten sie ihm vor Augen, dass er ein gewisses, diffuses Vertrauen in ihm unbekannte Personen hatte, die ihn, selbst wenn sie ihre Ansage wahr werden ließen, in eine Position brachten, die keinerlei Vorteile mit sich zog. Im Gegenteil, er hoffte inständig, dass man ihn vergessen hatte. Ein stürmisches Klopfen holte Sasuke in die Gegenwart zurück und er blickte zu Tür, die aufschwang und laut gegen die dahinterliegende Wand schlug. Er kannte nur eine Person, die derart ungestüm Türen öffnete. Sein Bruder. "Sasuke", rief dieser fröhlich, ignorant gegenüber dem frostigen Blick, den er sogleich erntete, "unten ist Besuch für dich!" "Was?", entfuhr es ihm. Danach verstummte er wieder, schließlich konnte er sich denken, wer dort unten auf ihn wartete. "Mama serviert ihr gerade Kuchen", fügte Itachi noch hinzu und verließ das Zimmer seines Bruders ohne jedoch die Tür wieder zu verschließen. Sasuke hingegen stand grummelnd auf und ging mit langsamen, zögerlichen Schritten die Treppe herab, um unten angekommen durch den Flur in die angrenzende Küche und schließlich auf die Terrasse des Einfamilienhauses zu treten. Dort angekommen erblickte er das Mädchen, deren Name ihm entfallen war, und seine Mutter am Tisch sitzend mit Kuchentellern. "Sasuke, da bist du ja", sagte sie mit fröhlicher Miene und winkte ihn zu sich heran. Zumindest ertappte er sich dabei, wie er darüber nachdachte, was seine Mutter nun denken mochte über das Mädchen, das nun bei ihnen am Tisch saß. Auf der anderen Seite war es ihm beinahe lieber, die Antwort nicht zu kennen. "Hallo", begrüßte nun auch die junge Frau ihn mit einem breiten Lächeln, "Sasuke." Sie hatte lange gezögert, bevor sie ihm beim Namen genannt hatte, kein Wunder, schließlich hatte sie ihn bis eben überhaupt nicht gekannt. Seine Mutter schien dies jedoch nicht bemerkt zu haben und fragte stattdessen, ob er auch etwas haben wolle, was er jedoch mit einem stumpfen Kopfschütteln verneinte. "Ihr Kuchen ist wirklich wunderbar", lobte das Mädchen seine Mutter nach einer Weile. "Danke, es freut mich immer, wenn es schmeckt. Aber nenn' mich doch bitte Mikoto", bot sie ihr an und in Sasuke erhärtete sich der Verdacht, dass seine Mutter die junge Frau für seine Freundin hielt. Was für eine absurde Idee. Dass er bisher nichts gesagt und auch niemanden begrüßt hatte, schien niemandem aufzufallen. Weder seiner Mutter, die in der Hinsicht bereits abgehärtet war und vermutlich so oder so nicht mehr damit rechnete, noch der jungen Frau, die unter Umständen sowieso nur das wahrzunehmen schien, was ihr gerade ins Bild passte. Dieser Gedanke ließ sich jedenfalls recht gut mit ihrem letzten Auftritt vereinbaren, den sie gegenüber Sasuke gehabt hatte. Nach einer Weile blickte sie auf ihre Armbanduhr und ihre Augen weiteten sich: "Oh, wie dumm von mir, es ist schon so spät, wir sollten langsam los." Letzteres sprach sie zu Sasuke gewandt, der nicht merklich darauf reagierte, sondern einen Ausweg aus der Situation suchte. Bisher hatte er nur leider keinen gefunden. Er wagte es nicht, aufzustehen und die Szene zu verlassen. "Ach ja, die Feier", erwiderte Mikoto, die scheinbar im Vorfeld informiert worden war, "ich wünsche euch natürlich viel Spaß. War nett dich kennenzulernen, Sakura." So lautete also ihr Name. Sasuke glaubte sich nun tatsächlich dunkel daran zu erinnern. Er sah zu, wie seine Mutter die Teller ins Haus trug und blickte dann zur Seite, feststellend, dass Sakura ihn nachdenklich musterte. "So willst du losgehen?", fragte sie ohne eine ernstzunehmende Antwort zu erwarten. Wie immer - oder zumindest wie sooft trug Sasuke einen dunklen Hoodie in Kombination mit irgendeiner dunklen Jeans, die er morgens aus dem Wäschekorb gefischt hatte. Beides erfüllte seinen Zweck und ließ sich auch bequem tragen, entsprechend konnte er nicht so recht nachvollziehen, weshalb Sakura ihn nun danach fragte. Da er sich jedoch sowieso entschlossen hatte, ihr die Antwort schuldig zu bleiben, hob er lediglich seine Umhängetasche von der Bank und ging an ihr vorbei zum Tor, wo er wie erwartet Sakuras Auto vorfand, das sich zugleich mit einem lauten Klicken öffnete. "Steig ein", forderte ihn Sakura überflüssigerweise auf und er ließ sich kurz darauf seufzend auf dem Beifahrersitz nieder. Erst jetzt fiel ihm das alberne Spielzeug in Form eines Pokémons auf, das am Rückspiegel baumelte. Ebenso vermutete er, dass Sakura nicht zu den ordenlichsten Personen gehörte - im Getränkehalter stapelte sich Eispapier. Sakura ihrerseits setzte sich auf den Fahrersitz, schnallte sich an und drehte den Schlüssel herum, um kurz darauf scharf anzufahren, sodass Sasuke gegen die Rückenlehne gedrückt wurde und sich dabei ertappte, ein wenig besorgt über den weiteren Verlauf der Fahrt zu sein. Im Gegensatz zur letzten Woche fuhr die junge Frau nämlich deutlich hektischer und es kam nicht selten vor, dass die Ampelfarbe bereits auf kirschgelb umgesprungen war, als der Wagen daran vorbeibrauste. Sasuke selbst sah sich als recht umsichtiger Fahrer, wenn er auch recht selten persönlich fuhr. Zwar hatte er vor fast zwei Jahren die Prüfungen bestanden, die ihm die Eltern finanziert hatten, jedoch hatte er seitdem nur wenig Interesse gezeigt, von dieser Errungenschaft Gebrauch zu machen. Den Grund konnte er nicht so genau benennen. Vielleicht hatte er einfach keinen Anlass öfter zu fahren, da er sich kaum weiter vom Haus entfernen musste als die wenigen Minuten, die er benötigte, um in die angrenzende Einkaufsstraße, Madame Yukimuras Café oder auch in den nahen Supermarkt zu gelangen. Die Fahrt an sich verlief schweigt bis auf Sakuras Monologe, wenn sie einen frechen Drängler oder die Farbe der Ampeln leise beschimpfte. Ihr Beifahrer starrte stur aus dem Fenster und selbst ihr fiel es nun schwer, ein Gespräch zwischen ihnen aufzubauen. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte er die ganze Zeit über nicht mit ihr kommuniziert und sie dachte nun in den ruhigen Minuten darüber nach, wie sie Sasuke eigentlich einschätzen sollte. Eine unauffällige Person in unauffälliger Kleidung mit einer abweisenden Haltung ihr gegenüber. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? So ganz genau wusste sie das nicht, jedoch vermutete sie, dass es mit seinem zugegebenermaßen ganz 'ansehnlichem' Gesicht zusammenhing, das ihr von vorneherein aufgefallen war. Würde er sich etwas mehr Mühe geben, wäre Sasuke wohl wirklich als gutaussehend durchgegangen - und Sakura hatte eine Schwäche für gutaussehende Männer. Nicht immer im Sinne einer potenziellen Beziehung, teils fühlte sie sich auch einfach nur auf platonischer Basis zu ihnen hingezogen. Sasuke war wohl einer dieser Fälle, wie sie sich letztendlich etwas resigniert eingestand. Darüber hinaus benahm sie sich in Begleitung von Naruto oft noch aufgedrehter und ignoranter gegenüber anderen als sonst schon. Wahrscheinlich verstand sie deshalb erst jetzt, dass ihr Beifahrer vermutlich ganz einfach nicht gewusst hatte, wie er sich aus der Misere ziehen sollte. Beinahe tat es ihr Leid. Aber auch nur beinahe. Stumm grinste sie. Vielleicht ergab sich auch doch noch etwas. Wer wusste das schon vorher. Als sie nach etwa einer halben Stunde das Mietshaus erblickte, in dem Naruto derzeit wohnte, sah sie sich nach einem Parkplatz um, feststellend, dass der einzig vertretbare in der Gegend mit fünf Minuten Fußweg verbunden war. Wortlos fluchte sie, nicht nur, dass sie länger laufen mussten, nein, Narutos Wohnung befand sich auch noch im vierten Stock - und sie verfügte nicht über einen Fahrstuhl. Nicht, dass Sakura unsportlich gewesen wäre, sie ging regelmäßig Squash spielen, dennoch lief sie nicht gerne Treppen, vor allem nicht mit den Pumps, die sie sich zuvor angezogen hatte. Nachdem sie angehalten hatten, schloss Sasuke daraus bereits, dass sie wohl ihr Ziel erreicht hatten. Von daher zögerte er nicht, die Tür zu öffnen und auszusteigen. Danach wartete er geschlagene drei Minuten, die Sakura benötigte um ihre Stöckelschuhe gegen - so dachte Sasuke zumindest - bequemere Chucks auszutauschen und folgte ihr mit einem Abstand von etwa einem Meter bis zu einem ehemals wohl weißgestrichenen Mietshaus, das irgendwer mit zahlreichen Graffiti verschönert hatte. Zahlreiche belanglose Tags reihten sich an antifaschistische Sprüche und die Frage nach dem Weltfrieden. Sasuke hatte sich schon öfter dabei ertappt, wie er nachdenklich beschmierte Fassaden angestarrt hatte um den Sinn und Ursprung der Bilder und Aussagen zu verstehen, die selbsternannte Künstler dort für ihre Umwelt hinterlassen hatten. Er selbst war jedoch noch nicht auf die Idee gekommen, es auszuprobieren. Wozu auch? Er hatte den Menschen nichts mitzuteilen. Langsam stiegen sie die zahlreichen Stufen des Altbaus hinauf, um nach einer Weile, die einem beim Treppensteigen oft als Ewigkeit vorkommt, vor einer Tür Halt zu machen, an der Sakura energisch die Klingel betätigte. Kaum hatte sie den Knopf losgelassen, wurde auch schon schwungvoll die Tür aufgerissen und jetzt konnten sie auch deutlich die Musik vernehmen, die im Hintergrund lief. Zu leise, um zu bestimmen, worum es sich handelte, zu laut, um ernsthaft darüber nachzudenken, ob sie einer erträglichen Musikrichtung angehörte. Sasuke tippte auf House oder etwas Ähnliches, doch im Grunde kannte er sich damit kaum aus. Schließlich hörte er 'diesen Kram' nicht. Ebenso registrierte er, dass nicht Naruto ihnen die Tür geöffnet hatte, sondern eine blondhaarige, junge Frau mit langen Haaren, die sie zu einem Zopf gebunden hatte, der hin- und herwippte, als sie bei Sakuras Anblick euphorisch zu werden schien und dieser auch um den Hals fiel. "Sakura, lang nicht gesehen", quietschte sie in einer etwas zu hohen Tonlage. Sasuke widerstand dem Drang, die Hände auf seine Ohren zu pressen. "Ino", erwiderte Sakura in einer etwas tieferen Stimmlage, jedoch nicht minder fröhlich, "schön dich mal wieder zu sehen. Wie läuft der Laden?" "Gut, gut", erwiderte die junge Frau, die scheinbar Ino hieß und ihr Blick fiel auf Sasuke, der hinter Sakura stand, "und wer ist das? Dein Neuer? Der ist ja schnuckelig." Der als 'schnuckelig' bezeichnete Sasuke zuckte angewidert zusammen, erwiderte jedoch nichts und verzog auch keine Miene. "Nein, nein", lachte Sakura als habe Ino ihr soeben einen guten Witz erzählt, "das ist Sasuke, ein guter Bekannter von mir und Naruto." Seit wann hatte er sich eigentlich zu einem 'guten Bekannten' avanciert? Sasuke nahm an, dass sie so lästigen Fragen aus dem Weg gehen wollte, ebenso, wie er bemerkt hatte, dass ihr Lachen recht aufgesetzt klang, beinahe, als wäre ihr die Situation und die Frage peinlich gewesen. Wirklich zu deuten wusste er diese Erkenntnisse nicht und er zog es auch vor, darauf zu verzichten. Sakura drängte sich schließlich an Ino vorbei, den überraschten Sasuke am Arm packend und kämpfte sich durch eine Flut unterschiedlichster Menschen bis ins vermeintliche Wohnzimmer vor, in dem einige der Jugendlichen vor einer Konsole hockten und irgendetwas gemeinsam spielten, während dahinter einige zusammenstanden und sich unterhielten. Das Sofa, eine der wenigen Sitzmöglichkeiten im Zimmer, war hingegen erstaunlich frei und Sasuke bemerkte beim Hereinkommen, dass dort nur ein Mädchen mit langen, schwarzen Haaren in gebeugter Haltung saß, das angestrengt ihre Fingerspitzen musterte. "Warte hier", rief derweil Sakura ihm zu und drückte ihn mit sanfter Gewalt auf die freie Seite des Sofas, um anschließend von ihm abzulassen und laut "Naruto" rufend aus dem Zimmer zu laufen. Weg war sie. Sasuke wusste nicht zu bestimmen, ob ihn das nun erleichtern oder eher beunruhigen sollte. Die Vorstellung, dass sich die lärmenden Unbekannten mit ihm beschäftigen könnten, sagte ihm ebenso wenig zu wie weiteren Monologen der aufgedrehten Sakura zu lauschen. Die Musik war hier drinnen besonders laut und wurde nur von den ächzenden Kampfgeräuschen des Beat 'em ups übertönt, das nach wie vor auf dem breiten Fernsehbildschirm flimmerte. Ebenso unterhielten sich einige, es war jedoch unmöglich auszumachen worüber eigentlich. Auf einem Tisch rechts von dem merkwürdigen, schwarzhaarigen Mädchen neben ihm standen zahlreiche Getränke und Sasuke überlegte, ob er aufstehen und sich etwas von den Flaschen nehmen sollte. Nicht nur, dass er ein wenig durstig war, das Getränk würde ihm auch helfen, sich ein wenig nebenbei zu beschäftigen, wenn er schon in dieser unkomfortablen Situation verweilen musste. Bevor er sich jedoch hatte erheben können, hatte plötzlich das Mädchen ihren Kopf angehoben und ihn leise gefragt, ob er eine Flasche haben wolle. Beinahe hätte er ihre leise Stimme nicht verstanden. Für einen kurzen Moment streifte er auch ihre Augen und stellte fest, dass sie an ihm vorbeisah. Dennoch schien sie aus den Augenwinkeln sein langsames Nicken zu registrieren und so griff sie auch zu der Fantaflasche auf die er zuvor gedeutet hatte. "Danke", murmelte er leise, sodass Sasuke es selbst kaum noch verstehen konnte. Die Schwarzhaarige nickte nur freundlich in seine Richtung und blickte dann angestrengt auf den Bildschirm, auf dem gerade der Protagonist im Kampfanzug gegen eine freizügig gekleidete Schönheit im Kimono verlor. Eine gewöhnliche Person, wobei sich Sasuke nicht sicher war, wie er gewöhnlich eigentlich im Einzelnen definierte, hätte vermutlich irgendein belangloses Gespräch vom Zaun gebrochen. Er selbst hatte kein Interesse sich mit der jungen Frau zu unterhalten, es verwunderte ihn lediglich, dass sie derart zurückhaltend auftrat. Der Kampf auf dem Bildschirm zog sich hin - oder war es bereits der nächste? Sasuke starrte auf den verschwimmenden Schlagabtausch und gähnte unter vorgehaltener Hand. Die Musik, die Aussicht, die Menschen - wie erwartet langweilte er sich. Vermutlich hatte das nervtötende Mädchen, das ihn hierhergeschleppt hatte, ihn längst wieder vergessen und befand sich nun knutschend in der Besenkammer mit irgendeinem Jüngling. Oder so etwas in der Art. Plötzlich versperrte ihm jemand die Sicht auf den Bildschirm. "Sasuke?", fragte ihn eine weibliche Stimme und nach einer Weile sah er auf, um ins Gesicht der Blondhaarigen zu blicken, die ihnen zuvor die Tür geöffnet hatte. Ino oder so hatte ihr Name gelautet. Er verzichtete darauf ihr zu antworten, bemühte sich jedoch, einen fragenden Gesichtsausdruck aufzusetzen, der sie scheinbar animierte nach einer Kunstpause fortzufahren. "Möchtest du was essen? Wir haben diverse Häppchen da", ausladend wies sie auf einige, silberne Tabletts, die auf einem etwas weiter entfernten Tisch gerade abgestellt wurden. Einen Augenblick dachte er nach und nickte dann schließlich. Es war generell keine schlechte Idee etwas zu essen, wenn man sich langweilte und vermutlich wurde er sie auch schneller wieder los, wenn er einfach zustimmte. "Was möchtest du? Käse? Oder ein Mettbrötchen?", rief sie über die Musik hinweg und sah zu, wie sich der Angesprochene erhob, zum Tisch hinüberging und mehr oder minder zielgerichtet nach einem Salamibrötchen griff. Tatsächlich aß Sasuke recht selten Brötchen, ab und an hatte er jedoch nichts dagegen einzuwenden. Beispielsweise auf spannenden Partys dieser Art. Noch war es jedoch nicht vorbei. "Rück mal", wies Ino das schwarzhaarige Mädchen auf dem Sofa an und ließ sich selbst zwischen ihr und Sasuke nieder. Danach wandte sie sich ihrem männlichen Sitznachbarn zu, der gerade damit beschäftigt war, das Brötchen zu verspeisen und festzustellen, dass der männliche Charakter auf dem Bildschirm soeben die vollbusige Kimonoschönheit besiegt hatte. "Sag mal, Sasuke, woher kennst du eigentlich Sakura?", erkundigte sie sich und lehnte sich dabei an seine Schulter. Dieser war von der unverholenen Annährung nicht allzu begeistert und überlegte, wie er Abstand gewinnen konnte. Bis er einen Geistesblitz hatte. "Ino?", fragte er und erntete ein aufgeregtes Nicken, "Wo finde ich das Bad?" Das war nun nicht unbedingt die Antwort oder die Frage, die die Blondhaarige in der Situation erwartet hatte, sie überspielte jedoch ihr Erstaunen und erklärte ihm mit unbestimmten Gesten, dass er einfach auf dem Flur die letzte Tür rechts aufsuchen müsse, woraufhin sich Sasuke erhob und langsamen Schrittes den Raum verließ. Es hatte funktioniert. Ihn erwarteten einige Kleingruppen, die sich zwischen den Türen angesammelt hatten und die ihm den einen oder anderen Blick zuwarfen, während er sich den Weg hindurchbahnte und schließlich die letzte Tür links öffnete. Dort erwartete ihn jedoch kein Bad, sondern eine Art Schlafzimmer mit breitem, satinbezogenen Bett, Kleiderschrank und angrenzenden Balkon. Die beiden, die bei offener Balkontür draußen standen, schienen sein Hereinkommen nicht bemerkt zu haben und fuhren fort mit ihrer andauernden Unterhaltung. "Hat sie eigentlich angerufen?" "Nein", erwiderte Naruto geradeheraus, "aber das wäre auch merkwürdig gewesen, oder?" "Du findest es seltsam, wenn deine Mutter dich anruft?", seufzte Sakura und stützte ihre Ellenbogen auf dem Geländer ab. "Das ist in etwa so als würde deine Mutter von morgen an als Topmanagerin arbeiten", sinnierte er, wohlwissend, dass Sakuras Mutter im nahen Supermarkt als Kassiererin tätig war. "Das war gemein", erboste sich Sakura ohne es jedoch zu ernst zu nehmen, "es ist eben nicht leicht, wenn man mit zwanzig ein Kind bekommt und alleinerziehend ist, weil der Vater sich bereits mit der nächsten Schnepfe eingelassen hat." "Das habe ich auch nicht gesagt", antwortete er und blickte hinüber zum Park, dessen Rasenflächen sich teils hinter den inzwischen blühenden Bäumen versteckten, "aber du weißt, wie ich das meine." "Sicherlich." Als sich Sakura umdrehte, erblickte sie Sasuke, der in der Tür erstarrt zu sein schien. Die ganze Zeit hatte er überlegt, ob er die Tür einfach wieder schließen sollte, jedoch war ihm dies ebenso abstrus vorgekommen, wie das schweigende Herumstehen im Zimmereingang, sodass er schlussendlich keinen Millimeter vorangekommen war mit dieser inneren Debatte. "Oh Sasuke", sagte sie, "das hätte ich fast wieder vergessen." Immerhin war Sakura ehrlich. "Hi Sasuke, wie geht's deinen Händen?", wollte Naruto wissen, der sich an den Zwischenfall zurückerinnerte. "Gut", erwiderte Sasuke und hob zur Bestätigung die Hände - es war nicht mehr allzu viel zu erkennen. "Sag bloß du hast ihn mit Ino und so alleingelassen?", Naruto warf einen nachdenklichen Seitenblick auf Sakura, die beinahe schon schuldbewusst den Boden musterte. Der ausgelegte Teppich hatte eine undefinierbare Farbe, irgendeine Mischung aus rot, gelb und orange, die auch Sasuke nicht eindeutig zuzuweisen wusste. "So schlimm ist Ino auch nicht", brachte sie letztendlich hervor und erntete ein lautes Lachen von Seiten Narutos. "Ino ist ein personifizierter 'Maneater' - außerdem hat sie dem letzten erst vor einer Woche den Laufpass gegeben." "Look who's talking", lachte Sakura und tänzelte mit dem Finger auf Naruto zeigend durch den Raum. "Nun, das war nicht meine Entscheidung, wenn sie mir auch gelegen kam." Naruto hob abwehrend die Hände und Sasuke, der nur grob begriff, worum es eigentlich ging, verzichtete auf jeglichen Kommentar. "Gegen euch bin ich eine Heilige", sagte Sakura nur, schlich sich hinter Sasuke und legte ihre Hände unvermittelt auf seine Schultern. Sie erntete den verwirrten Blick beider Männer. "Und was ist mit dir Sasuke?" Wahrscheinlich ging es ihr um das Thema der wechselnden Partner, jedoch verzichtete Sasuke darauf, ihr eine passende Antwort zu geben. "Ich suche das Bad." "Das ist direkt gegenüber", antwortete Naruto fast schon automatisch und sah zu, wie sich Sasuke von Sakura löste und das gegenüberliegende Badezimmer betrat. Er und Sakura bewegten sich erst wieder, als die Tür hinter ihm zufiel. "Sehr gesprächig", kommentierte Naruto tonlos und Sakura nickte nur, unsicher, was sie dazu noch sagen sollte. Zäh bewegten sich die Zeiger seiner Armbanduhr. Sekunden, Minuten und letztendlich auch Stunden zogen vorüber ohne dass die Blicke sie beschleunigt hätten. Zeit ist einerseits beständig und andererseits ist es eine Frage des Gefühls, wie schnell sie eigentlich vorübergeht. Das Gefühl des Wartens kannte Sasuke nur zu gut und es erstaunte ihn immer wieder, wenn diese vermeintliche Ewigkeit doch irgendwann ein Ende fand. