Das Erbe des Jesse Wyatt von Sky- ================================================================================ Kapitel 14: Das Testament ------------------------- Als Stephen Wyatt beerdigt wurde, goss es in Strömen und die Atmosphäre war düster und bedrückt. Insgesamt war die Trauergemeinde nicht wirklich groß, denn von Jesses Familie war kaum jemand da. Sein Vater hatte keine Geschwister gehabt und dessen Vater war auch schon recht früh verstorben. Es kamen aber ein paar alte Freunde und sogar Veronica erschien ebenfalls zur Beerdigung, natürlich in Begleitung mehrerer Polizisten und sie durfte sich Jesse auch nicht nähern. Sie war ungewöhnlich still und machte ihrem Sohn nicht einmal die üblichen Vorwürfe, oder versuchte ihm wieder Schuldgefühle einzureden. Wahrscheinlich begann sie jetzt erst endlich zu begreifen, dass sie die ganzen Jahre über falsch gelegen und der falschen Person Vorwürfe gemacht hatte. Vor allem aber hatte die Tatsache sie schockiert, dass ihr über alles geliebter Luca gar nicht ihr Sohn gewesen war. All die Jahre dachte sie, dass Jesse vertauscht worden war und unmöglich ihr Kind sein konnte, im Gegensatz zu Luca. Was für ein gewaltiger Irrtum, den sie viel zu spät gemerkt hatte. Denn nun hatte sie alles verloren. Seth sagte die meiste Zeit kein Wort, schaute aber hin und wieder zu ihr herüber, als wolle er sie ansprechen. Immerhin war sie seine leibliche Mutter und insgeheim wollte er sie schon gerne kennen lernen, aber er war noch zu unsicher und traute sich nicht. Außerdem wollte er Jesses Gefühle nicht verletzen, nachdem er erfahren hatte, was diese Frau ihm alles angetan hatte. Außerdem war er sich nicht sicher, ob Veronica vielleicht feindselig oder abweisend auf ihn reagieren könnte. Charity stand neben Jesse und hielt seine Hand, auch Grace war zur Beerdigung mitgekommen. Während der Beisetzung sagte keiner etwas und sie lauschten den Worten des Pfarrers, der für Stephen Wyatt betete und noch mal den Anwesenden vor Augen hielt, was für ein Mensch er gewesen war. Von allen ging es besonders Jesse am schlimmsten. Nachdem er von Seth erfahren hatte, wieso sein Vater gestorben war und dass dieser all das auf sich genommen hatte, um sie alle zu beschützen, ging es ihm wirklich schlecht. Und in diesen Momenten war er wirklich dankbar, dass er Grace und Charity hatte. Auch Ain hatte zu kämpfen, wobei ihn der Tod seiner alten Freunde besonders schwer traf. Den Schlüssel, den Sigma ihn vor seinem Tod vermacht hatte, hatte er dem FBI übergeben, nachdem Seth herausfinden konnte, welche Tür er öffnete. Es handelte sich dabei um eine Art alte Bunkeranlage, die er zu seinem persönlichen Refugium umgebaut hatte und wo er seine Trophäen lagerte. Die Polizei fand unzählige Augen, die in einer Formaldehydlösung konserviert worden waren und auf einem Tisch hatte man Sigmas Tagebuch gefunden, in welchem er all die Schrecken verzeichnet hatte, denen er im Waisenhaus ausgesetzt war. Daraufhin begann das FBI mit einem Ermittlungsverfahren gegen die „Vereinigung der wahren Christen“, um all ihre grausamen Verbrechen aufzudecken. Auch Ain war bereits ausgiebig befragt worden und hatte alle schrecklichen Details geschildert und ihnen auch Namen der Kinder genannt, die von Sigma und Delta damals fortgebracht worden waren. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis man die ganze Geschichte aufgedeckt und genügend Beweise gesammelt hatte. Aber Jesse wusste dank seines siebten Sinns, dass es nicht umsonst sein würde. Die Vereinigung der wahren Christen würde für all ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden und dann würde es noch einen richtigen Skandal geben. Es war tröstlich zu wissen, dass somit verhindert werden konnte, dass es noch weitere Waisenhäuser geben könnte, in denen Kinder gefoltert und getötet wurden. Doch schöner wäre es gewesen, wenn schon viel früher etwas gegen diese Sekte unternommen hätte. Dann hätte es sicher nicht so viel Leid geben müssen. Nachdem der Sarg hinabgelassen worden war und die Anwesenden sich somit langsam aber sicher aufmachten, um sich der Trauerfeier zu widmen, da löste sich Charity kurz von ihm und ging gemeinsam mit ihrer Großmutter zu Veronica, die von den Polizisten zurück zum Wagen gebracht werden sollte, um sie wieder ins Gefängnis zu fahren. Verwundert blieb Jesse stehen und fragte sich, was die beiden wohl vorhatten. „Mrs. Wyatt!“ rief Charity und schon blieb Veronica stehen und wandte sich um. Sie erkannte die Studentin als das Mädchen wieder, das ihrem Sohn auf der Baustelle zu Hilfe geeilt war, nachdem er niedergeschossen worden war. Doch sie sagte nichts, sondern wartete, dass Charity etwas sagte. Ihr Gesichtsaudruck war schwer zu deuten, aber sie sah müde und ausgezehrt aus. Die Studentin ballte ihre Hand zur Faust und kämpfte damit, ihr keine Ohrfeige zu geben. Stattdessen sah sie sie mit einem feindseligen Blick an und sagte „Sie sollten sich wirklich schämen für das, was Sie Jesse angetan haben! Das werde ich Ihnen nie und nimmer verzeihen! So eine Rabenmutter wie Sie hat er nicht verdient.