Iramon - Die Katze des Königs von Glutaro (Eine Pokemon Geschichte von Kanto) ================================================================================ Kapitel 3 --------- >>>Nerina<<< "Ist das da jetzt ein Zug?" Aufgeregt hüpfte Texomon auf und ab und deutete mit seiner Klauenpfote auf etwas Rotes am anderen Ende des Bahnsteigs. "Quatsch!" Empört riss Nerina ihn an den Schultern zurück, ehe er losstürmen konnte, "Das ist bloß ein Reisebus! Die Leute steigen hier aus und dann in den Zug wieder ein." "Warum fahren sie nicht mit dem Bus dahin, wo sie hinwollen? Ist ja unlogisch!", maulte Texomon, während der Reisebus die Türen öffnete und sich eine ganze Flut von Menschen mit schweren Reisekoffern über den verlassenen Bahnsteig ergoss. Nervös tauschten Neru und Nerina einen Blick. Sie wussten beide sehr genau, dass Pokemon in geschlossenen Fahrzeugen verboten waren, weil manche Menschen Angst vor ihnen hatten und außerdem niemand so recht wusste, ab welcher Größe ein Pokemon zuviel wertvollen Raum einnahm, doch sowohl Evoli als auch Texomon verabscheuten ihre Pokebälle abgrundtief und noch hatte keiner von ihnen es über sich gebracht, die frohe Botschaft zu verkünden. "Nerina?" Erschrocken wandte sie sich wieder Texomon zu, der immernoch ungeduldig neben ihr herumtänzelte. "Weil die Busse nunmal nicht dahin fahren, wo jeder einzelne hinwill. Darum fahren sie immer feste Strecken und halten ab und an und jeder kann umsteigen, wohin er eben grade muss." "Aber der Zug fährt doch auch direkt dahin, wo wir hinwollen!", quengelte Texomon weiter. Die vordersten Mitglieder der Reisegruppe waren bereits bis auf fünfzig Schritt herangekommen, sodass Nerina ihm rasch eine Hand auf den Kopf legte. "Es ist eben so", sagte sie unwirsch, "Schluss jetzt! Texomon! Solang andere Leute da sind, sollst du gar nichts reden!" "Hmpf!", machte Texomon beleidigt, stapfte ein paar Schritte fort und hockte sich auf eine der Wartebänke. Hoffnungsvoll kreuzte Nerina die Finger, während Menschen und Rollkoffer an ihnen vorbeizogen. Sie wollte schon aufatmen, als Texomon aufsprang und aufgeregt auf eine der Anzeigetafeln deutete. "Schau mal da, Nerina!", rief er. Eine Frau blieb verwundert stehen und starrte ihn an, doch zum Glück kam Neru ihr zu Hilfe, in dem er rasch mit verstellter Stimme fortfuhr: "Da steht, dass der Zug ausfällt! Wir werden wohl warten müssen..." "Oh, vielen Dank", lächelte die Frau und die schlechte Nachricht schien ihr Misstrauen zu verdrängen. Im allgemeinen, unwilligen Gemurmel der Gruppe fiel es glücklicherweise auch nicht weiter auf, dass Nerina zu Texomon huschte und ihm ungeduldig zuflüsterte: "Das wär fast schiefgegangen! Texomon! Du musst leise sein! Oder sprich halt in meinem Kopf!" 'Tschuldigung!', entgegnete Texomons Stimme leise und metallen in ihren Gedanken, mehr eine Ahnung denn ein wirklicher Gedanke, 'Aber da hat etwas geleuchtet!' Seufzend nahm Nerina ihn bei der Krallenhand und gemeinsam folgten sie Neru zurück ins Bahnhofsgebäude. In einer stilleren Ecke hinter dem Zeitschriften-Kiosk blieb er stehen und funkelte seine Schwester böse an. "Pass besser auf ihn auf", sagte er gereizt, "Wenn er so weiterplappert, wartet Gringo schon mit einem Empfangskomitee, wenn wir aussteigen." Texomon stieß ein erschreckend tiefes Knurren aus, doch noch ehe es zu einem ernstlichen Streit kommen konnte, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihnen. "Hey hallo!", sagte der Junge, der urplötzlich neben dem Zeitschriftenständer aufgetaucht war, als sei er geradewegs aus dem Boden gewachsen. Er trug kurze, schlichte Wanderkleidung und einen großen Rucksack, der reichlich mitgenommen aussah. An seinem Gürtel hingen drei Pokebälle. "Entschuldigt die Störung", sagte er höflich und mit neutraler Miene, doch Nerina sah das neugierige Glitzern in seinen dunklen Augen, "Ich habe euch nur vorhin gegen diese Angeber mit dem Bisasam und dem Endivie kämpfen sehen und wollte gratulieren! Das sah echt professionell aus!" "Danke!", strahlte Neru stolz und streichelte Evoli über das seidige Fell, "Wir sind ihnen schon mehrfach begegnet und es wurde Zeit, ihnen eine Lektion zu erteilen!" Pluster dich nicht so auf!, dachte Nerina, noch immer genervt von seinen Anschuldigungen Texomon gegenüber. Der Fremde lächelte ein wenig, was irgendwie nicht so recht zu seinem ernsten, dunkelhäutigen Gesicht passen wollte. "Mein eigener Starter ist ein Pflanzenpokemon und ich weiß, dass sie meistens eine harte Nuss sind! Natürlich nicht gegen eine Glutattacke!" Nun warf er Texomon einen offen neugierigen Blick zu und Nerina hörte Neru beleidigt scharf die Luft einziehen, was der andere jedoch ignorierte. Langsam trat er näher und betrachtete das mit trotzig verschränkten Armen dastehende Texomon. "Darf ich fragen, was für ein Pokemon das ist? Es ist mir nämlich noch nie untergekommen und Aquaknarre und Glut klingt nach einer ziemlich ... tödlichen Mischung!" "Oh, es heißt Texomon und ist ein Drachenpokemon aus Eden", wiederholte Nerina geschmeichelt ihre auswendiggelernte Geschichte, "Mein Vater ist Pokemonforscher und hat es mir von dort mitgebracht!" Zu ihrer Verwunderung wurden die dunklen Augen groß und rund. "Eden?", fragte der Fremde und fügte zu Nerinas Horror hinzu: "Ich habe meinen Starter dort erhalten und bin zwei Jahre lang kreuz und quer durchs Land gezogen. Keinen verdammten Wald, Berg oder gottverlassene Wüste habe ich ausgelassen und jeden Trainerkampf angenommen, aber noch kein Trainer hatte ein Texomon bei sich. Gut", fuhr er fort, während Nerina vor Schreck das Blut in den Adern gefror, "Es mag durchaus ein paar seltene, legendäre Pokemon geben, von denen ich noch nicht gehört habe, aber ich wage zu behaupten, dass dein Vater dir da ein exklusives Geschenk gemacht hat." "Tja, ich hab leider auch keine Ahnung, wo er 's herhat!", nuschelte Nerina rasch und griff nach Texomons Pfote, "Jedenfalls müssen wir jetzt ganz dringend zum Zug. War nett, dich kennengelernt zu haben!" "Der Zug nach Anemonia ist ausgefallen, falls du den meinst", entgegnete der andere hilfsbereit. Verzweifelt blickte Nerina um sich, dann entdeckte sie vor dem Fenster wieder den roten Reisebus, der gerade die Türen schloss. 'Vertania-Linie', las sie in großen, blauen Buchstaben auf seiner Flanke, 'Alle Halte'. "Wir müssen nach Eichholzheim im Vertania-Wald!", rief sie rasch und stürzte in Richtung der Tür davon, Neru schaffte es gerade noch, ihr zu folgen... "Na der Typ hat vielleicht genervt!", presste Neru durch zusammengebissene Zähne, als sie sich wenige Minuten später keuchend an einen der kaugummi-verschmierten Tische des Bahnhofs-MacDonalds setzten. "Kann man wohl sagen", brummte Texomon und befingerte peinlich berührt sein markantes, rotes Horn. Seinen Zorn auf Neru schien er bereits wieder vergessen zu haben, leider nebst seines Schweigegelübdes, wie es schien, doch in dem vollgestopften Fastfood-Restaurant achtete glücklicherweise niemand auf sie. Nerina starrte nur nachdenklich vor sich hin. Der Zwischenfall war weniger nervig denn beschämend gewesen und immernoch klopfte ihr das Herz bis zum Hals. "Finde ich gar nicht", verkündete Evoli in diesem Augenblick mit leiser Stimme, dafür jeden thronte sie hoch erhobenen Hauptes und mit gebauschtem Schwanz auf dem Tisch in ihrer Mitte, "Ich meine, er kann doch nichts dafür, dass er aus Eden ist! Du an seiner Stelle wärst sicher auch sehr neugierig, Neru!" "Dann soll er in Eden bleiben", brummte Neru gereizt, stand auf und reihte sich in die Schlange der wartenden ein. Zu Nerinas Verwunderung folgte Evoli ihm diesmal nicht, sondern blieb ungerührt hocken und starrte erwartungsvoll in Nerinas Gesicht. Diese nickte seufzend. "Ich fürchte, du hast recht", sagte sie leise, "Er wirkte einfach nur ehrlich interessiert. Trotzdem ist es schlecht, dass das passiert ist. Wenn er es herumerzählt... Definitiv brauchen wir eine neue Story für dich, Texomon... Vielleicht kann ich ja sagen, ich hätte dich einfach so verlassen im Hafen von Zinobia rumsträunern sehen und hätte keine Ahnung, wo der herkommst." "Klingt nicht unbedingt stichhaltiger", brummte Neru, stellte sein Tablett vor ihr ab und ließ sich seufzend auf seinen Stuhl sinken, "Jedenfalls müssen wir hyper-vorsichtig sein, bis wir in Anemonia sind, habt ihr das verstanden! Nicht, dass wir dem nochmal über den Weg laufen!" "Versprochen!", riefen Texomon und Evoli wie aus einem Mund, ehe sie sich über das duftende Essen hermachten. Evoli war mit ihren kleinen Pfoten äußerst gewitzt darin, Neru die Pommes unter den Fingern wegzuklauen und Texomon bließ begeistert Luftblasen durch den Strohhalm des Kola-Bechers, bis ihm eine kleine Stichflamme herausrutschte, die Strohhalm und Deckel kurzerhand schmelzen ließ und die Kola selbst zum Kochen brachte. Heißer Dampf stieg ihm in die Nüstern und hustend schreckte er zurück, wobei er den qualmenden Becher umstieß und das kochende Zeug sich in einem Sturzbach über den Boden ergoss. "Tschuldige!", rief er und schlug erschrocken die Hände vor die Augen, "Ich hatte das mit der Glut total vergessen!" Seufzend, jedoch ohne ein weiteres Wort stand Nerina auf, um Servietten zu holen... Sie hoffte, die beiden Iramon hätten aus der Panne gelernt, doch das Gegenteil war der Fall. Kaum hatten sie die Einkaufspassage hinter dem Bahnhof betreten, um ihre Reisevorräte aufzustocken und sich noch ein wenig die Zeit zu vertreiben, als das Gequengel schon wieder einsetzte. Texomon wollte unbedingt die strahlenden Postkartenbilder ansehen, die ein Geschäft ausstellte. "Was ist da drauf!", piepte Evoli ärgerlich, doch Texomon streckte ihr nur die schwarze Zunge heraus. "Kannst ja die unterste Reihe durchsehen, dann muss ich mich nicht bücken", neckte er. Evoli fauchte ärgerlich und sprang eifrig an Nerus Bein hoch, doch als er sie nicht aufhob, begann ihr Fell unheilvoll blau zu glimmen und im nächsten Augenblick stand das große, hüfthohe Aquana zwischen ihnen. "Na warte, du halbe Portion", schnurrte es zufrieden und Texomon flitzte davon, geradewegs zwischen einige, drehbaren Stände mit nobel aussehenden T-Shirts. Nerina schloss ergeben die Augen und Neru stöhnte auf, als alles, was Texomons Klauen verschont hatten, Aquanas wild peitschendem Fischschwanz zum Opfer fiel. "Aquana!", rief er zornig, "Komm her!" Wenigstens besaß Aquana genug Anstand, nicht mit einem lauten "Okay!" zu antworten. Stattdessen machte sie einen grazilen Bocksprung über ein brusthohes Bücherregal. Ihre Schwanzflosse ließ die etwa hundert Werke des obersten Brettes wie Dominosteine zu Boden klatschen, während Texomon sich in einen dicken Wollpulli verkrochen hatte, der nun mit langen Sprüngen und wild hinter ihm herwedelnden Ärmeln im Slalom davonhüpfte, erst von der Theke der Bäckerei gestoppt wurde, sich quietschend überkugelte und sein unglückseliger Träger der Länge lang in Nusshörnchen und Puddingbrezeln landete. Nerina wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte... Sie war heilfroh, als der langersehnte Zug endlich vorfuhr und sie und Neru mit müden Gesichtern das struppige Evoli und das in der Damentoilette unter dem Wasserhahn geduschte Texomon, das immernoch über Seife in den Augen jammerte, in ein ruhiges Abteil bugsierten. "Oh mann!", ächzte sie, als sich die Abteiltür endlich hinter ihnen schloss und drückte Texomon unsanft auf den Platz am Fenster, nur um sich entkräftet neben ihn fallen zu lassen, "Ihr zwei habt echt die Manieren des Dschungels! Wie soll man euch denn so mit unter Menschen nehmen?" "Tschuldigung", murmelten beide wie aus einem Mund und tatsächlich schienen sie für einige Minuten friedlich zu sein, sodass Nerina Gelegenheit fand, die Augen zu schließen. Sie erwachte von einem lauten Knacken über ihr, gefolgt von Texomons erschrockenen Aufschrei. Im nächsten Augenblick landete er schwer auf ihrem Schoß und schnüffelte besorgt an dem Stückchen Holz in seinen Krallen. "Texomon!", fuhr Nerina ihn erschrocken an, "Was hast du denn nun schon wieder angestellt?" "Er wollte in die Gepäckablage klettern", brummte Neru missbilligend von der anderen Seite, "Dummerweise hat die Leiste nachgegeben..." "Och Texomon!", brummte Nerina verdrießlich, während der kleine Drache protestierend hinaufsah. "Evoli liegt schon seit Stunden da oben!", meckerte er, "Und sie sagt, dass sie dann nicht in den Ball muss, wenn der Schaffner kommt, weil er sie da oben nicht sieht!" "Tja, ich kann ja schließlich nichts dafür, dass du so groß und fett bist", entgegnete Evoli frech und ließ ein Ohr über die Kante lugen. "Das reicht Evoli!", rief Neru zornig, "Auch du kommst da runter! Gleiches recht für alle!" Maulend gehorchte Evoli, doch Nerina hatte kaum einen ihrer neuerstandenen Äpfel ausgepackt, als Texomon neben ihr zu Knurren begann. "Du bist ja schon wieder da oben!", rief er wütend. "Was denn? Ich bin hier!", fauchte Evoli unter Nerus Sitz hervor, "Du hast doch gehört, dass ich wegen deiner Tollpatschigkeit jetzt unten bleiben muss!" "Aber wer ist dann...", begannen Nerina und Texomon, wie aus einem Munde. Das Evoli über ihren Köpfen wackelte mit den Ohren, streckte genüsslich die Glieder und rollte sich dann bequem auf die Seite. Neru runzelte die Stirn. "Na, das würd ich auch mal gerne wissen. Vielleicht ein fremdes Evoli? Hee, du? Wem gehörst du?" Langsam stand er auf und streckte die Hände nach dem kleinen, pelzigen Wesen aus, als es sich in einem Rauchwölkchen auflöste und gleich darauf auf dem Tisch unter dem Fenster wieder erschien. "Verrückt!", stieß Nerina verblüfft aus, "Es kann Teleport!" "Nein, es kann Doppelteam", sagte jemand von der Tür her und eine wohlvertraute Gestalt betrat das Abteil. Der Junge aus Eden war genauso plötzlich aufgetaucht, wie vorhin und mit einem ebenso höflichen Lächeln setzte er sich auf den freien Platz neben Neru. "Es projiziert einen Doppelgänger von sich selbst an einen anderen Punkt des Raumes. Wenn du die Attacke noch nicht bei ihm gesehen hast, muss es sehr talentiert sein, gleich beim ersten Mal eine so echte Kopie zu erzeugen! Mein Sengo hat fast eine Woche geübt, bis es ein Ding hingekriegt hat, das auch nur annähernd wie ein Zweibeiner aussah!" "Doppelteam!", sagte Neru, zu verdutzt über die neue Fähigkeit seines kleinen Iramon, um sich über das Erscheinen des anderen Jungen wundern zu können, "Na, das wird mal noch praktisch werden im Kampf!" Nun, da die Basis des Gespräches nicht das unglückliche Texomon war, stellte sich der Junge als recht nett heraus. Er hieß Mando, stammte aus einem kleinen Dorf im Vertania-Wald und war vor zwei Jahren von Zuhause weggegangen, um seine Trainerkarriere in Eden zu beginnen. "Mein Vater wollte nicht, dass ich Trainer werde", erzählte er schulterzuckend, "Also hab ich fast ein halbes Jahr bei den Flößern