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Halb zehn war es laut Uhr. Oder auch neun Uhr und sechsundzwanzig Minuten und sechzehn Sekunden. Oder siebzehn, so genau konnte er das auch nicht bestimmen. Einige hatten sich bereits verabschiedet und der verbleibende Rest der Gäste, die nach wie vor zahlreich waren, hatte sich zum Großteil im Wohnzimmer versammelt. Noch immer besetzten Sasuke und das schwarzhaarige Mädchen das Sofa, während sich andere auf dem Boden und den wenigen, ungeordnet stehenden Stühlen niedergelassen hatten. Den Fernseher hatte soeben jemand ausgemacht und Ino, die neben der Musikanlage stand, drehte am Volumenrad. "Lass uns tanzen", rief sie und tänzelte zur Musik von Katy Perry quer durch den Raum. Erstaunlich viele folgten diesem Aufruf kurz darauf und das Wohnzimmer wurde zur Tanzfläche, auf der sich größtenteils ungelenkige Jungerwachsene zum Rhythmus der Musik bewegten und bei erhöhtem Alkoholpegel teils lächerlich wirkende Bewegungen durchführten. Titel um Titel folgte, manche tanzten gemeinsam, andere allein und einige standen am Rand und tranken etwas, um eine Pause zu machen. Sasuke und das schwarzhaarige Mädchen beobachteten das Treiben ungerührt. Während ersterer ungerührt seinen Kopf auf die Hände stützend in Leere starrte, nestelte die junge Frau nervös am Stoff ihres Rockes herum. Aus dem Augenwinkel nahm Sasuke diese Bewegungen ebenso wahr wie den verstohlenen Blick, den sie dem jungen, blonden Mann zuwarf, der mit Ino im Kreis herumhüpfte ungeachtet der Schlagzeugklänge. Naruto. Aller Wahrscheinlichkeit nach bemerkte dieser nichts von den Blicken, die ihm zugeworfen wurde und auch nichts von der Sehnsucht, die die Schwarzhaarige so treffend verkörperte. Überhaupt schien niemand etwas davon zu bemerken. In all den Stunden, die er hier saß, hatte niemand mit der jungen Frau gesprochen oder sie ernsthaft angeschaut. Sie war ebenso überflüssig wie er selbst, nur dass sie zum unsichtbaren Inventar gehörte, während er noch ab und an ein wenig Neugierde erntete. Zudem war es offensichtlich, dass sie hier war, weil sie es wollte und nicht, weil man sie dazu genötigt hatte. So wie sie sich auch ähnelten, so unterschiedlich waren sie doch letztendlich. Sasuke hatte nicht das Verlangen aufzustehen und mitzutanzen oder überhaupt mit diesen Leuten zu sprechen. Das Mädchen neben ihm hingegen wünschte sich offensichtlich nichts sehnlicher als aufzustehen, zu tanzen und dazuzugehören. Vielleicht auch in Hinsicht auf Naruto. Das verstand er durchaus. Irgendwann, vor längerer Zeit hatte er ähnlich gedacht und hatte ab und und zu so etwas wie Einsamkeit verspürt, wenn er in Menschenmengen stand. Diese Frau hatte die Phase der Einsamkeit noch nicht überstanden und würde das unter Umständen auch nie. Zumindest vermutete er das. Wie mochte das sein? Nie dazugehören obwohl man sich nichts sehnlicher wünschte? Maybe we're victims of fate Remember when we'd celebrate We'd drink and get high until late And now we're all alone* Wie sollte man das, was er empfand beschreiben oder definieren? War es Mitleid? Verständnis? Es gab nichts zu sagen, keinen Trost, nichts, was es hätte ausdrücken können. In einem romantischen Film hätte er sie vermutlich angesprochen oder einfach gestoßen, damit der strahlende Held ihr aufhalf und in einem immerwährenden Kreis mit ihr durch den Raum tanzte. Die Realität sah jedoch anders aus. Hier wird man nicht plötzlich Prinzessin oder von der grauen Maus zum Filmstar. Man steht nicht auf und findet Liebe und Anerkennung auf der Straße. Es ist schwer aufzustehen. Es ist schwer zu leben. Es ist schwer angesehen zu werden. Und es ist ebenso schwer, diese Veränderungen zu wollen und diese Träume zu bewahren. Vielleicht zollte ihr Sasuke auch ein wenig Respekt. Dafür, dass es ihr noch nicht so gleichgültig war wie ihm selbst. Es dauerte eine Weile, bis sich Sakura zur Musikanlage durchgekämpft und die Laustärke heruntergestellt hatte. Die meisten waren bereits erschöpft und verschwitzt. Und angeheitert. Auf jeden Fall. "Lasst uns etwas spielen", forderte sie die Menge auf, die zustimmend gröhlte. Was spielt man auf sinnlosen Feiern? Zumeist alberne Trinkspiele, Verrenkungen oder auch das allseits beliebte Flaschendrehen. Vermutlich kennt ein jeder dieses peinliche Spiel, das in erster Linie zur allgemeinen Belustigung dient. Sasuke erinnerte sich an eine Klassenfahrt, an der er mit dreizehn oder vierzehn teilgenommen hatte. Dort versammelten sich eines abends auch neun oder zehn Jugendliche im Zimmer der Mädchen und drehten die Flasche. In erster Linie resultierte dies darin, dass sich die Mädchen und Jungen gegenseitig küssten, Kleidung auszogen, sich Liebesgeständnisse machten oder mit Unterwäsche auf dem Kopf schreiend durch den Flur rannten. Er selbst hatte damals nicht daran teilgenommen, sondern zugesehen mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination. Sakura hielt eine Weinflasche aus rotem Glas in der Hand und schwenkte damit in der Luft herum: "Wer macht mit?" Es fanden sich einige Freiwillige und Unfreiwillige. "Hinata und Sasuke machen auch mit", bestimmte Sakura und während zweiterer seufzte, erstarrte die junge Frau neben ihm. Hinata, das war also ihr Name, dachte er sich. In schlechten Filmen fanden sich während dieser Spiele immer die künftigen Liebespaare oder Skandale wurden losgetreten. Warum auch nicht? Immerhin war es ein Spiel, das moralische Grundprinzipien weit über Bord warf und die Teilnehmer wussten oft selbst nicht so recht, ob sie den Verlauf bereuen oder bejubeln sollten. Ein Spiel der unbedarften Jugend. Sasuke seufzte unhörbar. Ihm gefiel der Verlauf des Abends nicht. ------ * Placebo - Protect me Kapitel 5: Vom Mut der Schweigenden ----------------------------------- Das Spiel nahm den erwarteten Verlauf. Irgendwelche Leute, die sich küssen sollten, unsinnige Liebesgeständnisse, gerauchte Zigarretten und ein detaillierter Bericht darüber, wie man als Mann am besten einen gleichgeschlechtlichen Partner mit der Zunge bearbeitet. Komplett versteht sich. Sasuke hatte das Ganze soweit ohne ausgewählt zu werden bisher überstanden. Zumindest bis zu dem Punkt, als irgendein rothaariges Mädchen, das zum ersten Mal an diesem Abend erblickte, ein belangloses Liebesgeständnis vorbetete. Ewige, glühende Liebe. Er unterließ es, darauf etwas zu erwidern abgesehen von dem obligatorischen Nicken, das Sakura von den Teilnehmern bisher immer gefordert hatte. Andere traf es vergleichsweise häufiger. Sakura hatte beispielsweise bisher zwei junge Männer und eine Frau geküsst, sowie zugegeben, dass sie sich in der siebten Klasse in ihren Lehrer verliebt hatte, der jedoch bereits Mitte vierzig und glücklich verheiratet gewesen sei. Davon verstand Sasuke recht wenig. Hätte er Sakura, so wie es bei Naruto der Fall war, besser gekannt, wäre ihm wohl die Idee gekommen, es könne etwas mit der recht schwierigen Beziehung zum eigenen Vater zu tun haben. Aber selbst das war wohl ein wenig zu realitätsfern. Naruto seinerseits hatte auch schon den einen oder anderen Kuss hinter sich. Technisch waren sie nicht berauschend gewesen, sonst erst Recht nicht, aber wie auch alle anderen kommentierte er diese Tatsachen nicht weiter. Es gehörte eben dazu. "Und die beiden, die die Flasche auswählt müssen sich dreißig Sekunden lang mit Zunge küssen", frohlockte Sakura, die wieder einmal an der Reihe gewesen war. Schwungvoll drehte sie die Flasche bis diese sich verlangsamte und schließlich bei einem hageren Jüngling mit kurzen, schwarzen Haaren stehenblieb. "Nummer eins ist Sai", kommentierte Sakura und brachte die Flasche erneut dazu, ihre Runden zu drehen. Als sie letztendlich stehenblieb, zuckte Sasukes Sitznachbarin zusammen. "Nummer zwei ist Naruto." Allzu spektakulär war es nicht, wenn Sasuke auch wahrnahm, dass sich Hinata nicht allzu wohl fühlte. Einerseits vermutlich weil man den eigenen Schwarm wohl eher ungern bei solchen Spielen zusah, andererseits hoffte sie scheinbar, wie auch er selbst, dass die Flasche bloß nicht bei ihnen stehenblieb. "Zeigt sie auf Sasuke?", erkundigte sich Naruto und beäugte misstrauisch den Hals der Flasche. "Nicht so ganz", erwiderte Ino überzeugt, "sieht eher nach Hinata aus." "Dann muss Hinata jetzt Shino küssen!", rief Naruto ein wenig lauter und verschränkte die Arme, sich zurücklehnend. Die Angesprochene war in ihrer Haltung erstarrt, während sich Shino, der eine regungslose Miene aufgesetzt hatte, auf sie zubewegte und vor ihr sitzenblieb. "Go go", feuerte Ino die beiden an und klatschte in die Hände, sodass der Bierflasche, die sie noch immer in der Hand hielt, einige Tropfen entwichen. Hinata zitterte, ihre Finger hatten sich in den Rock gekrallt und sie starrte krampfhaft auf ihre Hände. Angst. Panik. Wie auch immer man es nennen wollte. Sie reagierte nicht und sah erst auf, als sich Shino ihr mit bereits geschlossenen Augen nährte. Erschrocken wich sie zurück, doch die Lehne des Sofas verhinderte, dass sie mehr Abstand gewann. Shino kam ihr unaufhaltsam näher und sie blickte sich hektisch im Raum um. Bis sie eine Entscheidung traf. Entschlossen sprang sie auf und stieß die, die ihr im Weg standen zur Seite, öffnete ruckartig die Zimmertür und rannte hinaus. Ein lauter Knall folgte, als die Tür hinter ihr zufiel. Absolute Stille im Raum, man hätte eine Stecknadel fallen hören, wäre da nicht noch immer die leise Musik gewesen im Hintergrund. I can't deny it the damage it done And the innocent moment is gone* Ino war die erste, die sich regte, als noch immer der Großteil damit beschäftigt war, die verschlossene Tür anzustarren. "So eine Spielverderberin", seufzte sie, Verständnislosigkeit ausdrückend. Sie erhielt murmelnde Zustimmung und der eine oder andere amüsierte sich über ihre verklemmte Reaktion. Als ob es so schlimm sei, irgendwen zu küssen. Schließlich ginge es ja um den Spaß aller. "Dazu sind Partys doch da", fuhr Ino fort, "wer hatte sie eigentlich eingeladen?" Eine Frage, die keine Antwort erwartete. Ein stummer Vorwurf ohne Adressat. "Ihr seid wirklich erbärmlich." Verwundert sah die Gemeinschaft um, diese Stimme konnten sie nicht zuordnen. Zumindest nicht, bis er aufstand: "Wenn es eurer Definition von Spaß entspricht, andere zu so einem Blödsinn zu nötigen, obwohl sie es offensichtlich nicht möchten, seid ihr wirklich bemitleidenswert." Er hatte ein wenig lauter als sonst gesprochen, leise Wut schwang mit in seiner tiefen Stimme. Sasuke verzichtete darauf, sie anzusehen als er sprach, ebenso fügte er nichts hinzu, sondern bahnte sich seinen Weg durch die verwunderte Menge, öffnete gemächlich die Tür und schloss sie leise hinter sich. Danach suchte er nach seinen Schuhen, wurde fündig, zog sie an, griff nach seiner Jacke und verließ schließlich Narutos Wohnung, um mit langsamen Schritten die Treppen hinunterzugehen. Er war vollkommen ruhig dabei und fühlte eine eigenartige Hochstimmung in sich aufsteigen. Geplant hatte er seinen Auftritt nicht, keineswegs, es war ihm zuwider Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Auf der anderen Seite hatte ihn das Verhalten der Leute derart angewidert, dass er es hatte sagen müssen. Ungeachtet der Folgen. Zwar war es auch in der Vergangenheit schon aufgetreten, dass er die Stimme erhoben hatte, jedoch waren das immer spontane Situationen gewesen, in denen er kaum Zeit gehabt hatte, nachzudenken. Wie auch in diesem Fall. Sowieso machte er sich nichts daraus, dass die Leute nun verstimmt sein könnten, im Gegenteil, er war erstaunlich zufrieden mit sich selbst. Nur wie kam er von hier nun wieder nach Hause? Nachdenklich blickte er sich in der erleuchteten Straße um, er kannte sich in diesem Stadtviertel nicht aus. Hoffentlich gab es irgendwo in der Nähe eine Bushaltestelle oder gar eine Bahnstation. Sasuke schlenderte die kaum enden wollende Straße entlang, bis er herumgerissen wurde. Jemand hatte ihn an der Schulter gepackt. "Was...?", entfuhr es ihm vor Verwunderung. Überrascht musterte Sasuke den jungen Mann, der hektisch ein- und ausatmete, während er nach wie vor unnachgiebig die Schulter des anderen umklammerte. Beinahe bewegungslos verharrten die einen Moment in ihren Positionen, bevor sich Sasuke der unwillkommenen Nähe langsam bewusst wurde. "Lass mich los", sagte er mit erstaunlich fester Stimme und trat zwei Schritte zurück. Dieses Mal konnte er sich frei bewegen. Abwartend verschränkte Sasuke die Arme vor sich und sah mit inzwischen wieder ausdrucksloser Miene zu, wie Naruto etwas näher an ihn herantrat und sich seine Mundwinkel zu einem offensichtlichen Lächeln verzogen. Irritierend. "Sasuke", sagte Naruto schließlich und man konnte deutlich heraushören, dass er sich sehr beeilt hatte, um ihn noch einholen zu können, "warte einen Augenblick." Was war das für eine Bitte? Oder ein Befehl? Wartete er nicht inzwischen seit geraumer Zeit darauf, dass der Blonde ihm endlich mitteilte, weshalb er ihn nun hier aufgehalten hatte? Der Angesprochene schnaubte vernehmlich ohne etwas zu erwidern. Narutos Blick fiel auf die Leuchtschrift einer Fastfoodkette, die gegenüber von ihnen eine kleine Filiale errichtet hatte. Auch Sasuke folgte seinem Blick und registrierte auch den spontanen Vorschlag des anderen: "Lass uns da reingehen, ich lad dich ein." Er wollte ablehnen, mit dem Kopf schütteln, doch Naruto hatte ihn bereits am Arm gepackt und zog ihn über die Straße hinüber zu dem schlechtbesuchten Restaurant. Nur in einer Ecke konnten sie einen scheinbar obdachlosen, älteren Mann ausmachen, der es sich auf den Polstern bequem gemacht hatte und geräuschvoll durch einen Strohhalm irgendein Getränk zu sich nahm. Sie setzten sich abseits von ihm in einen anderen Teil des Raumes und Naruto zeigte keine Anzeichen von Skrupel, als er das mit leeren Verpackungen gefüllte Tablett auf ihrem Tisch schlichtweg auf dem Nachbartisch abstellte. Nicht jeder machte sich die Mühe, die Tabletts in den dafür vorgesehenen Wagen zu stellen. Ein allgegenwärtiges Phänomen. "Was willst du?", erkundigte sich Naruto und blickte dabei interessiert auf die bilderreichen Aushänge über den Kassen, von denen nur eine besetzt war. Sasuke war sich sicher, dass er das Angebot längst kannte. Dennoch konnte auch er es sich nicht verkneifen genau hinzuschauen, um festzustellen, dass es wieder einmal gefärbte Colagläser als Bonusgeschenk zu irgendwelchen ominösen Menüs gab. Nicht, dass es ihn interessierte, er beschränkte sich in diesen Fastfoodrestaurants seit Jahren auf dieselben Speisen. "Drei Hamburger und eine mittlere Fanta." Wenn er schon seine Zeit hier verschwenden musste, sollte der andere ihn wenigstens etwas dafür entlohnen. Naruto nickte um zu verdeutlichen, dass er die Bestellung verstanden hatte und begab sich dann zu der gelangweilt aussehenden Frau, die hinter einer der kleinen Kassen stand und seine Wünsche desinteressiert entgegennahm. "Rest kommt gleich", meinte sie schließlich und nahm das Geld entgegen. Der junge Mann nahm seinerseits das mäßig gefüllte Tablett entgegen und ging damit zurück zum Tisch. Sasuke konnte zwei Getränke, einen Hamburger und eine unförmige Box mit Nuggets erkennen, als Naruto das Tablett auf ihrem Tisch abstellte. Es war für ihn nicht ungewöhnlich, dass er auf den Rest länger warten durfte, aus irgendwelchen Gründen gab es hier nämlich in der Regel viel mehr Cheeseburger auf Vorrat als gewöhnliche Hamburger. Daher kam es auch häufig vor, dass man ihn fragte, ob er nicht lieber doch einen Cheeseburger haben wollte, was er nicht selten verneinte. "Rest bringen sie gleich", erklärte Naruto überflüssigerweise, bevor er sich Sasuke gegenüber auf den linken der beiden Stühle setzte. Dieser richtete seinen Blick auf die Hände des anderen, die schier sinnfreie Bewegungen ausführten, während er scheinbar nachdachte. Vielleicht über den Anfang des nächsten Satzes, womöglich über die Konsistenz der Flecken auf dem Tisch, an dem sie saßen. Sasuke konnte diese Frage nicht mit Sicherheit beantworten und im Grunde interessierte es ihn auch nicht wirklich. Auf der anderen Seite fragte er sich schon, warum sich Naruto die Mühe gemacht hatte, ihn einzuholen, wenn sie sich doch kaum kannten und er ihm strenggenommen vor den Kopf gestoßen hatte vor wenigen Minuten. Eventuell wollte er ihn zurechtweisen. Oder sich erklären. Egal, was es war, Sasuke würde mit angemessener Gleichgültigkeit reagieren. "Warum siehst du mich nicht an?" Sasuke hat mit vielem gerechnet, aber wohl kaum mit dieser zusammenhanglosen Frage. Er hob den Kopf und streifte für einen Augenblick die graublauen Augen des anderen. Nein, eher blau als grau. Wie ungewöhnlich. Danach fixierte Sasuke seinen Blick auf die Nase und schließlich auf die dezent entstellte Frisur seines Gesprächspartners. "Warum fragst du das?", brachte der Schwarzhaarige schließlich hervor, kaum verständlich. "Ich weiß nicht. Fiel mir so auf." Ein wahrhaft bahnbrechender Grund, um indiskrete Fragen zu stellen. Auf der anderen Seite belustigte die Antwort Sasuke ein wenig. "Was willst du eigentlich?", Sasuke verkniff es sich, die Frage mit "von mir" zu ergänzen. "Gute Frage", erwiderte Naruto nachdenklich und richtete seine Augen auf das Fenster, das hinter Sasuke den Blick auf die erleuchteten Straßen freigab. Draußen herrschte ein reges Treiben und die Leuchtschrift des gegenüberliegenden Geschäfts blinkte aggressiv. Beinahe schon auffordernd. Sasuke verzog seine Augen zu