“ Damit wandte sie sich um und ging zu Jesse zurück, der seinerseits vollkommen sprachlos war. So etwas hätte er von einem gutmütigen und friedfertigen Menschen wie Charity nicht erwartet. Denn eigentlich hegte sie niemals wirklich einen Groll gegen jemanden. Und auch Grace konnte ihrer Enkelin nur zustimmen indem sie sagte „Jesse ist so ein liebenswerter, ehrlicher und wunderbarer Junge. Eine Schande, dass er mit solch einer Mutter gestraft ist!“ Doch Veronica sagte nichts, sondern nahm diese Vorwürfe einfach hin und ließ sich widerstandslos von der Polizei wegbringen. Ob sie endlich ihre Fehler eingesehen hatte? Ach, selbst wenn es so wäre, ändern würde es auch nichts. So oder so war es zu spät, Jesse wollte nie wieder mit ihr zu tun haben. Aber irgendwie war das schon wirklich rührend, dass Grace und Charity sich für ihn eingesetzt hatten. „Das… das hättet ihr wirklich nicht für mich tun müssen.“ „Ach was“, sagte Charity und schüttelte den Kopf. „Das wollte ich dieser Frau schon seit langem endlich mal ins Gesicht sagen.“ Damit ergriff sie wieder seine Hand und ging neben ihm her. Obwohl er zunächst befürchtet hatte, dass sie sich nach den Ereignissen mit Sigma von ihm distanzierte, schienen sie paradoxerweise noch enger zusammenzuhalten als sonst. Und auch das Verhältnis zu Ain und Seth war seitdem viel enger geworden und sie besuchten sich fast täglich. Obwohl sie sich erst vor knapp zwei oder drei Wochen kennen gelernt hatten, war es ihnen so, als kannten sie sich schon ihr ganzes Leben. Jeder war für den anderen da und da sie so viele Gemeinsamkeiten teilten, konnten sie schnell ein brüderliches Verhältnis zueinander aufbauen. Jesse und Ain hatten sich inzwischen auch besprochen, wie es mit Seth weitergehen sollte. Da Jesses Familie eigentlich die nächste Verwandtschaft war, hätte diese problemlos das Sorgerecht für ihn anfechten können. Aber da Jesse lieber verhindern wollte, dass Seth noch zu Walter kam und er bei Ain seine vertraute Umgebung hatte, hatten sie es beide für das Beste befunden, wenn er bei seinem Halbbruder blieb. Auch Seth selbst war einverstanden, allerdings wollte er Jesse dennoch oft genug besuchen kommen. Gemeinsam wollten sie schon zum Wagen gehen, da berührte jemand Jesse an der Schulter und als er sich umdrehte, erkannte er einen leicht untersetzten kahlköpfigen Mann mit Kinnbart, der ebenfalls bei der Beisetzung dabei war und den er noch nie zuvor gesehen hatte. Auch Ain und die anderen wandten sich zu dem Mann um, der sich leise räusperte. „Mein aufrichtiges Beileid für euch. Euer Vater war ein wirklich guter Mensch.“ „Danke. Aber ich glaube, ich habe Ihren Namen nicht ganz verstanden.“ „Oh, entschuldigt. Mein Name ist Scott Tanner, ich bin ein alter Freund eures Vaters. Wenn es nichts ausmacht, ich müsste da etwas sehr Wichtiges mit euch besprechen.“ Sie waren erst ein wenig zögerlich, denn sie fragten sich schon, was ein alter Freund ihres Vaters mit ihnen zu klären hatte. Da sie sowieso mit den anderen in ein nahe gelegenes Cafe zur Trauerfeier gehen wollten, beschlossen sie, dort die weiteren Angelegenheiten zu klären. Also gingen sie zusammen hin, während Ain Seths Rollstuhl schob. „Woher kannten Sie unseren Vater eigentlich?“ fragte Jesse ein klein wenig tonlos, während er neben Charity herlief und einen etwas abwesenden Eindruck machte. Er war noch ein wenig neben der Spur, was ihm aber niemand verübeln konnte. Ein klein wenig schwerfällig kam Scott in die Gänge und lief neben ihm her. „Ich bin mit eurem Vater zusammen zur Schule gegangen und hab mit ihm in der Werkstatt gearbeitet. Die Werkstatt war unser gemeinsamer Traum und als er sie aufgebaut hat, wurde ich sein erster Meister. Du kannst dich vielleicht nicht mehr an damals erinnern, aber ich weiß noch, wie du Stephen oft besuchen kamst. Wenn er dann noch irgendwo am Schrauben war, habe ich mich dann immer um dich gekümmert. Damals warst du noch ein Knirps gewesen.“ Jesse dachte an damals zurück, als er noch klein war. Verschwommen konnte er sich an einen Mann erinnern, der ihm mal gezeigt hatte, wie ein Auto von innen aussah und der ihm erklärt hatte, was sein Vater tagtäglich so machte. Ja richtig, das war Scott gewesen. Er und Stephen waren richtig gute Freunde gewesen und hatten sich auch mal abends getroffen, um ein Bier trinken zu gehen. Und er war damals auch der erste Mann in der Werkstatt gewesen und hatte dann auch das Sagen gehabt, wenn Stephen nicht da war. „Stimmt, jetzt erinnere ich mich wieder. Ich habe dich immer Scotty genannt. Du und Dad, ihr seid oft abends was Trinken gewesen und ihr habt euch immer gut verstanden. Ihr beide ward wie Pech und Schwefel in der Werkstatt.“ Langsam kehrten Erinnerungen an die Zeiten zurück, wo sich Jesse in der Werkstatt seines Vaters aufgehalten hatte. Meist, wenn dieser noch zu tun hatte und an den Fahrzeugen herumschraubte, saß er dann mit Scotty irgendwo und trank eine kalte Limonade. „Ich hab mich immer gefragt, wie Dad nur Automechaniker werden konnte. Er war immer so verträumt, dass ich ihn eher für einen Künstler gehalten habe.