geholfen und mir die Schiffskarte nach Eden gekauft. Jetzt, wo die Liga rum ist, wollte ich aber doch die alte Heimat mal wieder sehen..." Er erzählte auch, dass er die meisten seiner Pokemon in Eden zurückgelassen hatte, nur seinen Starter, Reptain, hatte er natürlich mit sich nehmen wollen. Wie um seine Worte zu unterstreichen, löste sich aus einem der Pokebälle plötzlich ein Lichtblitz und ein zweibeiniges Pflanzenpokemon mit blättergeschmückten Armen und einer langen Blattklinge am Kopf erschien zwischen ihnen. Neugierig schnupperte es an Nerinas ausgestreckter Hand. "Reptain!", rief es und schickte sich an, dem Apfelgeruch folgend, auf ihren Schoß zu klettern, um den leckerriechenden Rucksack zu erreichen. Es kam allerdings nicht weit. "Lass sie in Ruhe!", fauchte Texomon erbost und stieß das fremde Pokemon eiligst zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte Schweigen, dann schoss Evoli vor und schnappte ärgerlich nach seiner Schwanzspitze. "Wir sollen nicht reden! Das ist zu gefährlich", quäkte sie, bevor sie selbst erschrocken zur Salzsäule erstarrte. Nerina hätte vor Scham in ihrem Sitz versinken mögen und während sie noch zu sehr damit beschäftigt war, knallrot zu werden, stammelte Neru bereits eine Entschuldigung nach der anderen. Mando jedoch lächelte nur. "Ich hatte mir schon gedacht, dass mit euren beiden Pokemon was nicht stimmt", sagte er ruhig und weniger überrascht, als es Nerina lieb gewesen wäre, "Drüben in Eden habe ich mal ein Mauzi gesehen, das sprechen konnte... und sie sehen doch beide recht auffällig aus, besonders Texomon." "Wie meinst du das?", fragte Neru perplex und presste Evoli instinktiv an sich, "Sie ist ein ganz normales Evoli..." "Naja", erwiderte Mando schulterzuckend, drückte Reptain auf den Sitz neben sich und ging selbst vor Evoli in die Hocke, um sie genauer zu mustern, "Im Prinzip schon, wenn man mal von den weißen Pfoten absieht, aber Farbfehler passieren häufig, vor allem bei Pokemon mit so anpassungsfähiger DNA... Ihre Mähne ist kräftiger und sie ist insgesamt recht groß für ein Evoli, aber das ist es nicht, was ich meinte. Ich hab einfach gesehen, wie sie dich ansieht, wie aufmerksam sie ist..." "Zugegeben...", murmelte Neru mit gesenktem Blick, offenbar hatte er Evolis Farbfehler selbst noch gar nicht bemerkt. Eine peinliche Stille entstand, nachdem Mando sich wieder auf seinen Platz gesetzt hatte. Nerina begann in Gedanken bereits, eine panische Email an Professor Eich zu formulieren: 'Wir sind aufgeflogen! Hilfe! Gringo wird bestimmt nach uns suchen lassen!' Doch dann zuckte Mando nur mit den Schultern. "Aber ich wollte euch gar nicht schon wieder nerven", sagte er wohl selbst etwas verlegen, "Eigentlich wollte ich nur fragen, ob ihr noch 'nen Pokeriegel für Reptain übrig hättet. Dummerweise hatte ich in Azuria keine Zeit mehr, zum Pokemon-Center zu gehen..." "Dass Texomon und Evoli... naja... sprechen können", begann Nerina zögernd, während sie dem hungrigen Reptain ihren kompletten Vorrat an Pokeriegeln in den Rachen stopfte, "Das sollte eigentlich keiner wissen... und, dass Texomons in Eden nicht bekannt sind, lieber auch nicht. Unser Vater ist wirklich Pokemonforscher und die zwei sind seine Züchtung, aber er möchte nicht, dass das bekannt wird, weil..." "weil er sonst Züchtergebühren zahlen müsste", sprang Neru rasch ein, "Und die bezahlt er nur für Endivies, Kanimarnis und Schiggies. Die beiden waren... 'n Unfall." Mandos Augen blitzten amüsiert auf. "Keine Sorge", sagte er ehrlich überrascht ob ihrer Sorge, "Euer Geheimnis ist bei mir sicher. Ich fand die zwei lediglich interessant... Hee, wollen wir nicht zusammen in das Anemonia-Hafen-Center gehen? Ich hab gehört, dass sie da für Trainer kostenlose Zimmer haben und sogar richtige Computer mit Internet!" >>>Neru<<< "Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?", fauchte Neru Evoli an, "Wir sind komplett aufgeflogen. Das wir noch nicht von Gringos Leuten verhaftet wurden, ist ein wahrer Glücksgriff!" Bekümmert machte sich Evoli ganz klein. "Mir tut das ganze schrecklich leid!", murmelte Texomon, der schon ganz klein war und versuchte, sich wieder mit Nerina zu versöhnen, doch die war ebenso genervt wie Neru und warf nur ein Kissen nach ihm. Texomon fing es ohne Probleme auf, doch warf er es nicht zurück. Zu arg hatte die beiden Iramon die Kritik getroffen, die ihre Trainer an ihnen übten. "Ich werd mir mehr Mühe geben!", versprach Evoli, "Kein Wort mehr, wenn wir nicht alleine sind! Versprochen!" "Ach, versprich nicht Sachen, die du nicht halten kannst", murrte Neru und ließ sich ein wenig besänftigt aufs Bett fallen. Er ließ zu, dass sich Evoli auf seinem Knie zusammenrollte. "Aber keine Fangenspiele mehr in Einkaufszentren, okay?" Dabei sah er sowohl Evoli als auch Texomon an. "Nie wieder!", schworen die beiden und Neru seufzte zufrieden, wohl wissend, dass er gerade dem Meer das Versprechen abgenommen hatte, keine Wellen mehr zu schlagen. "Also gut, wir haben noch eine Stunde Zeit, bis Mando zurück kommt. Wir können nicht mit Eich telefonieren oder einen Plan machen, wenn diese Klette in der Nähe ist." "Also, ich finde ihn nett", widersprach Nerina und Neru funkelte sie an, weil sie ihn unterbrochen hatte. "Ja, er ist ja ganz nett", gab er zu und wandte sich wieder dem Pokedex zu. Nerina knuffte Evoli in den Bauch. "Guck mal, wie er sich aufbläst, wie ein Feldwebel." Neru wurde rot im Gesicht und gab Nerina den Pokedex. "Da, Miss Superschlau, wenn du glaubst, du kannst das besser als ich." Texomon und Evoli sahen belustigt vom einen zum andern. "Guck mal, die streiten auch!", gluckste Texomon. "Statt uns zu freuen, sollten wir lieber schauen, dass sie sich wieder vertragen", meinte Evoli. Doch Nerina schüttelte nur lachend den Kopf. "Das ist in Ordnung, der braucht das manchmal." "Braucht er gar nicht", murrte Neru und streckte sich der Länge lang auf dem Bett aus, "Also, rufst du nun Eich an oder nicht?" "Bin dir schon einen Schritt voraus", sagte Nerina, während das Tuten des Telefons aus dem Pokedex drang. Nach dem sie Eich begrüßt hatten, zeigte sich dieser nicht sonderlich beunruhigt bei dem Gedanken, dass sie aufgeflogen sein könnten. "Man kann nicht verhindern, dass man die beiden erkennt", meinte er, "Aber ihr müsst versuchen, diesen Zeitpunkt so lange wie möglich hinauszuzögern. Man wird euch suchen, wenn erstmal bekannt ist, dass ihr keine normalen Pokemon dabei habt. Dafür haben wir auch, wenn sie auch nicht unbedingt gut sind, Nachrichten für euch. Wir wissen nun mit Gewissheit, dass sich der Feuermeister in der Schwarzen Zitadelle aufhält." "Was ist das eigentlich für ein Ort?", fragte Nerina. "Ich glaube, ein gutes Gefängnis", meinte Neru, "Es soll auf den Strudelinseln liegen." "Richtig", sagte Eich, "Das unterseeische Gefängnis der Strudelinseln. Komplett ausbruchsicher, wenn du keine Wasserpokemon hast. Aber auch mit Wasserpokemon sollte es schwierig werden, da unten einzudringen." "Wie sollen wir das anstellen?", fragte Nerina. "Ich kann euch leider keinen Rat geben. Ihr müsst alleine klarkommen", meinte Eich, "Ich hab im Internet schon versucht, ein paar Pläne zu bekommen, doch das ist schwieriger als gedacht. Den Bauplan eines Gefängnisses bekommt man nicht bei der Google Bilder suche, aber ich und meine Spezialisten bleiben dran. Vielleicht könnt ihr ja in den Bibliotheken von Anemonia City was herausfinden. Wenn wir irgendetwas herausfinden, werden wir es euch wissen lassen." "Na, das ist ja überragend viel Neues", meinte Neru, als sie das Gespräch beendet hatten, "Das Gefängnis liegt unterwasser. Wie es aussieht, wissen wir nicht, wie wir runterkommen, auch nicht und, wo dieser Feuermeister ist, erst recht nicht." "Naja, wir haben immerhin Wasserpokemon. Die können runter, aber unterwasser atmen kann ich leider auch nicht", erwiderte Nerina hoffnungsvoll. Die beiden Iramon sahen sich ratlos an. "Vielleicht sollten wir wirklich erstmal in diese Bibliothek gehen. Das muss ein toller Ort sein", meinte Texomon begeistert. "Boah, das ist aber groß!", sagte Evoli und fing sich damit einen bitterbösen Blick von Neru ein. "Komm schon, Evoli, auch du kannst die Klappe halten!", sprang Nerina schnell dazwischen. Neru brummte nur etwas Unverständliches. Er war immer noch ein wenig grantig, während Nerina anfing, den beiden Iramon von der Bibliothek zu erzählen. "In einer Bibliothek werden Bücher und alte Pläne und Dokumentationen aufbewahrt", erklärte sie, "Man kann sie dort dann einsehen und in ihr lernen." "Das klingt super spannend. Vielleicht finden wir ja hier etwas heraus." Texomon tänzelte begeistert einmal um die Gruppe herum, während Evoli ihm einen Skeptischen Blick zuwarf. "Und wie sollen wir das anstellen?" fragte sie schnippisch. "Du kannst noch nicht mal lesen und ich komm nicht an die Regale." "Was?", Neru hielt inne und vergaß völlig, böse darüber zu sein, dass die beiden wieder in der Öffentlichkeit sprachen. "Neru", zischte ihn Nerina an, "Die Leute gucken schon." "Jaja!" Neru ging hastig weiter, die Iramon und seine Schwester auf den Fersen. "Wow! Das sind aber viele Bücher!", murmelte Texomon und hielt sich dann selbst die Schnauze zu, ehe Neru ihm wieder einen bösen Blick zuwerfen konnte. Neru rollte nur mit den Augen. Allmählich bekam er das Gefühl, dass die Iramon sich absichtlich verplapperten. Das war natürlich Unsinn, aber dennoch konnte er sich nicht gegen den Gedanken wehren, wenn man die Häufigkeit bedachte, mit der die beiden redeten. Andererseits musste man natürlich auch bedenken, wie aufregend diese Stadt für die beiden sein musste. Sie hatten immerhin bis jetzt nur das Labor, die Pokemon-Center und Arena und ansonsten nur die schöne und weite Natur gesehen. Woher sollten sie also wissen, wie man sich in einer Stadt verhielt. Und wo sollten sie gelernt haben, leise zu sein, wenn es doch so viele spannende Dinge zu entdecken gab. Neru hoffte lediglich, dass die Iramon ruhiger werden würden, wenn sie erstmal vertrauter mit der Stadt sein würden. Das Beste würde also sein, ihnen möglichst viele Fragen schon zu beantworten, bevor sie sie stellten. Sogleich begann Neru, einen Vortrag über die Bibliothek, über die unterschiedlichen Kategorien, in denen man suchen konnte, dass man auch Computer zu Hilfe nehmen konnte, um das richtige Buch zu finden und so weiter. Die Iramon lauschten gebannt seinen Ausführungen, bis sie selbst bei einem solchen Computer angekommen waren und Neru und Nerina mit Stirnrunzeln einen Suchbegriff nach dem anderen ausprobierten und sich hin und wieder auf einem der Bibliothekszettel Notizen machten. Eine Zeile, die der Computer ihnen ausgespuckt hatte, schien den beiden besonders zu gefallen, denn Neru zeigte darauf und Nerina warf erst einen Blick auf die Iramon und dann nickte sie. Kurz darauf waren die beiden Iramon mit Kopfhörern ausgestattet und vor einen abgelegenen Computerbildschirm gesetzt worden, um sich eine Dokumentation über die Strudelinseln und ihre Rätsel anzusehen, während Nerina und Neru die Pläne der Inseln und ihrer größeren Bauwerke im Speziellen durchgingen. "Hast du schon was?", fragte Neru seine Schwester über den Tisch hinweg. Sie waren jetzt seit bestimmt schon zwei Stunden am Suchen und hatten noch immer nichts gefunden. Die Iramon waren schon bei ihrer dritten Dokumentation angekommen, in der es viel mehr um Wassersport, als um die Strudelinseln ging, obwohl der Titel etwas anderes verhießen hatte. Neru ließ den Blick über den Tisch wandern. Dutzende von Büchern und Pergamentrollen, große Atlanten und Karten waren auf ihm ausgebreitet und noch in keinem der Bücher hatten sie auch nur eine Andeutung auf das Gefängnis, geschweige denn eine genaue Beschreibung nebst Bauplan gefunden. Nerina blätterte mit roten Augen und gelangweilter Miene ein Buch über die größten Bauwerke des 20. Jahrhunderts durch. "Nein, leider noch nichts. Aber wenn du was über die Freiheitsstatue wissen willst, oder über die London Bridge, oder hier wie wäre es mit der Brücke von San Francisco?" Neru lachte und machte sich selbst auch wieder an die Arbeit. Er hatte gerade einen Bericht in einer Zeitung über die Eindämmung des Fährverkehrs wegen des Baus des Gefängnisses, da stieß er auf den ersten Hinweis. Es hieß dort, dass der Fährverkehr wegen des Baus eingedämmt werden musste, weil sich genau unter der Hafenausfahrt der Strudelinseln das Gefängnis befand. Gerade wollte Neru Nerina über seine Entdeckung aufklären, als auch sie ausrief: "Ich hab was. Hier schau mal", strahlte sie ihn an und hielt ihm einen dicken Wälzer über Architektur unter die Nase. 