Schlitzen, lehnte sich zurück und nahm eine abwehrende Haltung ein. "Warum bist du eigentlich gekommen, wenn du nicht möchtest?", fragte Naruto nach einigen Sekunden des Schweigens. Der Angesprochene öffnete den Mund, um ihn zugleich wieder zu verschließen, als sonnengebräunte Arme in seinem Blickfeld erschienen. "So, die restlichen Hamburger, bitte", sprach die Kassiererin von eben und wandte sich wieder um, nachdem sie die verpackten Burger auf dem Tablett abgelegt hatte. Ein junger Mann stand bereit zur Bedienung, sie hatte keine Zeit zu verlieren. "Also?", nahm Naruto den Faden wieder auf und blickte Sasuke abwartend an. "Warum stellst du mir rhetorische Fragen? Ihr habt es doch festgelegt", antwortete Sasuke mit mürrischem Unterton und griff nach einem der Hamburger, um ihn zu entpacken. Anschließend hob er die oberste Schicht an, um die Gurke herunterzukratzen und sie in die Verpackung hineinzuwickeln. "Du magst die Gurke nicht?" Der Blonde schien Gefallen an zusammenhanglosen und teils auch sinnfreien Fragen zu haben. Sasuke war seinerseits zusehends genervt von diesem Verhalten. "Nein", erwiderte er schlicht und biss in den Burger hinein. Warm und nicht heiß. Genau richtig. Danach griff er nach der Fanta und trank einen Schluck. "Wir wollten dich nicht zwingen", sagte Naruto mit neutraler Stimme, während er selbst den Strohhalm seines Getränks zurechtbog, "tut mir Leid, wenn es dir nicht gefallen hat." "Warum?" "Was warum? Warum es mir Leid tut oder warum...?", ließ Naruto die Frage offen, während er eines der Nuggets herausnahm, um es in eine undefinierbare Soße zu tunken. "Im Grunde ist meine Entscheidung", antwortete Sasuke kauend, "obwohl ich es bevorzuge, wenn ich davon verschont werde." "Ich weiß nicht, ob ich das nun als mutig, dreist oder feige einordnen soll", gab Naruto großmütig zu und grinste seinen Gegenüber breit an. "Mach, was du willst." "Warum so abweisend?", erkundigte sich Naruto nach einer Weile. Die Reklame gegenüber leuchtete inzwischen in pinker Farbe. Was war das überhaupt für ein Laden dort drüben? Naruto konnte sich nicht entsinnen. "Warum nicht?" Sasukes Antworten ließen nicht gerade auf Gesprächsbereitschaft schließen, eher im Gegenteil. "Na ja, es muss ja einen Grund haben", überlegte Naruto mit ernster Miene. "Alles auf der Welt hat irgendeinen Grund", erwiderte Sasuke nachdenklich und blickte zu dem Obdachlosen hinüber, der gerade aufstand und die Sachen zusammensuchte, mit denen er scheinbar umherzuziehen pflegte. Zumindest ein Teil davon. Ein Leben, das Platz fand in einer alten Reisetasche. Naruto folgte seinem Blick und sie sahen schweigen zu, wie der ältere, ungepflegte Mann zur Tür schlurfte, diese öffnete und schließlich das Restaurant verließ. Wohin auch immer er gehen würde. Was auch immer ihn zu dem gemacht hatte, was er jetzt war. Vielleicht irgendwelche üblichen Probleme wie eine Scheidung, Alkoholmissbrauch und die Unfähigkeit, sich Hilfe zu suchen. Zynische Gedanken in einer zynischen Welt. "Ich frage aber nach deinem Grund", durchbrach Naruto die anhaltende Stille und verspeiste das letzte Nugget. "Danach suche ich noch", antwortete Sasuke und sie sahen einander in die Augen. Für einen Augenblick. Oder vielleicht auch zwei. Ein Blick ohne Bedeutung. Ein Blick voller Entschlossenheit. Ein Blick, so kühl, dass es Naruto beinahe fröstelte. Beinahe. "Ich verstehe." "Nein", stellte Sasuke fest und legte den leeren Pappbecher aufs Tablett. Darauf wusste Naruto nichts zu erwidern und er ertappte sich bei dem Gedanken, dass eine Antwort wohl kaum ehrlich ausgefallen wäre, hätte er versucht, eine zu finden. Dass er ursprünglich ihn hatte fragen wollen, worum es eigentlich ging und was denn mit Hinata sei, hatte er inzwischen fast wieder vergessen. Stattdessen hatte er sich in ein belangloses Gespräch mit einem faszinierenden Objekt eingelassen, das ihm vollkommen fremd erschien. Er verstand Sasuke und seine Beweggründe nicht. Für gewöhnlich waren das auch Fragen, die er lieber unbeantwortet ließ, aber irgendetwas Unbestimmtes hatte ihn neugierig werden lassen. Als sie wieder hinaus auf die erleuchtete Straße traten, blieb Naruto stehen und wandte sich Sasuke noch einmal zu. "Was war eigentlich mit Hinata?", erkundigte er sich, als sei es ihm gerade wieder eingefallen. Sasuke bedachte ihn mit einem strafenden Blick, sodass Naruto eine weitere Frage stellte, anstatt näher auf die erste einzugehen. "Was ist denn dabei, mitzumachen?" "Das hängt vom Auge des Betrachters ab", sagte Sasuke und richtete seinen Blick gen Himmel. Keine Sterne, keine Wolken. Eine mondlose Nacht. "Was soll das bedeuten?", fragte Naruto und stellte gleichzeitig fest, dass der Laden mit dem pink leuchtenden Schriftzug wohl eher eine Art Bar war. "Nun, nicht jeder findet es lustig, irgendwelche Leute zu küssen oder ihnen künstliche Liebesgeständnisse vorzutragen." "Du meinst, dass einige von ihren moralischen Zwängen beeinflusst werden?", erwiderte Naruto mit herablassendem Unterton. "Wie gesagt - es liegt im Auge des Betrachters", antwortete Sasuke verschlossen. "Du bist ein ziemlicher Spießer, was?" Als Naruto danach heimkehrte, glaubte er zuvor eine Grimasse auf dem Gesicht Sasukes ausgemacht zu haben, die man beinahe als verhaltenes Lächeln hätte interpretieren können. Sasuke wiederum fiel es schwer Naruto einzuschätzen. Er war ein ziemlicher Spinner und ignorant noch dazu. Zumindest den ersten Eindrücken nach, die er gewonnen hatte soweit. Auf der anderen Seite trauerte er der verlorenen Zeit nicht nach. Ausnahmsweise. Ein denkwürdiger Tag. ------ *The Rasmus - You don't see me Kapitel 6: Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann --------------------------------------------------- Er hatte keineswegs gespürt, dass dieser Montag ein bedeutender werden würde. Schließlich besaß er keinerlei telepathische Fähigkeiten und hielt auch sonst wenig von esoterischem Aberglaube oder dem allgemeinen Gerede zum Thema Schicksal. Sasuke glaubte schlichtweg nicht an diese Dinge. Tatsächlich ging er eher von einem gewissen Gleichgewicht aus zwischen positiven und eher negativen Geschehnissen. Natürlich handelte es sich auch hierbei um eine Annahme ohne Belege, aber es machte zumindest einen etwas optimisterischen Eindruck, wenn man davon ausging, dass es irgendwann bergauf musste in einer negativen Situation, anstatt daran zu denken, dass man sogar noch tiefer fallen konnte trotz allem. Sein Erwachen wurde nicht durch das penetrante Piepen seines Weckers verursacht, sondern durch das Geschrei seines Bruders, der ihn gleichzeitig noch schüttelte, um seinem Vorhaben Nachdruck zu verleihen. "Sasuke", brüllte er ihm ins Ohr und erreichte damit, dass der eben noch Schlafende sich ruckartig aufsetzte und seinen Bruder ein wenig beiseitestieß. "Spinnst du?" "Endlich bist du wach", freute sich Itachi und ging nicht weiter auf Sasukes offensichtlichen Protest ein, "rat mal wer da ist!" "Der Osterhase", erwiderte Sasuke trocken. Seine Aussage triefte vor Sarkasmus, doch Itachi war noch ein wenig zu jung, um diesen auch zu erkennen. "Du Doofkopf, Onkel Obito ist da", korrigierte ihn sein kleiner Bruder und lief zugleich wieder aus dem Zimmer die Treppe herunter. Ohne die Tür zu schließen. Sasuke ließ sich stöhnend zurück in die Kissen fallen und schlug für einen Moment seine Hände vors Gesicht. Ausgerechnet heute. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Weitere fünf Minuten benötigte er, um seine müden Knochen dazu zu überreden sich zu erheben. Anschließend kramte er irgendwelche Klamotten aus dem Schrank hervor, inklusive eines etwas verwaschenen T-Shirts mit dem Aufdruck "I like you, so I'll kill you last". Danach rieb er sich endgültig den Schlaf aus den Augenwinkeln und versuchte im Bad seine Haare halbwegs in Form zu bringen. Nicht, dass es ihn wirklich kümmerte, wie sie fielen, jedoch wusste er genau, dass seine Mutter es wieder bemängeln würde und er war noch zu müde für derartige Diskussionen. Als er die Treppe herunterkam, hörte er bereits die verschiedenen Stimmen, die aus dem Wohnzimmer zu kommen schienen. Kaum stand Sasuke im Türrahmen, verstummten die Redenden und richteten ihren Blick auf ihn. "Hallo, Sasuke." "Guten Morgen, Sasuke." "Da bist du ja, du Schlafmütze." So tönte es ihm entgegen. Er nickte leicht und nuschelte irgendeinen belanglosen Gruß. "Ist das wirklich dein Ernst, Obito?", fragte Sasukes Vater plötzlich und musterte dabei seinen Bruder eingehend. "Oh ja, Fugaku", erwiderte der Angesprochene und vollführte eine wegwerfende Handbewegung. Bei Obito und Sasukes Vater, Fugaku, handelte es sich um Geschwister. Um ungleiche Geschwister, wenn man es genau nahm. An sich war Obito nur etwas jünger als Sasukes Vater, jedoch gab es wohl selten zwei Verwandte, die sich so wenig ähnelten wie sein Vater und sein Onkel. Während Fugaku durchweg einen rechtschaffenden und sehr geruhsamen Eindruck auf seine Mitmenschen machte, bestand die Stetigkeit des Jüngeren darin, dass er vollkommen unstetig war. Als Sasukes Großeltern gestorben waren, hatten die Brüder das Erbe untereinander aufgeteilt. Während Fugaku seinen Anteil gewinnbringend anlegte, hatte Obito einen kleinen Buchladen erworben, den er nun mit mehr oder minderem Erfolg in einer Seitenstraße der Innenstadt führte. Ihre Unterschiede waren jedoch auch schon viel früher deutlich geworden. Fugaku hatte die Schule und ein längeres Studium absolviert, während Obito zur gleichen Zeit recht früh die Schule verlassen hatte und durch die Welt gegondelt war. Große Länder, kleine Länder, er hatte viele von ihnen mit seinem Motorrad oder auch als Rucksacktourist erkundet. Auch Berufe hatte er häufig gewechselt. Apotheker hatte er gelernt, doch im Laufe der Jahre war er auch als Büroangestellter, Kellner, Landwirt und mäßig erfolgreicher Musiker tätig gewesen. Gar kein Vergleich zu Fugaku, der all die Jahre in dem Beruf bis jetzt zugebracht hatte, in dem er auch einst ausgebildet wurde. Seinen Buchhandel hatte ihn jedoch inzwischen mehr oder weniger sesshaft werden lassen. Zumindest schien er damit recht zufrieden zu sein. Wobei man häufiger auch die Vermutung vorgebracht hatte, diese Entwicklung könne mit seiner Scheidung vor einigen Jahren zusammenhängen. "Er hat die Liebe seines Lebens verloren", hatte Mikoto vor Längerem einmal gesagt, "vielleicht ist er deshalb noch verschrobener geworden." Sasuke seinerseits konnte sich kaum an die Ex-Frau Obitos erinnern. Einerseits, da er ihr kaum begegnet war, andererseits hatte sie ihn nie interessiert. Rin oder so lautete ihr Name, wenn er nicht vollkommen danebenlag. Abgesehen von dieser sehr wechselhaften Lebensgeschichte bot Obito auch einen Anblick, den man nicht so schnell vergaß. Die Hälfte seines Gesichtes war vollkommen vernarbt. Nun gab es Menschen, die sich deshalb irgendwo verkrochen oder sich schämten, Obito ging jedoch sehr offensiv mit dieser Tatsache um und machte nicht den Eindruck, als bemerke er die teils grotesken oder verwunderten Blicke der anderen noch. Woher diese Narben nun eigentlich stammten, wusste selbst Sasuke nicht zu beantworten. Er vermutete jedoch, dass es keine Geschichte war, die es wert gewesen wäre, erzählt zu werden. An sich wusste Sasuke auch nicht, wie er seine eigene Beziehung zu seinem Onkel beschreiben sollte. Einerseits war er deutlich älter, andererseits stellte Obito keine ernstzunehmende Respektsperson dar. Dazu machte er zu oft einen recht jugendlichen Eindruck und teils war er sogar recht aufdringlich, wenn Sasuke es sich recht überlegte. Wie bei dem Jahrmarktsbesuch als sein Onkel ihn genötigt hatte, mit ihm in die verfluchte Achterbahn zu steigen, obwohl sich Sasuke doch so sehr vor der Fahrt gefürchtet hatte. Man konnte wohl getrost von einer Beziehung zwischen Onkel und Neffe ausgehen, die weder besonders eng, noch allzu negativ belastet war. Jedoch verwunderte es Sasuke, dass Obito sie nun hier aufsuchte. Für gewöhnlich sahen sie sich recht selten und wenn handelte es sich zumeist um zufallsbedingte Treffen. In der Hinsicht waren sich Neffe und Onkel zudem sehr ähnlich - beide vermieden Familienzusammenkünfte aller Art und auf Geburtstagen oder Ähnlichem suchte man Sasuke und Obito vergeblich. "Obito hatte eine wundervolle Idee", sagte Mikoto plötzlich und Sasuke warf seiner Mutter einen fragenden Blick zu. Bevor sie jedoch fortfahren konnte, fiel ihr Obito ungeniert ins Wort. "Da du ja zurzeit eh nur rumsitzt, dachten wir du könntest mir ein bisschen aushelfen", erklärte er ohne ein Hehl um Sasukes derzeitige Situation zu machen. "Warum?", fragte Sasuke ohne zu verdeutlichen wie er dieser Idee gegenüberstand. "Na ja, ich bin kurz vor den roten Zahlen und könnte etwas kostengünstige Hilfe gebrauchen. Außerdem macht sich das als Referenz ganz gut, dachte ich." Manchmal hatte Sasuke das Gefühl, dass er gegen Obito die freundliche Höflichkeit in Person war. Ein abstruser Gedanke, jedoch vermutlich nicht so ganz unbegründet. Auf der anderen Seite war Obito ehrlich und direkt, was Sasuke an sich durchaus schätzte als Eigenschaften. "Habe ich eine Wahl?" Einstimmiges Kopfschütteln. Einen Moment lang überlegte Sasuke, ob er protestieren sollte oder ob es einen Ausweg für ihn gab, der ihn davor bewahrte in nächster Zeit Bücher einzusortieren und den Ramsch mit Preisen zu versehen. Er fand jedoch keinen. "Wann?", fragte er daher stattdessen nüchtern und erhielt die gewünschte Information kurz darauf. Danach hatte er sich wortlos verabschiedet und war in sein Zimmer zurückgekehrt. Wer sich das ganze nun eigentlich ausgedacht hatte, wusste Sasuke nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Vermutlich war das eine zum anderen gekommen. An sich war die Aussicht auch nicht ganz so grässlich, schließlich mochte Sasuke Buchläden an sich recht gern, wenn er auch generell den Kontakt zu Kunden oder Mitarbeitern scheute. Der kleine Buchladen seines Onkels war zum Glück auch nicht übermäßig gut besucht, insofern würde er wohl ungeliebtem Smalltalk oder Beratungsgesprächen weitestgehend aus dem Weg gehen können. Das einzige, was ihn wirklich störte, waren die Zeiten. So eine Beschäftigung bedeutete, dass er früh aufstehen musste - und wenn er etwas nicht vermisst hatte seit dem Verlassen der Schule, so war es eindeutig das zeitige Erwachen am Morgen. "Das ist eine gute Möglichkeit für Sasuke", nachdenklich blickte Mikoto aus dem Fenster in den Garten hinaus, "schließlich mag er Bücher ja so gerne und es ist sicher nicht schlecht, wenn er mehr herauskommt." Weder Fugaku noch Obito gingen auf diese Aussage näher ein. An einem anderen Ort presste Naruto seinen Daumen auf einen Klingelknopf und wartete mit wachsender Ungeduld bis letztendlich doch das altbekannte Schnarren ertönte und er die Tür öffnen konnte. Man hatte ihn nicht gefragt, wer er denn sei, jedoch war es um diese Tageszeit anzunehmen, dass er schlichtweg mit dem Briefträger verwechselt worden war. Altmodische Häuser hatten auch ihre Vorteile. Kurze Zeit später stand er bereits vor der Wohnung, die er aufsuchen wollte. Sie musste daheim sein, schließlich hatte sie ihm zuvor geöffnet. Erneut betätigte er die Klingel und wartete, bis ein Scheppern ertönte und vorsichtig die Tür einen Spalt unter vorgeschobener Kette geöffnet wurde. "Ja, bitte?", fragte die leise und melodische Stimme der schwarzhaarigen, jungen Frau, die erstarrte, als sie Naruto erkannte. "Hallo Hinata, ich wollte mich mit dir unterhalten", erwiderte Naruto, dem die Anspannung des Mädchens nicht entgangen war. Jedoch wusste er auch nicht so recht, wie er sie beruhigen sollte. "Komm doch rein", sagte sie letztendlich in die Stille hinein und schloss die Tür, um sie zugleich wieder ohne Kette zu öffnen und den Blonden hineinzubitten. Das war nicht wirklich kompliziert gewesen, wobei Naruto sich auch eingestehen musste, dass er nichts anderes erwartet hatte. In all der Zeit, in der er Hinata kannte, hatte er sie nie wütend erlebt. Konflikte löste sie nicht mit Wut oder lauten Tiraden, sondern mit stummen Tränen oder einer simplen Flucht, wie sie zuletzt auf der Feier stattgefunden hatte. Sie führte ihn in ihre Küche, die ordentlicher und sauberer kaum hätte sein können. "Setz dich doch bitte", zögernd wies sie auf die weißen Küchenstühle, die am farblich dazu passenden Tisch standen, "Möchtest du etwas trinken?" "Ein Kaffee wäre toll", antwortete Naruto und sah zu, wie Hinata Kaffeefilter und eine hübsch gemusterte Dose hervorholte, bevor sie sich daran machte, den gewünschten Kaffee für ihn aufzusetzen. Bisher hatte sie ihn nicht gefragt, weshalb er sie nun aufsuchte. Auch das hatte Naruto erwartet, da er Hinata in erster Linie als sehr zurückhaltende Person einschätzte, die aus eigenem Antrieb sehr wenig Initiative zeigte. Solange man sie nicht in die Ecke trieb zumindest. Dass ihr Verhalten ihm gegenüber auch noch andere Gründe haben könnte, kam ihm jedoch nicht in den Sinn. "Bitte", murmelte Hinata nach einer Weile und stellte zwei mit Kaffee gefüllte Tassen auf den Tisch. Ebenso holte sie Milch und Zucker hervor, um sich dann anschließend auf den verbleibenden Stuhl zu setzen. Vorsichtig griff sie nach ihrer Tasse, um direkt festzustellen, dass der Kaffee noch ein wenig zu heiß war, um ihn jetzt schon zu trinken. Naruto nickte ihr dankend zu und unterließ es vorerst nach der Tasse vor ihm zu greifen, bei der es sich um ein äußerst kitschiges Exemplar handelte, das der Hersteller mit rosafarbenen Herzen und einem romantischen, kurzen Spruch bedruckt hatte. Irgendwie passte die Tasse jedoch zu Hinata. Für einen Augenblick dachte er auch an Sasuke, der ihm vorgeworfen hatte, Naruto würde einiges nicht verstehen. Womöglich hatte er damit nicht so ganz daneben gelegen. "Es geht um die Feier", begann Naruto und registrierte, dass Hinata augenblicklich zusammenzuckte und ihren Blick geradewegs auf die Tischplatte richtete. Fürchtete sie sich vor dem, was kommen würde? Sie schwieg. "Ich möchte mich entschuldigen, wenn wir dir irgendwie zu Nahe getreten sind mit unserem Verhalten", fuhr er schließlich aufrichtig fort und bewegte die junge Frau immerhin dazu, ihren Kopf ein wenig anzuheben. Ihre Blicke trafen sich kurz. Eventuell war es Erstaunen, das er glaubte zu erkennen. "Nein", erwiderte sie zögernd, "mir tut es Leid. Ich hätte mich nicht so anstellen sollen." Naruto erkannte sofort, dass sie diese Ansicht im Grunde nicht vertrat, sich jedoch vermutlich schuldig fühlte wegen ihrer Flucht oder der Aufmerksamkeit, die sie dadurch erregt hatte. "Du weißt, dass das nicht stimmt", sagte er nach ein oder zwei Minuten anhaltender Stille. Erneut zuckte Hinata ein wenig zusammen. Ertappt. Naruto seufzte hörbar. "Sasuke meinte, wir hätten uns unmöglich benommen und man solle niemanden dazu zwingen, an solchen Spielen teilzunehmen. Beziehungsweise -", gestikulierte er wild und