“ „Ja, er war schon immer so gewesen. Aber er hatte wirklich Talent, er lernte allein schon durchs bloße Abschauen und war der beste Automechaniker, den Ohio jemals gesehen hat. So ein Talent lag in der Familie und das hast du auf jeden Fall von ihm geerbt. Und wenn er mal wieder einen seiner abwesenden Momente hatte, da sagte er immer, dass er an seine beiden anderen Kinder denken musste.“ „Du… du wusstest über alles Bescheid?“ fragte Jesse verwundert und blieb stehen, als er das hörte. Fassungslos sah er Scott an und konnte nicht glauben, was dieser gerade gesagt hatte. Der Mechaniker sah etwas verlegen aus und nickte. „Ja, Stephen hatte sich an einem Abend seinen ganzen Kummer von der Seele geredet, als wir einen trinken waren. Das Ganze hat ihn ziemlich belastet und er war völlig fertig, als er Seth und Luca im Krankenhaus vertauscht hat. Ich wusste ja, dass in seiner Familie so eine merkwürdige Gabe vererbt wird, aber Stephen hat die meisten seiner Aktionen immer verschwiegen und mit sich selbst ausgemacht. Er hat es mir nur deshalb gesagt, weil er bereits ziemlich angetrunken war und einfach mal reden musste. Der arme Kerl war so fertig mit den Nerven und hat nicht aufgehört zu weinen, da musste ich einfach mal mit ihm reden. Ich hab ihm versprochen, dir und deiner Mutter nichts zu sagen, weil euer Vater euch beschützen musste. Aber dass er sterben würde, das habe selbst ich nicht gewusst. Viel eher dachte ich, dass er bloß abgetaucht sei oder nach dem Kerl suchen wollte, der eure Familie bedroht. Ich konnte nur leider nichts tun, weil er mich gebeten hatte, mich komplett rauszuhalten und Stillschweigen zu bewahren. Allein auch deshalb, weil auch mein Leben und das meiner Familie in Gefahr geraten könnte.“ Jesses Blick wanderte fragend zu Ain, der selbst nichts dazu sagte und viel eher versuchte, Scott näher zu durchschauen und herauszufinden, wie ehrlich dieser Kerl eigentlich war. Der Regen wurde stärker, weshalb sie sich entschlossen, weiterzugehen und nach einer Weile erreichten sie das Cafe, wo sich der Rest der Trauergesellschaft bereits versammelt hatte. Sie setzten sich an einen abgelegenen Tisch, um in Ruhe mit Scott Tanner zu sprechen. Nachdem sie sich einen Kaffee bestellt hatten, holte der untersetzte Automechaniker einen Umschlag aus seiner Jacke hervor und reichte ihn Jesse. Verwundert runzelte dieser die Stirn und fragte „Was ist das?“ „Euer Vater hat mir genaue Anweisungen gegeben“, erklärte Scott und legte seine Jacke über den Stuhl, dann setzte er sich hin. „Die Werkstatt gehörte ja ihm, aber da er mir sagte, er könne nicht länger hier bleiben, bat er mich, solange die Leitung der Werkstatt zu übernehmen. Und falls ihm etwas zustoßen sollte, würde das hier an euch weitergehen.“ Jesse öffnete den Umschlag und holte eine Besitzurkunde heraus. Er brauchte einen Moment um zu realisieren, dass sein Vater ihm und seinen Brüdern die Werkstatt vermacht hatte und in dem Umschlag lag noch etwas, nämlich ein Scheck mit einer fünfstelligen Zahl. Die Zahl verschlug ihm den Atem und sprachlos sah er Scott an. Dieser schien schon zu wissen, was in dem Umschlag gewesen war und erklärte „Dein Vater wollte, dass ihr gut versorgt seid. Und da die Werkstatt sehr gut läuft, ist einiges an Geld zusammengekommen. Dies ist lediglich der Betrag, den dein Vater selber hinterlassen konnte. Ich habe den Anteil, den ich für ihn abzweigen konnte, solange zur Seite gelegt und ich denke, dass es in seinem Sinne wäre, wenn er euch zufallen würde. Damit würde sich das Erbe auf…“ Scott begann im Kopf zu rechnen „…auf insgesamt 332.000$ belaufen.“ Nun blieb auch Charity der Mund offen stehen, als sie das hörte. Nie im Leben hätte sie damit gerechnet, dass eine Werkstatt so viel Gewinn abwerfen konnte. Aber andererseits… seit dem Verschwinden von Jesses Vater waren gut 13 Jahre vergangen. Sie rechnete im Kopf durch. 20.000$ hatte Stephen Wyatt zu Lebzeiten angespart und seinen Söhnen hinterlassen können. Blieben also 312.000$ übrig. Wenn sie auf knapp 2.000$ pro Monat für 13 Jahre rechnete, kam sie auf dieses Ergebnis. Wenn man das auf drei Leute aufteilte, bekam jeder von ihnen auf ungefähr 110.666$ und wenn man Veronica dazu rechnete, betrug der Anteil von jedem glatt 83.000$. Immer noch eine enorme Summe, bei der einem schon schwindelig werden konnte. Allen blieb der Mund offen stehen. Jesse fand als Erster seine Worte wieder und konnte nicht fassen, was Scott da für ihn und seine Brüder getan hatte. „Scotty, ich… ich kann es nicht glauben. Du hast all die Jahre Dads Werkstatt weitergeführt und das Geld zur Seite gelegt? Aber… wieso hast du Mum denn nichts gesagt?“ „Stephen wollte nicht, dass sie etwas von dem Geld sieht. Weißt du, die beiden waren schon ziemlich zerstritten gewesen und wenn er nicht gestorben wäre, dann hätte er sich mit Sicherheit von ihr scheiden lassen. Und sie hätte das Geld doch sowieso nur für Drogen ausgegeben, oder es für anderweitigen Kram aus dem Fenster geworfen. Und so wie ich ihn kenne wird er gewusst haben, was sie noch für schreckliche Dinge tun würde. Also hat er sie mit dieser Aktion quasi enterbt. Es ist aber noch ein Testament dabei soweit ich weiß. Es müsste in einem Extraumschlag sein, aber ich hab es nicht gelesen.