'Unterseeische Gebäude Einer der größten Menschheitsträume beschäftigt sich damit, wie es möglich ist, ein Gebäude komplett unter Wasser zu bauen. Schon viele Architekten haben sich mit dieser Problemstellung auseinandergesetzt und viele Bauwerke sind schon in katastrophalen Unfällen zerstört worden. Eines der Hauptprobleme bei der Errichtung von Gebäuden unter Wasser liegt, nicht wie man annehmen sollte in den unterschiedlichen Druckverhältnissen und den daraus resultierenden mathematischen und statischen Problemen, sondern viel mehr, wie man ohne Taucherausrüstung in ein solches Gebäude kommen soll. Auch die Sauerstoffversorgung ist ein nicht eben leicht zu lösendes Problem, an dessen Lösung Spezialisten auf der ganzen Welt forschen. Im Augenblick scheint ein Konzept eines schlauchartigen Fahrstuhls, der sich so dem Wellen- und Seegang, sowie den Gezeiten anpassen kann, am sinnvollsten, wenn auch ein unterseeisches Gebäude nie komplett autonom von der Oberfläche agieren kann, da es immernoch auf eine Sauerstoffversorgung angewiesen ist. Führende Forscher gehen davon aus, dass das Überleben auf dem Meeresgrund für die Menschheit in Zukunft...' "Das ist echt interessant", staunte Neru, "Kannst du davon schnell eine kleine Abschrift machen? Ich hab hier auch eine Kleinigkeit gefunden." und er zeigte Nerina den Artikel, den er in der Zeitung von vor zehn Jahren gefunden hatte. "Kein Wunder, dass ich nichts über das Gebäude gefunden habe", murrte sie, "Ich hab in der falschen Epoche gesucht." "Mach dir nichts draus", versuchte Neru, sie zu trösten, während er die ganzen Bücher auf einen der Bibliothekswagen lud und die Iramon von den Kopfhörern erlöste. Es hatte wirklich perfekt geklappt. Während sie nur zuhören konnten, konnten sie sich nicht unterhalten und abgelenkt waren sie auch noch gewesen. So hatten sie wenigstens, bis auf ein paar Bücher, die Texomon mit seinem Schwanz heruntergewischt hatte, keinen Schaden in der Bibliothek angerichtet. "Mir brummt der Schädel", meinte Nerina, die nach dem ganzen Lesen wirklich ziemlich fertig aussah. "Ich hab Hunger", beschwerte sich Texomon. Neru war bester Laune. Sie hatten immerhin etwas herausgefunden. "Wir treffen uns in einer Viertelstunde unten am Strand. Ich geb eine Runde Fisch mit Pommes aus. Dann können wir in Ruhe besprechen, was wir herausgefunden haben", meinte Neru mit einem Blick auf die schon tiefstehende Sonne, "Ein Abendessen dürfte uns allen nicht schaden. Kommst du Evoli?" Begeistert sprang Evoli ihm auf den Arm und kletterte auf seine Schulter, während er schon in Richtung des Fischladens davon joggte. >>>Nerina<<< "Diese Filme waren wirklich interessant!", erzählte Texomon überschäumend vor Energie, während er neben Nerina her die breite Hafenstraße entlangtrottete, "Wusstest du, dass es insgesamt 64 Strudelinseln gibt, von denen aber nur sieben wirklich bewohnt sind? Also, von Menschen, nehme ich an, denn auf den anderen Inseln wimmelte es von Taubsi, Habitak und allen möglichen Wasserpokemon..." "Ja, das ist spannend", entgegnete Nerina, ohne wirklich zuzuhören. Ihr Kopf schwirrte noch von den vielen Fakten und Bauplänen in dem Architekturbuch, die so viel und gleichzeitig gar nichts aussagten. Alles in allem ließ sich sagen, dass die sogenannte Zitadelle wohl ein einziger, kompakter Würfel aus Panzerstahl war, dessen einziger Eingang der bewegliche Fahrstuhlschacht darstellte. Natürlich gab es noch einige Luftschächte, doch auch die waren zumeist gut gesichert. Die Aufgabe, ungesehen in diesen Klotz hineinzukommen, erschien ihr nahezu unmöglich zu sein. Müde ließ sie ihren Blick über den Quai und die kleinen Sportboote gleiten, die munter vor ihnen im Hafenbecken schaukelten. Weiter hinten entdeckte sie einen großen, leeren Anlegesteg. "Ob da drüben wohl die Fähre auf die Inseln ablegt?", fragte sie gedankenverloren. Texomon sah sie ein wenig beleidigt an, brummte dann aber ein "wahrscheinlich", während er ihr missmutig durch die Menschenmenge auf dem Quai folgte. Der Eingangsbereich des Steigers war durch eine Eisenkette abgesperrt, an einem der Pfosten, die sie hielten, fand Nerina ein großes, blaues Schild. "Anlegestelle der 'Blauer Stern', Fahrten nach Safira: Zwischen 9 und 17 Uhr alle 30 Minuten, von 17 bis 21 Uhr alle 60 Minuten. Ticketverkauf im Hafenkiosk. Hinweis: Des Einführen von Pokemon sämtlicher Art, ob frei oder in ihren Bällen ist untersagt. Strafen bis zu 10000 Dollar." "Na, was ist das denn für ein Unfug!", fauchte Texomon aufgebracht, "Warum sind Pokemon da drüben verboten! Das ist ungerecht!" "Vielleicht, damit die Inseln für Trainer uninteressant werden?", mutmaßte Nerina schulternzuckend, "Ich meine, ohne deine eigenen Pokemon kannst du immerhin auch keine dort fangen!" "Oder ist es wegen dieser Zitadelle?" Texomon legte nachdenklich die Stirn in Falten, was bei ihm reichlich merkwürdig aussah, "Vielleicht fürchten sie sich ja vor Wasserpokemon!" "Eher unwahrscheinlich", entgegnete Nerina seufzend, "Ich meine, auf den Strudelinseln leben so viele wilde Jurob, Lahmus, Flegmon, Seemon und Karpador. Wie sollen sie verhindern, dass die dort in die Nähe kommen." "Wilde Pokemon sind ja nicht weiter gefährlich", widersprach Texomon eifrig, "Ist nur die Frage, wie sie verhindern wollen, dass Trainer einfach auf ihren zahmen Pokemon dort hinüberreiten..." "Gar nicht, solange ihr nicht nach Safira wollt", sagte jemand plötzlich und wieder trat Mando einfach so aus den Schatten der Hafenmauer, "Der Hafen dort wird mit Unterwasserkameras überwacht und sie haben eine ganze Herde an Schillok dort, die jedes Pokemon sofort vertreiben." Nerina warf ihm einen finsteren Blick zu. "Sag mal, schleichst du uns eigentlich nach? Ich hab seltenst Leute so häufig zufällig getroffen!" Mando druckste ein wenig herum. "Naja, nein, also nicht so richtig. Nur hatten wir uns doch um fünf im Hafen-Center verabredet und als ihr um halb sechs immer noch nicht da wart, habe ich gedacht, ich schau mal hier unten nach ... und dann hab ich dich und Texomon nur vorhin durch den Hafen laufen sehen." Erschrocken sah Nerina zur Uhr. "Oh verdammt! Du hast ja recht! Oh Gott, das müssen wir total vergessen haben!" "Ist ja nicht schlimm", sagte Mando lächelnd, während sie zu dritt die Promenade entlang in Richtung Strand schlenderten, "Ihr wollt also auf die Strudelinseln?" Nerina nickte. "Naja, wir wollten sie uns mal ansehen, wo wir schonmal in der Ecke sind. Außerdem wussten wir nicht, dass man wohl keine Wasserpokemon mehr dort fangen kann." Mando warf ihr einen fragenden Blick zu. "Darfst du schon, wie gesagt", erwiderte er, "Bloß eben nicht auf der Hauptinsel selber. Du musst also entweder schon Wasserpokemon haben, um dorthin zu kommen oder eins von den Wassertaxis bezahlen. Nur Safira ist totales Sperrgebiet. Ich hab vorhin im Kiosk gefragt, weil ich mir ja zu gerne ein Sterndu oder wenigstens Krabby gefangen hätte." Texomon hielt sich stumm an Nerinas Seite, bis sie den vereinbarten Punkt am Strand erreicht hatten, wo Neru schon ungeduldig auf sie wartete. Als er Mando sah, verengten sich seine Augen zu Schlitzen, doch rasch hatte er sich wieder unter Kontrolle und während die beiden Jungen rasch in eine Fachsimpelei über die unterschiedliche Programmierung ihrer Pokedexe verfielen, zupfte Texomon Nerina am Ärmel. 'Komm mal mit', hörte sie das zischelnde Flüstern in ihren Gedanken und mit einer gemurmelten Entschuldigung stand sie auf und folgte ihm hinab an die Brandung, wo das Rauschen der Wellen ihre Worte überlagerte. "In der Doku haben sie gesagt, dass es Höhlen geben soll", sagte er hastig, "Höhlen im Gestein der Inseln selbst, mächtige Labyrinthe und sogar unterirdische Flüsse. Vielleicht gibt es die ja auch auf Safira, dann könnten wir uns sozusagen unterirdisch an diesen Hafen anschleichen. Ich denke, wenn wir erstmal dort sind und uns ein Bild der Lage machen können, ist es leichter, einen Schlachtplan zu machen." "Meinst du nicht, wir könnten einfach auf eine der anderen Inseln gehen?", fragte Nerina, nicht ganz sicher, worauf er hinauswollte, doch Texomon schüttelte den Kopf. "Safira liegt ziemlich abgeschieden von den anderen Gruppen. Wir würden jeden Tag mehr als zehn Kilometer schwimmen müssen und das auch noch ungesehen - nein, das Risiko gehen wir lieber nur einmal ein!" "Dann meinst du, wir könnten nachts rüberschwimmen, uns eine geeignete Höhle suchen und dort unser Lager aufschlagen?" Texomon nickte. "Ja genau", sagte er begeistert, "Ich dachte, ich könnte heute Nacht mal rüberschwimmen - im weiten Bogen um Safira herum, natürlich", warf er rasch ein, als Nerina ihm einen ermahnenden Blick zuwarf, "Vielleicht kann ich eins der wilden Jurob oder Karpador fragen, ob die eine geeignete Höhle kennen. Immerhin haben sie früher mal auf Safira gelebt. Dann könnte ich euch morgen Abend führen - und wenn's nicht klappt, können die Wasserpokemon auch nichts verraten. Was meinst du?" "Klingt vernünftig...", gab Nerina gezwungenermaßen zu, griff aber gleichzeitig nach Texomons Hand, "Aber was, wenn dich jemand erwischt? Wenn dir etwas passiert? Vielleicht sollte ich lieber mitgehen!" "Nein nein", erwiderte Texomon tapfer, "Wenn ich alleine schwimme, kann ich tief tauchen und keiner wird mich sehen! Keine Angst, Nerina! Ich suche keinen Streit und werde mich von allem fernhalten, was Ärger macht." "Na, ich weiß nicht", entgegnete Nerina, noch nicht sonderlich überzeugt, "So, wie du gestern im Bahnhof draufwarst..." Texomon zuckte zurück, als habe sie ihm in den Bauch getreten. "Das tut mir schrecklich leid", sagte er kleinlaut, "Aber diesmal werd ich es besser machen! Versprochen, Nerina! Vertrau mir! Ich werde nicht kämpfen und niemanden ärgern und auch kein Wort sagen, wenn ich jemanden sehe!" "Wie willst du sie dann befragen?" Texomon boxte ihr ärgerlich eine Faust in die Seite. "Du weißt doch, wie ich das meine!", brummte er, "Nur mit Wasserpokemon, wenn ganz bestimmt keine Menschen da sind! Gibst du mir die Kraft zur Evotation?" Nerina seufzte tief, dann legte sie zwei Finger an den Stein, genau, wie Dew es ihr erklärt hatte und konzentrierte sich auf das feine Pochen, dass durch ihre Fingerspitzen prickelte. Sie fühlte die Schwingungen, fühlte sie, wie die Wellen des Wassers. Ja, sie sah sie vor sich, große, grüne Berge aus gläsernem Wasser, wie sie sich auftürmten und wieder verebbten, auftürmten... und wie ein Sturm schob Nerinas Willen die Brecher aufeinander zu, vereinigte sie zu einer gigantischen Flutwelle... Als sie die Augen wieder öffnete, lag Seedraking ruhig vor ihr im knietiefen Wasser, seine meerblauen Augen glitzerten geheimnisvoll im Licht des aufgehenden Mondes. "Danke, Nerina", sagte das Drachenpokemon mit seiner mächtigen Stimme, "Ich verspreche dir, dass ich vorsichtig sein und schnell und tief schwimmen werde." "Wann bist du jeder zurück?", fragte Nerina ängstlich, lief zu ihm und presste die Wange an seine kühlen, glatten Schuppen. Ein mächtiges Schnurren durchlief Seedrakings gewaltigen Körper und es wand sich beschützend um sie. "Wenn der Mond versinkt", sagte er dann, "Wirst du auf mich warten?" "Natürlich - und bitte, pass auf dich auf!" "Wo hast du Texomon gelassen?", fragte Neru verblüfft, als Nerina mit traurig hängenden Schultern über die Düne zu ihm und Mando zurückgestapft kam. Sie zuckte die Schultern. "Er wollte noch eine Runde schwimmen gehen", erwiderte sie ausweichend, "Ich glaube, er hatte gestern und heute nicht genug Bewegung." "Frechheit, dass er das einfach allein durchzieht, ohne mir bescheid zu sagen!", beschwerte sich Evoli erbost, als sie wenig später wieder unter sich in ihrem Zimmer hockten und tigerte ruhelos zwischen dem Stockbett und dem Fenster auf und ab, "Ich meine, wir hätten doch zusammen rausschwimmen können! Warum muss er sich eigentlich dauernd eine Extrawurst braten?" "Vielleicht, weil du Vegetarier bist?", fragte Nerina bissig. Texomons Ausflug machte ihr mehr Sorge, als sie zugeben mochte. Was, wenn ihm etwas zustieß? Wenn jemand ihn fangen wollte oder er sich doch verplapperte? "Nerina!", rief Neru scharf und seine Schwester zuckte zurück. "Tut mir leid", nuschelte sie seufzend, "Ich finde die Idee durchaus vernünftig und auch, dass du bei uns geblieben bist, Evoli. Du könntest da draußen vermutlich kaum viel mehr ausrichten als Seedraking und so kannst du immerhin auf uns aufpassen, wenn irgendwas ist. Trotzdem mach' ich mir sorgen", fügte sie noch leise hinzu, während Evoli sich schon stolz in die Brust warf und gleich zwei Doppelgänger erzeugte, die in akkurater Geistermanier hinter ihr herschritten. Neru nickte seufzend. "Er ist sehr selbstständig, dein Drache", sagte er leise, "Und der Plan ist durchaus nicht übel. Wenn wir in einer dieser Höhlen unser Lager aufschlagen, kriegen wir sicher mehr heraus, als wenn wir nur hier herumsitzen und uns von dieser Klette nerven lassen. Wo hat der dich eigentlich vorhin schon wieder aufgegabelt?" "Am Fährensteiger", erzählte Nerina hilflos, "Ich finde ihn echt okay, aber er scheint ziemlich verzweifelt nach Anschluss zu suchen. Wenn wir einfach eine normale Tour machen würden..." "Machen wir aber nicht", schnappte Neru, "Wir haben einen höchst gefährlichen und illegalen Streich vor und da braucht der uns nicht auf die Finger gucken. Ich finde sowieso, wir sollten so schnell wie möglich verschwinden. Komm, schreiben wir doch mal alles auf, was wir für eine Woche Belagerung so brauchen könnten! Bis Texomon sich ausschläft und du auf ihn aufpasst, gehen Evoli und ich los und kaufen das Zeug. Dann versuchen wir unser Glück nochmal in der Bibliothek und sobald es morgen dunkel ist, soll Seedraking uns rübertragen." "Ich kann euch auch rübertragen!", protestierte Evoli gekränkt, doch Neru schüttelte heftig den Kopf. "Du bist klein und beweglich genug, im Umkreis nach Gefahr Ausschau zu halten und uns zu warnen, falls sich was nähert", bestimmte er, "Das wird eine ziemlich heikle Sache morgen und wenn ich es mir recht überlege, haben wir wohl nur diesen einen Versuch..." >>>Neru<<< "Was? Ist es schon Aufstehenszeit?", nuschelte Neru und Evoli rollte sich auf seiner Brust zu einem undurchdringlichen Fellknäul zusammen, in dem man nur mit Mühe die Arme und Beine zwischen den braunen Haaren erkennen konnte, während ihr Kopf komplett unter dem buschigen Schwanz verschwand. Nerina und Texomon standen schon fast angezogen vor ihnen. "Wollt ihr den ganzen Tag verschlafen, ihr Schnarchnasen? Ich dachte schon, du hättest dich gebessert!", tadelte Nerina ihren Bruder, der mühsam in das noch junge Licht des Tages linste. Es handelte sich dabei um die Deckenbeleuchtung. Er bedachte sie mit einem verwirrten Blick, bis sich die Erkenntnis langsam in sein noch viel zu müdes Gehirn schlich. Er und Evoli hatten die morgendlichen Trainings bis auf unbestimmte Zeit ausgesetzt und genossen es nun beide, morgens lang auszuschlafen. So hatten sie auch an diesem Morgen den Wecker geflissentlich überhört und einfach weitergedöst, während Texomon und Nerina voller Tatendrang aus dem Bett gehüpft waren und seitdem mit kleinen Gemeinheiten wie Decke wegziehen oder anstupsen versuchten, die beiden wach zu bekommen. "Ich hab großartige Neuigkeiten!", verkündete Texomon in seiner üblichen leisen und zurückhaltenden Art, sodass Neru glaubte, selbst draußen auf der Straße müssten seine Worte zu vernehmen sein. Doch das brachte Leben in die beiden Schlafmützen und mit einem Ruck setzte sich Neru auf, nun überhaupt nicht mehr schlaftrunken, während Evoli den Schwanz von ihrem Gesicht nahm und Texomon neugierig musterte. "Dann hast du eine Höhle gefunden?", fragte sie. "Und ob!", meinte Texomon begeistert, "Sie ist einfach perfekt. Man muss etwa drei Meter tief tauchen, dann kommt man an einen kleinen Eingang. Die Höhle im Inneren ist riesig und komplett mit Sand gefüllt. Wenn man den Gerüchten der Lahmus trauen darf, gibt es in ihrem Inneren sogar einen Zugang zur Oberfläche der Insel." Texomon war sichtlich aufgeregt und fing wieder an, im Raum auf und ab zu tänzeln, während Nerina nicht minder stolz ihr Iramon musterte. "Und ich hab mich nicht erwischen lassen und bin ganz unauffällig gewesen. Es ist ganz einfach, wenn wir um die Insel herumschwimmen, können uns die Leute vom Gefängnis nicht mal sehen und auch die Schillok nicht." Neru ließ versonnen den Blick durch den Raum gleiten. Die Tat begann, sich zu entwickeln. Sein Herz begann, heftig zu schlagen und schlug beim Anblick der großen Wanduhr noch heftiger. "Hey! Was ist das denn?", fragte er Nerina, "Es ist erst drei Uhr morgens?" "Ja!" Texomon war immernoch dabei, durch den Raum zu tänzeln. "Je eher wir aufbrechen, desto geringer sind die Chancen, entdeckt zu werden." "Wann bist du eigentlich zurückgekommen?", fragte Neru. "So etwa vor zwei Stunden", antwortete Nerina, "Wir haben auch noch mal kurz geschlafen und dachten, es wäre vielleicht am besten, wenn wir versuchen, noch in