ein wenig wirr, "dass wir nicht verstehen, worum es eigentlich geht. Vielleicht ist das so, ich weiß es nicht, aber du solltest es dir nicht so zu Herzen nehmen, denke ich." "Das hat er gesagt?", erkundigte sie sich verwundert und Naruto registrierte erstaunt das leichte Lächeln, das ihre Lippen umspielte. "So in der Art, ja." Beide tranken ihren Kaffee. Es war Hinata, die zuerst wieder das Wort ergriff. "Woher kennst du Sasuke eigentlich? Ich habe ihn vorher noch nie bei dir gesehen", sagte sie mit verhohlener Neugierde, sodass sich Naruto ein Grinsen nur schwer verkneifen konnte. So war das also. "Ich kenne ihn kaum", erwiderte Naruto und drehte die Tasse ein wenig im Uhrzeigersinn auf dem Tisch mit der rechten Hand, "ich und Sakura haben ihn nur zufällig in der Stadt getroffen bei einem komischen Zwischenfall. An sich kennen wir ihn aber nicht." Danach erzählte er knapp die Geschichte ihrer Begegnung und erntete ein verstehendes Nicken von Hinata. "Falls du Kontakt aufnehmen möchtest, ich habe die Adresse", beendete Naruto seine Erzählung und fing einen verlegenen Blick des Mädchens auf. "Muss nicht sein", sagte sie schließlich, "ich kenne ihn ja im Grunde nicht." Naruto ertappte sich dabei, dass er über die Bedeutung dieses Satzes eine Weile nachdachte. Ab wann kannte man jemanden eigentlich? Mit Zeit hatte das vermutlich wenig zu tun, schließlich 'kannte' er Hinata schon recht lange und hatte nie erkannt, wie unangenehm und fremd ihr bestimmte Dinge, die für ihn wiederum beinahe bedeutungslos sind, waren. An sich tat es ihm auch etwas Leid. Die Schwarzhaarige hielt sich nun schon länger in ihrem Freundeskreis auf und nie hatte er ernsthaft über ihre Bedürfnisse oder Interessen nachgedacht. Sie war einfach da gewesen und hatte mitgemacht, zumindest wenn man versuchte, sie mit einzubeziehen. Tatsächlich gelungen war es ihnen jedoch bei nachträglicher Betrachtung nicht. Konnte man jemandem dafür die Schuld zuweisen? Mussten Menschen immer zusammenpassen? War das überhaupt möglich? Es fiel ihm nicht leicht, die richtigen Worte zu finden, um das auszudrücken, was er dachte. Andererseits wollte er manches auch nicht offen aussprechen. Er hatte das Gefühl, es würde zu keinem Ergebnis führen, mit dem er sich anfreunden konnte. Zudem sich Menschen ja ändern konnten, zumindest in einem gewissen Rahmen. Wenn er an sich selbst dachte, hatte er keine großartige Entwicklung hinter sich. Sicherlich hatte er seine Unschuld verloren und war weniger empfänglich für vieles im Vergleich zur Kindheit, jedoch war vieles auch geblieben. Überzeugungen, kleine Träume und vielleicht auch einige, grundsätzliche Dinge. Nach einer weiteren, belanglosen Unterhaltung verabschiedete sich Naruto von Hinata. Mit einem Lächeln und einer Erkenntnis, die er nicht teilen wollte. "Weißt du, Sakura", sagte er später am Telefon, "manchmal frage ich mich, wie man Grausamkeit definiert." "Der Duden ist dein Freund", erwiderte sie ein wenig spöttisch. "Es gibt Fragen im Leben, die kein Duden beantworten kann. Sondern nur man selbst", antwortete er und schenkte sich Tee ein. "Dann beantworte sie dir selbst. Ganz einfach." Sie verstand sein Problem nicht. "Manchmal ist das nicht so einfach", sagte er mit monotoner Stimme und verstummte. Erst nach einer halben Minute der Stille, kurz bevor Sakura etwas sagen konnte, fügte er noch etwas hinzu: "Ich werde meine Mutter besuchen." Kapitel 7: Wovon du nicht träumst --------------------------------- Selbst der Kaktus hatte das Zeitliche gesegnet. Ganz zu schweigen von den verwelkten Blumen und der Orchidee, die nur noch durch das kleine Schildchen, das in der Blumenerde steckte, als solche überhaupt zu identizifieren gewesen war. Nicht gerade ansprechend. Sasuke verschloss resigniert die Augen vor diesen vollendeten Tatsachen. "Ist noch was zu retten?", neugierig blickte ihm Obito, sein Onkel, über die Schulter und erntete lediglich ein vehementes Kopfschütteln. "Na dann muss ich wohl Neue besorgen", überlegte er laut und übersah Sasukes beinahe schon entsetzten Blick. Wenn er selbst schon keinen Grünen Daumen für die Aufzucht von Blumen besaß, war sein Onkel im Vergleich zu ihm vollkommen talentfrei. Vermutlich hätte Obito es sogar fertiggebracht, Plastikblumen vertrocknen zu lassen. Ganz zu schweigen von seinem Sinn für Ordnung. Während die Bücher ordentlich in Regale eingeordnet waren nach Genre und Autoren, glich das Hinterzimmer einer Rumpelkammer, die seit Jahren weder Staubtuch noch Staubsauger gesehen hatte. Nicht gerade motiviert hatte Sasuke versucht, zunächst ein wenig Ordnung zu schaffen und zumindest Spinnenweben und Staub zu beseitigen. Ein aufwendiges Unterfangen. Anschließend war er dazu übergegangen die Einnahmen und Ausgaben der letzten Monate in den uralten Macintosh aus Zeiten des Kalten Krieges, so kam es Sasuke zumindest vor, einzugeben, damit die nächste Steuerprüfung nicht in einem mittelschweren Disaster endete. Zwar hatte er nie einen Beruf erlernt, jedoch hatte man ihm zumindest ein paar Kenntnisse vermittelt, die er problemlos anwenden konnte. Dennoch kam er sich häufig ahnungslos vor und ertappte sich bei dem Gedanken, ob denn andere Leute seiner Generation nicht schon viel selbständiger waren als er. Das andere Problem war seine Antriebslosigkeit, die schon seit vielen Jahren sein ständiger Begleiter war. Interessierte ihn etwas nicht, konnte er sich nur schwer dazu durchringen, sich damit auseinanderzusetzen. Womöglich einer der Gründe, weshalb er die Schule aufgegeben hatte. Abschließend prüfte Sasuke noch, ob alle bestellten Bücher eingegangen und ob die Mängelexemplare korrekt beschriftet waren, bevor er die Verkaufsräume der Buchhandlung erneut betrat und zusah, wie Obito gerade eine aufgetakelte Frau mittleren Alters zu überzeugen versuchte, einen im Mittelalter spielenden Frauenroman zu erwerben. "Ich weiß nicht", sagte sie zögernd, "vielleicht doch lieber einen Krimi." Geduldig wies Obito auf die Regale mit der Beschriftung 'Krimis' und empfahl einige, kürzlich erschienene Werke. "Oh, Sie haben einen neuen Mitarbeiter?", fragte sie den Blick auf Sasuke richtend, der es bereute, zu früh auf der Bildfläche erschienen zu sein. "Sozusagen", erwiderte sein Onkel lächelnd, "das ist mein Neffe, Sasuke Uchiha." "Es ist doch schön mit der Familie zusammenarbeiten", meinte die Frau und blickte auf ihre goldene Armbanduhr, "was, schon so spät? Ich glaube, ich werde den neuen Roman von Haruki Murakami nehmen. Könnten Sie mir den als Geschenk einpacken?" "Selbstverständlich", nickte ihr Obito höflich zu, nahm das Buch und drückte es kurzerhand Sasuke in die Hand, der sich bemühte, das Werk halbwegs ansehnlich in das schlicht gemusterte Papier einzuwickeln. Geschenke einpacken gehörte auch nicht unbedingt zu seinen Talenten. Zuletzt klebte er eine Schleife in eine Ecke und überreichte das Paket der Kundin nachdem diese bezahlt hatte. "Auf Wiedersehen", rief die Frau noch, bevor sie hinauseilte. Obito erwiderte den Abschiedsgruß und Sasuke bemühte sich zumindest, irgendetwas zu nuscheln, das man unter Umständen als "Tschüß" identifizieren konnte. "Daran musst du wirklich arbeiten", sagte Obito zu seinem Neffen nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. Sasuke unterließ es, ihm zu antworten. Auch Obito vertiefte das Gespräch nicht und wechselte stattdessen abrupt das Thema: "Aber spät ist es wirklich schon, lass uns Schluss machen. Wir können stattdessen neue Pflanzen kaufen." Innerlich stöhnte der Jüngere auf. Bloß nicht. Als sie im Auto nebeneinander saßen, war es Obito, der zuerst das Wort ergriff. "Ist sonst alles in Ordnung bei euch?" Die Frage war natürlich vollkommen überflüssig, schließlich hatte Sasuke Onkel sie erst vor wenigen Tagen daheim besucht und sich somit selbst vom aktuellen Familienfrieden überzeugen können. Daher beschränkte sich Sasuke auch auf ein zustimmendes Brummen. "Du bist redselig wie immer", seufzte Obito, mit den Fingern auf dem Lenkrad herumtrommelnd, "hast du mal wieder darüber nachgedacht, was du in Zukunft tun möchtest?" Sein Neffe legte den Kopf schief und sah ihn dabei mit ausdrucksloser Miene an. Er hatte dieses Gespräch viele tausend Mal geführt und eine ehrliche Antwort auf diese Frage existierte nicht. Jedenfalls nicht für ihn. Nicht hier und heute. "Gut, vergiss es", wiegelte sein Onkel ab, "Mikoto hat erzählt du warst letztens auf einer Party und deine Freundin hat dich abgeholt." Wie befürchtet hatte sich Sasukes Mutter scheinbar ihren Teil gedacht und irgendeinen Unsinn daraus fabriziert. "Das ist nicht meine Freundin", antwortete Sasuke monoton, das Gesicht in Richtung Seitenfenster gewandt. "Hätte mich ehrlich gesagt auch gewundert", gab Obito zu und lachte schallend. Es klang nicht spöttisch, eher belustigt. "Hast du eigentlich noch Kontakt zu dem Jungen der in der Buchenstraße wohnt?", fragte er nach kurzer Zeit. "Zu Gaara?", wollte Sasuke wissen, "Nein, habe ich nicht." "Ist auch schon lange her", erwiderte der Ältere und stellte fest, dass er sich nicht entsinnen konnte, wie lange es eigentlich her war. Bestimmt einige Jahre. "Acht oder neun Jahre", klärte Sasuke ihn ungefragt auf und Obito war erstaunt, dass bereits soviel Zeit verstrichen war. Obito erinnerte sich noch gut an den rothaarigen Jungen, mit dem Sasuke damals gespielt hatte. Sie hatten sich schon recht früh kennengelernt, irgendwann im Kindergartenalter. Und da Mikoto und Gaaras Mutter, deren Name ihm entfallen war, recht gut befreundet waren, hatten sich auch ihre Söhne häufiger getroffen. Vor allem in der Zeit als Itachi gerade das Licht der Welt erblickt hatte. Kurz darauf musste sich diese Verbindung gelöst haben, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht wusste nicht einmal mehr Sasuke selbst, warum diese Freundschaft nicht gehalten hatte. Er fragte ihn danach. "Seine Eltern haben sich scheiden lassen." Eine simple Antwort. Doch die Gedanken dahinter ließen sich nicht in einem Satz zusammenfassen. Er hatte keine Blumen gekauft. Die Landschaft rauschte an ihm vorbei und er starrte gleichgültig aus dem Fenster des Zuges. Es war keine Aufregung, die ihn ergriff, keine Freude und auch keine Spur von Wut. Seine Stirn lehnte gegen die vibrierende Scheibe des Abteils, er konnte nicht schlafen und wollte nicht denken. Leere Bilder. Endlich schlafen. Er schloss die Augen, dachte an einen quadratischen Raum mit grauen Punkten. Vollkommene Leere ohne Gedanken. Als er erwachte, wusste er zuerst nicht, wo er sich befand. Dann kam die Erinnerung und er las den Namen des Stadtbahnhofes, an dem der Zug soeben ohne langsamer zu werden vorbeigerauscht war. Bald war er am Ziel. Oder am Anfang. Je nachdem, wie man es interpretierte. Graubraune Plattenbauten, überall Graffiti ohne tieferen Sinn und ein wolkenverhangener Himmel, der sich nach dem nächsten Regen sehnte. Seine Heimatstadt. Achtzehn Jahre hatte er hier verbracht, bis er alt genug gewesen war, um fortzugehen. Ohne zu zögern. Ohne Reue. Seitdem war er viele Male hiergewesen, vermisst hatte er es jedoch nicht. Die Atmosphäre, die Menschen, die Gebäude, sie alle waren Teil einer Vergangenheit, die er nicht mehr hervorkramen wollte. Dennoch, so naiv diese Gedanken auch waren, wusste er, dass manche Verbindungen immer bestehen blieben. Selbst, wenn man den Kontakt komplett abbrach, setzte kein Vergessen ein. Jedenfalls kein Allumfassendes. Kaum angekommen, verließ er die Bahnsteige und winkte außerhalb der Gebäude ein Taxi herbei. Nüchtern nannte er dem Fahrer die Adresse, die der südländisch aussehende Fahrer daraufhin in sein Navigationssystem eingab. Im Hintergrund lief leise das Radio, irgendein aktueller Rapsong. Naruto lehnte seinen Hinterkopf gegen die Nackenstütze und atmete tief ein und aus. Zehn Minuten, länger dauerte die Fahrt nicht, der Verkehr war um die Zeit eher mau und die meisten Ampeln zeigten grün. Er zahlte den geforderten Preis und stieg aus, seine Reisetasche wog schwer in der Hand. Ausdruckslos klingelte er an der Tür und vernahm Sekunden später das vertraute Schnarren, das ihn aufforderte, einzutreten. Genau dreiundzwanzig Schritte später stand er vor der Wohnungstür, die einst Teil seines Heims gewesen war. Oder des einzigen Ortes, den er als Kind gehabt hatte. Erneut betätigte er den Klingelknopf und hörte, wie jemand geräuschvoll den Schlüssel herumdrehte und schließlich die Tür öffnete. "Naruto." Eine Feststellung. "Hallo, Mama", sagte er und sah zu, wie seine Mutter beiseite trat, um ihn einzulassen. Seit ihrer letzten Begegnung hatte sie ein wenig abgenommen und ihre roten Haare versprühten einen stumpfen Glanz. Sie trug ein schlichtes T-Shirt, das er glaubte zu kennen und eine Leggins, die ihm vermittelte, dass sie heute vermutlich das Haus noch nicht verlassen hatte. Im Inneren der Wohnung hatte sich nicht viel verändert. Seine Mutter war kein allzu ordentlicher Mensch und es stapelten sich Papiere neben einem Berg gewaschener Kleidung, die sie wohl schon vor Wochen hatte bügeln wollen. Zumindest die Küche bot einen erträglichen Anblick - abgesehen von der Sammlung Teepackungen, die sich auf dem Küchentisch aufreihte. Die Vorliebe zu dem traditionellen Heißgetränk teilte er mit seiner Mutter. Immerhin. Als Kind hatte das etwas anders ausgesehen, aber vermutlich gab es im Allgemeinen nicht so furchtbar viele Jugendliche, die derart häufig Tee tranken. Höchstens mit Zucker oder Milch, beides Substanzen, auf die er schon lange verzichtete in Hinblick auf seinen Tee. Der Kühlschrank war nach wie vor mit Notizzetteln und Magneten beklebt. Ein Kalender, den niemand abgenommen hatte, verkündete das Jahr 1997. Seine Mutter stand hinter ihm, wie bestellt und nicht abgeholt. Naruto warf einen Blick auf den leeren Aschenbecher in der Mitte des Tisches. "Rauchst du noch?", fragte er desinteressiert. "Kaum", erwiderte seine Mutter zögerlich und fügte schließlich noch etwas hinzu, "in den letzten zwei Wochen nur einmal." Er nickte verstehend. Zumindest darauf hatte sie verzichtet, falls sie denn die Wahrheit sagte. In seiner Kindheit war sie es gewesen, die ihm beigebracht hatte, dass es sich bei der Wahrheit nicht immer um die passende Lösung handelte. "Sag Papa nichts davon", hatte sie ihm häufig zugeraunt, ohne dass er den wirklichen Grund für ihr Schweigen verstand. Es waren belanglose Dinge gewesen. Wie ein Eis, das sie ihm im Supermarkt gekauft hatte. Wie ein Kleid, das sie sich ausgesucht hatte. Nichtigkeiten. Manchmal hatte er ihre Anweisungen befolgt, manchmal nicht. Nicht, dass es etwas veränderte, dennoch konnte er sich bis heute ohne groß nachzudenken ihr enttäuschtes Gesicht vors geistige Auge führen. Die Enttäuschung über die Wahrheit. Er drehte sich langsam zu ihr um. "Ich war dabei, einige Sachen auszusortieren. Schau sie dir doch an, vielleicht ist etwas dabei für dich", sagte sie ohne Zusammenhang und wies auf das anliegende Schlafzimmer, in dem sie, wie Naruto kurze Zeit später feststellte, einen weiteren Wäschehaufen mit der alten Kleidung seines Vater aufgetürmt hatte. Sachen, die er nie freiwillig tragen würde. Dennoch suchte er sich ein oder zwei Paar Socken aus und legte sie in eine Plastiktüte, um sie mitzunehmen. "Den Rest nicht", meinte er und setzte sich auf die Bettkante. Stumm sahen sie einander für eine Weile an, bis sich seine Mutter zu ihm setzte. Als habe er sie dazu aufgefordert, dachte er. "Ich werde das Auto verkaufen", teilte sie ihm unaufgefordert mit und er hörte mit halbem Ohr zu, als sie ausführte, wie das Erbe aussehen würde und was sie als nächstes plante. Von ihm aus hätte sie das Geld auch ins nächstbeste Spielkasino tragen können, es kümmerte ihn nicht. "Wie läuft es eigentlich in der Uni?", fragte sie und erntete Narutos verwunderten Blick. Es kam selten vor, dass sie sich für ihn in dem Maße interessierte. "Ganz okay", erwiderte er und verzichtete darauf, näher ins Detail zu gehen. Einerseits, weil er bezweifelte, dass sie Interesse an fachspezifischen Problematiken hatte, andererseits, da er das Gefühl hatte, dass die Frage aus einer Art Höflichkeit resultierte. "Das ist gut", sagte seine Mutter, "Was möchtest du heute essen?" "Pfannkuchen", antwortete er fast schon automatisch. Aus Gewohnheit und da er daheim nie Pfannkuchen machte. Wenig später erhob sich seine Mutter und machte sich in der Küche daran, den Teig anzurühren und diesen schließlich zu Pfannkuchen zu verarbeiten. Immerhin ein Gericht, das ihr immer halbwegs gelungen war. Tatsächlich war seine Mutter nämlich keine überragende Köchin. Nicht, dass ihr Essen ungenießbar gewesen wäre, aber es hatte auch keinerlei Wiedererkennungswert, jedenfalls im Vergleich zu dem, was ihm seine Großmutter zu ihren Lebzeiten serviert hatte. Naruto ließ sich zurückfallen aufs weiche Bett. Ein Moment der Ruhe. "Ich habe keinen Apfelmus mehr", rief seine Mutter quer durch die Wohnung, "ich hol eben welchen." Er antwortete nicht, rührte sich nicht, rollte erst zur Seite, als die Tür ins Schloss fiel. Das Zimmer war zweckmäßig eingerichtet, Nachttische, ein Schrank, eine weiße Tapete, auf der seine Mutter in einem Anflug von künstlerischer Begeisterung blaue Farbtupfer verteilt hatte. Neben dem Bett stand eine Schmuckkassette, dunkelblau und verschlossen. Der Schlüssel steckte. An die Kassette konnte er sich nicht erinnern. Zudem sie sehr offen im Raum stand, was wohl bedeutete, dass der Inhalt nicht allzu wertvoll sein konnte. Sofern seine Mutter nicht einfach vergessen hatte, sie zurückzustellen. Für einige Sekunden musterte er das Objekt mit schiefgelegtem Kopf. Bis die Neugierde siegte und er sich streckte, um sie heranzuzuziehen. Im Inneren befand sich tatsächlich kein Schmuck, sondern Papier. Umschläge, um genau zu sein. Beschriftete und abgestempelte Briefumschläge, ungeöffnet. Sie waren nicht vergilbt, machten jedoch auch nicht den Eindruck, als seien sie erst gestern abgeschickt worden. Der Poststempel bestätigte seine Vermutung. Die Briefe stammten aus der Mitte der neunziger Jahre. Der Neuste, den er finden konnte, war 1997 aufgegeben worden in der Stadt, in der er inzwischen studierte. Den Namen des Absender kannte er nicht, zumindest sagte ihm er Name nichts. Naruto überlegte, ob er die Briefe öffnen sollte. Auf der anderen Seite war das wohl kaum erwünscht, schließlich waren die Briefe eindeutig an seine Mutter, Kushina Uzumaki, gerichtet und nicht an ihn. Aber was mochte seine Mutter dazu bewogen haben, diese Briefe ungeöffnet aufzubewahren nach all den Jahren? Eventuell sollte er sie danach fragen. Vielleicht würde er das tun. Kushina war froh, einen Vorwand zu haben, um die Wohnung für einige Minuten verlassen zu können. Nicht, weil sie etwas anderes vorgehabt hätte, aber die Anwesenheit ihres einzigen Sohnes verunsicherte sie - und es fiel ihr schwer, sich mit ihm auseinandersetzen. Vor allem, seitdem ihr Mann