“ Jesse griff in den braunen Umschlag hinein und holte tatsächlich einen kleineren Briefumschlag heraus, auf dem mit der Handschrift seines Vaters „Für meine Kinder“ stand. Er war zugeklebt, Scott hatte den Inhalt also tatsächlich nicht gelesen. Neugierig öffnete Jesse ihn und holte ein handgeschriebenes Papier heraus, der sich als ein Testament in Briefform entpuppte. Die Handschrift seines Vaters zu lesen, war schon ein merkwürdiges Gefühl für ihn und nachdem er die ersten Zeilen kurz überflogen hatte, begann er das Testament seines Vaters laut vorzulesen, damit die anderen es auch hören konnten. „Meine lieben Söhne, wenn ihr dies hier lest, dann ist alles bereits ans Tageslicht gekommen und Simon, Jackson und Andrew konnten erfolgreich aufgehalten werden. Und ihr habt nach langer Zeit zueinander gefunden und euch als Freunde und Brüder kennen lernen dürfen. Bitte verzeiht mir meine ganze Geheimniskrämerei und dass ich euch all diese Dinge zugemutet habe. Zwar war ich im festen Glauben, dass meine Entscheidung die einzig richtige war, um euer Überleben zu sichern, aber ich kann es euch nicht verübeln, wenn ihr mir nicht verzeihen könnt. Denn ich habe euch diesen schrecklichen Dingen ausgesetzt und euch in dieser Umgebung gelassen, um euch vor Simon Cohan zu verstecken. Gerne hätte ich euch alle aufwachsen sehen und euch selbst sagen können, wie sehr ich euch liebe. Aber leider ist mir dies nicht mehr möglich. Denn ich werde sehr bald den letzten Schritt gehen und sterben. Aber ich möchte mich nicht einfach so von euch verabschieden, ohne euch etwas zu hinterlassen. Natürlich weiß ich, dass nichts davon wieder gut machen wird, was euch widerfahren ist. Aber ich möchte wenigstens Gewissheit haben, dass ihr auch in der Zukunft gut versorgt seid und ein glückliches Leben führen könnt. Wenigstens das möchte ich für euch tun. Ich habe die Leitung meiner Werkstatt an meinen besten Freund Scott übertragen in dem festen Glauben, dass er das Richtige tun wird. Scott, ich bin dir wirklich sehr dankbar für alles, was du für mich getan hast. Du warst mir in all den Jahren immer ein guter Freund und hast mir oft geholfen, wenn ich nicht weiter wusste und es mir schlecht ging. Ich wünsche dir und deiner Familie noch alles Gute und hoffe, dass du weiterhin gute Dienste in der Werkstatt leistest. Du weißt ja, sie war schon immer unser gemeinsamer Traum gewesen und es würde mich freuen, wenn du diesen Traum auch für mich weiterführst. Jesse, es tut mir Leid, dass ich mein Versprechen dir gegenüber nicht halten konnte. Gerne wäre ich noch länger mit dir das gute alte Team geblieben. Und es tut mir Leid, dass ich dich bei deiner Mutter zurückgelassen habe. Ich weiß, dass die Zeit auch für dich nicht einfach war und du sehr viel durchmachen musstest. Und es tut mir im Herzen weh, daran denken zu müssen, euch allen so etwas Furchtbares zumuten zu müssen. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass du es schaffen kannst, auch deinen Traum zu leben, so wie ich meinen. Denn nicht bloß die Werkstatt, sondern du und meine Brüder seid mein wahrer Traum. Du hast so viele gute Qualitäten und die darfst du nicht unter den Scheffel stellen. Was ich dir hinterlassen kann, sind zwei wunderbare Brüder und das nötige Kapital, das du eines Tages brauchen könntest, um deinen Traum zu leben. Es ist nicht schlimm, wenn du noch nicht dein großes Ziel für die Zukunft gefunden hast. Du wirst es noch früh genug finden und dann musst du auch bereit sein, dafür zu kämpfen. Aber du darfst es nicht alleine tun. Denn es lohnt sich erst für ein großes Ziel zu kämpfen, wenn man es mit jemandem teilen kann. Und mein erstes Ziel war die Werkstatt, die ich damals gemeinsam mit Scott aufgebaut habe. Und auch als ich für mein Ziel, euch zu beschützen, gekämpft habe, war ich nicht alleine. Denn ich habe genug Menschen gehabt, die mich unterstützt haben (auch wenn sie sich vielleicht nicht darüber bewusst waren). Charity, vielleicht erinnerst du dich nicht mehr an damals, aber du und Jesse, ihr seid schon seit damals durch ein sehr enges Band miteinander verknüpft. Damals war es Jesse gewesen, der dir geholfen hat. Und nun bist du für ihn da und hast ihn aus seinem Tief geholt und ihm seine Hoffnung zurückgegeben. Ich danke dir für das, was du für ihn getan hast und ich hoffe, dass ihr zusammen glücklich werdet. Aber letzten Endes ist es allein eure Entscheidung und ihr müsst euch im Klaren darüber sein, dass Beziehungen nicht immer einfach sind. Manchmal bedeutet es auch, Kämpfe auszutragen und da müsst ihr aufeinander vertrauen und immer zueinander stehen. Doch ich glaube, ich kann in der Richtung ganz unbesorgt sein. Denn auch wenn ihr so verschieden seid wie Sonne und Regen, so könnt ihr es schaffen, alle Hindernisse zu überwinden. Denkt immer daran, es sind die Gegensätze, die im