dieser Nacht rüber zu kommen. Am Tag könnte es schwieriger werden, unentdeckt in die Nähe der Insel zu kommen." Neru seufzte ergeben. Was die beiden da sagten klang logisch. "Komm, Evoli", meinte er nur ergeben und stupste das kleine Pokemon an, das wieder eingeschlafen war, "Diesen beiden Abenteurern ist nichts heilig, da müssen wir halt doch zu dieser unchristlichen Stunde aufstehen." "Was ist christlich?", fragte Evoli verpeilt, doch Neru antwortete nicht, sondern zog sich stattdessen an. Eine halbe Stunde später saßen sie alle auf Seedrakings Rücken. Evoli hatte sich ebenfalls zu Aquana entwickelt und paddelte nun vergnügt um sie herum. Nachdem Evoli schon im Zug so arg aufgefallen war, hatte Neru sich die Bilder im Pokedex von Aquana genauer angesehen und er konnte nur hoffen, dass Mando sie so schnell nicht zu Gesicht bekommen würde, denn Aquana war nur noch sehr schwer als Aquana zu identifizieren. Das einzige, was noch stimmte, war die Körperform und die Farbe, doch nahezu alles andere hatte sich doch sehr verändert. Eine Halskrause hatte dieses Aquana nicht, auch das Gesicht war noch eher an Evoli angelehnt, als an das fischähnliche Gesicht von Aquana. Auch an der Körpergröße konnte man meckern und da half es auch nichts, dass man sagen konnte, sie wäre halt noch jung. Aquana war eindeutig zu klein. Es könnte daran liegen, dass Evoli sich im Wasser nicht so arg wohlgefühlt hat, hatte Nerina gemeint und Neru leuchtete diese Theorie durchaus ein. Was, wenn die Iramon sich je nach Vorliebe für das Element mal besser, mal schlechter in ihre Entwicklungsformen fanden? Doch bevor Neru länger darüber nachdenken konnte, schossen sie auch schon auf Seedrakings Rücken über den Ozean. Die Wolken verdeckten den Mond und die Dunkelheit um sie herum war perfekt und nachdem sie die Laternen des Ufers hinter sich gelassen hatten, konnte Neru nicht einmal mehr Nerina erkennen, die doch direkt vor ihm saß und an der er sich festkrallte, um nicht von Seedrakings Rücken zu rutschen. Von Aquana hörte er nur das gelegentliche Plätschern im Wasser neben sich. Völlig lautlos glitten sie über das Wasser. Neru konnte nur über die Fähigkeiten von Texomons Wasserentwicklung staunen. Seedraking war ein so großes Seepferd und doch glitt es völlig lautlos durch das Wasser, als wären die Wellen und der Ozean ein Teil von ihm selbst. Auch legte Texomon ein hohes Maß an Disziplin an den Tag, mehr als Neru es von dem immer albernden Iramon erwartet hätte. Texomon kam nicht einmal vom Kurs ab. Genauso, wie er gesagt hatte, umrundeten sie die Insel, deren Lichter Neru in der Dunkelheit gut erkennen konnte. Seedraking schwamm schnell und gleichmäßig, während Aquana ihn umrundete und nach anderen Wasserpokemon, Schiffen oder feindlichen Pokemon Ausschau hielt. Einmal mussten sie sich hinter einem Felsen verstecken, weil sie ein Schiff bemerkten, doch als das Boot sie passierte, handelte es sich dabei nur um einen harmlosen Fischer, der seine Fänge der letzten Nacht nach Hause bringen wollte. "Jetzt wird es unangenehm", flüsterte ihm Nerina zu, "Halt dich gut fest und hol tief Luft." Neru starrte sie für einen Augenblick lang verwirrt an, doch sie konnte seinen Gesichtsausdruck durch die Dunkelheit nicht erkennen und bevor Neru auch nur eines der beiden Dinge getan hatte, klopfte sie Seedraking auf die Flanke und das Wasserpokemon verschwand augenblicklich unter Wasser. Neru hatte das Detail: 'Der Eingang befindet sich drei Meter unter der Wasseroberfläche!' glatt vergessen. Panisch klammerte er sich an Nerinas Rücken fest, während er versuchte, mit dem restlichen Sauerstoff, der ihm geblieben war, auszukommen. Texomon schoss wie ein geölter Blitz durch die Finsternis. Das Wasser war eiskalt und Neru hatte es fast die Luft aus den Lungen gepresst, als er in der kalten Gischt versunken war und das Wasser mit enormem Druck auf seinen Brustkorb drückte. Gerade war er versucht, aus Luftmangel einfach nach oben zu schwimmen, da durchbrach sein Kopf die Wasseroberfläche und gierig sog er die kalte Luft ein. Es roch ein bisschen modrig, doch das war alles, was er in der Dunkelheit ausmachen konnte. Im nächsten Augenblick füllte sich die Höhle für einen kurzen Augenblick mit einem blauen Leuchten und dann erklang das glückliche Seufzen von Texomon neben ihnen im Wasser. Neru dachte, vor Kälte zitternd, daran zurück, dass er jetzt hätte immernoch im Bett liegen können und fragte: "Kann jemand etwas Licht machen?" "Klar, ich!", erwiderte Texomon prompt und schickte einen Feuerstrahl seiner Glut in die Luft. Der Strahl traf einen Haufen Treibholz und entfachte ihn. "Ich hab die Bretter gestern Abend schon zurecht gelegt", erklärte er nach einem fragenden Blick von Nerina. Als sie sich gerade anschickten, aus dem kalten Wasser zu klettern, erschien Aquana hinter ihnen. "Uns ist niemand gefolgt", erklärte sie und wurde im Bruchteil einer Sekunde wieder zu Evoli, nicht aber, ohne vor der Verwandlung ans Ufer geklettert zu sein. "Eine schöne Höhle hast du da gefunden", sagte sie anerkennend zu Texomon, dem das Lob sichtlich Freude bereitete. Neru ließ den Blick schweifen. Die Höhle war in der Tat sehr schön. Eine wunderschöne, große Grotte, in deren einer Ecke der Weg ins Wasser, an der anderen Seite jedoch in einem dunklen Gang mündete. Der gesamte Boden war trocken und sandig und Neru konnte, abgesehen von ein paar kleinen Krabby, nichts erkennen, was in der Höhle lebte. Es gab keinen schleimigen Seetag an den Wänden, wie er erwartet hatte. Die Wände bestanden aus einer Art Granit-Sandstein-Gemisch und reflektierten in Grau- und Rottönen mit kleinen, weißen Elementen dazwischen. Auch Neru schlug Texomon nun anerkennend auf die Schulter. "Diese Höhle ist absolut perfekt. Wenn dieser Gang jetzt noch nach oben führt, könnte es besser gar nicht laufen." Er sagte absichtlich nichts über seine nasse Kleidung oder darüber, dass er immernoch fror. Stattdessen schlug er vor, alles weitere morgen zu besprechen und erstmal richtig auszuschlafen. Nerina und Texomon begannen sofort, schallend zu lachen, ein Lachen, das die ganze Höhle ausfüllte, doch Neru kümmerte sich gar nicht darum, rollte sein Swag auseinander, legte seine nassen Klamotten in der Nähe des Feuers zum trocknen aus und verschwand zusammen mit Evoli, die wundersamerweise trocken und warm war, in seinem Swag. >>>Nerina<<< "Worüber denkst du nach, Nerina?" Neugierig schob Texomon seine lange Echsenschnauze über den Rand des Kochtopfes, in dem Nerina gerade gerührt hatte. Er hing an einer etwas abenteuerlichen Konstruktion aus einigen rostigen Stangen und einer langen Kette, die Nerina während der letzten zwei Stunden in dem weitverzweigten Tunnelsystem unterhalb der Safira-Insel zusammengesucht hatte über einem prasselnden aber wenig wärmenden Feuer aus Seetang und altem Treibholz. Die Zwillinge hatten beschlossen, zunächst nicht beide gemeinsam hinauf in die Stadt zu gehen, sondern stets eine Wache zurückzulassen für den Fall, dass ihr Geheimversteck doch nicht ganz so geheim war, wie angenommen. So hatte Nerina die Morgentour übernommen, war zwei Stunden lang am Hafen herumgestreunert und hatte nebenbei auch noch ihre dringendsten Lebensmittel eingekauft. Als sie gegen Mittag hierher zurückgekehrt war, war Neru dann gestartet und Nerina hatte sich dem Erkunden der Gänge, dem aufwendigen Bohneneintopf und einigen ihrer düsteren Gedanken hingegeben. "Riecht lecker", fuhr Texomon etwas unsicher fort, als sie nicht gleich antwortete, "Was wird das?" "Bohnen", sagte Nerina lächelnd, "Aber sie sind noch nicht fertig..." Kurz schwiegen sie beide und starrten abwechselnd in das blubbernde Suppenwasser oder die tanzenden Flammen des Feuers, dann fragte Texomon: "Glaubst du nicht, dass wir es schaffen?" Nerina zuckte unwillkürlich mit den Schultern. "In ein Hochsicherheitsgefängnis einzubrechen? Nein, nicht wirklich, Texomon, aber darüber hab ich gar nicht nachgedacht... Weißt du noch: Dew hat uns angeboten, Arenaleiter für die Wasserarena zu werden. Aber meine Frist ist bald um und ich weiß nicht, was ich tun soll... Es würde mir Spaß machen, denke ich, soviel mit Wasserpokemon zu arbeiten und über sie zu lernen, aber ich... Vielleicht kriegen wir ja noch einen viel besseren Platz und wenn ich mich jetzt verpflichte..." "Was könnte besser sein, als Wasser?", fragte Texomon aufmunternd, doch Nerina zuckte abwehrend mit den Schultern. "Feuer vielleicht... oder sogar Drache. Immerhin bist du ja ein Drachentyp..." "Hmmm", machte Texomon nachdenklich und starrte in das blubbernde Wasser, dann griff er blitzschnell hinein und fing eine der herumtanzenden Bohnen heraus, die unmittelbar zwischen seinen Kiefern verschwand. "Ja...", nuschelte er kauend, "Ich bin ein Drachentyp, vermutlich, weil sie nicht wussten, ob ich mehr Feuer oder Wasser in mir habe, aber ich glaube trotzdem nicht, dass Drache unser Weg wäre. Überleg mal, da gibt es nur Dragoran und Seedraking zu erforschen und Seedraking bin ich schließlich selbst." Nerina nickte langsam. "Ja, vermutlich hast du recht", erwiderte sie gedehnt und probierte selbst eine Bohne, allerdings unter Zurhilfenahme des Rührlöffels, "Drache hat sehr viel Ruhm und Ehre und so, aber es ist wohl tatsächlich etwas einseitig..." "Ja und ich würde mich dauernd mit Seedraking und Dragoran messen müssen", versetzte Texomon prompt, "Das klingt nicht lustig! Am Ende kommst du noch auf die Idee, dass einer von denen stärker ist! Nein, kein Drache - und auch kein Feuer, denke ich. Ich meine, wir hätten sicher auch das Zeug zu Feuer, aber Feuer ist... Es macht unglaublichen Spaß und man fühlt sich sehr mächtig..." "Und Feuerpokemon sind sehr interessant", pflichtete Nerina bei. Texomon nickte. "Ja, schon. Aber... Ich kann es nicht so richtig erklären, Wasser ist einfach besser! Wasser ist friedlich, Wasser ist Freude und das ganze Meer ist dein Spielplatz, eine vollkommen andere Welt! - und es gibt auch viele spannende Meereswesen! Also ich glaube, ich wäre mit dem Wasser glücklich. Weißt du, als ich vorgestern Nacht als Seedraking hier herausgeschwommen bin, da hab ich mich richtig wohl gefühlt, wie ein Teil des Meeres und es gibt mir seine Ruhe und Geduld. Manchmal finde ich es leichter, Seedraking zu sein, besonders, wenn ich an diese Sache im Einkaufscenter denke. Das war mir wirklich peinlich und es wäre Seedraking bestimmt nicht passiert..." "Nein, wohl eher nicht..." Nerina musste schmunzeln bei der Vorstellung, wie sich ein fünf Meter langer Koloss von einem Seepferd durch die Klamottenabteilung wälzte... "Aber wir müssten uns dann auch auf Eis einlassen, denn es gibt sehr viele Wasser-Eis-Mischtypen - und das magst du doch sicher gar nicht", warf Nerina seufzend ein. Texomon blies eine nachdenkliche Flammenzunge ins Feuer, sodass die Flammen hoch herausschlugen. "Ich sagte doch, ich bin ein Drachentyp, weil sie nicht wussten, ob ich mehr Feuer oder Wasser bin", versetzte er schwanzzuckend, "Ich glaube nicht, dass Eis mir viel ausmacht, solange ich Feuerspeien kann - und wenn, dann zieh ich mir halt 'ne Mütze und 'nen Schal an..." "Danke, das freut mich zu hören", setzte Nerina vorsichtig an und rückte dann mit ihren letzten Bedenken heraus, "Aber da ist noch was, Texomon, wir... ich würde andere Pokemon fangen und trainieren müssen, damit ich eine große Auswahl habe, für jeden Herausforderer etwas angemessenes... und unsere Aufgabe wäre auch, über Wasserpokemon zu lernen, sie zu erforschen und viel Zeit mit ihnen zu verbringen, sie Teil unseres Lebens werden zu lassen, wie du ein Teil meines Lebens geworden bist, denn wie könnten wir über Wesen lernen, die wir nicht in unserer Nähe haben wollen? Wir könnten dann nicht länger immer nur zu zweit sein und du würdest dir so manches teilen müssen..." Sie bemerkte das gefährliche Glitzern in Texomons Augen, als er nachdachte. Einige Male zuckte seine Schwanzspitze und seine Krallenfinger gruben sich knirschend in das Stückchen Treibholz, das er gerade aufgelesen hatte. Doch noch ehe er etwas erwidern konnte, fuhren sie beide erschrocken herum, als Aquana mit einem leisen Plätschern den Kopf aus dem Wasser streckte und prüfend schnupperte. "Hmm! Das richt ja mal interessant", sagte sie, trat geschmeidig aus dem Wasser, streckte sich und rollte sich dann auf dem feinen Sandboden der Höhle zusammen, die Schwanzflosse über dem Gesicht. "Das war ganz schön anstrengend!", verkündete sie, "Und, hast du was rausgefunden, Texomon?" Noch während sie sprach durchfuhr ein leichtes Zittern ihren Körper und sie verwandelte sich in Evoli zurück. Keinen Herzschlag später kam Neru müde und mit hängenden Schultern in die Höhle getreten, einen nagelneuen Laptop unter dem Arm. "Der ist zum planen!", erklärte er gleich verteidigend, als Nerina ihn fragend ansah, "Damit wir Evoli und Texomon die Bilder zeigen können!" Mit einem entschiedenen Tritt beförderte er seinen Rucksack in die Ecke, hockte sich in sein offenes Swag und schaltete den Laptop ein, den er irgendwo an der Oberfläche geladen haben musste. Nerina beachtete ihn nicht weiter. Nachdenklich starrte sie weiter auf ihre köchelnden Bohnen, warf ab und an eine gewürfelte Karotte oder eine handvoll Suppenkräuter hinein. Sie schreckte erst hoch, als sie Texomon sagen hörte: "Der sieht nicht besonders stabil aus! Ich denke, ich könnte ein Loch hineinbrennen!" Verdutzt sah sie über die Schulter. Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass sie Texomon jede Dummheit, inklusive des anbrennens eines Laptops zutraute, pflegte er doch nicht oft, eine solche vorher anzukündigen. Doch dann sah sie, dass er nur mit einem kralligen Finger auf den Schlauchartigen Fahrstuhlschacht der Zitadelle deutete, den sie heute im Hafen fotografiert hatte. Neru schüttelte heftig den Kopf. "Ausgeschlossen!", sagte er streng, "Das ganze Hafenbecken wird von Kameras überwacht! Ich hab ihre Bildübertragungen im Besucherzentrum gesehen, schau! Sie erfassen wirklich alles!" Doch zu Nerinas großem Erstaunen war es diesmal Evoli, die widersprach: "Schau, den kleinen Bereich hier erfassen sie nicht, weil dieses Schiff im Bild hängt!" "Wir können uns nicht auf den Sichtschutz eines Schiffes verlassen, um vier Leute da runter zu mogeln", wetterte Neru, "Und überhaupt, das ist der Fahrstuhlschacht! Glaubt ihr nicht, es würde auffallen, wenn wir uns einfach durch den Haupteingang reinbrennen würden?" "Es wäre aber auch nicht gut, wenn wir in pulverisierter Form ankommen!", protestierte Evoli und Texomon ergänzte: "Wir haben alle Meerespokemon befragt und sie sagen, die Lüftungsschächte, die es gibt, die haben schnelldrehende Räder drinnen, um Wind zu machen." "Ja, sicher..." Neru rieb sich die Schläfen, "Dass ich darauf nicht früher gekommen bin! Sie brauchen Pumpen, um die Luft hinunterzusaugen. Da kommen wir wohl tatsächlich nicht hindurch... Aber wir können auch unmöglich alle durch den Fahrstuhlschacht!" "Aber müssen wir eigentlich alle hinunter?", fragte Nerina plötzlich, während sie die Bohnensuppe endlich vom Feuer nahm und vorsichtig ihren Inhalt auf vier Schälchen verteilte, "Ich meine, im Prinzip müssen wir diesen Blaze doch gar nicht befreien, nur mit ihm reden... und das können wir schließlich alle..." "Genau!", stimmte Texomon begeistert zu, während Neru noch perplex auf seine Bohnen guckte, "Als ich als wildes Seedraking unterwegs war, hat auch keiner Verdacht geschöpft! Wenn unser Evoli runter ginge... Ich meine, sie fällt nicht mal als Iramon auf und keiner würde glauben, dass sie reden kann!" "Halt! Nein! Stopp! Veto!" Aufgeregt stellte Evoli ihre Halskrause, "Ich will da nicht alleine runter! Ich meine, was soll ich diesem Blaze sagen und was, wenn er schwierige Fragen stellt?" "Wir könnten dir ja eine Kamera mitgeben", fiel Neru nachdenklich ein, "Und einen Pokedex, den kannst du Blaze bringen und er könnte mit uns telefonieren!" "Und Texomon macht oben im Hafen so viel Unfug, dass keiner auf das Loch achtet!", schloss Nerina, "Das sollte sich ja schließlich machen lassen!" "Das muss ich mir erst nochmal überlegen!", brummte Evoli, wandte sich ihrer Schale zu und begann, mit immernoch aufgestellter Halskrause, langsam an den Bohnen zu knabbern. Neru nickte rasch. "Ja, das sollten wir uns alle nochmal überlegen und morgen früh drüber sprechen!", warf er ein, "Die Idee klingt toll und verrückt und über sowas sollte man immermal noch 'ne Nacht schlafen!" Sie beendeten ihr Abendessen unter munterem Geplauder über den Tag, wuschen die Schalen im Meerwasser und kletterten in ihre Swags, doch keiner fand so recht Ruhe. Neru spielte an seinem Laptop herum, Evoli streunte ruhelos in der Höhle auf und ab und Texomon war sogar noch einmal schwimmen gegangen, während Nerina nur reglos dalag und an die Decke starrte. Irgendwann holte sie sich den Pokedex aus Nerus Rucksack und begann, die Daten von Schiggys, Lahmus und Quapsels anzuschauen, ihre Bilder und, was man schon über sie wusste. Sie erfuhr, dass Wasserpokemon die artenreichste Pokemongruppe waren, dass man sie allgemein für friedfertig und geduldig hielt, viele jedoch über geheimnisvolle Fähigkeiten verfügten, wie Flegmon, Enton oder Starmie, andere mächtige Waffen besaßen, wie Lampi. Gerade war sie dabei, sich Karpadors rätselhafte Entwicklung zu Garados näher anzusehen, als Texomon klitschnass neben sie trat und sich zu ihrem Missfallen neben dem Swag in den Sand sinken ließ. "Ich hab nochmal drüber nachgedacht, was wir vorhin geredet haben", begann er fest, doch sie sah an seinen zitternden Ohren, dass das Thema ihn immernoch sehr bewegte, "Wenn wir andere Wasserpokemon fangen... Wirst du die dann lieber mögen als mich?" Vor Schreck ließ Nerina den Pokedex fallen. "Aber Texomon", rief sie empört, "Wie kommst du darauf, dass ich irgendein Pokemon lieber mögen könnte als dich?" "Naja..." Texomon druckste ein wenig herum und grub verlegen die Klauen in den Sand, "Manche von ihnen sind sehr groß, stark und weise, andere sind witzig und sehr... anhänglich... und ich ... ich bin ein verkorxtes Glumanda." "Jetzt hör aber auf!" Eilig beugte Nerina sich zu ihm herüber und schlang ungeachtet seiner nassen Haut die Arme um ihn, "Du bist das allerbeste blaue Glumanda, das je jemand verkorxt hat! Nein, auf gar keinen Fall würde ich dich eintauschen." "Na, wenn du dir da ganz, ganz sicher bist und es mir versprichst...", begann Texomon langsam, dann hob er den Blick und sah ihr direkt ins Gesicht, "Wenn ich immer etwas besonderes für dich bleibe ... dann kannst du auch mit anderen Pokemon arbeiten. Schließlich wollen auch die ja stärker werden und sie zu fangen ist, schätze ich, die einzig anerkannte Möglichkeit, sie zu trainieren. Achso - und ich werde Meistertrainer Seedraking sein und jeder, der aufmuckt, den darf ich versenken!" "Natürlich!", rief Nerina, überrascht, dass Texomon in diesem Punkt so weitaus weniger besorgt war wie Evoli, die Neru schon bei einem Blick auf andere Pokemon an die Kehle ging. "Also, von mir aus", fuhr er großzügig fort, "können wir Dews Angebot annehmen, wenn du willst." >>>Neru<<< "Hmmm", brummte Neru und besah sich die Bilder auf seinem Laptop ein weiteres Mal. Hier und da machte er Notizen und Markierungen, während er die Aufzeichnungen durchging, die er sich über die Zitadelle gemacht hatte. Es war schon praktisch, dass er nun alle Fotos und alles, was sie bisher herausgefunden hatten, auf dem Laptop einsehen konnte und langsam begann der Plan, den sie noch so scherzhaft beim Abendessen ausgedacht hatten, in seinem Kopf Form anzunehmen. Evolis Einwand hatte ihn nachdenklich gemacht und er hatte sich wirklich Mühe gegeben, einen anderen Weg zu finden, doch die Idee, die Nerina und Texomon da gekommen war, war einfach zu gut. Evoli betrachtete den Laptop mit verschnupfter Miene und tigerte immernoch in der Höhle auf und ab. Ihr schien es gar nicht zu passen, dass sie unter Umständen alleine auf diese Mission geschickt werden würde. Im Stillen konnte Neru sie verstehen. Andererseits gingen ihm immernoch die Erkenntnisse der Wasserarena nach. Natürlich konnte er Evoli bitten, es zu tun, doch wollte er das? Wollte er wirklich, dass sein Iramon Dinge für ihn tat, die es nicht tun wollte? Nein, das wollte er nicht. Seufzend legte sich Neru seine Hände aufs Gesicht und rieb sich die müden Augen. Es musste eine andere Möglichkeit geben. "Und? Weißt du schon, wie ihr mich da runter bringt?", fragte Evoli in bissigem Tonfall und Neru hob seine Hände wieder vom Gesicht und sah sie offen an. "Ich habe in der Tat eine solche Möglichkeit gefunden", erwiderte er vorsichtig, doch Evolis Fell begann sich schon bei dem Satz vor Ärger zu sträuben. "Ich weiß, was du sagen willst", versuchte Neru hastig, zu erklären, "Aber ich hab wirklich nach anderen Möglichkeiten gesucht." "Warum kann er nicht gehen?", fragte Evoli wenig besänftigt und warf einen Blick in Richtung von Nerinas Schlafsack, "Ich meine, wer weiß, was da unten lauert und er ist viel stärker als ich." "Dafür fällt Texomon viel zu sehr auf. Es gibt ihn nur einmal. Wenn er gesehen wird, können sie die Spur zu uns zurückverfolgen." "Dann soll er sich halt nicht sehen lassen. Ich kann auch im Hafen Tumult machen!", erwiderte sie trotzig und setzte sich auf ihren Hintern. Ihr Fell war immernoch gesträubt. "Du weißt genau wie ich, dass Texomon mit den Wasserpokemon besser fertig wird wie du", meinte Neru, "Ich will nicht, dass du im Kampf mit denen verletzt wirst." "Aber mich unter die Wasseroberfläche inmitten des Ozeans schicken, das willst du?" Neru hob hilflos die Hände. "Nein, das will ich auch nicht. Oh Evoli, die Sache ist schwierig. Wir müssen Blaze kontaktieren und ich hab keine Ahnung, wie wir das machen sollen." Evoli sah ihn durch zusammengekniffene Augen an, als ob sie einen Trick vermuten würde. Doch Neru spielte nicht mit Tricks. Er wusste wirklich nicht mehr weiter. "Wenn du da wirklich absolut nicht runter willst", sagte er, "Dann musst du auch nicht." Evolis Fell legte sich langsam wieder an und der ärgerliche Ausdruck in ihren Augen verschwand. Langsam erhob sie sich und kam zu ihm herüber. "Was denkst du eigentlich wirklich über die Sache?", fragte sie, "Über den Einbruch?" "Nun, die Sache ist im höchsten Maße illegal", sagte Neru, "Ich meine, wir haben früher in der Schule schon nicht viel auf Regeln gegeben, aber diesmal handelt es sich um einen Einbruch im Gefängnis, nicht um ein Lauschen an einer Zimmertür. Irgendwie gefällt mir die ganze Sache nicht besonders." Evoli sah ihn mit überraschter Miene an. "Wie jetzt? Du willst das eigentlich auch nicht tun?" Neru sah sie an, sagte jedoch nichts. "Das spielt keine Rolle", meinte er dann nur, "Um Gringo aufzuhalten, muss es sein. Wenn ich könnte, würde ich selber runtergehen. Aber es gibt in diesem ganzen verhexten Bau keinen Durchlass, der groß genug für mich wäre. Ich habe alles, was wir bisher fotografiert haben, durchsucht. Hast du unter Wasser noch etwas gesehen?", fragte er Evoli. "Ich war noch nicht so nahe dran", gab Evoli zu und ließ sich neben ihn sinken, den Blick auf die Bilder auf dem Laptop gerichtet. "Wir bräuchten auch von unten noch ein paar Aufnahmen. Was stört dich eigentlich wirklich, wenn du da alleine runtergehen würdest?", fragte Neru langsam und sehr vorsichtig. Evolis Schwanz machte schon wieder Anstalten, sich zu sträuben, doch sie blieb ruhig. "Nun ja, eben das. Das alleine sein. Das Gefühl, dass niemand bei mir wäre, wenn etwas passieren würde." Neru nickte zustimmend. "Und außerdem weiß niemand wirklich, was mich da unten erwarten würde. Mit wem würde ich wohl alles kämpfen müssen? Würde ich wieder zurück finden? Müsste ich vielleicht bis in alle Ewigkeit dort unten bleiben?" Neru verstand sie und nahm sie fest in den Arm. "Egal, was passiert", meinte er, "Wir lassen dich hier nicht zurück." Evoli wand den Schwanz so weit es ging um ihn herum. "Können wir denn nicht noch Fotos von unten machen?", fragte Evoli. Neru ging seine Aufzeichnungen durch. "Es dürfte schwierig werden", begann er vorsichtig, "Schau, hier! Sobald etwas, das größer ist, als ein Fisch durch die Hafeneinfahrt durchschwimmt, wird gleich Großalarm ausgelöst. Wie sollst du denn unter Verfolgung unbemerkt Fotos schießen? Wenn einer der Wachen oder der Kameras den Foto sieht, schöpfen die doch sofort Verdacht." Evoli winkelte nachdenklich ein Ohr an. "Die Lüftungsschächte gehen auch nicht", meinte sie nachdenklich, "Der einzige Zugang geht über den Aufzugsschacht. Du und Nerina, ihr könnten euch ja verkleiden, zum Beispiel als Wärter." "Die werden bestimmt gefilzt werden. Wir wissen ja nicht mal, was für Uniformen die haben und auch nicht, wie die die Identität überprüfen." "Und wie wäre es als Gefangene?" "Wir wären die ersten Gefangenen, die freiwillig zu einem Gefängnis kommen und selbst, wenn wir drinnen wären. Ein Gefängnis ist schließlich dazu da, die Gefangenen am rauskommen zu hindern, sonst könnte Blaze ja einfach zu uns kommen." "Da ist was dran", meinte Evoli, "Bleibt nur noch Texomon, das grüne Pikachu." Verdutzt sah Neru sie an. "Das ist nur so 'ne Redewendung, wenn einer ganz besonders auffällt", erklärte Evoli. "Wir könnten aber trotzdem in Kontakt bleiben", erklärte Neru aufgeregt. Ihm war gerade eine Idee gekommen. "Was hälst du von folgender Idee?" Er begann mit Evoli zu verhandeln. "Dann wäre es fast so, als wäre ich da, zumindest kann ich dich dann beraten, was du tun sollst und wenn etwas schiefgeht, weiß ich ungefähr, wo du bist und Texomon startet einen Großangriff." Grübelnd ging Evoli den Plan noch einmal durch. "Wenn es nicht anders geht", meinte sie schließlich, "Und du dich auch keine Sekunde weg vom Computer begibst, dann mach ich's", erklärte sie und Neru merkte, dass es sie wirklich Überwindung kostete. "Und ich mach es auch nur mit der Ausstattung." Neru nickte. "Ich bleibe hier und wir stehen morgen ganz früh auf und besorgen die Sachen", erklärte er, "Du wirst danach wie ein echter Geheimagent aussehen." "Ich? Ein Geheimagent?", fragte Evoli und sah dabei ein wenig stolz aus, während Neru den Laptop herunterfuhr und sich in seinen Schlafsack legte. Noch bevor Texomon und Nerina auf waren, schlich sich Neru den Gang hinauf zur Oberfläche. Noch die halbe Nacht hatten er und Evoli weiter über den Plan diskutiert und Neru hatte in dieser Nacht nur wenig geschlafen. Doch er fühlte sich überhaupt nicht müde. Jetzt würde der Plan gelingen. Als er eine Stunde später mit einer großen Kiste voller Sachen zurückkam, sah ihn Nerina entgeistert an. "Was ist das jetzt?", fragte sie, "Ein Tower und noch dazu eine Modelleisenbahn oder was?" "Der Laptop war wirklich wichtig", erwiderte Neru verbissen, "Und diese Sachen brauchen wir. Das hier ist für dich", rief er Nerina zu und warf ihr ein braunes Paket in die Arme, sodass sie überrascht ihre Schüssel mit Müsli auf den sandigen Boden fallen ließ. Evoli war schon ganz gespannt auf ihn zu gerannt. "Hast du alles bekommen?", fragte sie. "Ja, so ziemlich", erwiderte Neru ganz in Gedanken, während er Gummibänder und Klarsichthüllen, Klebstoff, diverse Folien und Kabel aus der Kiste auspackte. "Ich geh hoch und observier nochmal", erklärte Nerina kopfschüttelnd und sah ihren Bruder stirnrunzelnd an. Als auch sie mit einer großen Tüte Lebensmittel etwa zwei Stunden später zurück kam, fand sie den Höhlenboden in komplettem Chaos vor. Überall lagen Folien und Kabelreste herum und Neru und ein verwandelt aussehendes Evoli lagen über dem Laptop. Evoli hatte jetzt dunkle Streifen bekommen und es sah so aus, als hätte das kleine Pokemon jetzt eine Beule auf dem Kopf. Im gleichen Augenblick kam Texomon, der mit Nerina zusammen eine Runde im Wasser gedreht hatte, zurück und steckte den Kopf aus dem Wasser. "Was ist denn das?" fragten beide wie aus einem Munde. "Das ist meine Agentenausrüstung", erklärte Evoli stolz und präsentierte die Kamera auf ihrem Kopf, "Jetzt können wir in Kontakt bleiben, wenn ich da runter geh." "Über die Kamera kann ich immer sehen, was Evoli sieht", erklärte Neru und zeigte dabei auf den Laptop, "Außerdem hat sie einen Kopfhörer dabei, mit dem ich mit ihr reden kann. An ihrem Bauch befindet sich unser Pokedex, der stellt die Verbindung her und über den können wir dann auch mit Blaze telefonieren." Nerina packte unterdessen das braune Paket, das sie achtlos auf dem Höhlenboden gelassen hatte, aus. "Ein Handy?", fragte sie verdutzt. "Ja", begann Neru, doch er wurde von Evoli unterbrochen. "Das brauchst du für das Infocenter." "Infocenter?" Nerina schien nichts zu verstehen. Bevor Texomon noch etwas einwenden konnte, meinte Neru: "Für dich haben wir auch einen Kopfhörer, damit Nerina mit dir sprechen kann." und zeigte dabei auf eine kleine Knopfzelle. "Wie? Ich versteh gar nichts mehr", meinte Texomon und ließ sich auf den Hintern plumpsen. "Also gut", meinte Neru, "Ich hab mir folgendes überlegt: Evoli geht mit ihrer Ausstattung in die Zitadelle rein. Über die Kamera kann ich verfolgen, was passiert. Wenn sie Blaze dann erreicht hat, kann sie ihm den Pokedex geben und wir können zu dritt, über dein Handy Nerina, dann mit ihm reden und von ihm dann die Infos für den Feuerstein bekommen. Du, Nerina, müsstest oben im Infocenter sein. Soweit ich herausgefunden habe, ist das Hauptquartier der Wachleute in dem Gebäude. Du müsstest dich dort drinnen verstecken und mithören, was sie vorhaben, damit du Texomon vorwarnen kannst. Außerdem könntest du von dort drinnen vielleicht die Lichtschranke deaktivieren. Mit dem Handy kannst du nicht nur mit Texomon, sondern auch mit