verstorben war und sie mit dieser Bürde alleingelassen hatte. Sie hatte keinen Grund, ihm böse zu sein, sie hatte keinen Grund, ihm weinend um den Hals zu fallen. Überhaupt hatte sie diese Unsicherheit, die sie gegenüber ihrer Rolle als Mutter von Beginn an verspürte, nie ganz ablegen können. Im Gegenteil, seitdem Naruto älter geworden war, fiel es ihr immer schwerer, darüber nachzudenken und eine Lösung zu finden. Als Teenager hatte sie nie eigene Kinder haben wollen und im Grunde hatte sie Kinder auch nie besonders gemocht. Sie war nicht wie die anderen Mädchen gewesen, die bei einem vermeintlich niedlichen Baby ihre Sprache auf ein Grundniveau reduzierten, liebkosende Worte erfanden und um des Kindes Aufmerksamkeit rangen. Es waren andere Träume gewesen, die sie durch ihre Jugendzeit begleiteten - sie wollte studieren, sie wollte die Welt sehen und sie wollte sich selbst verwirklichen. Ganz im Sinne ihrer Generation. Letztendlich war sie doch zu einer von denen geworden, die sie früher so verachtet hatte. Alt, verheiratet, verwitwet und von Selbstwirklichung konnte sie bei ihrem Beruf auch nicht sprechen. Er reichte zum Leben. Das war alles. Was hatte sie von der Welt gesehen? Sie waren zweimal in Frankreich gewesen, im verregneten Elsaß mit dem Fahrrad unterwegs. Sogar der Himmel hatte sie beweint. Sicher hätte sie es so machen können wie ihre damaligen Freundinnen, indem sie ihre zerplatzten Träume in ihr Kind hineinprojizierte und Naruto dazu bewegte, in Abendkleid und Federboa am Christopher Street Day teilzunehmen, während er nebenbei als Topmanager arbeitete. Absurd. Trotz allem hatte Naruto bereits in jungen Jahren mehr erreicht als sie damals. Vielleicht beneidete sie ihn ein wenig darum. Nur an düsteren Tagen erinnerte sie zurück an die Zeit, in der sie erfahren hatte, dass sie im dritten Monat schwanger war. Dann dachte sie daran, dass sie kein Kind gewollt hatte, dass sie es hatte weghaben wollen. Bloß weg. Aus ihr, aus ihrem Leben. Letztendlich hatte sie Naruto behalten. Kushina hatte es geschafft. Doch sie verspürte keinen Stolz. Etwa eine halbe Stunde, nachdem sie das Haus verlassen hatte, kehrte sie zurück. Den Apfelmus stellte sie in der Küche ab und als sie das Schlafzimmer betrat, staunte sie ein wenig, als sie Naruto schlafend auf dem Bett vorfand. Womöglich war die Zugfahrt doch anstrengender gewesen als erwartet. Bevor sie sich wieder umwandte, um das Zimmer zu verlassen, fiel ihr Blick auf die geöffnete Schmuckkassette. Sie erstarrte. Kapitel 8: Tanz ohne Musik -------------------------- Ereignislose Tage. Verschwendete Stunden. Sakura starrte nachdenklich auf den Abreißkalender, der sie förmlich anschrie, ein weiteres Blatt zu entfernen. Ihr war eindeutig langweilig. Naruto beantwortete seit Tagen keine ihrer versendeten SMS, Ino befand sich im Siebten Himmel mit ihrer neusten, austauschbaren Errungenschaft und Hinata - nun, Sakura konnte sich etwas Spannenderes vorstellen, als physikalische Gesetze zu diskutieren, die junge Frau studierte nämlich Physik. Nicht gerade Sakuras Fachgebiet, sie hatte eher eine pragmatische Entscheidung getroffen und sich für BWL eingeschrieben. Auch kein Fachgebiet, das Sakura tatsächlich gereizt hätte, jedoch musste sie an die Zukunft denken und keine Jahre damit vergeuden, etwas zu studieren, das zwar interessant war, sich aber letztendlich als nutzlos erweisen würde, wenn es um den späteren Einstieg in den Beruf ging. Derzeit hatte sie dennoch nichts zu tun. Absolut gar nichts. Dabei wurde es langsam warm und die feierfreudigen Jugendlichen und Heranwachsenden krochen aus ihrem imaginären Winterschlaf. Zumindest abgesehen von ihrem eigenen Bekanntenkreis. In der Regel konnte man sich zumindest auf Naruto verlassen, aber der war ja nicht erreichbar. Ob es ihm gut ging? Sakura wusste nicht allzu viel über die Familie ihres Freundes, seltsam eigentlich, aber sie hatte auch kaum danach gefragt, da ihr schnell -aufgefallen war, wie unangenehm ihm dieses Thema war. Obwohl sie sich natürlich ihre Gedanken gemacht hatte, was sie zumindest als selbstverständlich erachtete. Sakura seufzte hörbar. Männer träumen doppelt so häufig von Männern als von Frauen. Als er erwachte, versuchte er die Fetzen seines letzten Traumes zu sortieren. Vergeblich. Die meisten Träume vergaß er in dem Moment, in dem er die Augen öffnete. War das nicht der Fall, löste sich der Inhalt spätestens nach wenigen Stunden in Luft auf. Wenn er es nicht notierte. In der Pubertät hatte er sich die Mühe gemacht, einige seiner greifbaren Träume aufzuschreiben. Zumeist waren es recht absurde Geschichten gewesen - wie beispielsweise ein Weihnachtsmarkt in der eigenen Wohnstraße, durch die man im Zeitlupentempo rannte, damit die Pizza nicht kalt wurde, während man ohne Sinn und Verstand einen laufenden Weihnachtsbaum verfolgte. Solche und ähnliche Träume hatte er gehabt. Natürlich auch mit ein wenig ernsteren Hintergründen, wie die Begegnung mit seinem kürzlich verstorbenen Großvater. Außerdem gab es natürlich auch die erotische Variante der Träume, die er nicht einmal versuchen wollte zu deuten. Zu merkwürdig erschienen ihm die Inhalte und Leute, die er dort antraf im Nachhinein. Ein manches Mal erstach oder erschoss man ihn auch in der Traumwelt. Kein sehr angenehmes Gefühl und in der Regel wachte er davon auch sehr schnell wieder auf. Kurzum war Sasuke Uchiha kein Mensch, der sich sorgte, weil er soeben von einer nicht ganz jugendfreien Begegnung mit dem Vater seines ehemaligen Klassenkameraden geträumt hatte. Wirklich nicht. Nicht, dass er daran dachte, es irgendwem zu erzählen. Es gab Dinge im Leben, die man besser für sich behielt - und derartige Träume gehörten eindeutig dazu. Sein Blick streifte die Digitalanzeige seines Weckers. Spät, zu spät. Er würde nicht mehr rechtzeitig bei seinem Onkel auf der Matte stehen. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich zurückfallen zu lassen und einfach liegenzubleiben. Irgendeine imaginäre Stimme in ihm sprach sich jedoch gegen diese Idee aus und er erhob sich schließlich schwerfällig und schlich ins benachbarte Bad, um seine Katzenwäsche über sich zu bringen. Sasuke lauschte angestrengt, nichts war zu hören. Totenstille im gesamten Haus. Niemand war noch hier - bis auf ihn. An sich mochte er diesen Zustand, wenn er sich auch einen Geburtstag erinnerte, der bestimmt sieben oder acht Jahre zurücklag. Damals war er gerade von der Schule gekommen und hatte sofort gemerkt, dass er allein daheim war. Sasuke hatte sich im Flur auf den Boden gesetzt, die Jacke kaum ausgezogen und geheult wie ein Schoßhund. So einsam hatte er sich an diesem Geburtstag in dem Augenblick gefühlt. Heute fiel es ihm schwer, die Empfindungen von damals in Erinnerung zu rufen. Oder die Gründe, die ihn zu dieser Handlung bewegt hatten. Sein träges Gesicht starrte ihn aus müden Augen im Badezimmerspiegel an. "Nichts", dachte er, "nichts kann ich darin lesen". Anschließend griff er sich irgendwelche schwarzgrauen Kleidungsstücke, zog sie an und verließ das Haus. Gleich kam der Bus, den wollte er nicht auch noch verpassen. Obito fixierte das Ziffernblatt der großen Uhr, die er vor Jahren über der Tür seines Buchladens angebracht hatte. Schlicht weiß mit schwarzen Zeigern. Beinahe schon spießig. Sein Neffe kam eindeutig zu spät und er lächelte. Ein Lächeln, das auch nicht abriss, als Sasuke kurze Zeit später durch die Tür in den Laden stolperte und einen mehr als gehetzten Eindruck machte. Schweigend sahen sie einander an. Der schwer atmende Sasuke und Obito, der ihn ruhig und augenscheinlich belustigt anblickte. "Normal sagt man 'Es tut mir Leid, dass ich zu spät bin, aber mein Bus hat die Großmutter von nebenan überfahren, weshalb ich mich verspätet habe' oder so etwas in der Art", sagte Obito schmunzelnd. "Und das glaubst du?", erkundigte sich Sasuke. Er war inzwischen wieder zur Ruhe gekommen. "Nein", erwiderte Obito schlicht, "aber unser Zusammenleben baut auf sinnlosen Floskeln auf, die gut klingen ohne etwas mit den Tatsachen zu tun zu haben." "Ist das nun ein Kompliment oder ein Vorwurf?", fragte Sasuke und stellte seine Tasche im angrenzenden Raum ab. "Wer weiß", antwortete sein Onkel ohne näher darauf einzugehen, "die Neuzugänge liegen bereit, du darfst prüfen ob alles angekommen ist." "Ja", sagte Sasuke schlicht und beendete ihr Gespräch. Einige Stunden später trat Sasuke aus dem Laden auf die Straße hinaus und stellte fest, dass es regnete. Nicht allzu stark, aber spürbar. Von daher machte er sich auch die Mühe, die Kapuze seines Hoodies über den Kopf zu ziehen, bevor er die Hände in den Taschen seines Sweatshirts verschwinden ließ und sich mit langsamen Schritten quer durch die Fußgängerzone in Richtung des Busbahnhofes bewegte. And if we can't find where we belong We'll have to make it on our own Face all the pain and take it on* Die Musik dröhnte in den Kopfhörern, er hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Schritt um Schritt. Sasuke sah die Füße der Menschen, die an ihm vorbeirauschten, bedächtige Schritte, schnelle Schritte, hektische Schritte, die von dem Klappern der Absätze auf dem nassen Stein begleitet wurden und schlurfende Schritte. Bis hin zu schwarzgemusterten Chucks, die direkt vor ihm stehenblieben. Er hob seinen Kopf an. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. "Sasuke", sagte sein Gegenüber mit einer Stimme, der man weder Freude noch Enttäuschung entnehmen konnte, "was machst du hier?" "Ich gehe nach Hause", erwiderte er tonlos und betrachtete die blonden und inzwischen vollkommen durchnässten Haare skeptisch. Naruto sah ich um und hielt inne, als sein Blick das Schild einer Bäckerei streifte, die über zahlreiche Backwaren wie auch angepriesenen "Coffee2Go" verfügte. Bestimmt konnte man sich dort auch hinsetzen. "Möchtest du einen Kaffee mit mir trinken?", erkundigte sich Naruto daher, beobachtend, wie Sasuke ebenfalls das Schild musterte, kurz nachdachte und schließlich mit einem langsamen Nicken zustimmte. Er hatte schon Lust darauf, nun etwas Warmes zu essen oder zu trinken - und der Regen lud auch nicht gerade zu längeren Spaziergängen ein. So ließen sich beide an einem kleinen Tisch mit sesselartigen Stühlen nieder und Naruto bestellte am Tresen zwei Cappuccini und zwei Stück Käsekuchen, das einzige, was zu dieser schon recht späten Stunde noch verkauft wurde. "Was anderes gab es nicht", sagte er daher, als er den Teller vor Sasuke abstellte und nur ein ergebenes Nicken erntete. Es störte ihn nicht weiter, er mochte Käsekuchen, ab und zu jedenfalls. Die beiden jungen Männern stocherten schweigend in ihrem Stück Kuchen und warteten darauf, dass der Cappuccino ein wenig abkühlte. Eine Verkäuferin, die sie aus der Ferne beobachtete, wunderte sich ein wenig über das merkwürdige Paar. Normalerweise sprachen die anwesenden Gäste deutlich mehr miteinander und auch optisch hatten sie nicht viel gemein. Der eine im dunklen Kapuzenshirt mit dunkelbraunen oder auch schwarzen Haaren, der andere hingegen blond und recht farbenfroh - wie auch eindeutig modischer - gekleidet als sein Gegenüber. Jedoch musste die Verkäuferin einräumen, dass beide auf ihre eigene Art und Weise nett anzusehen waren. Vielleicht konnte man sogar sagen, dass sie gut aussahen und sie es eventuell gewagt hätte einen von ihnen anzusprechen, wäre sie zehn Jahre jünger gewesen. So beließ sie es dabei, ihnen eine Weile zuzusehen, bevor sie sich daran machte, einige Bleche zu säubern. "Manchmal ist es doch schön zu schweigen", sagte Naruto plötzlich und bewirkte damit, dass Sasuke innehielt. "Du redest doch", erwiderte er und griff nach der Kaffeetasse. Anstatt auf diesen Vorwurf einzugehen, wechselte Naruto das Thema. "Ich habe mich mit Sakura gestritten." "Warum erzählst du mir das?", fragte Sasuke ihn und blickte ihn für wenige Sekunden prüfend an, bevor er seinen Blick abwandte und stattdessen eine perlmuttfarbene Wanduhr schräg gegenüber fixierte. "Keine Ahnung", seufzte er mit nachdenklicher Miene, "vielleicht, weil es dich nicht interessiert." "Erzählst du immer Dinge, die den anderen nicht interessieren?" Naruto glaubte ein wenig Spott aus dieser Frage entnehmen zu können. "Da bin ich überfragt, die meisten sagen mir nicht, ob etwas sie interessiert oder nicht", erwiderte er ohne näher auf die leichte Provokation Sasukes einzugehen. Er war nicht in der Stimmung, ein aufgeheiztes Gespräch mit irgendwem zu führen. Die Müdigkeit überwog. Sasuke registrierte die Kraftlosigkeit, die Naruto in diesem Augenblick ausstrahlte und stützte sein Kinn nachdenklich auf seinen Händen ab. Wenn er an ihre letzte Begegnung zurückdachte, fiel es ihm schwer, einen Vergleich zu der Person zu ziehen, die hier nun vor ihm saß. Tiefe Augenringe zeichneten Narutos Gesicht und seine ganze Körperhaltung vermittelte Resignation und Erschöpfung. Nicht, dass Sasuke besonders talentiert darin gewesen wäre, das Verhalten anderer zu interpretieren, zudem er Naruto kaum kannte, aber er konnte recht eindeutig sehen, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging. "Du wirkst müde", sagte er letztendlich ohne wirklich den Grund zu kennen. Normalerweise zog er es vor, solche Äußerungen zu unterlassen. "Ist das so?" Naruto erwartete keine Antwort auf seine rhetorische Gegenfrage. Nachdenklich lehnte sich Sasuke zurück und schloss für einen Moment die Augen. Dieses Gespräch hatte weder Sinn noch Ende. Er wusste nicht, was er sagen sollte oder wohin es ihn führen würde, wenn er das Wort ergriff. An sich hatte er auch keine große Lust sich mit Naruto, den er kaum kannte, und seinen etwaigen Problemen auseinanderzusetzen. Es fiel ihm seit jeher schwer, diese Art von Gesprächen zu führen oder andere gar zu trösten. Sasuke hatte kein Problem damit anderen zuzuhören oder sie zu beobachten, im Gegenteil, er hatte viele Jahre damit zugebracht anderen zuzusehen ohne selbst dazuzugehören. Jedoch war er keine Sorte Mensch, die andere umarmte und dann mit ihnen salzige Tränen vergoss. Vielmehr war die Trauer und Depression anderer ihm unangenehm und er neigte dazu, sich dem weitestgehend zu entziehen. Vielleicht war das hier der richtige Augenblick, um stumm aufzustehen und wegzugehen. Vermutlich kreuzen sich unsere Wege sowieso nicht mehr. Doch Sasuke rührte sich nicht. "Geh ran! Mann, verflucht noch mal!", fluchte Sakura lautstark und schüttelte ihr Smartphone. Doch weder laute Worte, noch die Erschütterungen führten dazu, dass ihr potenzieller Gesprächsteilnehmer abnahm. Entnervt ließ sich die junge Frau aufs Sofa fallen. Das hier war eindeutig nicht ihr Tag. Ihr Kopf schmerzte und ihre Gedanken kreisten um Naruto, der scheinbar sein Handy abgeschaltet hatte, vermutlich um ihr aus dem Weg zu gehen. Sie war wütend - auf sich, auf ihren besten Freund und darauf, dass ihre Zusammenkunft in so einem Streit geendet hatte. Sakura stritt sich nicht gern. Schon gar nicht mit Menschen, die ihr besonders wichtig waren. "Aber was hätte ich denn tun sollen?", flüsterte sie leise in den leeren Raum hinein. Das Bild verschwamm vor ihren Augen. Sie weinte. Währenddessen nahm Sasuke seinen Mut zusammen und stellte eine weitere, für ihn sehr untypische Frage. "Was ist denn passiert?", wagte er sich zu erkundigen und nahm einen weiteren Schluck seines inzwischen beinahe schon kalt gewordenen Cappuccinos zu sich. Narutos Blick wanderte zur Seite und er wirkte ein wenig verlegen. "Das ist eine lange Geschichte." Eine nichtssagende Standardaussage, die den Gesprächspartner in der Regel dazu verführen sollte, entweder auf eine Antwort zu drängen oder das Thema schlichtweg fallenzulassen. Naruto machte es ihm wirklich nicht leicht. "Ich habe Zeit", erwiderte er ohne groß darüber nachzudenken. Mit unbestimmter Miene musterte Naruto ihn nun, bis er sich wortlos erhob, seine Jacke überstreifte und der Verkäuferin zuwinkte, bevor er sich noch einmal Sasuke zuwandte. "Komm mit." Eine Aufforderung, die keine Widerrede zuließ. Ähnlich deutete Sasuke auch die ausladende Geste, die Naruto eine dreiviertel Stunde später in Richtung seiner Couch machte und ihm somit suggerierte, sich doch zu setzen. Wie lang war die Feier her? Einige Wochen? Monate schon? Sasuke hatte die Details weitestgehend vergessen, sie hatten keine tiefere Bedeutung für ihn gehabt. Ohne die ganzen Menschen wirkte der Raum weit und leer trotz der Möbelierung. Helle Objekte in einem farblosen Raum. Trist. Anders konnte er die Atmosphäre kaum beschreiben. "Möchtest du etwas trinken?", fragte Naruto überflüssigerweise und wie erwartet schüttelte Sasuke mit dem Kopf. Er schmeckte den kalten Cappuccino noch immer auf seiner Zunge. Bitter. Naruto setzte sich neben ihm auf die Couch, die Arme auf der Lehne ausstreckend, während Sasukes Hände auf den eigenen Knien ruhten und er darüber nachdachte, ob er Fleck auf dem Teppich eher von Multivitaminsaft als von vergossener Cola herrührte. Unbedeutende Details. Er brauchte sie in solchen Momenten der Stille, in denen er nichts zu sagen hatte und nicht darüber nachdenken wollte, was für eine Reaktion angemessen wäre. Letztendlich war es wieder Naruto, der das Wort ergriff - oder es zumindest versuchte, denn das erbarmungslose Klingeln des Telefons unterbrach ihn, bevor er etwas hatte sagen können. Sasuke registrierte, dass Naruto keinen Versuch unternahm, das Telefon abzunehmen, stattdessen blieb er ungerührt sitzen. "Warum nimmst du nicht ab?", wagte er leise zu fragen, sodass man ihn kaum verstehen konnte. "Ich weiß, wer es ist", antwortete Naruto schlicht, ohne näher auf das Thema einzugehen. Scheinbar wollte er nicht erreicht werden, zumindest nicht von der Person, die gerade geschlagene vier Minuten wartete, bevor sie aufgab und das Klingeln verstummte. Naruto besaß keinen Anrufbeantworter. Ein hörbares Seufzen verließ seine Lippen. "Was mache ich hier eigentlich?", fragte Naruto in den Raum hinein. Sasuke wiederum wusste nicht so genau, ob sich diese Frage indirekt an ihn richtete oder ob er keinerlei Antwort erwartete. Der Einfachheit halber entschloss er sich daher zu schweigen. Stumme Minuten vergingen. Ereignislos. Friedlich. Erst als Sasuke in den Augenwinkeln eine Bewegung von Naruto aus wahrnahm, drehte er auch er den Kopf und fing den Blick des anderen auf. Er wollte sich von ihm abwenden, doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Müde, blaue Augen. Ein undefinierbarer Blick, den er nicht zu deuten wusste. Dennoch fühlte er sich unwohl, ihm war, als könne Naruto in ihm lesen wie in einem offenen Buch. Für einen Augenblick. Er zuckte zusammen und wandte den Blick ab. Ein heiseres Lachen ertönte. "Du schaust anderen nicht gern in die Augen, oder?" "Ja", erwiderte Sasuke schlicht. "Und warum ist das so?", erkundigte sich Naruto. Ob er dabei ehrliches Interesse an der Antwort bekundete oder nur die Stille überbrücken wollte, war