harmonischen Zusammenspiel etwas Wunderbares erschaffen können. Denn es benötigt Gegensätze wie Sonne und Regen, um einen Regenbogen zu erschaffen. Und ich möchte dich persönlich bitten, dich weiterhin gut um meinen Sohn zu kümmern. Ain, ich habe dich wirklich sehr lieb und hoffe, du findest irgendwann die Kraft, mir zu verzeihen, die Kapitel deiner Vergangenheit endgültig hinter dich zu lassen und dein wahres Lachen wiederzufinden. Ich bin wirklich stolz auf dich und das, was du aus eigener Kraft aufgebaut hast und bewundere deine Fähigkeit, niemals aufzugeben und trotz harter Schicksalsschläge immer weiterzukämpfen. Du bist der Kämpfer in der Familie und hast es geschafft, trotz allen Problemen und Vorurteilen etwas Großartiges auf die Beine zu stellen und deinen Traum zu leben. Und solange du glücklich bist, ist es mir völlig egal, wen du liebst. Sei es ein Mann oder eine Frau. Und für deine Pläne hast du auf jeden Fall meinen Segen. Aber sei doch etwas mutiger und wage einfach mal den nächsten Schritt, auch wenn es dir schwer fällt. Was hast du denn schon zu verlieren? Im Grunde deines Herzens weißt du doch, dass er der Richtige für dich ist und du hast die Unterstützung deiner Familie. Du darfst dich nicht von deiner Vergangenheit und deinen Ängsten aufhalten lassen, sonst wirst du immer alleine sein und wieder mit einem gebrochenen Herzen da sitzen. Nutze die Chance und ergreif endlich die Initiative. Nicht jede Liebe ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, auch wenn du dir das vielleicht einreden magst. Und wenn du ihn liebst, dann zeige es ihm auch. Denn er liebt dich auch und zwar so wie du bist! Etwas Schöneres kannst du dir doch nicht wünschen. Und du bist doch nicht alleine. Du hast doch deine beiden Brüder, auf die du zählen kannst und die dich unterstützen werden. Seth, du bist der Jüngste von allen und besitzt eine unglaubliche Gabe. Nutze sie gut, sie wird sowohl dir als auch deinen Brüdern noch oft genug weiterhelfen. Und gib nicht die Hoffnung auf, okay? Du wirst bald wieder laufen können, auch wenn der Weg bis dahin beschwerlich und anstrengend sein mag. Aber früher oder später werden sich deine Mühen auszahlen und du hast genug Menschen, die dich auf diesem Weg unterstützen werden. Du musst nur endlich mal lernen, auch mal Hilfe anzunehmen und nicht immer gleich den Mut zu verlieren. Es ist Unsinn zu denken, dass es dich schwach aussehen lässt, wenn du Hilfe annimmst. Dieser falsche Stolz bringt dich keinen Schritt weiter, das müsstest du inzwischen selbst begriffen haben. Hilfe anzunehmen und Schwäche zuzugeben ist wahre Größe und gibt anderen die Chance, dich zu unterstützen. Mach dir auch nicht so viele Gedanken darüber, was andere über dich denken, weil dein Gedächtnis unter deiner Gabe leiden kann. Glaub mir, ich hatte damals in deinem Alter dieselben Probleme und auch aufgrund meines „erkennenden Sinns“ Probleme gehabt, aus meinen Wachträumen rauszukommen. Aber mit der Zeit findest du für dich selbst eine Lösung und einen Weg, mit diesen Problemen besser umzugehen. Ich drück dir die Daumen, dass du ein berühmter Künstler wirst. Lass dich nicht beirren und mach einfach das, was dir gut tut. Es tut mir Leid, dass ich euch meine väterlichen Ratschläge nur in diesem Testament machen kann. Glaubt mir, ich hätte sie euch nur zu gerne persönlich mit auf dem Weg gegeben und euch wenigstens ein allerletztes Mal im Arm halten können, um Abschied von euch zu nehmen und euch zu sagen, wie sehr ich euch liebe. Aber bevor ich zum Wichtigsten komme, wollte ich wenigstens noch mal persönliche Worte an euch zu richten und euch nicht bloß Geld hinterlassen. Ich bin stolz auf euch alle und wünschte, ich hätte mehr für euch tun können. Zu meinem Nachlass: Ich vermache euch dreien meine Werkstatt und das, was sowohl ich als auch Scott an Gewinn auszahlen können. Was ihr mit dem Geld macht, ist allein euch überlassen. Wer von euch die Besitzurkunde für meine Werkstatt übernimmt, entscheidet ihr gemeinsam. Was Veronica meine Frau betrifft, so schließe ich sie vom Erbe aus. Was sie meinem Sohn Jesse angetan hat, ist unverzeihlich und ich sehe nicht ein, ihr in irgendeiner Weise noch finanziell unter die Arme zu greifen. Das Gleiche gilt auch für meinen Schwager Walter. Er hat den Namen meiner Familie beschmutzt, als er diesen angenommen hat und er hat sich an unserer Gabe lange genug bereichert! Da ich sonst keine nahen Verwandten mehr habe, soll das Erbe auf meine Söhne gleichermaßen aufgeteilt werden. Was meinen besten Freund Scott betrifft, so vermache ich ihm meine Wertpapiere, die ich damals als meine Absicherung fürs Rentenalter gekauft habe. Mach dir keine Sorgen, mein alter Freund. Die Papiere reichen alle Male aus, um dich und deine Familie gut zu versorgen. Du warst mir immer ein treuer Freund und hast mich so akzeptiert wie ich war. Von allen Menschen, die ich kannte, warst du immer der ehrlichste gewesen und ich kann dir nicht genug für deine Freundschaft danken. Dank meinem siebten Sinn weiß ich, dass diese Wertpapiere dir noch