mir Kontakt aufnehmen, das Ding hat auch eine Kamera. Texomon schließlich, du wirst, wenn du von Nerina und mir das Startsignal bekommst, in den Hafen schwimmen und so schnell wie möglich Evoli in den Schacht bringen. Dann kannst du anfangen, den Hafen zu verunstalten. Nerina kann dich dann warnen, wenn etwas gegen dich unternommen wird. Wenn ich Blaze dann in der Leitung habe, schalte ich ihn dann auf Konferenz zu dir und wir können zu dritt mit ihm reden. Wenn dann alles geklappt hat, kommt Evoli wieder zu dem Aufzugsschacht raus und schwimmt direkt zu dem Kohlekahn. Ich hab heute morgen herausgefunden, das der morgen in aller Frühe zur Nachbarinsel fährt. Texomon kann dann ebenfalls, nachdem er eine falsche Fährte gelegt hat, auf den Kohlekahn klettern. Wir beide können Wassertaxis nehmen und treffen uns dann alle zusammen morgen Mittag in Haven City, drüben auf Dirima." Nachdem Neru seinen Plan auf dem Laptop verdeutlich hatte, schloss er: "Und ich bin jetzt müde und will schlafen." Damit zog er seinen Swag zu, nachdem Evoli zu ihm ins Innere geschlüpft war und ließ Nerina und Texomon draußen stehen, die sich immernoch mit überraschter und fragender Miene anstarrten. >>>Nerina<<< "Tja... Dann geht’s jetzt wohl los", sagte Texomon in die angespannte Stille, griff nach Nerinas Hand und drückte sie so fest, dass seine Krallen tiefe Abdrücke darauf hinterließen. Nerina achtete nicht darauf. Stattdessen schlang sie einen Arm um ihr Iramon und drückte es fest an sich. Stumm starrten sie hinaus auf die dunklen Wellen des Meeres. In wenigen Minuten, eben dann, wenn Evoli fertig angekleidet war, würde es losgehen, doch diese ließ sich offenbar Zeit. Ob sie auch Angst hatte? Wahrscheinlich sogar! Nerina konnte sie verstehen. Auch sie hatte Angst - Angst, dass sie die Lichtschranke nicht würde deaktivieren können, Angst, dass sie im Besucherzentrum erwischt würde, Angst, dass jemand ihr Texomon wegnehmen würde. Nerus Plan war gut, gut vorbereitet und gut durchdacht und wahrscheinlich die einzige Lösung ihres Problems, dennoch wurde Nerina das Gefühl nicht los, nicht Teil dieses Plans zu sein. Er hatte ihn alleine entwickelt, hatte alle Sachen gekauft, noch ehe Nerina davon wusste, hatte sie nicht gefragt, ob sie das alles schaffen würde. Nerina holte tief Luft, kniff die Augen fest zu und zählte bis sieben, um sich zu beruhigen. Jetzt mit Neru darüber herumzustreiten wäre den Iramon gegenüber nicht fair und schließlich hatten auch sie Aufgaben bekommen, die sie alleine lösen mussten. "Also, ein bisschen mulmig ist mir schon...", gab Texomon unvermittelt leise zu, seine Stimme war nur ein seltsam leises Zischeln in der Brandung, "Passt du auch gut auf mich auf?" "Natürlich", erwiderte Nerina selbstbewusster, als sie sich fühlte, "Wenn alles schiefgeht, dann laufe ich einfach runter zum Hafen und fange dich mit deinem Pokeball. Vielleicht muss ich ihnen dann Rede und Antwort stehen, aber immerhin bist du nicht ... weg", endete sie ein wenig unbeholfen, dann beugte sie sich vor und vergrub das Gesicht in den Händen. Es würde eine lange, lange Nacht werden... Mit einem leisen Plätschern erschien Evoli im aufgepeitschten Wasser. Das ungewohnte Gewicht der Kamera und des Pokedex' zerrten an ihrem kleinen Körper und sie hatte noch größere Probleme wie sonst, sich durch die Brandung auf den Felsen zu kämpfen, auf dem Nerina und Texomon warteten. "Hallo", sagte sie leise, während sie mit triefendem Schweif und herabhängender Mähne zu ihnen kletterte, "Da bin ich..." "Fein", sagte Nerina und streichelte auch ihr das nasse Fell, "Geht's dir gut?" "Fabelhaft!", fauchte Evoli gereizt und stellte die Nackenmähne, doch dann sank sie auf ihr Hinterteil und sah Nerina mit großen, blauen Augen an. Ihre Pupillen leuchteten im Dunkeln, wie die einer Katze. "Darf ich dich mal was fragen?" "Sicher", entgegnete Nerina, obwohl sie sich im höchsten Maße unsicher fühlte. Evoli zögerte kurz, dann fuhr sie fort: "Wenn ich dein Iramon wäre... Würdest du mich dann auch runterschicken?" Erschrocken fuhr Nerina hoch und legte ihr eine schwere Hand auf den Rücken. "Neru hat dich sehr, sehr gern, Evoli", sagte sie fest, "Wahrscheinlich lieber als mich. Er würde das nicht von dir verlangen, wenn es anders ginge." "Ich weiß, ich weiß!", versetzte Evoli bissig, "Aber würdest du?" Nerina zuckte hilflos die Achseln. "Ich weiß es nicht", gestand sie leise, "Ich weiß nicht, ob ich insgesamt den Mut dafür habe." "Auch du musst stärker sein, als du dich fühlst, nicht wahr?" Für einige Sekunden saßen sie Aug in Aug da, dann pflückte Nerina das kleine Iramon von den Felsen und drückte sie an ihre Brust. "Ja, Evoli", sagte sie leise, "Das muss ich. Oft sogar." "Du siehst nie so aus, als ob du Angst hättest", nuschelte Evoli in ihr Hemd. Nerina lachte trocken. "Ich habe gelernt, es nicht zu zeigen", sagte sie leise, "Als Neru und ich klein waren, haben wir fast immer mit anderen Jungs gespielt und als das einzige Mädchen darfst du nicht zeigen, dass dir etwas Angst macht. Darauf warten sie doch alle... Aber Evoli, wenn es dir heute Abend etwas hilft... Ich glaube, wenn du es dort unten nicht schaffst, dann schafft es keiner. Du bist klein, flink und stark und wenn trotz allem etwas schiefgeht, kommst du einfach wieder rauf. Spring in diesen Aufzugschacht, schlag mit deinem Ruckzuckhieb ein Loch hinein und komm ins Hafenbecken. Ich habe einen Pokeball und im Notfall werde ich dich einfach fangen, noch ehe es jemand bemerkt." "Gut...", sagte Evoli langsam, "Dann ist es entschieden... Komm, Texomon, gehen wir..." "Erst musst du aber in deinen Ball", sagte Texomon sanft, der dem Gespräch mit einigem Interesse gelauscht hatte, "Das Meer ist aufgewühlt und ich werde lange tauchen müssen. Wir wollen doch nicht, dass dir zwischendurch die Luft ausgeht?" Schweigend brachte Evoli sich in Positur, offenbar hatte sie beschlossen, ohne Rücksicht auf Verluste das Unvermeidbare zu akzeptieren. Kaum war sie in ihrem Pokeball verschwunden, als Texomon Nerina einen nachdenklichen und beinahe schuldbewussten Blick zuwarf. "Du hast davon niemals gesprochen", sagte er leise, rückte näher an sie und legte Arme und Schwanz um sie, "Warum hast du mir nicht erzählt, wenn es dir zu viel wird? Ich bin stark und ich möchte dich beschützen!" "Eben darum", murmelte Nerina leise, "Du bist stark, mutig und stolz und ich will dich nicht enttäuschen, dich nicht, Neru nicht, Vater nicht... Ich muss allein damit fertig werden." "Musst du nicht!", beharrte Texomon hitzig, "Ich bin dein Partner! Ich ziehe all das durch, weil die Menschen gesagt haben, dass ich Gringo besiegen soll, aber was du sagst, das ist mir viel wichtiger und wenn du willst, schwimme ich mit dir über den ganzen Ozean nach Eden, wo wir unsere Ruhe haben!" Kurz verharrten sie, eng aneinandergekuschelt, dann fuhr er leise fort: "Mir ging es früher auch oft so. Ich war nur eine komische Genmischung, viele Forscher kamen, mich zu begaffen. Sie stellten uns Iramon blöde Fragen, um unsere Intelligenz zu testen. Bei mir war's aber besonders schlimm. Dauernd machten sie Tests, ließen mich kämpfen, diskutierten über meine Lebens- und Einsatzfähigkeit. Die anderen Iramon mochten mich nicht, weil sich immer alles um mich drehte... Dabei habe ich mich so wertlos gefühlt. Erst, als du kamst, als du mich von allen vier Iramon ausgewählt hast, da habe ich mich zum ersten Mal stark gefühlt und mir vorgenommen, dich zu beschützen, vor was auch immer. Darum hat es mir soviel ausgemacht, gegen Pikachu zu verlieren, darum habe ich immer gegen alles gekämpft, was uns begegnet ist..." "Wirklich, Texomon?", fragte Nerina leise, der die Tränen in den Augen standen, "Aber das hätte ich doch nie verlangt..." "Und ich hätte nie verlangt, dass du für mich stark bist... Vielleicht sollten wir in Zukunft offener über sowas sprechen?" Nerina nickte stumm und wischte sich die Tränen fort. Texomon drückte noch einmal fest ihre Hand, dann sprang er ins Wasser und die Evotation begann... "Viel Glück!", flüsterte Nerina ihrem großen Seedrachen zu, als sie ihm Evolis Pokeball zwischen die Zähne klemmte und Nerus Kopfhörerhalfter über den Kopf zog, Kabel und Funksender zwischen Seedrakings Zacken klemmte und das ganze mit etwas Seegras touchierte, "Pass auf dich auf!" "Pass du auf dich auf!", grollte Seedraking mit der Sanftheit einer Sturmflut, "Es ist mir gar nicht recht, dich allein dort zu lassen!" "Wird schon schiefgehen!" Damit beugte sie sich vor, gab ihm einen Kuss auf die nasse Stirn und lief mit raschen Schritten den felsigen Berghang hinauf. Kaum war sie außer Sichtweite, verlangsamte sie ihre Schritte. Seedraking würde einen weiten Bogen um die Insel schwimmen müssen, was ihr sicher eine Stunde Zeit verschaffen würde. Flink und lautlos wie ein kleiner Berggeist schlüpfte sie durch das Unterholz, bis sie auf der Bergkuppe auf den breiten, betonierten Touristenweg stieß. Kurz ging sie in die öffentliche Toilette, ordnete ihr Haar vor dem Spiegel und richtete ihr halbtrockenes Hemd, dann schritt sie als ganz normale Touristin hinab in die Stadt, schlenderte ohne große Eile durch die breiten Straßen, bis sie die Hafenpromenade erreicht hatte. "Wo bist du?", sagte sie wie beifällig in ihr Handy. "Grade die südliche Spitze passiert", erscholl Seedrakings Stimme aus dem Lautsprecher. "Okay", erwiderte sie lächelnd, als ginge es um das Date mit einem werdenden Freund, "Ich warte am Hafen auf dich!" Das Besucherzentrum war gerade dabei, eine großartige Lasershow der Hauptattraktionen der Insel auf eine riesige Leinwand zu projizieren, wie es das wohl jeden Mittwochabend tat und im dichten Gewühl der Menschen fiel Nerina nicht weiter auf. Mit sanfter Gewalt drängelte sie sich in den großen, von Kartentischen und Ständern dominierten Empfangsraum und zupfte eine der beamersteuernden Damen am Ärmel. "Entschuldigen sie", sagte sie mit der unschuldigsten Mädchenmiene, die sie zu Stande brachte, "Ich müsste mal ganz dringend... na, sie wissen schon." "Unsere Toiletten sind geschlossen!", erwiderte die Frau, ohne sie richtig anzusehen, "Versuch's doch mal im Hafenrestaurant." "Aber meine Eltern wollen nicht, dass ich ohne zu fragen weggehe und ich kann sie nirgends finden und... oh bitte!" Die Frau warf ihr einen genervten Blick zu, griff aber unter ihr Pult und zog einen Schlüssel hervor. "Da", sagte sie grob, "Geh grad durch!" "Danke!" Mit dankbarem Lächeln huschte Nerina davon, schloss die Tür zum hinteren Teil des Gebäudes auf und fand sich in einem langen, dunklen Gang wieder. Vorsichtig leuchtete sie sich mit ihrem Handy den Weg bis zu dem wohlbekannten Raum mit den Hafenkameras, den sie sich heute morgen näher angeschaut hatte. Mit klopfendem Herzen friemelte sie eine Haarnadel aus der Tasche und schob sie ins Schloss. Ihre zittrigen Finger brauchten einige Sekunden, bis sie den richtigen Winkel fand, aber dann klickte das Schloss artig und die Tür schwang auf. Schwarze Bildschirme empfingen sie. Die Kameras waren nur für die Besucher gedacht und zur Nachtzeit abgeschaltet worden. Fieberhaft suchte sie die Wände nach einem Hauptschalter ab, entdeckte schließlich eine Steckdosenleiste und schaltete sie ein. Die Computer erwachten mit unnatürlich lautem Summen zum Leben, kryptische Zeichen tanzten auf den Schirmen. Mit einem Lächeln wandte sie sich ab, zog die Tür hinter sich zu, natürlich nicht, ohne ein Stückchen Papier ins Schloss zu klemmen, sodass es nicht einrasten konnte und huschte den Gang entlang zurück zur Haupttür. Auch diese präparierte sie mit einem Kaugummipapierchen, ehe sie der Frau freudestrahlend ihren Schlüssel zurückgab und eine gute Viertelstunde im Hafen auf und abschlenderte, ehe sie sich zurück ins Zentrum begab und prospektelesend und Beamerbilder bestaunend der Tür immer näher kam. Als der Beamer gerade das Highlight der Show, das wunderbare Grand-Hotel L'emperor präsentierte und die wunderbaren, goldvertäfelten Zimmer und prächtigen Buffets alle Blicke wie magisch anzogen, lehnte sie sich unauffällig gegen die Tür und noch ehe jemand das herumstreunende, heruntergekommene Mädchen beachten konnte, war sie schon wieder im Inneren des Ganges verschwunden, diesmal ohne Schlüssel und ohne dem Wissen der freundlichen, genervten Dame... Ihr Handy fiepte, kaum, dass sie das richtige Kamera-Programm gestartet und die vier verschiedenen Bilder auf dem großen Plasma-Screen koordiniert hatte. "Bin jetzt im Toten Winkel der Hafeneinfahrt", verkündete Seedraking, "Das Meer ist sehr stürmisch heute Nacht." "Kein Problem", erwiderte Nerina leise, ihre Stimme schallte unangenehm in dem leeren Raum, "Bin auch grade erst angekommen. Warte kurz..." Mit zitternden Fingern begann sie, die Tastatur zu malträtieren, bis sie es geschafft hatte, den Infrarot-Strahl der Lichtschranke auf der Wärmebildkamera sichtbar zu machen. "Ich hab keine Ahnung, wie man diesen Strahl deaktiviert", sprach sie dann weiter, "Außerdem bewegt er sich immer auf und ab, aber wenn du auf mein Zeichen wartest, dich sehr lang machst und direkt über den Boden rutschst und die Flügelchen einziehst, solltest du drunter durchkommen." "Alles klar", verkündete Seedraking und Nerina sah, wie sich sein roter Kopf ins Bild der Infrarotkamera schob. "Tiefer, Seedraking", rief sie aufgeregt, "Tiefer und warte... Jetzt! Gib Gas!" Mit wild pochendem Herzen beobachtete sie, wie der Strahl langsam nach oben wanderte, während sich eine verwischte, rote Schlange auf ihn zu bewegte, doch Seedraking war zu langsam, der Strahl würde seinen Rücken treffen... "Schneller!", zischte Nerina ängstlich und das Wasserpokemon warf den Kopf herum und stieß einen gewaltigen Wasserstrahl aus dem Maul, der es wie ein Raketenantrieb schräg über den steinigen Boden rutschen ließ. "Dein Schwanz!", rief Nerina, "Zieh den Schwanz ein!" Doch Seedraking hatte den Kopf bereits wieder vom Boden gehoben und glitt grazil davon, die Lichtschranke verpasste seine Schwanzflosse um Zentimeter. Aufgeregt verfolgte Nerina, wie ihr tapferes Seeungeheuer wie ein langer Schatten unter den verankerten Schiffen hindurchglitt und schließlich im Schatten des Kohlekahns verschwand. "Beiß einfach ein kleines Loch in den Schacht", flüsterte Nerina hastig, "Über der Wasseroberfläche! ... Seedraking?", fragte sie ängstlich, "Alles klar?" Auf den Kameras war er nun vollständig verschwunden! Was tat er nur! Bange Minuten vergingen, dann tauchte sein Kopf am Heck des Kohlekahns wieder auf und er riss das Maul auf um zu zeigen, dass Evolis Pokeball nun nichtmehr darin war. Offensichtlich war alles glatt gegangen! "Dann tauch jetzt auf!", schlug Nerina vor, "Mach ein paar große Wellen und lass dich nicht fangen! Ich bleibe bei dir und warne dich!" Das Riesenseepferd nickte knapp, glitt unter einigen