nicht festzustellen. "Es war schon immer so." An sich keine allzu aufschlussreiche Antwort, das war Sasuke durchaus bewusst. Auf der anderen Seite hatte er bisher nie ernsthaft darüber nachgedacht, warum es ihm eigentlich so schwerfiel, andere direkt anzusehen. Er hatte den Blick anderer nie gesucht und sich auch nie darum bemüht, daran etwas zu verändern. "Aber-", begann Naruto und wurde zugleich von Sasuke unterbrochen. "Du hast mich nicht herzitiert, um darüber zu sprechen, denke ich." "Wahre Worte", gab er zu, "aber eigentlich kenne ich den Grund auch nicht. An sich kenne ich dich kaum und wenn ich dir jetzt alles mögliche erzählen würde, wird sich doch nichts verändern und ich sitze vermutlich übermorgen noch hier, weil ich den Anfang nicht kenne." "Den Anfang?", fragte Sasuke tonlos. "Nun ja, alles hat einen Anfang, eine erste Ursache." Er erntete nur ein seichtes Kopfschütteln. Danach hatte man ihn nicht gefragt. "Jedenfalls", fuhr Naruto nach einer Weile fort, "weiß ich im Grunde nicht, was ich eigentlich sagen soll." "Ich auch nicht", stellte Sasuke nüchtern fest und sie beide wurden sich bewusst in welch absurder Situation sie sich eigentlich befanden. Zwei entfernte Bekannte, die hier gemeinsam auf einer Couch saßen und nicht wussten, was sie sagen sollten angesichts der tausend Dinge, die man hätte erzählen können. Das Gefühl, das Naruto bei dieser Erkenntnis bewegte, hatte nichts mit den Gedanken gemein, die während seines Gesprächs mit Hinata aufgekommen waren. Die Situation machte auf ihn einen derart abstrusen Eindruck, dass er sich nur schwer zurückhalten konnte, laut loszulachen. Lachen. Naruto konnte es nicht aufhalten und aus einem unterdrückten Kichern entwickelte sich ein lautstarkes Gelächter, das nicht nur seine Sicht unscharf werden ließ. Zunächst hatte Sasuke ihn befremdlich angestarrt bis zu einem gewissen Punkt. Dann hatte der Anblick Narutos, der sich vor Lachen fast schon krümmte dazu bewegt, dass er unbewusst die rechte Hand vor den Mund schlug, um seinerseits ein aufkommendes Lächeln zurückzuhalten. Dennoch entwich ein leises Lachen seiner Kehle, bevor Sasuke erschrocken zusammenzuckte und seinen Blick der Tür zuwandte, deren Rahmen beim energischen Öffnen krachend gegen die dahinterliegende Wand schlug. Auch Naruto war inzwischen verstummt und versuchte sich recht ergebnislos die entstandenen Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen, während er sichtlich überrascht die Person ansah, die die Szene soeben gewaltsam betreten hatte. "Sakura, was machst du hier?", fragte er daher vollkommen perplex. "Naruto, du Mistkerl, jetzt hör mir endlich zu", rief sie wütend und auch ein wenig lauter als eigentlich beabsichtigt, "wenn du deinen Vater nicht treffen möchtest, ist das vollkommen in Ordnung!" ---- *My Chemical Romance - The only hope for me is you Kapitel 9: Anders als geplant ----------------------------- Wirre Schatten, sein Großvater winkte ihm zu. Seltsam, er wusste genau, dass es sich nicht um eine reale Situation handeln konnte. Dennoch empfand er so etwas wie Freude. Unbändig und zügellos. "Warum lächelst du?", wollte er rufen, doch es war, als seien seine Stimmbänder plötzlich erfroren und erstarrt. Kein Ton verließ seine Lippen. Ein Traum, dachte er, es musste alles ein Traum sein. Der Gedanke, der ihn unweigerlich dazu zwang, aufzuwachen. Schmerzen, sein Fuß tat weh. Er setzte sich auf und presste, soweit es ihm möglich war, seine Hände auf das Gelenk in der Hoffnung, der Krampf würde verschwinden. Immer mal wieder hatte er diese Probleme - doch gewöhnen würde er sich nie an den Schmerz. Erst jetzt erblickte er die schwarzen Haarsträhnen, die unter der Decke an seiner Seite hervorschauten. Naruto war nicht allein. Eine unbestimmte Furcht ergriff einen Augenblick Besitz von ihm und er malte sich aus, was er tun sollte, wenn es sich um Kankurou handelte, falls er diesen gestern besoffen irgendwo aufgegabelt hatte. Ebenso wenig hätte er sich darauf gefreut irgendein One-Night-Stand hier und jetzt in seiner Wohnung zu begrüßen. Ihm war wirklich nicht danach. Erst, als er zögernd nach der Decke griff, kehrte die Erinnerung langsam zurück. Neben ihm lagen weder Kankurou, noch irgendeiner Unbekannter aus der Kneipe an der Straßenecke. Stattdessen handelte es sich um Sasuke. Dieser hatte sich fest in die Decke eingewickelt und schien auch recht wenig davon zu halten, in nächster Zeit aufzuwachen. Er sah ein wenig jünger aus als sonst, stellte Naruto bei näherer Betrachtung fest. Darüber hinaus wurde ihm in diesem Moment auch bewusst, dass Sasuke an sich ein gleichmäßiges und an sich sogar recht attraktives Gesicht hatte, wären da nicht die finsteren, desinteressierten Augen und diese verbiesterte Miene, die er stetig zur Schau trug. Ergänzend kam noch die zweckmäßige Kleidung hinzu, die zwar nicht unbedingt schlecht aussah, jedoch mit dem Begriff Attraktivität wenig zu tun hatte. Kein Wunder, dass Sakura ihn sich zweimal angeschaut hatte. Ganz im Gegensatz zu ihm selbst. Zudem er zu wissen glaubte, dass Sasuke weder allzu experimentell veranlagt, noch besonders offen für flüchtige Spielereien war. Sein Ausbruch auf der Feier hatte das Naruto recht deutlich vor Augen geführt. Im Grunde hatte er auch kein Interesse daran. Die letzten Versuche dieser Art hatten Naruto zugesetzt und ihn zusätzlich ermüdet. Er hatte keine Lust, sich mit den Tränen und Sehnsüchten Verflossener auseinanderzusetzen und er suchte auch keine feste Beziehung. "Ist es interessant, mich anzustarren?", erkundigte sich plötzlich eine raue, verschlafene Stimme und Naruto zuckte ertappt zusammen. Er hatte Sasuke unbewusst weiterhin angesehen und war in Gedanken gewesen, sodass er nicht bemerkte, wie sich die Augen des anderen geöffnet hatten und ihn nun vorwurfsvoll anblickten. "Sehr", erwiderte Naruto lapidar und streckte sich. Zögerlich hob sie das Telefon an, um es sofort wieder zurückzustellen. Sie hatte Angst. Der Schmerz in ihrer Brust und der Kloß im Hals ließen sich weder abstellen noch herunterschlucken. Mehr Mut. Das brauchte sie jetzt. Unbedingt. Sie bemühte sich um einen grimmigen Gesichtsausdruck. Jetzt oder nie. Die Nummer, ihre Finger tippten sie ein ohne länger darüber nachzudenken. Nur als sie ihren Blick auf den grünen Knopf mit dem abgebildeten Telefonhörer richtete, hielt sie für wenige Sekunden inne, bevor sie ihn entschlossen betätigte. Es musste sein. Eine Stimme, die längst vergessen war, meldete sich am anderen Ende. Sie klang kaum anders als damals. "Kushina Uzumaki hier", sagte sie mit fester Stimme, "wir müssen uns unterhalten." Erneut zu spät. Ausdruckslos musterte Obito die große Uhr über der Tür. Ein leises Bimmeln ertönte. Die Tür. Obito richtete sich auf und betrachtete die junge Frau, die soeben seinen Laden betreten hatte. Anstatt sich umzusehen, ging sie geradewegs auf ihn zu, bis sie schließlich direkt vor ihm stehenblieb. "Sind Sie Obito Uchiha?", fragte sie und sah ihn prüfend an. Ein eigenwilliger Anblick. "Ich denke schon", erwiderte Obito und lehnte sich über den Tresen, der sie voneinander trennte, "und mit wem habe ich es zu tun?" "Sakura Haruno", antwortete sie fast schon automatisch und blickte nach links und rechts, "ich vermute mal Sasuke ist nicht hier." "Nein", sagte er schlicht. Die Situation hatte etwas Merkwürdiges an sich. Er wusste sie nicht zu deuten. "Wundert mich eigentlich nicht", entgegnete sie schelmisch lächelnd, "er ist vermutlich ziemlich fertig gerade." Obito hob eine Augenbraue und erwiderte ihr Lächeln schließlich. Langsam versprach die Sache interessant zu werden. "Was habt ihr denn miteinander zu tun?", erkundigte er sich daher. Die Mittagspause konnte ruhig noch einige Minuten länger warten. "Das ist eigentlich keine lange Geschichte", meinte Sakura und erzählte in kurzen Sätzen von ihrer und Sasukes erster Begegnung. Obito hörte ihr aufmerksam zu und stellte im Laufe der Erzählung für sich fest, dass zwischen seinem Neffen und dieser jungen Frau keine allzu spannende Beziehung bestand. Im Gegenteil, sie schienen einander nur flüchtig zu kennen. Umso seltsamer kam es ihm demnach vor, dass sie hier und jetzt vor ihm stand. "Und was führt dich heute hierher?" Abwartend blickte er sie an. "Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich neugierig." Das Thema war am gestrigen Abend zufällig aufgekommen. Sasuke hatte in zwei oder drei belanglosen Sätzen erwähnt, wo er derzeit nebenbei arbeitete und dass es sich um die Buchhandlung seines Onkels handelte. Strenggenommen hatte Sakura ihm diese Worte regelrecht aus der Nase gezogen, von sich aus erzählte er nämlich augenscheinlich ungern etwas über sein eigenes Leben. Als sie dann am drauffolgenden Nachmittag in die Stadt ging um einige Besorgungen zu machen, hatte sie auch die unscheinbare Nebenstraße passiert, in der sich der Buchladen angesiedelt hatte. Für einen Augenblick hatte sie gezögert, sich dann jedoch zusammengerissen und die Tür geöffnet. Was sie hier zu finden hoffte, wusste sie selbst nicht so genau. Womöglich war es, weil sie so erstaunt gewesen war, als sie zuvor ausgerechnet Sasuke bei Naruto daheim angetroffen hatte. Schließlich kannten sich die beiden doch kaum. Dachte sie näher über ihre Handlungen nach, kamen sie ihr im Nachhinein ziemlich absurd und unsinnig vor. Unweigerlich dachte sie an eine Situation, in der sie sich vor einigen Jahren befunden hatte. Mit vierzehn oder fünfzehn. Zu der Zeit hatte sie sich zum ersten Mal in einen Jungen aus einer Parallelklasse verliebt. Kotetsu. Eines Tages stand sie dann an der Supermarktkasse vor seiner Mutter, die die Waren über den Scanner zog. Es war ein merkwürdiges Gefühl gewesen. Diese Frau kannte sie nicht und auch Sakura hatte sie nur an ihrem ungewöhnlichen Nachnamen und an der Ähnlichkeit zu ihrem Sohn erkannt, die unverkennbar war. Sakura war nervös gewesen und zugleich beflügelt. Sie hatte nach dem Bezahlen noch eine Weile am Rand gestanden und der Kotetsus Mutter zugesehen. Und darüber nachgedacht, wie irrational es doch war, die Mutter ihrer ersten Liebe zu beobachten ohne Sinn und Verstand. Beinahe hatte die junge Frau diese Situation von damals verdrängt. Jetzt jedoch kam es ihr vor, als habe sie sich erst gestern ereignet. Zudem hatte sie das Gefühl, ein Déjà-Vu zu haben. Nicht, dass sie in Sasuke verliebt gewesen wäre. Dafür waren die Begegnungen zumindest Sakuras Meinung nach zu kurz gewesen. Dennoch musste sie einräumen, dass die Möglichkeit bestand, dass sich die Sache zu etwas entwickeln könnte, das ihr nicht so ganz behagte. Eine aussichtslose Entwicklung. Gleichzeitig war sie ein wenig beunruhigt in Hinsicht auf diese plötzliche Nähe, die Naruto und Sasuke zueinander aufwiesen. Sie kannten sich doch kaum - und Naruto war niemand, der Unbekannten die Tür einrannte, wenn es um bestimmte Probleme ging. Vermutlich fühlte sie sich übergangen, obwohl das natürlich ein übertriebener Gedanke war. Wahrscheinlicher war es, dass ihr die Entwicklung nicht so ganz geheuer war und sich Sakura offenkundig fragte, was die Zukunft mit sich bringen würde. "Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Uchiha", murmelte sie schließlich nach einer weiteren, belanglosen Unterhaltung. Auch Obito verabschiedete sich höflich, er spürte, dass er nicht mehr von dem Mädchen erfahren würde zu diesem Zeitpunkt. Noch nicht. Verwundert hatten sie Sakura am Vortag angestarrt, als diese unvermittelt die Szene betrat und rief, dass sich Naruto nicht mit seinem Vater treffen müsse. Naruto war der erste, der sich wieder fing und seine Stimme erhob, um auf die Ansage der jungen Frau zu reagieren. "Was machst du hier? Wovon redest du eigentlich?", fragte er ein wenig perplex und erhob sich von der Couch. "Ich wollte dich nicht drängen, ihn zu treffen", erwiderte Sakura nun mit unerwartet leiser Stimme, "es stand mir nicht zu." Naruto, der sich inzwischen vor ihr aufgebaut hatte, nickte energisch. Er teilte ihre Meinung in der Hinsicht, dass sie nicht das Recht hatte, ihm zu sagen, wie er diese ganze Sache anpacken sollte. Im Gegenteil, es war und blieb seine ganz persönliche Entscheidung. Trost hatte er gesucht, Verständnis und ein offenes Ohr für sein persönliches Dilemma, als er zuvor Sakura nach seinem Heimatbesuch kontaktiert hatte. Seine Erwartungen hatten sich nicht erfüllt. Stattdessen hatte sie ihn mit Vorwürfen konfrontiert und ihn regelrecht dazu gedrängt, etwas zu unternehmen. Es war doch zu seinem eigenen Besten. So hatte sie es formuliert. Für ihn. Alle möglichen Leute in seinem Umfeld schienen sehr genau zu wissen, was für ihn, Naruto Uzumaki, eigentlich das beste war. Nicht nur, dass man ihn jahrelang mit Lügen gefüttert hatte - jetzt glaubten einige von ihnen auch noch, verstanden zu haben, wie es ihm ging und was er als nächstes tun sollte. Dieser Hochmut hatte sein Blut in Wallung gebracht und er hatte all die Wut und Enttäuschung, die er insgesamt verspürte, an seiner besten Freundin ausgelassen. Inzwischen war er zwar zur Ruhe gekommen und hatte auch durchaus verstanden, dass man Sakura kaum etwas vorwerfen konnte, doch ganz beruhigt hatte sich Naruto noch lange nicht. Dennoch war er bereit, ihren Beweggründen zu lauschen. Jetzt. "Warum dann?", erkundigte er sich mit gefasster, wenn auch etwas bedrohlicher Stimme. Die beiden sahen einander abwartend an. Sie hatten Sasuke, der immer noch auf der Couch saß, längst vergessen. Er konnte sich nicht wirklich einen Reim machen aus ihrer Unterhaltung und wusste auch nicht, ob er an dieser Erkenntnis tatsächlich etwas verändern wollte. Trotzdem spürte auch er deutlich die Anspannung, die in der Luft lag. Sakura seufzte hörbar. Es fiel ihr nicht leicht, ihre Motive näher zu beschreiben und sie wusste auch nicht mit Sicherheit, ob sie das überhaupt konnte. Oder ob sie es zumindest so ausdrücken konnte, dass auch Naruto sie vielleicht ein wenig besser verstand. "Du weißt, ich war immer mit Mama allein. Zwar kenne ich meinen Vater, aber an sich hatten wir nie etwas miteinander zu tun", brachte sie leicht nuschelnd mit einem unsicheren Ton in ihrer Stimme hervor, "Ich denke auch nicht, dass mein Vater - oder vielleicht sollte ich ihn Erzeuger nennen - mich besonders mag. Aber ich habe mir öfter als einmal gewünscht, dass das anders wäre, weißt du. Einen Vater zu haben, der einen liebt, der sich für dich interessiert. Jeder verdient das, finde ich. Darum wollte ich, dass du es wenigstens versuchst." Bereits diese wenigen Sätze waren schmerzhaft gewesen. Sie auszusprechen, sie zu denken. Sakura biss sich auf die Lippe und versuchte den schmerzhaften Kloß, der sich in in ihrem Hals gebildet hatte, erfolglos herunterzuschlucken. Doch sie wollte nicht weinen. Schließlich hatte sie es doch akzeptiert. Dass ihr Vater keine netten Worte für sie übrig hatte. Dass er seit Jahren jeden ihrer Geburtstage vergaß. Dass er nie anrief. Trotz allem schmerzte es. Tränen traten ihr in die Augen. Als sie damals Naruto getroffen hatte, war ihr nach einiger Zeit klar geworden, dass sie ein ähnliches Schicksal teilten. Jedenfalls wiesen ihre Familien gewisse Parallelen auf, wenn sie auch immer die Vermutung hegte, dass Naruto viel mehr unter seiner Beziehung zu seinen Eltern litt, als sie selbst. Letztendlich hatte sie immer ihre Mutter an ihrer Seite gehabt, sie sie aufbaute und ihr mehr gegeben und ermöglicht hatte, als einige Elternpaare es bei vielen ihrer Bekannten und Freunde zustandegebracht hätten. Auf der anderen Seite war auch ihr Leben nicht immer einfach gewesen und in all den Jahren konnte sie es nicht akzeptieren und überwinden, dass sie ihrem Vater nichts bedeutete. "Sakura", entgegnete Naruto erstaunlich ruhig, während er seine Hand auf ihre Schulter legte, "ich bin nicht du und das hier ist eine komplett andere Geschichte. Außerdem kann ich nichts vermissen oder betrauern, was nie existiert hat." Kalte Worte, schonungslos vorgetragen. Die junge Frau zuckte zusammen, als sie die Berührung spürte. Beinahe schmerzhaft. Sie sah auf. "Von daher lass das bitte meine Sache sein. In Ordnung?" Eine formulierte Frage, die keine war. Eher ein Befehl. Sakura nickte, sie hatte keine Wahl. Kurz wischte sie sich mit der rechten Hand über ihre Augen. Ob sie nun weinte, schrie oder Naruto in die Arme fiel. Nichts hätte sich verändert. Ihr Blick fiel auf Sasuke, der mit ausdrucksloser Miene den schwarzen Fernsehbildschirm musterte und keine Regung zeigte. Was mochte er nun denken? Dachte er überhaupt etwas oder ging ihn das alles einfach nichts an? Narutos Augen folgten ihrem Blick. Seinen Besucher hatte er ganz vergessen. Er ließ von Sakura ab und setzte sich wieder neben Sasuke, der leicht den Kopf neigte, als die Polster unter Narutos Gewicht ein wenig nachgaben. "Ich habe Durst", sagte Sakura unvermittelt, "möchtet ihr auch etwas trinken?" Nach einem zustimmenden Brummen lief sie in die Küche. Sie rannte regelrecht. "Was denkst du, Sasuke?" Der Angesprochene ließ sich nicht anmerken, dass er zugehört hatte. Dennoch antwortete er Naruto nach einigen Sekunden des Schweigens. "Nichts." Kurz darauf kehrte Sakura zurück und ihr Gespräch verlief im Sande, bevor es überhaupt begonnen hatte. Stattdessen folgte eine belanglose Unterhaltung der nächsten und die junge Frau erkundigte sich nach Sasukes Arbeit, berichtete von ihrem Studium und beschwerte sich über die aktuelle Gesundheitsreform. Naruto hörte zu und machte die eine oder andere Anmerkung, die Sakura wohlwollend kommentierte. Der Dritte im Bunde gab wie auch zuvor nur einsilbige Antworten und verzichtete ansonsten darauf, sich an dem Austausch zu beteiligen. Es interessierte ihn nicht. Nach gefühlten Stunden, die unter Umständen tatsächlich vergangen waren, lehnte Sasuke seinen Kopf gegen die Sofalehne und dämmerte nach wenigen Minuten weg. Im Halbschlaf lauschte er weiter den Stimmen, die erst noch klar und deutlich und später wie ein monotoner Singsang immer leiser zu werden schienen. Bis sie verstummten. Er schlief. "Schläft er wirklich?" Neugierig blickte Sakura zu Sasuke herüber, der inzwischen halb auf der Couch lag und seinen Kopf auf eines der Kissen gebettet hatte, die vor allem zu Dekorationszwecken auf dem Sofa lagen. Die Arme hatte er leicht angewinkelt und wirkte beinahe kindlich durch die entspannten Gesichtszüge und die Schlafposition, die er eingenommen hatte. "Scheint so", entgegnete Naruto und musterte den Schlafenden eingehend. Im Grunde war er darüber erstaunt, dass Sasuke hier einfach so eingeschlafen war, aber vermutlich war er ziemlich müde gewesen und da er sich kaum am Gespräch beteiligt hatte, konnte Naruto auch davon ausgehen, dass ihn Unterhaltung letztendlich erst recht dazu brachte, den Kampf gegen die Müdigkeit aufzugeben. "Ich sollte wohl gehen", fuhr Sakura fort mit einem intensiven Blick auf ihre Armbanduhr. Wie man beim Reden doch