sehr gute Dienste leisten werden. So, um es für den Fall eines Rechtstreits noch mal klar und deutlich für den Rechtsverdreher zu sagen: Dieses Testament und damit auch meinen Abschiedsbrief an meine Kinder und meinen besten Freund Scott Tanner schrieb ich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und bevollmächtige Jesse Wyatt, Ain Soph und Seth Weaver als meine Alleinerben. Veronica Wyatt geb. Sievers hat keinerlei Ansprüche und ist durch den Mordversuch an meinem Sohn Jesse als enterbt zu betrachten. Dieses Schreiben ist durch den Stempel notariell beglaubigt und somit rechtsgültig. Hiermit schließe ich mein Testament ab und wünsche meinen Freunden und meinen Söhnen alles Glück für die Zukunft. Stephen Wyatt Eine Zeit lang herrschte Stille und Blicke wurden ausgetauscht. Ain, der bislang noch nicht so emotional geworden war, was den Tod seines leiblichen Vaters betraf, musste sich mit einem Taschentuch die Tränen wegwischen. Persönliche Worte seines Vaters zu hören, war etwas ganz anderes und er war überwältigt, dass dieser ihn so akzeptierte wie er war und dass er stolz auf ihn war. Etwas Schöneres hätte er sich nicht wünschen können und gleichzeitig ermutigt zu werden, war für ihn ein noch größeres Glück. Auch Charity war ergriffen und konnte nicht fassen, dass sie ebenfalls erwähnt wurde und Stephen sie bat, sich weiterhin um Jesse zu kümmern. Unglaublich, dachte sie und konnte es nicht fassen. Wie weit hatte Stephen Wyatt wohl alles vorherahnen können? Sein siebter Sinn musste ja noch stärker ausgeprägt sein als Jesses, wenn er sogar in der Lage war zu erkennen, wie die Situation seiner Kinder 13 Jahre später sein könnte. Und er hatte alles sorgfältig für sein Ableben vorbereitet und sein Testament gemacht, um seinen Kindern zu helfen. Ob er vielleicht nicht bloß einen vorausschauenden Sinn besessen hatte? Wer weiß, womöglich hatte er die Fähigkeiten seiner drei Söhne zusammen besessen und war deshalb in der Lage, so weit vorausschauend zu handeln und all das hier zu ermöglichen. Zumindest schien er auch den „erkennenden Sinn“ von Seth zu besitzen. Blicke in der Runde wurden ausgetauscht, es wurde über das Testament gesprochen und man sprach über das Erbe. Die große Frage war vor allem, was mit der Werkstatt geschehen sollte. Weder Ain, noch Seth oder Jesse hatten ein wirkliches Interesse daran, als Automechaniker zu arbeiten, denn sie hatten andere Pläne. Also war einstimmig beschlossen worden, dass die Werkstatt an Scott Tanner übergehen sollte. Dieser war überwältigt und völlig gerührt. „Ist… ist das wirklich euer Ernst?“ „Es war nicht nur Dads Traum alleine, sondern auch deiner“, erklärte Jesse, als er ihm die Papiere überreichte. „Die Werkstatt ist bei dir in den allerbesten Händen und ich bin mir sicher, dass du diesen Traum weiterführen wirst. Ich glaube, Dad hätte es sich so oder so gewünscht, dass du sie an seiner Stelle weiterleitest.“ Zwar konnte Jesse nicht genau erraten, was seinem Vater damals alles durch den Kopf gegangen war, als er das Testament schrieb, aber wahrscheinlich hatte dieser so oder so gewusst, dass seine Söhne Scott die Werkstatt überschreiben würden. „Ich kann euch nicht genug dafür danken“, brachte der Mittfünfziger hervor und wurde selbst von großen Emotionen ergriffen. Er konnte in der Werkstatt bleiben und sie nun offiziell als neuer Besitzer weiterleiten. Die Stimmung besserte sich nach und nach und wie es nun mal bei Trauerfeiern so kommen konnte, unterhielten sich alle Anwesenden ausgelassen. Jesse erzählte, was er alles mit seinem Vater erlebt hatte und auch Scott konnte die eine oder andere Geschichte erzählen. Und auch Ain und Seth hatten einiges zu erzählen und von Schwermut und bedrückter Stimmung war nichts mehr zu sehen. Einige der anderen Gäste des Cafes, die zum Freundeskreis des Verstorbenen zählten, hoben ihr Glas auf den Verstorbenen und beschlossen, ihm zu Ehren zu feiern. Nach einer Weile erhob sich Ain aber von seinem Platz und ging nach draußen. Da sich Seth schon Sorgen um ihn machte, folgte er ihm und verließ ebenfalls das Cafe. Inzwischen war der Regen abgeklungen und eine angenehme kühle Brise wehte. „Spuck’s schon aus, seit wann läuft das?“ Erst jetzt bemerkte der Modedesigner, dass sein jüngster Halbbruder neben ihm war und sah ihn verwundert an und wusste zuerst nicht, worauf dieser mit seiner Frage hinaus wollte. „Was meinst du denn?“ „Na was wohl? In Dads Testament stand eindeutig, dass es da jemanden gibt, den du liebst. Und anstatt mir etwas davon zu sagen, hältst du es einfach geheim. Ganz schön unverschämt, findest du nicht? Immerhin bin ich doch dein kleiner Bruder.