weiteren Schiffen hindurch und sprang dann in einer riesigen Fontäne aus Schaum und Spritzwasser gen Himmel. Irgendwo hinter den beiden halbverschlossenen Türen drang ein dumpfer Schreckensschrei an Nerinas Ohren und rasch lief sie zum Fenster, um zu verfolgen, wie die Menschen am Quai erschrocken die Hände vor die Gesichter rissen, als Seedraking einen Sprung nach dem anderen vollführte, mit seinem Schwanz aufs Wasser schlug und meterhohe Wellen gegen die Flanken der Schiffe schleuderte. Keine halbe Minute später eilten Sicherheitskräfte in knallorangefarbenen Westen heran, Schillok durchpflügten das Wasser und versuchten, den Eindringling mit Eisstrahlen zu verjagen, doch Seedraking war sehr geschickt darin, ihnen auszuweichen, zumal Nerina all seine Angreifer klar und deutlich auf dem Schirm hatte. "Eins kommt von schräg rechts unten!", flüsterte sie ihm zu, "Vorsicht! Ein Blizzard von hinten! Tauch ab!" Wie in einem grotesken Ballett tanzten Jäger und Beute um die Schiffe, erstere ängstlich darauf bedacht, nichts zu zerstören, während zweitere mit seinem Schwanz mächtige Hiebe austeilte und einmal sogar versehentlich den Aufzugsschacht traf. "Perfekt!", jubelte Nerina, "So wird jeder denken, das Loch kommt daher!" Die Menschen am Quai gerieten in Aufruhr und bald verfolgte niemand mehr die Lasershow, stattdessen drängten sie sich in der heller erleuchteten Zone vor dem Besucherzentrum, sogar die genervte Dame erkannte Nerina unter ihnen. Die Menge raunte, stieß sich gegenseitig an und Nerina war erstaunt, niemanden Popcorn knuspern zu sehen ob des tollen Schauspieles. Nur die Sicherheitskräfte wurden immer panischer. Nerina sah einen ein Funkgerät zücken, im nächsten Moment blinkte in der Ecke des Bildschirms ein Telefonhörer und mit einem raschen Klick nahm sie ab. "... kriegen es nicht unter Kontrolle!", drang eine kratzige Stimme aus einem Lautsprecher, "Es ist zu schnell für die Schillok!" "Dann setzten Sie eben Turtok ein!", rief eine andere Stimme dazwischen. Die erste schnaubte blechern. "Es ist zu schnell für Schillok! Was soll da bitte ein Turtok helfen? Ich brauche ein Netz! Sie müssen es einwickeln!" "Okay... Netz ist startklar! Die Schillok müssen es an den Ecken rausziehen!" "Weiß ich selber! Over!" Die Verbindung erstarb mit einem Knacken, doch Nerina achtete nicht weiter darauf. Aufmerksam verfolgte sie auf dem Bildschirm, wie sechs Schillok zum Hafengrund hinabstießen und eine große, faserige Seetangmatte aufhoben... Nein, keine Matte! Das Netz! "Seedraking!", rief sie erschrocken, "Sie holen ein Netz! Es kommt von unten, hinter dir! Dreh dich um! Ja und jetzt... Spring!" Gerade, als die Schillok um ihren Feind herumschwammen, um das Netz um ihn zu schlangen, schnellte Seedraking in einer gewaltigen Welle aus dem Wasser. Kurz hing er in seiner ganzen Pracht im Schein der Hafenbeleuchtung in der Luft, dann klatschte er zwischen zwei Segelbooten zurück ins Wasser, seine Welle riss die Schillok mitsamt Netz nach unten. Verzweifelt zappelten sie umeinander, doch die Welle hatte das Netz über ihre eigenen Köpfe gespült und zwei hatten sich verfangen. Hilflos ruderten sie mit ihren Beinchen, während die anderen Schillok das Netz fortzuziehen versuchten. Begeistert klatschte Nerina in die Hände, als erneut ihr Handy vibrierte. "Nerina!", rief Nerus Stimme aufgeregt in ihr Ohr, "Wir sind soweit! Ich habe Blaze dran!" >>>Neru<<< "Findest du nicht, dass wir sie hätten mitentscheiden lassen sollen?", fragte Evoli mit zweifelnder Stimme. "Naja..." Unruhig ließ Neru den Blick schweifen. Evoli hatte da nicht ganz unrecht. Eigentlich wollten sie den Plan ja gemeinsam Entwickeln, doch nun hatte er - Neru - ja alles schon alleine ausgetüftelt. "Sie haben doch mit entschieden", erklärte er halbherzig, "Immerhin haben Nerina und Texomon ja den Vorschlag gemacht - wir haben ihn nur noch ausgearbeitet." Evoli stellte den Kopf schief und Neru wusste, dass er in dieser Diskussion verloren hatte. Sie hatten alle noch mal darüber nachdenken wollen, aber er hatte ja alles auf eigene Faust erledigen wollen. "Wenn du meinst", erwiderte das kleine, plüschigbraune Iramon, dann schmiegte sie ihren Körper an den seinen. "Ich wünsch dir viel Glück", meinte Neru, nachdem er kurz ihr pelziges Fell gestreichelt hatte, "Danke, dass du das tust, ich bin stolz auf dich und auf deinen Mut." Evoli sagte nichts mehr, schnappte sich ihren Pokeball und mit hoch erhobenem Schweif verschwand sie im Wasser, um zu Nerina hinauf zu schwimmen. Neru wartete noch einen Augenblick, dann schaltete er den Computer ein. Es würde noch eine ganze Zeit dauern, bis die Kamera von Evoli sich aktivieren würde, das wusste er, doch er konnte nicht länger warten. Was war eigentlich mit ihm los gewesen? Warum hatte er ohne auf andere Meinungen zu warten seinen Plan durchgezogen? War es nicht falsch, die anderen in dieser Weise in einen Plan stolpern zu lassen, den sie vielleicht gar nicht unterstützten? Neru seufzte und ließ den Blick schweifen. Diese Gedanken waren ihm doch schon mal in ähnlicher Form gekommen, und zwar in der Wasserarena. Diesmal hatte er jedoch nicht, wie er sich auch vorgenommen hatte, über Evolis Kopf hinweg gesetzt und sie zu etwas gezwungen, was sie nicht wollte, sondern seine eigene Schwester. Neru starrte auf den Bildschirm. Verlangte er von seiner Schwester Dinge, die er nicht bereit war zu tun? Immerhin war der Plan von ihm, doch er war der einzige, der keine brandgefährliche Mission dabei übernahm. Noch vor zwei Stunden war es ihm als das beste vorgekommen, einfach hier unten zu bleiben und die Dinge, die da kommen sollten, abzuwarten und als Schaltzentrale alles zu verwalten, doch war das nicht falsch? Er kam sich räudig und feige vor, weil alle anderen für seinen Plan ein solches Risiko eingingen und nur er allein hier unten saß und so zu sagen keiner Gefahr ausgesetzt war. Evoli würde den Einbruch übernehmen, Nerina würde ebenso in das Informationscenter einbrechen und Texomon sich dem Angriff dutzender von Wasserpokemon aussetzen, nur er, Neru, der Superplaner, wie er sich selbst anschnaubte, saß hier unten in der Höhle in Sicherheit ohne ein Risiko und konnte die mutige Vorstellung seiner Freunde wie im Kino genießen. Er begann, sich vor sich selbst zu ekeln und bevor er etwas anderes denken oder tun konnte, klappte er den Laptop zusammen, schnappte sich seinen Rucksack und befand sich schon auf dem Weg in die Stadt. Wenn er schon nicht direkt helfen konnte, so konnte er immerhin im Falle eines Falles in der Nähe sein, wenn etwas passieren würde. Von dort oben konnte er immerhin direkt etwas tun, anstatt nur wie ein Lehrer Ratschläge zu geben. Am Hafen wäre er wahrscheinlich am besten aufgehoben, dachte er bei sich und machte sich dann auch sogleich auf den Weg an den Kai. In einer ruhigen Ecke baute Neru den Laptop wieder auf. Er wollte gerade eine Meldung an Nerina rausschicken, als die Kamera von Evoli zum Leben erwachte. "Neru? Bist du da?", fragte Evoli zaghaft und Neru stöpselte schnell sein Mikrofon an den Laptop und dankte dem Himmel, dass Evoli nicht schon vor ein paar Minuten aus ihrem Pokeball geschlüpft war. Nach einer kurzen Pause, in der Neru noch mit den Steckern und Kabeln kämpfte und sich immer mehr wie ein Idiot vorkam, gab er beruhigend durch, dass auch er da war und alles sehr gut sehen konnte. Sie befanden sich in der Aufzugsröhre, beziehungsweise Evolis Kopf, der Rest des Iramons musste noch abwartend draußen hängen. "Wo ist der Aufzug?", fragte Neru in sein Mikrofon hinein und die Kamera begann herum zu schwenken und den Aufzug zu suchen. Es war irgendwie komisch durch fremde Augen zu sehen, doch nach nicht langer Zeit fokussierte sich die Kamera auf eine große Metallplatte über ihnen. Evoli sagte nichts, sondern nickte nur leicht. "Scheint so, als würde der nicht runterkommen, kannst du hineingelangen?" Evoli nickte wieder, sie wusste, dass jedes Geräusch sie verraten konnte und so blieb sie so still wie möglich. Kurz darauf rutschte Evoli den langen Schacht des Aufzuges hinunter. Da zur Zeit Ebbe war, war der Aufzugsschacht nicht so steil, wie er hätte sein können und bot eine schöne Rutsche, doch Neru vor seinem Computer wurde weiß. Er hatte noch nie aus der Sicht von Evoli gesehen und die Geschwindigkeit, mit der das Iramon reagierte, beeindruckte ihn zu tiefst, dennoch bekam er Angst, Angst davor, Evoli zu viel zugemutet zu haben. Ging es Nerina eventuell auch so? Hatte er zu viel von ihr verlangt? Immerhin hatte er selbst ja auch keine Ahnung, wie sie den Laser deaktivieren sollte, doch hatte sie es anscheinend geschafft. Er verspürte stolz auf seine mutige Schwester, aber zugleich auch Scham. Er schämte sich, ihr so viel zuzumuten. Als Evoli unten am Aufzugsschacht ankam, fanden sie nur eine, mit Gittern verriegelte Tür vor. Durch die ging es nicht. Die Kamera auf Evolis Kopf gab durch die schnellen Bewegungen von Evoli kein klares Bild ab und Neru wurde klar, dass Evoli diese Sache trotzdem, dass er dabei war, alleine durchziehen musste. Er konnte nicht schnell genug erkennen, was geschah. "Da ist ein Lüftungsgitter, ich werde es aufbrechen müssen", erklärte Evoli im Flüsterton, doch im selben Augenblick gesellte sich ein anderer Laut zu ihrem Flüstern hinzu. Über ihrem Kopf hatte sich der Aufzug in Bewegung gesetzt, das konnte Neru durch die Kamera erkennen als Evoli nach oben sah. Viel zu schnell kam die Metallplatte herunter und Evoli drehte sich wieder dem kleinen und schmalen Lüftungsgitter rechts unter der Tür zu. Im nächsten Augenblick hatte Neru das Gefühl, dass die Kamera eine Fehlfunktion haben müsste. Sie zog nur noch Schlieren und Schleier und als er wieder klar sehen konnte, sah er vor sich nur ein schwarzes nichts. "Lebst du noch Evoli?", fragte er zaghaft durchs Mikrofon. Als keine Antwort ertönte, begann er schon, sich die schlimmsten Vorwürfe zu machen. Doch dann erkannte er, dass die Kamera noch sendete, ein schmaler Lichtstreifen war zu entdecken. Evoli zischte ein kaum verständliches und wie ein Lufthauch klingendes "Jah!" in ihr Mikrofon und setzte langsam ihren Weg fort. Nerus Herz raste, er würde nie wieder so einen Plan ersinnen. Wenn etwas schiefging, das wurde ihm nun mit einem Mal klar, war auch er alleine Schuld daran. Er musste unbedingt sein möglichstes tun, um zu helfen. Rasch sah er sich um. Texomon war auf dem Wasser offenbar erfolgreich, denn im ganzen Hafen war schon ein riesiger Tumult im Gange und da er noch nicht geschnappt war, war auch Nerina bei ihrer Aufgabe bis jetzt erfolgreich gewesen. Evoli kämpfte sich weiter durch die Lüftungsschächte des Gefängnisses vor. Den beiden Iramon konnte er nicht helfen, so viel stand fest. Aber Nerina könnte unter Umständen ein kleines Ablenkungsmanöver beim Ausbruch gebrauchen. Rasch versuchte er, sich ein paar Szenarien auszudenken, wie er ihr wohl am besten helfen könnte, doch so wirklich fiel ihm nichts ein. Da half wohl nur abwarten und sehen, was man tun konnte. Er kam sich immer mehr wie ein Depp vor. Das wurde auch dadurch nicht besser, als Evoli fragte: "Hier gibt es Abzweigungen, welche soll ich nehmen?" Auf der Kamera konnte Neru nichts erkennen und helfen konnte er ihr leider auch nicht wirklich. Als er nicht antwortete, weil er immernoch überlegte, was er sagen sollte, schnaubte sie nur empört und wählte den mittleren der drei Gänge aus. Neru am Computer atmete tief durch. Wo war er eigentlich mit seinen Gedanken? Ja, er hatte Fehler gemacht, aber der Plan war gut und das Gelingen seines Plans hing davon ab, dass er jetzt hier nicht schlapp machte. Was würde Nerina...? Nein! STOP! Verbot er sich in Gedanken und konzentrierte sich wieder auf den Computer. Hatte er nicht irgendwo etwas Sinniges über das Gefängnis herausgefunden, irgendeine Information, wo sie die Gefangenen hielten? Was wäre denn sinnvoll? "Die mittlere Abzweigung war richtig", erklärte er Evoli, "Versuch weiter, so weit es geht in den Komplex vorzustoßen. Im vorderen Bereich werden die Räumlichkeiten für Verwaltung und die Wärter sein, die Zellen dürften dann weiter hinten kommen." Evoli nickte wieder und Neru hoffte inständig, dass seine kleine Freundin ihm auch vertraute. Während Evoli weiterlief versuchte er, ihr möglichst viele Informationen zu geben, die sie, wie er wusste, schon längst kannte. "Da kommen Gitter", sagte Neru, um Evoli diesen Satz vorweg zu nehmen, "Vielleicht befinden sich darunter schon die ersten Gefangenen, vielleicht kannst du ja mal ganz vorsichtig hinunter linsen?" Die Kamera senkte sich in Richtung der Gitter und unten konnte er einen Raum erkennen mit Waschbecken, einer Toilette und einem Bett, auf dem ein unrasierter Mann schlief. Offenbar gab es nur einen Zugang. "Das ist eine der Zellen", jubelte Neru, "Lauf weiter, Evoli." Doch sie waren noch nicht weit gekommen, als Evoli erstarrte. "Da bewegt sich was", erklärte sie, obwohl sie doch eigentlich überhaupt nicht sprechen sollte, doch Neru konnte auf der Kamera nichts erkennen. "Was ist es?", fragte er, "Kannst du ihm ausweichen?" Evoli schüttelte den Kopf, sodass Neru, der die Bilder verfolgte, ganz schwindelig wurde. "Ein Rattfratz", erklang es dann. "Mach es schnell und möglichst lautlos platt!" Doch weder das Erste, noch das Zweite gelang und kurze Zeit später hallte das Geschrei des Rattfratzes die Gänge entlang. Weitere Schemen tauchten auf. "Versteck dich, Evoli!", schrie Neru, ungeachtet der Tatsache, dass er am Hafen saß. Verschreckt blickte er auf, doch es war niemand in der Nähe. Weiter aus seiner Gasse hinaus konnte er einen großen Menschenauflauf sehen, der schreiend am Hafen versammelt stand und dem, wahrhaft gigantischen Wellen und Fontänen in die Luft werfenden Seedraking zusahen. Gerade eben veranstaltete Seedraking ein Höllenspektakel und sprang dabei aus dem Wasser auf. So, als würde er über etwas hinweg springen. Doch Neru hatte keine Zeit, die Szenerie weiter zu verfolgen und wandte sich wieder seinem Computer zu. Evoli befand sich unter einer der Bodenplatten im Gang in einer Art Spalt voller Kabel. Das Rattfratz veranstaltete immernoch ein Spektakel, als hätte man versucht, ihm die Schneidezähne zu ziehen. "Alles klar bei dir?", fragte Neru und Evoli nickte langsam. Man musste abwarten, ob die wachenden Pokemon auch Evoli entdecken würden. Neru hoffte nur inständig, dass Nerina und Texomon lange genug durchhalten würden. Nach einer Weile schlüpfte Evoli wieder in den Gang empor. Von dem Ratfratz war nichts mehr zu sehen und weiter ging die nervenaufreibende Suche. Neru starb fast vor dem Computer vor Anspannung und er bedauerte immer mehr, dass er Evoli auf eine solche Mission geschickt hatte. Andererseits gab es keine andere Möglichkeit. Sie mussten Blaze befragen und ein anderer