manchmal die Zeit vergaß. Aber so war es schon immer mit ihr und Naruto gewesen. Fingen sie erst einmal an, konnten sie nur noch schwerlich aufhören. Vor allem heute nicht. Nach kurzer Zeit verabschiedeten sie sich voneinander. "Ich werde ihn wohl über Nacht hierbehalten", flüsterte Naruto ihr noch zu, bevor er die Wohnungstür hinter sich schloss und den leiser werdenden Schritten im Treppenhaus lauschte. Bis sie gänzlich verstummten. Anschließend widmete er seine Aufmerksamkeit Sasuke und rüttelte diesen sanft an der Schulter, bis ihn zwei zu Schlitzen verengte, schlaftrunkene Augen anblickten. "Ab ins Bett", sagte Naruto und brachte Sasuke tatsächlich dazu, ihm im Halbschlaf bis ins Schlafzimmer zu folgen, in dem er sich dann unbeholfen und ohne weitere Gedanken zu verschwenden aufs Bett fallen ließ, um wieder im Land der Träume zu versinken. Vermutlich würde sich Sasuke morgen nicht mehr daran erinnern. Jedenfalls ging es Naruto häufig so, dass er kurze Wachphasen während des Schlafens später leicht vergaß und während dieser Momente nur einsilbig und sehr langsam auf äußere Eindrücke reagierte. Eine Weile lag er wach, versuchte erfolglos, die Farbe der Decke zu bestimmen. Ziellose Gedanken wanderten in Narutos Kopf umher. An Sakura. An seine Mutter. An Sasuke. An das, was er erfahren hatte über seinen Vater, der keiner war. Bald musste er Entscheidungen treffen. Seine Augen schlossen sich. Ein traumloser Schlaf erwartete ihn. Währenddessen saß am anderen Ende der Stadt ein Mann mittleren Alters auf seinem Bürostuhl und starrte bewegungslos eine leere, weiße Seite auf dem Computerbildschirm an. Zum ersten Mal seit Längerem wusste er nicht, was er schreiben sollte. Vielleicht hätte er es gekonnt, doch irgendetwas in ihm sperrte sich dagegen auch nur einen einzigen Satz zu formulieren. Was er in diesem Augenblick dachte, konnte er nicht beschreiben. Unmöglich. Im Hintergrund sang die Stimme aus der Musikanlage ein einsames Lied. Auch wenn du jetzt am Boden liegst dein Herz ein bisschen friert. Wird jemand kommen der dir Feuer bringt. Lösch´s nicht aus (Silbermond - Es geht weiter) Kapitel 10: Unbekannt, ungeliebt -------------------------------- Sie saßen gemeinsam am Küchentisch, als es an der Tür klingelte. Es blieb auch nicht bei einem Mal, nachdem Naruto den ersten Versuch ignoriert hatte, im Glauben, es handele sich wieder mal um den Postboten, der versuchte, sich Zutritt zu den Briefkästen im Parterre zu verschaffen. Scheinbar wollte man tatsächlich zu ihm persönlich. Er war überrascht und Sasuke hörte, wie er murmelte, dass er niemanden erwartete. Dennoch erhob er sich ein wenig träge und öffnete die Haustür im Ergeschoss, abwartend, ob es auch direkt danach bei ihm selbst klingeln würde. Insgesamt dauerte es beinahe vier Minuten, bis ein durchdringendes Schnarren ertönte und Naruto misstrauisch die Wohnungstür einen Spalt weit aufzog. Draußen erkannte er zwei Personen. Auf der rechten Seite ein älterer, blonder Mann, der verlegen zwischen ihm und dem Namensschild hin und her blickte. Neben ihm stand ein junges Mädchen mit auffällig roten Haaren und einer Brille mit schwarzem Gestell, wie sie derzeit modern waren, das sich augenscheinlich in Narutos Alter befand, eventuell war sie auch ein wenig jünger. Ihre Miene erhellte sich, als sie Narutos Gesicht erblickte. "Naruto", rief sie laut mit überschwänglicher Freude in der Stimme, beinahe so, als habe sie einen alten Bekannten nach langer Zeit gerade wiedergetroffen. Das Merkwürdige war jedoch, dass Naruto sie zuvor noch nie gesehen hatte. Spielte sein Gedächtnis ihm einen Streich? Oder kannte er die junge Frau tatsächlich nicht? Aber wenn er sie nicht kannte - woher kannte sie ihn dann bitte? Verblüfft trat er einen Schritt zurück und sah tatenlos zu, wie das Mädchen die Tür weit öffnete und an ihm vorbei einfach so ins Innere der Wohnung spazierte. Naruto brauchte eine Sekunden, um sich zu fassen, bevor er ihr hinterhereilte und sie entschlossen am rechten Oberarm packte. Mit fragendem Gesicht drehte sie sich zu ihm um. "Wer bist du und was willst du hier?", brachte er mit fester Stimme hervor und machte aus seiner mangelnden Begeisterung keinen Hehl. "Also Naruto", tadelte sie ihn und verzog ihre Lippen zu einem breiten Lächeln, "freust du dich denn gar nicht, deine Schwester zu treffen?" Nun verstand der Angesprochene gar nichts mehr. Schwester hatte sie gesagt. Nur hatte er keine Schwester. Hatte man ihn für die versteckte Kamera ausgewählt oder was genau spielte sich hier ab? Sasuke, der die Stimmen im Flur vernommen hatte, tauchte nun im Türrahmen auf und blickte mit einer Mischung aus Interesse und vorgeschobener Gleichgültigkeit zwischen den beiden hin und her. Er hatte Bruchstücke des Gespräches gehört und konnte sich bis jetzt keinen Reim daraus machen, worum es hier nun eigentlich ging. Auch die junge Frau nahm Sasuke nun wahr und ihre Augen weiteten sich erstaunt. "Ist das dein fester Freund oder ein One-Night-Stand?", erkundigte sie sich aufgeregt, die skeptischen Blicke, die ihr sofort zugeworfen wurden, geflissentlich ignorierend. "Bitte?!", würgte Naruto hervor. In der Zwischenzeit hatte auch der bisweilen stille Begleiter des Mädchens es geschafft, über die Türschwelle hinein in den Flur zu treten. Als er die Tür hinter sich zuzog, zuckten alle Beteiligten überrascht zusammen. Die Anwesenheit des älteren Mannes hatten sie ganz vergessen. Dieser räusperte sich nun jedoch vernehmlich und zog somit die Aufmerksamkeit vollkommen auf sich. "Es tut mir Leid, Naruto, das sollte eigentlich etwas anders verlaufen. Aber Karin hat ein Talent, mit der Tür ins Haus zu fallen", erklärte er etwas schüchtern und machte eine hilflose Geste in Richtung der jungen Frau, die sich nun aus Narutos Griff befreite und sich neben den Mann stellte. "Ich kenne weder Sie noch dieses Mädchen. Was wollen Sie von mir?", erkundigte sich Naruto förmlich, jedoch mit einem bedrohlichen Unterton in der Stimme, um zu verdeutlichen, was er von diesem Überfall hier hielt. "Wollen wir uns nicht zuerst setzen?", entgegnete der Mann, anstatt die Frage zu beantworten und erntete somit nur ein wütendes Schnauben von Seiten Narutos. Er wollte keine dreisten Unbekannten hereinbitten, um nett mit ihnen zu plaudern. Entweder sie wurden nun deutlich oder er würde sie hochkant wieder hinauswerfen. "Gut", sagte der ältere Mann verlegen und räusperte sich erneut, vielleicht um sich ein wenig Zeit für die Worte zu verschaffen, die nun folgen würden, "wo soll ich anfangen? Am besten ich stelle uns erst einmal vor. Mein Name ist Minato Namikaze und das hier ist meine Tochter, Karin." Der Name ließ Naruto nachdenklich sein Gesicht verziehen. Er hatte ihn schon einmal gelesen. Vor kurzem erst. Als es ihm wieder einfiel, blickte er Minato entgeistert an. "Scheinbar hast du schon einmal von mir gehört", fuhr er fort und ein trauriges Lächeln legte sich auf Minatos Lippen, "das alles hätte nicht so verlaufen sollen. Es tut mir wirklich Leid, ich kann gar nicht sagen wie sehr." Naruto nickte langsam und forderte alle Anwesenden mit einer stummen Geste auf, sich nun doch ins Wohnzimmer zu begeben, um das Gespräch fortzusetzen. Zwar war er aufgewühlt, doch mit einer fast schon seltsamen, inneren Ruhe hatte Naruto in den letzten Sekunden beschlossen, sich das ganze erst einmal anzuhören. Wenn Sasuke sich im Nachhinein an diesen Tag zurückerinnerte, fiel es ihm immer schwer, Narutos damaliges Handeln nachzuvollziehen. Einerseits konnte er sich nicht vorstellen, dass plötzlich zwei vollkommen Unbekannte vor ihm standen, um sich als enge Familienangehörige auszugeben, andererseits erahnte er durchaus, dass er dem mit vollkommener Ablehnung entgegengetreten wäre. Vermutlich hätte Sasuke nicht einmal die Tür geöffnet. Dennoch verstand er auch ein wenig, dass Naruto so erstaunt war bei dieser Begegnung, dass er dem nicht viel entgegenzusetzen hatte. Sasuke stellte sich vor, wie er reagiert hätte, wenn seine Mutter eines Tages mit Itachi vor ihm gestanden und ihm eröffnete, dass er von nun an einen Bruder hatte. Einfach so. Aller Wahrscheinlichkeit hätte er sich einfach umgedreht und die Szene verlassen. Die einfachste Lösung. Elf Jahre war er alt gewesen, als seine Mutter ihm verkündete, dass er bald ein Geschwisterchen bekommen würde. Anstatt mit Freude zu reagieren, war Sasuke wütend gewesen und hatte seiner Mutter Vorwürfe gemacht. Er wollte keine Geschwister. Erst recht kein Baby, das den halben Tag lang schrie und die volle Aufmerksamkeit seiner Eltern beanspruchte. Eine ähnliche Grundhaltung hatte er bis zum heutigen Tage bewahrt. Nicht, dass er eine Abneigung gegenüber Itachi hegte. Aber er verspürte auch keinen Stolz oder irgendeine, tiefere Zuneigung. Itachi lebte. Sasuke konnte damit leben. Umso mehr beeindruckte ihn Naruto in diesem Moment. Das Geschehen ging zu schnell an Naruto vorbei, als dass er es hätte verarbeiten können. Da saßen zwei Fremde auf seinem Sofa und tranken Mineralwasser. Das Mädchen, das ihn als Bruder bezeichnet hatte, der Mann, dessen Namen er von den Briefen her kannte, die er an seine Mutter, Kushina, geschrieben hatte. Neben ihnen hatte Sasuke Platz genommen, der mit der üblichen, ausdruckslosen Miene an seinem halbgefüllten Glas nippte und einen gewissen Sicherheitsabstand zu Karin wahrte, die ihn mit unverhohlener Neugier von der Seite musterte. Kein angenehmes Gefühl. Es war schließlich Minato, der das Wort ergriff und mit leiser, stockender Stimme seine Geschichte vor den Anwesenden ausbreitete. Vor allem natürlich vor Naruto, da Karin sie bereits - zumindest in den groben Zügen - kannte und man Sasuke bisweilen nicht beachtete. Er hatte lediglich das Glück - oder auch Pech, dass er anwesend war, als Minato ihnen berichtete, wie man sein Leben nach Möglichkeit nicht verbringen sollte. An sich konnte man ohne Scheu behaupten, dass Minato nicht gerade ein glückliches Händchen hatte, wenn es um Frauen ging. Nicht nur, dass sie ihn sitzen gelassen hatten, man hatte ihn zusätzlich auch noch mit Missachtung gestraft. Warum sich die Dinge so entwickelt hatten, konnte man jedoch nur vermuten. Naruto kam später der Gedanke, es könne damit zusammenhängen, dass Minato nicht wirklich in der Lage war, den Frauen die Wertschätzung und Bedeutung zu vermitteln, die sie sich von ihm wünschten. Er war ein wenig schwach, ein wenig zu nett, ein wenig zu normal. Zudem fehlte es ihm an Fingerspitzengefühl und alles in allem konnte Naruto durchaus verstehen, dass seine Mutter sich von ihm sang- und klanglos verabschiedete. Er war kein Mann fürs Leben. Kushina und Minato hatten sich in Zeiten des Aufbruchs und der schleichenden Emanzipation kennen gelernt. Sie hatten gemeinsam geträumt, bis zumindest Kushina begriff, dass sie keine gemeinsame Zukunft haben würden. Mit vierundzwanzig bindet man sich nicht fürs Leben, so empfand sie es, erst recht nicht an einen verträumten Jungen von nebenan, dem gegenüber sie keine aufrichtige Liebe oder Zuneigung verspürte. Es war in Ordnung gewesen. "In Ordnung", hatte Minato gesagt, überzeugt davon, Kushina authentisch zu zitieren. Danach hatte er seine Wunden geleckt, sein Studium beendet und war Journalist geworden. Es hatte ihn irgendwie gereizt. Vermutlich brachte Minato seinem Beruf auch eine gewisse Leidenschaft und Überzeugung entgegen, schließlich nahm er den Großteil seines Lebens ein. Bis heute. Drei Jahre nach dieser Geschichte lernte er Karins Mutter kennen. Eine dieser beruflich erfolgreichen Frauen, die es sich zum Ziel gemacht hatten, den Männern dieser Welt zu zeigen, dass sie mehr erreichen konnten. Egal, wie hart sie dafür arbeiten mussten. Tatsächlich führte sie ein Jetset-Leben fernab von Sesshaftigkeit und dem heimischen Herd. Naruto glaubte, dass sich Kushina mit ihr wunderbar verstanden hätte, verkörperte sie doch genau das Leben, das sie sich selbst wünschte. Karin merkte an, dass sie ihre Mutter vielleicht ein- oder zweimal im Jahr traf und sie ab und zu telefonierten. Einen enttäuschten Eindruck machte sie nicht. 'Was man nicht kennt, vermisst man nicht', dachte Sasuke. Die kurze Liaison hatte Karin hervorgebracht und es war nur selbstverständlich, dass sich Minato ihrer annahm. Protestiert hatte er nicht, schließlich musste man sich der Verantwortung stellen und es war kaum vorstellbar, dass sie sich selbst um Karin gekümmert hätte. Stumm pflichteten ihm seine Zuhörer bei. Nach dieser Geschichte nahm Minatos Leben geruhsame Formen an und die hatte es bis heute auch beibehalten. Jedenfalls, bis er den Anruf von Kushina erhielt und erfuhr, dass er nicht nur einen zwanzigjährigen Sohn hatte, sondern, dass es auch ihrer Meinung nach an der Zeit war, dass sich Minato mit ihm auseinandersetzte. Keine leichte Kost. "Ich habe ihm nicht viel erzählt", erklärte Kushina ihm, "aber ich finde, du solltest ihn kennenlernen. Es wird wichtig für ihn sein." Woher sie diese Annahme nahm, erläuterte sie nicht. Vielleicht eine Floskel oder eine schnöde Vermutung. Minato wusste das nicht recht einzuschätzen, aber er zögerte nicht, als er kurze Zeit später an Karins Zimmertür klopfte und ihr in den drauffolgenden Minuten alles erzählte, was er bisweilen über seinen 'verlorenen' Sohn in Erfahrung gebracht hatte. Karin war sofort Feuer und Flamme gewesen. Ein älterer Bruder? Warum nicht. Zumal solche Vorkommnisse sich sonst nur in den Trivialromanen fanden, die sie eimerweise verschlang. "Lass uns ihn gleich morgen besuchen - oder übermorgen", hatte sie gerufen und sich bei Minato nach der Adresse erkundigt. Nun saßen sie sich gegenüber und nachdem Minatos Geschichte endete, begann er, Naruto Fragen zu stellen. Übers Leben, übers Studium, über seine Familie. Naruto beantwortete sie beinahe schon mechanisch. Als wäre er nicht so ganz da. Womöglich fühlte er sich auch so, wie ein Zuschauer, der die Hauptrolle in einem unwirklichen Film eingenommen hatte, ganz spontan. "Jetzt hör doch auf mit den öden Fragen", warf Karin plötzlich ein und setzte einen schmollenden Gesichtsausdruck auf, "es gibt doch viel spannendere Dinge." "Die wären?", erkundigte sich Minato verwundert. "Ich wüsste zum Beispiel gerne", fuhr Karin laustark fort, "wer dieser Typ da neben mir ist. Ist das nun ein Freund oder 'dein' Freund oder mein nächster unbekannter Bruder?" Vernehmlich räusperte sich Naruto, während Sasuke Karin einen ungläubigen Blick zuwarf. Narutos Freund? War es normal, dass die plötzliche Schwester solche Vermutungen anstellte? "Nicht so ganz", erwiderte Naruto zögerlich, "Sasuke ist--" "Niemand", ergänzte ihn Sasuke, der bisweilen geschwiegen hatte und erntete die zweifelnden Blicke aller Anwesenden. "Aber du bist doch hier?!", fragte ihn Karin mit nachdenklicher Miene. "Ist doch vollkommen egal", warf Naruto verärgert ein, "können wir das Gespräch jetzt nun bitte beenden?" "Aber--", versuchte es Karin erneut, um dieses Mal von ihrem Vater unterbrochen zu werden. "Wir verstehen das", sagte Minato schlicht und legte eine schlicht bedruckte Visitenkarte auf den Tisch, "wenn du dich bei uns melden möchtest - wir würden uns freuen." Eine undefinierbare Stille breitete sich in der Wohnung aus, nachdem Minato und Karin gegangen waren. Abgesehen von dem taktlosen Nachbar, der durchaus begierig schien, irgendwelche Löcher in die Zimmerwand zu bohren. Naruto hatte seine Arme ausgebreitet und lehnte sich kraftlos gegen die Sofalehne mit seinem Rücken. Es überforderte ihn. Einen Augenblick lang dachte er daran, seine Mutter anzurufen, dann verwarf er diese Überlegung jedoch zugleich wieder. Er hatte nicht die nötige Kraft, sich jetzt mit ihr auseinanderzusetzen. Zudem er auch noch nicht so recht wusste, ob diese ganze Geschichte nicht ihrem ohnehin abgekühlten Verhältnis nicht nur noch weitere Risse hinzufügte. Unheilbare Narben. Sasuke schwieg ebenso. Einerseits, weil er es nicht anders gewohnt war, andererseits fiel es ihm schwer, einen Ansatz zu finden. Was sollte er sagen? Wollte er überhaupt etwas sagen? Er verstand, dass Naruto vermutlich verwirrt und überfordert war mit dem, was zuletzt geschehen war, doch nachvollziehen konnte er es nicht. Seine Familie war in der Hinsicht nicht allzu aufregend. Im Gegenteil, bei ihm war alles bisher immer recht konservativ verlaufen. Nicht, dass seine Eltern wirklich prüde oder altbacken wären, aber wenn er sein Familienleben mit dem von Naruto oder auch Sakura verglich, fühlte er sich ziemlich 'gewöhnlich'. "Bist du eigentlich hetero?" Die Frage war unüberhörbar, Naruto hatte sich sichtlich bemüht, das nervtötende Geräusch des Bohrers zu übertönen. "Warum?", erkundigte sich Sasuke schlicht und warf ihm einen undefinierbaren Blick zu. Er verstand weder, woher diese Frage plötzlich kam, noch warum sie überhaupt gestellt wurde. "Weiß nicht, fragte ich mich gerade", erklärte er lapidar und setzte sich ein wenig auf, "du musst es natürlich nicht beantworten, aber ich weiß nicht, worüber man sonst reden könnte." Natürlich glaubte ihm Sasuke nicht. Es gab wohl kaum jemanden, der aus Langweile oder Einfallslosigkeit heraus sich nach der sexuellen Orientierung von anderen erkundigte. In der Regel gab es einen Grund, einen Auslöser. Oder eine Intention. Letzteres ließ ihn fast schon zusammen zucken. "Keine Ahnung." "Wie keine Ahnung?", hakte Naruto verblüfft nach - mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. "Ich habe nie darüber nachgedacht", erwiderte Sasuke. "Denkt man nicht über so etwas nach?", überlegte der andere laut, "Oder weiß man es nicht zumindest einfach so?" "Keine Ahnung, was andere wissen", antwortete Sasuke ein wenig mechanisch, "mich hat die Antwort nie interessiert. Ich meine, es ist irrelevant." "Das klingt als wärst du asexuell", amüsierte sich Naruto, um kurz darauf wieder eine ernsthafte Miene aufzusetzen, "ich meine, nicht, dass ich was dagegen habe." "Das wiederum bezweifle ich", stellte Sasuke schlicht fest und überließ es Narutos Fantasie, diese Aussage näher zu interpretieren. Er selbst hatte kein Verlangen danach, sie näher zu erläutern. Jedoch war er an sich davon überzeugt, dass er Sexualität an sich nicht abgeneigt war, wenn er auch nicht genau zu bestimmen wusste, ob er nun Frauen. Männer oder Toastbrotscheiben attraktiv fand. Womöglich hing das von der Person ab - oder dem Objekt. "War deine erste Liebe ein Mädchen?" Durchaus. Aber auch diese Feststellung bewegte Sasuke nicht dazu, sich festzulegen. Vielleicht handelte es sich ja um einen Zufall oder es war nicht von Bedeutung. "Die Geschichte ist die Erzählung nicht wert", sagte er schließlich leise und Naruto verzichtete darauf, näher darauf einzugehen. "Weißt du", begann er nach einer Weile, da ihm die Stille fast schon bedrohlich erschien, "ich bin bi. Aber ich glaube an sich bevorzuge ich Männer. Keine Ahnung, die meisten Frauen sind mir von der Person her zu fremd oder zu