“ Ain lehnte sich gegen die Hauswand und vergrub die Hände in die Jackentaschen. Man sah ihm an, dass ihn dieses Thema beschäftigte. Und er hatte auch ein schlechtes Gewissen Seth gegenüber, dass er nichts gesagt und alles geheim gehalten hatte, als wären sie Romeo und Julia. „Ich hab ihn vor fast fünf Monaten im Club kennen gelernt. Er ist verwitwet, nachdem sein erster Lebensgefährte bei einem tragischen Zugunglück ums Leben kam. Zuerst war da nichts Besonderes zwischen uns, wir haben uns höchstens getroffen und miteinander geredet. Dann wurde es was Festes zwischen uns, aber ich hatte einfach zu viel Angst davor, einen Schritt weiterzugehen und mit ihm zusammenzuziehen. Obwohl es schon zehn Jahre her ist, macht mir die Sache mit Mr. Harper immer noch zu schaffen. Immerhin hat er sich meinetwegen das Leben genommen. Und ich bin mir nicht sicher, ob Zane schon bereit dafür ist. Immerhin ist sein Lebensgefährte vor gerade mal einem Jahr verstorben und ich hab Angst, dass es ein bisschen zu früh sein könnte…“ „Du brauchst doch keine Angst zu haben“, erwiderte Seth und zog seine Jacke fester zu, da es ihm schon recht kühl war. „Es wird schon werden, okay? Selbst Dad war sich sicher, dass das mit dir und deinem Freund klappt. Und wegen mir brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen. Du weißt ja, dass ich mit jedem gut klar komme. Okay… fast mit jedem. Wenn du mit ihm zusammenziehen willst, dann tu das ruhig! Aber erzähl schon: wie heißt er denn, was macht er beruflich und wie ist er so?“ „Sein Name ist Zane Donovan, er ist DJ und Clubbbesitzer und vom Typ her fast genauso wie Jesse. Also nach außen tut er immer etwas kühl und gefühlsarm, aber er kann auch sehr liebevoll und einfühlsam sein. Außerdem kann man mit ihm über alles reden und er hatte auch keine Probleme, damit als ich ihm von meinem siebten Sinn erzählt habe. Auch wenn er ziemlich viele Tattoos hat und ein wenig rau aussieht, ist er wirklich ein süßer Kerl.“ Seth musste schmunzeln als er sah, wie sein Halbbruder ins Schwärmen geriet. Dass dieser über beide Ohren verliebt war, sah selbst ein Blinder. Und natürlich freute er sich auch, dass Ain endlich mal wieder eine richtige Beziehung hatte. Nach all den einsamen Jahren hatte er es sich wirklich verdient. Zwar hatte er sich nie beklagt und oft genug beteuert, dass ihm sein kleiner Halbbruder auch reichen würde, aber Seth kannte ihn gut genug. Er wusste, dass dieser sich wirklich einen Partner an seiner Seite wünschte, dem er auch vertrauen konnte. Aber das war leider nicht sehr einfach mit einem Menschen, der die Fähigkeit besaß, sein Umfeld sofort zu durchschauen. Viele wurden dadurch abgeschreckt und auch Ain konnte aufgrund der Tatsache, dass er jede Lüge und jedes Geheimnis durchschauen konnte, nur sehr schwer Vertrauen fassen. Der letzte Mensch war Mr. Harper gewesen und das war vor zehn Jahren. Und offenbar war dieser Zane jemand, dem er vertrauen konnte. „Warum bringst du ihn nicht mal zum nächsten Wochenende mit? Da wollten wir uns sowieso noch mal alle gemeinsam treffen und einen Ausflug machen.“ „Ich… ich weiß nicht, ob er so kurzfristig…“ „Entweder du fragst ihn, oder ich tue es!“ Ain war völlig überrumpelt und wusste gar nicht, was er dazu noch sagen sollte. Dass sich Seth auf einmal so ins Zeug legte, kannte er gar nicht von ihm. Aber auf der anderen Seite war er wirklich froh darüber, dass sein jüngster Halbbruder ihm so viel Zuspruch gab. Und es bedeutete ihm auch viel, dass sein leiblicher Vater ihm im Testament ganz klar gesagt hatte, dass er ihn liebte, ganz egal ob sein ältester Sohn schwul war oder nicht. Im Grunde hatte dieser ihm auch noch seinen Zuspruch gegeben. Trotzdem war da diese Angst… „Na komm schon, lass uns wieder reingehen. Die anderen machen sich sicherlich auch schon Sorgen und mir wird es hier auch langsam zu kalt.“ Damit wollte Seth wieder ins Cafe, doch da bemerkte er, dass Ain die Tränen kamen. Zwar versuchte dieser noch, sie zurückzuhalten, doch es wollte ihm nicht gelingen. „Hey, du brauchst doch nicht zu weinen!“ „Nein, nein… es ist nur so, dass ich wirklich glücklich bin“, erklärte Ain und wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen weg. „Ich habe jetzt zwei Brüder, Charity als herzensgute Freundin, ich habe Corinne und einen wunderbaren Freund. Und ich habe sogar den Segen unseres Vaters. Weißt du Seth, ich habe mir so sehr eine Familie gewünscht, einen liebevollen Partner und den Segen meiner Eltern, wenn ich welche gehabt hätte. Das war das Einzige, was ich mir wirklich von Herzen gewünscht habe. Jetzt habe ich Familie und Freunde und ich kann das tun, was mir Spaß macht. Irgendwie kann ich noch nicht wirklich glauben, dass das wirklich passiert.“ „Gewöhn dich mal lieber dran. Für mich ist das auch noch recht viel, dass ich jetzt zwei große Brüder habe und wahrscheinlich bald Schwager werde.“ „Wie jetzt Schwager?“ „Mein siebter Sinn verrät mir, dass bald geheiratet wird. Aber ich weiß noch nicht wer, also lass ich mich einfach mal überraschen. Jesse und Charity sehen ja auch so aus, als würde es bald zwischen ihnen ernster werden.