Plan war ihm nunmal nicht eingefallen. Da mussten sie jetzt alle durch. Nach einer endlosen Suche und dem Ausweichen von zwei weiteren Rattfratz fanden sie endlich Blaze Zelle. Neru identifizierte ihn genau an dem Bild, das ihm Professor Eich geschickt hatte. Jetzt kam der richtig knifflige Part. Wie sollten sie die Kamera in Blaze' Zelle austricksen? Neru hatte sich mehrere Ideen zurechtgelegt, doch diesmal war es Evoli, die eine Idee hatte. Mit einer raschen Bewegung hob sie eine der Platten an. "Wie lange brauchen wir?", zischte sie ins Mikrofon. "So etwa zwei bis drei Minuten." "So lange, wie die Wachen brauchen könnten, um hierher zu kommen?", zischte Evoli eine weitere Frage durch ihr Mikrofon. "Ja, schon möglich", meinte Neru und Evoli hob eine Pfote, schob eine einzelne Kralle heraus und kappte gezielt eines der Kabel. "Dieses Kabel gehört zur Kamera", erklärte sie, während sie das Lüftungsgitter aus den Angeln beförderte, "Bis die da sind, wissen wir schon alles." Neru beobachtete staunend, wie Evoli einen aufwärts gerichteten Tackle dazu benutzte, das Gitter aus den Angeln zu heben und in den Raum hinauf sprang. Verdutzt schreckte der, in schwarz angezogene Mann auf dem Bett auf. "Was?", fragte er. "Iramonmission", erklärte Evoli und bot ihm ihren Bauch an. Neru wusste, dass sie nicht viel Zeit hatten und so stellte er sofort die Verbindung zu Nerina her. "Hallo, Iramontrainer!, erklärte Blaze, "Ich weiß nicht, wie ihr das geschafft habt, aber hier kommt die Botschaft. Passt nur gut auf euch auf, die Sache ist gefährlich." Neru fand, dass Blaze unglaublich schnell reagierte, so als hätte er erwartet, dass die Iramon bei ihm auftauchen würden. Hat er wahrscheinlich auch. Auch er hat vorgeplant, mischte sich die wohl bekannte Stimme in seinem Kopf ein. Doch für weitere Diskussion mit sich selbst blieb keine Zeit, denn schon begann Blaze, ein Lied zu singen. "In finstrer Nacht, da warte ich, in Felsen hart und schwer, der Mond, der schien einst hell auf mich, nun ist der Himmel leer. Steinern ruht mein Himmelszelt, in ewger Einsamkeit, denn Feuer trennt mich von der Welt, und ach - der Weg ist weit. Ein Gang führt in mein stilles Heim, schmal und voller Tück' durch Feuerwalzen, Flammenpain der Gang führt nie zurück. Er endet, so entsinn' ich mich, im Herzen des Vulkan, ich sah ein neblig, silbrig Land, zu meinen Füßen an. Es war so reich, voll goldnen Lichts, voll kleiner Feuerwesen, nur ein Schandfleck schien erpicht, wo Menschen bös' gewesen. So komme nun und rette mich, der nach dem Feuer tracht' sei mutig, stark und finde mich, wenn's sei in deiner Macht. Am Tag, an dem des Sommers Flamm, beendet ihren Gang, da soll dir offenstehn das Lamm, Es wird nicht sein für lang." >>>Nerina<<< "Und was heißt das jetzt?" Verwirrt starrte Nerina auf den kleinen Handy-Bildschirm, auf dem einige, rote Zahlen um die Wette blinkten. Mit einem Mal erschienen sie völlig bedeutungslos. Sie war in einen fremden Computerraum eingebrochen, Texomon kämpfte da draußen gegen eine Übermacht an Schillok und lief jede Sekunde Gefahr, gefangen oder verwundet zu werden und die arme Evoli war dort, bis tief in den stählernen Bauch des Gefängnisses vorgedrungen - und alles nur für ein dummes Gedicht!? "Keine Ahnung", beantwortete Neru ihre Frage atemlos und mit einiger Verspätung, "Wir haben auch keine Zeit, es herauszufinden! Evoli muss schnell fliehen..." Ein Klicken in der Leitung war sein einziger Abschied. Einige Herzschläge lang blieb Nerina noch bewegungslos sitzen, starrte auf das Handy in ihrer Hand und ließ es schließlich wieder achtlos auf die Tischplatte fallen. Egal ob Blaze's Nachricht nun Sinn machte oder nicht, sie mussten die Sache durchziehen. Rasch wandte sie sich wieder Seedraking zu, der müde auf der Seite paddelte, sein Schwanz trieb von einem Blizzard gelähmt hinter ihm. "Seedraking!", rief sie erschrocken, "Oh Nein!" Beim Klang ihrer Stimme hob Seedraking den Kopf, schnaubte eine kleine Aquaknarre und duckte sich unter den Rumpf eines Schiffes, um den fliegenden Pokebällen auszuweichen, die es einzufangen suchten. Besorgt beobachtete sie seine Ausweichmanöver, rief ihm Warnungen zu, wenn eins der Schillok zu nahe kam und berichtete ihm auch von den Tauen, die bereit gemacht wurden, um sein Tempo zu verringern, doch ihr Herz wurde immer schwere und sie fühlte sich schrecklich mutlos. Sie hatten hoch gepokert - und der Gewinn war doch so gering ausgefallen. Die Minuten zogen sie wie Gummibänder in die Länge, während Seedrakings Bewegungen immer matter wurden. "Gib auf!", flüsterte sie schließlich heiser, "Schwimm aufs offene Meer und ich werde Evoli fangen, wenn sie rauskommt!" Doch Seedraking warf stolz den Kopf zurück und schwamm weiter, erneut hinein in die Meute der Schillok, eine dünne Blutspur hinter sich herziehend. "Seedraking...", flüsterte sie heiser und schloss die Augen, als eins der Schillok Seedraking seine Schädelwumme auf den Kopf knallte, sodass ein Zittern durch seinen mächtigen Körper lief und heiße Tränen brannten auf ihren Wangen, da fiepte endlich das Handy. "Evoli ist raus", sagte Nerus Stimme hastig, "Sie klettert grade hoch auf den Kohlekahn. Kann Texomon...?" "Nein!", erwiderte Nerina mit rauer Stimme, "Nein, wird er nicht!" Damit unterbrach sie die Verbindung und rief erleichtert auf Seedrakings Frequenz: "Seedraking! Sie ist draußen! Rückzug!" Mit einer letzten, gewaltigen Anstrengung bäumte Seedraking sich auf, schlug wild mit seinen Flügelchen und brüllte, dann ließ es sich zurück unter Wasser gleiten. Auf der Wärmebildkamera konnte sie sehen, wie er davonschoss, kurzerhand ein Loch in das Fangnetz an der Hafenausfahrt biss und im Dunkel der See verblasste, als sei es nie da gewesen. Sofort setzten die Schillok zur Verfolgung an, eins nach dem anderen sah Nerina sie hinaus ins offene Meer schwimmen, dann lag der Hafen so still und verlassen da wie eh und je... "Seedraking?", flüsterte sie ängstlich in ihr Handy, "Geht’s dir gut? Wo bist du?" Doch für eine lange, lange Zeit antwortete ihr nur das Rauschen der Wellen und Nerina machte sich schweren Herzens daran, ihren eigenen Rückzug vorzubereiten. Mit zitternden Händen schaltete sie die Computer aus, schob alle Gegenstände in ihren alten Zustand zur8ck und löschte das Licht. Mit einem Mal umfing sie nichts als bleierne, schwere Finsternis... "Der Mond, der schien einst hell auf mich, nun ist der Himmel leer", murmelte sie gedankenverloren die Reime von Blazes merkwürdigem Gedicht nach, ohne sich überhaupt richtig darüber bewusst zu sein, dass sie sprach. Sie lauschte unentwegt auf das Geräusch des Wassers in ihrem Kopfhörer, bis sich ein zweiter Laut dazugesellte, der Laut hastender Schritte und diesmal war er nicht nur aus dem Lautsprecher, sondern real! Mehrere Menschen stürmten den verlassenen Gang hinunter, Türen knallten, ganz in ihrer Nähe und dann redeten viele Stimmen durcheinander. Nerina fühlte keine Angst, nicht um sich. Wie betäubt ließ sie sich vom Stuhl gleiten, schlüpfte unter den Schreibtisch, doch niemand öffnete ihre Tür. Stattdessen kehrten die Stimmen zurück in Richtung des Besucherzentrums. Die Tür fiel mit einem metallischen Klicken ins Schloss und Nerina begriff, dass dieser Ausgang nun nicht mehr passierbar war. Dennoch blieb sie reglos hocken, nichts als den rhythmischen Schlag ihres Pulses in den Ohren, bis ein leises Ploppen sie so heftig aufschrecken ließ, dass sie mit dem Kopf an die Schreibtischplatte knallte. "Nerina?", fragte Texomons Stimme. Sie war verzerrt vom Rauschen der Wellen, doch Nerina erkannte, dass sie müde war, so schrecklich müde. "Texomon!", rief sie leise, "Oh, du lebst!" "Mir... geht ... es gut", erwiderte Texomon mit einer Stimme, die seine Worte lügen strafte, "Ich hänge an dem Steuerblatt eines Tankkahns in Richtung Azuria. Keine Ahnung, wie weit das noch ist, aber immerhin kenne ich mich da etwas aus. Wenn wir nah genug sind, werde ich einfach loslassen und zu den Strand schwimmen, wo wir am Abend vor der Wasserarena geschlafen haben. Ich denke, da kann ich den Rest der Nacht sicher schlafen und sobald es hell wird, verstecke ich mich irgendwo im Wald. Wir treffen uns morgen, bei Sonnenuntergang am Strand. Pass auf dich auf..." Damit erstarb seine Stimme im immergleichen Rauschen des Meeres, doch Nerina hatte genug gehört. Mit neu erwachtem Mut rappelte sie sich wieder auf, schlich zur Tür und linste hinaus. Durch die große Eingangstür des Besucherzentrums sickerte Licht und gedämpfte Stimmen schienen dahinter zu streiten. Sie musste einen anderen Weg finden. So leise sie konnte ließ sie die schwere Computersaaltür ins Schloss fallen, huschte katzengleich den Korridor entlang und zurück zu den Toiletten, doch das Fenster darin war viel zu klein, als dass sie hätte hinausklettern können. Mit wachsender Verzweiflung lief sie weiter, fand eine schmale Holztreppe und stürmte, immer zwei Stufen aufeinmal nehmend hinauf. Auch im zweiten Stock erwartete sie ein Korridor voller verschlossener Türen. Probehalber fingerte sie mit der Haarnadel in einigen Schlössern herum, doch die gaben ihr Geheimnis nicht so leicht preis und unverrichteter Dinge lief sie weiter, ängstlich nach allen Seiten sichernd. Es war mehr zufällig, als wirklich gewollt, dass sie plötzlich durch die nur angelehnte Tür der Besenkammer stolperte, ausglitt und verdutzt auf einem umgestülpten Eimer zum Sitzen kam, der fahle Schein des vollen Mondes glitzerte auf den Scherben eines zerbrochenen Spiegels zu ihren Füßen. Fassungslos ob ihres Glücks wandte Nerina den Blick nach oben und sah auf einen beinahe makellosen Sternenhimmel. Mit einem Satz war sie wieder auf den Beinen, trat die knarzende Tür zu und angelte nach dem rostigen Fenstergriff - er ließ sich bewegen. Unerwartet leicht schwang das Fenster auf, ein Schwall kühler Nachtluft streifte ihr Gesicht. Kurz zögerte Nerina, ehe sie sich mit einem Klimmzug hinauf aufs Fenstersims wuchtete und vorsichtig einen Fuß auf die Ziegel des Daches setzte. Z1m Glück waren sie trocken und das Dach hatte kaum Gefälle, sodass sie langsam hinauskroch, auf Händen und Knien über das vogeldreckige Ziegeldach kroch. Im Westen grenzte das Gebäude an den Bau der Hafenanlage an, das wusste sie, aber nach Süden hin stand ein weiteres Haus, eine Art alten Prunkbaus mit vielen Giebelchen und entsetzlich steilem Dach. Kurz zögerte sie, doch ihr blieb keine andere Wahl, wenn sie nicht hier oben liegen bleiben wollte, bis die Sonne aufging und allem Zauber ein jähes Ende bereiten würde. Mit wild klopfendem Herzen griff sie nach der Regenrinne, zog sich bäuchlings hinauf und krallte die Finger schmerzhaft in die Ritzen der viel zu steilen Ziegel. Schnaufend zog sie sich empor, kroch langsam hinauf zum Dachgiebel und dann, schneller, als es ihr lieb war, drüben wieder hinunter. Ihren mehr oder weniger unkontrollierten Rutsch gerade noch umlenkend glitt sie über den Dachkantel, kam schmerzhaft auf dem zwei Meter darunter gelegenen Wellblechdach eines Schuppens zum Stehen und lief auf dessen andere Seite, nur, um zu erkennen, dass sie mehr denn je in der Falle saß. Zu ihren Füßen lag ein kleiner, dreckiger Innenhof, zu allen Seiten umstellt von hohen, modernen Häusern. Keins der umliegenden Dächer war auch nur annähernd in Reichweite des kleinen Schuppens. Mit einem leisen Fluch hockte Nerina sich auf den Rand des Daches, packte den Dachkantel und ließ sich die knappen drei Meter hinab in ein weiches Blumenbeet gleiten, ehe sie hastig den Hof zu umrunden begann, immer auf der Suche nach einem winzigen Durchschlupf, doch da war keiner. Verzweiflung machte sich in ihr breit, wie sollte sie Texomon denn holen, wenn sie hier festsaß? Er verließ sich doch auf sie! Warum hatte sie nicht sorgfältiger recherchiert? "Weil ich keine Zeit hatte", fauchte sie die Antwort halblaut, "Weil mein Bruder es ja mal wieder so schrecklich eilig hatte!" "Nerina?", erscholl da plötzlich eine vertraute Stimme über ihr, "Hee! Ich bin hier oben! Pass auf! Ich hab ein Seil!" und mit einem peitschenden Geräusch sauste das Ende des starken Taus durch die Luft. Nerina fing es in den Händen und begann sofort, zu klettern. Das faserige Hanf schnitt schmerzhaft in ihre Handflächen, doch ächzend und hin und herschwankend hielt es stand, bis Nerus Hände über ihr in Sicht kamen und er ihr über den nächsten Dachkantel hinaufhalf. Keuchend blieben sie eine kleine Weile so hocken, dann bedeutete Neru ihr schweigend, ihm zu folgen und geduckt liefen sie über ein weiteres Dach bis auf dessen jenseitige Seite. Mit geübten Griffen knotete Neru das Seil um den Schornstein, dann ließ er erst sich selbst und dann Nerina daran heruntergleiten. Geschmeidig wie zwei Katzen landeten sie auf dem groben Kopfsteinpflaster der engen Nebengasse. Wie zufällig hob Neru seinen Rucksack vom Boden auf, dann gingen sie schweigend davon, das Seil blieb dünn und leise schwingend hinter ihnen zurück. "Danke, Neru", seufzte Nerina endlich erleichtert, als sie die breite Hauptstraße erreicht hatten und sich dem Strom der Passanten in Richtung ihres Berges anschlossen, "Das war Rettung in letzter Sekunde! Sag mal, wie zum Henker hast du mich gefunden und was machst du überhaupt hier oben?" Neru seufzte und strich sich müde das dunkle Haar aus der Stirn. "Na, ich kam mir irgendwie ziemlich gemein vor, als einziger dort unten in der Höhle zu sitzen, während ihr alle den Kopf für meinen Plan hinhalten müsst. Da bin ich rauf zum Hafen gekommen, um wenigstens im Notfall noch zu helfen und als du so plötzlich aufgelegt hast, da habe ich deine GPS-Koordinaten ausgelesen und gesehen, wohin du gelaufen bist. So konnte ich auf dem Stadtplan die beste Fluchtmöglichkeit raussuchen und dich abholen..." "Du bist ein Genie", seufzte Nerina, ebenso müde, "Und, ist mit Evoli alles klar?" "Ja, ihr geht’s gut", erwiderte Neru schulterzuckend, "Sie meckert über den Kohlestaub, aber ansonsten ist alles klar. Wenn das Schiff nach Plan fährt, können wir sie morgen Mittag in Kiyoshi abholen. Wo steckt Texomon, ist er...?" "Er ist wohlauf", erwiderte Nerina rasch, "Allerdings wartet er am Festland, keinen Schimmer, was da schiefgegangen ist, aber ich wollte nicht fragen. Er war... verletzt..." "Er hat tapfer gekämpft!", sagte Neru fest und legte ihr eine zitternde Hand auf die Schulter, "Ich habe gesehen, wie er gegen all diese Schillok gekämpft hat..." "Ja, aber es war zu viel für ihn", entgegnete Nerina leise, "Er war total fertig und ... ich würde ihn wirklich ungern nochmal einer solchen Gefahr aussetzen..." "Nein!", entgegnete Neru fest, "Wir werden weder Evoli, noch Texomon, noch dich je wieder in solche Gefahr bringen, das verspreche ich dir! Soweit soll es nicht mehr kommen!" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)