anstrengend." Im Grunde hätte er auch sagen können, dass ihm die Welt der Männer bisher flüchtiger und ungezwungener erschienen war. Weniger Träumereien, weniger Pflichten, mehr Beschränkung aufs Wesentliche. Natürlich gab es auch Frauen, die es genauso oder zumindest ähnlich sahen wir er, jedoch hatte er mit Männern bessere Erfahrungen gemacht und eventuell entsprachen sie auch eher seinen anderen Präferenzen. Ein sinnloses Gespräch ohne Zukunft. Sasukes Blick war zur Zimmerdecke gerichtet, ruhte, dachte nach. Warum führten sie diese Unterhaltung wirklich? Er registrierte, dass Naruto ihn offensichtlich anstarrte und erwiderte die Geste. Ein stummer Austausch. Unsicherheit. Sasuke zögerte, die Situation behagte ihm nicht. Irgendetwas beunruhigte ihn, doch es war ihm unmöglich, es näher zu definieren. Naruto hatte es wiederum erkannt und war dieser Erkenntnis auch keineswegs abgeneigt. Nicht wirklich zumindest. Nicht in diesem Rausch von Bedeutungslosigkeit, Melancholie und unterschwelliger Euphorie. Aufregung. Unerträgliche Anspannung. "Sasuke", sagte er langsam, fast schleppend, als würde ihm die Zunge am Gaumen kleben. Naruto erntete nur wortlose Blicke, die ihm jedoch eine Emotion offenbarten, auf die er gewartet hatte. Neugierde. Kapitel 11: Zucker in deinen Wunden ----------------------------------- Ein undefinierbarer Geschmack. Vielleicht ein wenig herb ohne unangenehm zu sein. Im ersten Augenblick fühlte sich Sasuke, als stände er in Wahrheit neben sich und beobachtete wortlos, wie sein Körper die Augen schloss und sich dem mysteriösen Spiel hingab, dessen Regeln er nicht kannte. Seine Unsicherheit überspielte er, indem er Naruto imitierte. Die Bewegungen seiner Zunge, die nach ihrem Partner suchte, das rastlose Aufeinanderpressen ihrer feuchten, rauen Lippen. Schier endlos. Ein Moment außerhalb der Gesetze der Zeit, zu aufregend, um mit Verwunderung oder Ablehnung darauf zu reagieren. Ein schmatzender Laut erklang, als sie sich voneinander lösten, hörbar nach Luft schnappend. Sasuke öffnete seine Augen, blickte direkt in Narutos, die er nicht zu deuten wusste. Seine Gedanken waren von einer unendlichen Leere ergriffen, die ihn keinen klaren Gedanken fassen ließ. Er spürte nur, dass es ein besonderer Augenblick war, den sie gerade erlebten. Fernab von Vernunft oder Rationalität. Beinahe instinktiv. Ebenso fühlte Sasuke, dass es keine tiefere Bedeutung innehatte. Als das. Hastig atmete er ein. Und aus. Ein und aus. Narutos Augen verfolgten seine Bewegungen, lauernd, als warteten síe auf irgendetwas. Bis er glaubte, es gefunden zu haben. Blitzschnell fuhr Naruto mit seiner Zungenspitze über seine Lippen, richtete sich ein Stück auf und brachte einige Zentimeter Abstand zwischen sich und Sasuke. Er fragte nicht. Er nahm sich, was er brauchte und überbrückte den Abstand zwischen ihnen erneut. Fast schon automatisch öffnete Sasuke seine Lippen erneut einen Spalt breit, um erneut Narutos gierige Zunge willkommenzuheißen. Erwiderungen ohne tieferen Sinn. Weder gut noch schlecht. Irgendwo dazwischen. Kein Laut verließ ihre Lippen, während Narutos Hände ziellos über Sasukes Rücken strichen, den Saum des Pullovers erreichten und ihn leicht hochschoben. Kühle Haut. Kühle Fingerkruppen, die sich ihren Weg bahnten, ohne ihr eigentliches Ziel zu kennen. Es war ein lautes Donnergrollen, das die Stille unterbrach. Naruto und Sasuke zuckten merklich zusammen und lösten sich voneinander ohne den Blick ihres Gegenübers einzufangen. Das Gewitter hatte ihr Bewusstsein geweckt und den Augenblick rücksichtslos zerstört. Noch immer glaubte Sasuke die kühlen Finger auf seiner Haut zu spüren, er schauderte und zog den dunklen Stoff zurecht. Es fröstelte ihn. Für einen Moment rekapitulierte er das soeben Geschehene, während seine Augen ausdruckslos Narutos Hände musterten, die ruhelos zuckten. Sie hatten sich geküsst. Dabei war es nicht die Tatsache, dass er soeben Speichel mit einem anderen Mann, den er zudem kaum kannte, ausgetauscht hatte, die Sasuke verwirrte, sondern vielmehr, dass er überhaupt mit irgendwem so etwas getan hatte. Grundlos. Ohne tiefere Emotionen. Sicher, er hatte sich nie viele Gedanken über sein Liebesleben, das an sich nicht wirklich existierte, gemacht, aber das, was nun passiert war, konnte er nur schwer mit dem vereinbaren, was er sich in einer ruhigen Stunde ausgemalt hatte. So etwas hatte er ganz sicher nicht gewollt. Den intimen Kontakt. Der fehlende Grund. All das verstörte ihn, ängstigte ihn ein wenig. Naruto wiederum bereute die ganze Geschichte. Oder auch nicht. Tatsächlich wusste er nicht so recht, ob er die Entwicklung nun begrüßen oder ablehnen sollte. Es war nicht schlecht gewesen und noch immer klang diese spontane Emotion in seinem Inneren nach, die ihn dazu bewegt hatte, einfach über Sasuke 'herzufallen'. Kein allzu tiefgründiges Gefühl, wenn er ehrlich gegenüber sich selbst war. Vielmehr ein plötzliches Verlangen nach Nähe, etwas Zärtlichkeit und warmen Lippen, die seine unwirkliche Realität noch unwirklicher erschienen ließen. Im Grunde ahnte er jedoch, dass Sasuke all das wohl etwas anders betrachtete und kaum der Typ sein mochte, der solchen Überlegungen folgen können würde. In diesem Augenblick entschloss er sich, seine Gedanken für sich zu behalten. Statt näher auf die vorangegangene Situation einzugehen, erhob sich Naruto kurzerhand und murmelte ein wenig verlegen, dass er Kaffee kochen würde. Sasuke sah ihm wortlos hinterher, als er den Raum verließ. Er hatte verstanden. Gedankenverloren hob er den Kopf erst wieder, als Naruto Minuten später mit zwei dampfenden Kaffeetassen zurückkehrte, die er geräuschvoll auf dem Tisch abstellte. "Milch? Oder Zucker?", erkundigte sich Naruto und erntete nur ein Kopfschütteln. Weder noch. Karin hatte das Fenster gekippt und lauschte dem lauten Prasseln des Regens. Sie mochte das Geräusch und den Geruch feuchter Erde. "Ich habe einen Bruder", dachte sie, "einen echten Bruder." Natürlich wusste sie nicht, ob sich überhaupt so etwas wie eine geschwisterliche Beziehung zwischen ihnen entwickeln könnte oder würde, aber sie hoffte darauf und malte sich aus, wie sie gemeinsam etwas unternahmen, sich unterhielten, zusammen lachten. Eine Familie waren. Ganz einfach. Als Obito die Tür zu seinem Buchladen hinter sich verschloss und durch die, zu dieser späten Zeit beinahe leergefegten, Straßen der Stadt heimging, bemerkte er die nachdenklichen braunen Augen nicht, die seiner zunehmend kleiner werdenden Gestalt hinterblickten. "Manches verändert sich, manches nicht", dachte die Person und lächelte leicht, beinahe wehmütig. Obito war sich treu geblieben. Erwachsen sein. Als Kind oder vielleicht auch Jugendlicher sehnt man sich danach, wenn man wohl auch oft ein wenig skeptisch ist angesichts der fremden Welt, die einen zu erwarten scheint mit ihren Rechten - und Pflichten. Kam man letztendlich in diesem Alter an, war es nicht ungewöhnlich, dass man sich die Jugend zurückwünschte. Die Unschuld, die Unbeschwertheit oder schlichtweg auch die naive Unwissenheit, mit der man vieles zuvor noch betrachtet hatte. Auch Sasuke hatte ab und zu diese Gedanken, wenn ihm auch etwas Anderes deutlich mehr zusetzte. Er hatte das Gefühl, nie wirklich angekommen zu sein. Sicherlich durfte er Alkohol trinken, Zigaretten rauchen und Auto fahren. Aber diese Rechte, von denen er bewusst nur zum Teil auch tatsächlich Gebrauch machte, vermittelten ihm nicht das Gefühl, tatsächlich erwachsen zu sein. Oft fühlte er sich kindlich und unreif, fast schon hilflos. Bei Beziehungen, Zukunftsplänen, der Steuererklärung oder dem schlichten Smalltalk mit der Nachbarin von Gegenüber. "Ich gehöre nicht dazu", murmelte er von Zeit zu Zeit wie ein Mantra im Geiste vor sich hin. Ähnliche Gedanken ereilten ihn auch, als er nach der Kaffeetasse griff, die Naruto soeben auf dem Tisch platziert hatte. Heißer, bitterer Kaffee. Sasuke mochte den Geschmack nicht und widerstand dem Verlangen, etwas von der Milch oder dem Zucker hineinzuschütten, die man ihm zuvor angeboten hatte. Kaffee schwarz. So widersprüchlich zu den Emotionen, die in diesem Augenblick unter der Oberfläche brodelten. Er fühlte sich verloren. Wie ein Teenager, der mit zu Boden gerichteten Augen, fast schon demütig, am Sexshop vorbeiging, um dann doch noch einen vorsichtigen, schnellen Blick auf die Auslage zu erhaschen. Wie ein Idiot. Gedemütigt. "Möchtest du wirklich keine Milch?", fragte Naruto erneut, als habe er die Ablehnung zuvor wieder vergessen oder schlichtweg verdrängt. "Nein", erwiderte Sasuke beinahe schon eisig. Lust zu reden verspürte er nicht und er hoffte, dass auch Naruto die Signale in der Hinsicht deuten können würde. "Vielleicht Kekse? Ich glaube, ich habe noch welche in der Küche", fuhr er ungerührt fort. Fast schon nervös. Einfach nur ignorant. Sasukes Augen verdunkelten sich. Alte Kekse, nicht allzu schmackhaft. Naruto seufzte hörbar und legte die übriggebliebene Hälfte auf den nahen Tisch. Ihm war der Appetit vergangen. Zudem ihm auch langsam bewusst wurde, dass etwas im Raum stand. Etwas, das er wohl ansprechen sollte. Vermutlich. "Sasuke", sagte er schließlich betont langsam und blickte zögerlich zur Seite, "ich--" "Es spielt keine Rolle", erwiderte Sasuke ungerührt ohne ihn aussprechen zu lassen, "ich habe es verstanden." Ein verlegenes Lächeln zierte Narutos Gesicht für eine Sekunden, bevor er wieder eine etwas ernstere Miene aufsetzte. "Ich hoffe, ich habe dich nicht verletzt oder so damit." Verletzt? Sasuke verkniff sich ein trockenes Lachen. "Es hat nicht wirklich eine Bedeutung", meinte Sasuke nach kurzer Pause, den finsteren Bildschirm anstarrend, "es gibt also keinen Grund, darüber zu sprechen." "Das hört man häufig", antwortete Naruto nachdenklich, "doch am Ende bedaure ich es meist." "Warum?" Irritation. "Die meisten können es nicht so gut trennen, zumindest die meisten, mit denen ich zu tun hatte bisher", erklärte Naruto ein wenig zögerlich, "und ich kann und will das in der Regel auch nicht aufrechterhalten." "Weshalb nicht?" Aufrichtige Neugier in den dunklen Augen. Vielleicht. "Gute Frage, wenn ich die beantworten könnte, wäre ich jetzt wohl verheiratet und hätte zwei Kinder", erwiderte Naruto scherzend, "aber selbst wenn, im Grunde erscheint mir das nicht so erstrebenswert." "Also ziehst du es vor--", begann Sasuke ohne das richtige Wort zu finden, um seine Gedanken näher zu beschreiben. Zumindest fielen ihm keine freundlichen Worte dazu ein. "Ich nehme das nicht besonders ernst, ich weiß", fuhr Naruto fort, die Arme verschränkend, "aber meist tut es mir hinterher etwas Leid. Vor allem, wenn ich zu spät die Reißleine ziehe, weißt du, Mitleid ist keine schöne Sache." "Mitleid?" Sasukes Frage schien eher rhetorischer Natur zu sein und so blieb ihm Naruto diese Antwort schuldig. Er verstand ohne wirklich zu verstehen. Es ging wohl um Zuneigung, die keine tiefere Bedeutung haben sollte. Allzu viel verstand Sasuke davon nicht. Womöglich sollte er die Dinge moralisch bewerten, doch an sich vertrat er nicht die Meinung, dass ihm so etwas zustand. Zudem er dem ja eigentlich auch nichts entgegenzusetzen hatte. Es war in Ordnung gewesen. Bedeutungslos. Ganz okay. "Vielleicht solltest du jetzt gehen", fügte Naruto schließlich noch hinzu, "ich benehme mich gerad ein wenig seltsam." "Ist das wichtig?", erkundigte sich Sasuke und fing seinen unsicheren Blick auf. Sie wussten beide nicht so recht, wie sie mit der Situation am besten umgehen sollten, doch sie machten sich auch nicht die Mühe, über den Moment hinauszublicken. "Was willst du?" Narutos Stimme war ein wenig heiser. Nur ein Kopfschütteln, Sasuke wollte seinen Gedanken keine Stimme zugestehen. Ein tiefer Fall. Fingerspitzen, die den weichen Stoff umklammerten. Haltlos. "Wo bleibt Sasuke nur?", fragte sich Mikoto Uchiha aus dem Fenster blickend. Ihr Mann, der auf dem Sofa Platz genommen hatte, zuckte nur ahnungslos mit den Schultern. Woher sollte er das schon wissen. "Normalerweise macht er das auch nicht", führte sie ihren Monolog fort, "ich hoffe, es ist alles in Ordnung." An sich war Mikoto keine nervöse Mutter, aber sie kannte natürlich ihren Sohn, der einen unmittelbaren Hang zu monotonen Tagesabläufen hatte. Entsprechend war sie nun verwundert und hatte beinahe ein wenig Angst um Sasuke. Auch mit zwanzig war man noch nicht wirklich alt. Vor allem Sasuke nicht, wie sie sich zu ihrem Bedauern eingestehen musste. Sie hatte viel für ihn getan, immer wieder, doch am Ende verspürte sie das Gefühl, versagt zu haben. Womöglich hätte er weniger Freiraum gebraucht, mehr Hilfe. Oder auch weniger. Sie war unschlüssig. Sasuke war so behütet aufgewachsen in einer gewöhnlichen Familie ohne Besonderheiten. Ein ganz normales Leben. Doch irgendwann war Sasuke vom eigentlichen Weg abgekommen und es hatte sich anders entwickelt, als sie es geplant hatten. Vielleicht war auch das der Fehler gewesen. Die ganzen Pläne. Zwar hatte sie immer darauf bestanden, dass Sasuke selbst wählen durfte, aber eventuell war es nicht so gewesen. Zumindest nicht so ganz. "Mama, schau mal, ich habe meinen Aufsatz fertig!", rief Itachi plötzlich quer durch das Haus und kam aufgeregt mit seinem Schreibheft ins Wohnzimmer gerannt. "Das ist ja wunderbar", lächelte Mikoto, "darf ich ihn lesen?" "Klar", antwortete Itachi stolz und übergab ihr mit einem breiten Lächeln sein Werk. Mit Itachi würde es anders sein. Mit ihm war es anders. Sie hatte zwei Söhne. Eine Mischung aus Aftershave und Waschmittel. Ein undefinierbarer Geruch. Ergeben schloss Sasuke die Augen, als sich das feuchte Paar Lippen von seinen trennte und stattdessen die Haut liebkoste, die durch das Beiseiteschieben des Pullovers zum Vorschein gekommen war. Es fühlte sich abstrus an. Surreal. Sasuke wusste nicht, ob er lachen oder lauter atmen sollte. Vielleicht beides. Seine eigenen Hände lagen bewegungslos und griffen in den Stoff der Bettdecke, während Naruto geschickt die Hose des anderen aufknöpfte und langsam, beinahe schon bedächtig herunterzog. Kurz musterte er die schlichten, dunklen Shorts, die ihn keinerlei Schlüsse ziehen ließen, bevor er Sasuke durch stummes Rütteln dazu bewegte, sich nun endlich auch des Pullovers zu entledigen. Achtlos warf Naruto ihn auf den Teppichboden und betrachtete dann zum ersten Mal den entblößten Körper unter ihm. Wohlgeformt und schlank. Weder übertrieben muskulös, noch knochig. Gewöhnlich und doch anregend. Zögernd berührte Naruto ihn, zog die feinen Linien mit seinen Fingern nach. Dann erhob er sich plötzlich, um sich zu entkleiden. Sasuke öffnete die Augen und sah zu, wie sich Naruto sorgsam auszog. Vollkommen. Sein Beobachter schlug die Augen nieder, nicht so recht wissend, ob er hin- oder wegsehen wollte. Letztendlich siegte die Neugierde und Sasuke ertappte sich dabei, wie er für einige Sekunden mit seinem Blick Narutos Hand folgte, als diese die eigene, halbharte Erektion beinahe träge umfasste. Für einen Moment. Sasuke wandte seinen Blick schamhaft ab und ihm entging somit das wissende Lächeln, das Narutos Mundwinkel umspielte. Er hatte keine bestimmten Vorlieben, was die Erfahrung seiner Partner betraf. Jedoch machte die Verlegenheit, die Sasuke so deutlich zur Schau trug, ihn nur noch attraktiver. Sein Glied zuckte leicht. Vorfreude. Naruto kehrte zum Bett zurück und beugte sich erneut über Sasuke, der aus den Augenwinkeln beobachtete, wie sich der andere sich mit dem Kopf über sein verhülltes Geschlecht beugte und begann, die Konturen behutsam mit Nase und Lippen nachzuziehen. Aufregung und Erregung vermischten sich und Sasuke spürte, dass auch er langsam hart wurde. Kein ungewohntes Gefühl. Dennoch überraschte es ihn, stand doch die Nervosität im Vordergrund, als Naruto vorsichtig und doch routiniert den letzten Fetzen Stoff entfernte, der sie noch voneinander trennte. Erneut schloss Sasuke seine Augen und veränderte an dieser Tatsache auch nichts, als Naruto dazu überging, ihm beruhigende Worte zuzuraunen, deren Bedeutung er nicht ausmachen konnte. Gleichzeitig berührte Naruto Sasukes Hoden und begann, diese vorsichtig zu massieren, während seine Zunge rau über die anfängliche Erregung leckte. Sasuke wusste nicht, ob er sich die Hand vors Gesicht schlagen oder sie dazu nutzen sollte, fester ins Bettlaken zu greifen. Wie fast alle jungen Männer in seinem Alter hatte er natürlich Erfahrung mit Masturbation gemacht. Nicht, dass er sich je tiefsinnige Gedanken darüber gemacht hätte. Es war eben etwas Natürliches. Nur hatte das hier recht wenig damit zu tun. Es war intensiver und auch irgendwie stimulierender. Sehen wollte er dennoch nicht. Aber er mochte das Gefühl von Narutos Zunge auf seiner empfindlichen Haut, die eine feuchte Spur hinterließ und ein leises, kaum wahrgenommenes Seufzen verließ seine zusammengepressten Lippen, als Naruto sein Glied in den Mund nahm und es sanft bearbeitete. Zu langsam, um ihn tatsächlich zum Orgasmus zu bringen. Es war ein Spiel und nur Naruto kannte die Regeln. Sekunden oder Minuten später - Sasuke hatte sein Zeitgefühl verloren - ließ Naruto von ihm ab. Noch ein letztes Mal berührte er mit seiner neckischen Zunge die Eichel, bevor er sich aufrichtete und Sasuke an den Schultern packte, ihm deutete, sich zur Seite zu drehen. Fragend öffnete Sasuke für einen Moment die Augen und kam kurz darauf der nonverbalen Aufforderung nach, woraufhin Naruto seine rechte Hand umfasste und sie zu seiner eigenen, inzwischen vollständig aufgerichteten Erregung führte und ihm deutete, sie zu umfassen. Zögerlich berührte Sasuke sie mit den Fingerspitzen. Warm. Ungewohnt. Er zuckte zurück. Wortlos rückte Naruto seinerseits ein Stückchen näher an ihn heran, bis sich beide Glieder berührten. Anregend. Erotisch. Nicht, dass er sich damit auskannte. Erneut führte Naruto seine Hände zwischen ihre Schenkel und umfasste sie. Gnadenlos rieben sie sich aneinander. Erst langsam und vorsichtig. Dann schneller. Erst waren es feuchte, glasige Tropfen. Naruto stöhnte hörbar. Ihr Atem beschleunigte sich. Das Rascheln des Lakens, der herbe Geruch von Erregung, das Geräusch ihrer sich aneinander reibenden Körper - es wurde unerträglich. Bis Naruto erlösend aufstöhnte und seine Lippen unsanft auf Sasukes legte, während er sich zum letzten Mal an ihn presste, die Bewegungen letztlich einstellte. Auch Sasuke kommt wenig später zum Höhepunkt. Weiße Flüssigkeit, die sich schubweise auf ihrer nackten Haut verteilt und vermischt. Ein einsamer Speichelfetzen, der sie verbindet. Müdigkeit und leere Gedanken. Traumloser Schlaf. Sorgenlos. So etwas wie Trost. Eine Verbindung ohne Bindung. Irgendetwas. Sakura hatte vergeblich Nachrichten geschrieben. Ohne Antwort. Der Regen hatte kaum nachgelassen. Die Lichter der Stadt waren nicht verloschen. Nicht, dass das geschehen konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)