“ Da der Wind immer kühler wurde, gingen sie ins Cafe zurück und unterhielten sich noch eine ganze Weile mit den anderen. Obwohl die Beerdigung nicht mal zwei Stunden zurücklag, war die Stimmung seltsamerweise sehr ausgelassen und es fand sich immer wieder jemand, der ein paar Geschichten über Stephen Wyatt erzählen konnte. Und auch Ain und Seth konnten einige lustige Anekdoten aus ihrem Leben zum Besten geben. Sie saßen noch bis zum Abend zusammen, bis sie schließlich die letzten Gäste waren. Als Grace dann doch langsam etwas müde wurde, erhob sich auch der Rest der Gesellschaft und machte sich auf dem Weg zu Ains und Charitys Wagen. Ain begleitete die alte Dame, während Jesse und Charity Hand in Hand nebeneinander hergingen und sehr vertraut waren. Letzten Endes, dachte Jesse und hielt ihre zarte Hand fest umschlossen, hat sich doch alles zum Guten gewandt. Ich hätte nicht gedacht, dass sich alles mal so entwickeln würde. Vor einem Jahr hätte ich nie geglaubt, dass ich mal da stehen könnte, wo ich jetzt bin. Natürlich haben wir alle schlimme Dinge erleben müssen. Und alleine hätte niemand von uns es geschafft, sich wieder aufzuraffen. Ohne Charity wäre ich immer noch bei Walter oder auf der Straße, ohne irgendwelche Zukunftsperspektiven. Sie hält trotz all der Dinge, die meinetwegen passiert sind, zu mir und sie nimmt mich so wie ich bin, auch mit dieser Gabe. Und dank Dad sind wir alle am Leben. Indem er damals gestorben ist, hat Sigma uns am Leben gelassen. Als wäre dies alles wirklich ein Geschenk Gottes. „Jesse“, er wandte seinen Blick zu ihr und sah in ihre hellbraunen Augen. Sie sah ihn besorgt an und fragte „Alles in Ordnung mit dir?“ Er lächelte, blieb kurz stehen und küsste sie. „Ja, es geht mir gut. Und ich bin wirklich dankbar dafür, dass ich dich habe, Cherry.“ Der Blick, mit dem sie ihn ansah, war einfach unbezahlbar und er konnte nicht anders, als zu schmunzeln. Sie hätte ja mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass er sie eines Tages überhaupt mal mit ihrem Spitznamen ansprechen würde. Vor allem nicht nach ihrem letzten Gespräch, wo er gesagt hatte, dass er ein pragmatischer Mensch war, sich mit diesem Gefühlskram nicht richtig auskannte und auch keinen Anlass sah, sie so zu nennen. Natürlich hatte sie es sich insgeheim gewünscht gehabt, aber sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass es noch geschehen könnte. „Du… du hast mich „Cherry“ genannt? A-aber… das… das…“ Er unterbrach sie mit einem weiteren Kuss und legte einen Arm um sie, als er sie zum Wagen führte. „Ich kann dir und Grace nicht genug danken. Ohne euch wäre ich jetzt nicht hier. Und wenn ich mir so überlege, ist es vielleicht tatsächlich eine von deinen göttlichen Fügungen, dass wir uns nach 14 Jahren wieder begegnet sind du dieses Mal mir geholfen hast.“ „Kann schon sein.“ Sie stiegen in den Chevrolet ein, nachdem sie sich von Ain und Seth verabschiedet hatten. Dabei erinnerten sie noch an den Ausflug für das nächste Wochenende, wo der Modedesigner ihnen mal seinen Freund vorstellen sollte. Langsam rollte der Wagen aus der Einfahrt und fuhr die dunkle Landstraße entlang. „Was glaubst du, Jesse? Wie wird wohl Ains Freund so sein?“ „Mit dem werden wir uns schon gut verstehen. Da mach dir mal keine Sorgen. Und ich glaube, es wird auch nicht mehr lange dauern, bis die Hochzeitsglocken läuten werden. Ich denke, Ain hat einfach nur mal einen Schubs in die richtige Richtung gebraucht, um den Mut zu finden. Und Dads Zuspruch war wohl das, was er wirklich gebraucht hat, um seine Angst vor einer festen Beziehung zu überwinden.“ „Hochzeiten sind immer schön“, seufzte Charity und ihr Blick nahm etwas Verträumtes an. „Schon als ich klein war, habe ich davon geträumt, eines Tages mal ein wunderschönes weißes Kleid zu tragen und wie eine Prinzessin auszusehen. Das stelle ich mir schön vor. Und bei einer gleichgeschlechtlichen Hochzeit war ich ja noch nie dabei. Das wird sicher traumhaft werden!“ Keine Sorge, dachte Jesse und schaute aus dem Fenster hinaus in die immer dunkler werdende Landschaft. Eines Tages wirst du ein solches Kleid tragen. Lass dich nur überraschen. Zwar hatte Jesse schon seit einiger Zeit hin und wieder mal mit diesem einen Gedanken gespielt, aber er hatte ihn immer wieder fallen lassen. Er wollte erst die Ausbildung sicher haben, bevor er ihr einen Antrag machte. Bevor er ihr nicht irgendetwas bieten konnte, sah er sich nicht im Recht, sie zu fragen, ob sie ihn heiraten wollte. Zwar hatte er jetzt das Erbe seines Vaters, aber er wollte unbedingt diese Ausbildungsstelle haben und dafür musste er seinen Abschluss nachholen und weiterhin alles in seinem Job geben. Und auch wenn er in vielen Dingen ein wenig zu gefühlsarm und zu pragmatisch war und in Gefühlssachen des Öfteren überfragt war, so wusste er mit fester Gewissheit, dass Charity die Richtige war. Er war sich sicher, dass er für immer bei ihr bleiben und auch keine andere als sie wollte. Er wollte mit ihr zusammen glücklich werden und ein richtiger Teil ihrer Familie werden. Und er war sich sicher, dass sein Vater auch gewollt hätte, dass sie beide miteinander glücklich wurden. Vielleicht hatte er tatsächlich schon so weit gedacht, dass er über die Pläne seines Sohnes Bescheid wusste. Manchmal, dachte Jesse und musste wieder schmunzeln. Manchmal schreibt das Leben schon die verrücktesten Geschichten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)