Yoyogi von Harulein (Tsuzuku & Meto) ================================================================================ Kapitel 13: Arashi ------------------ Am Montagmittag so um eins stand wieder einmal Kasumi bei Meto vor der Tür. Es war ja eine Weile her, dass er sie gesehen hatte und so gab es eine Menge, was er ihr schreiben konnte. Obwohl sie seine älteste Freundin war, wollte er nicht mit ihr sprechen. Es war ähnlich wie bei seinen Eltern. Ein merkwürdiger Loslösungsprozess, der eben auch diese Freundin, die beinahe wie eine Art Schwester für ihn war, mit einschloss. „Meto, kann ich mir ein paar Sachen von dir ausleihen?“, fragte sie, nachdem er sie hereingebeten und sie sich an den Esstisch gesetzt hatte. „Wieso?“ „In meinem Design-Studiengang ist ein Seminar zu Harajuku-Styles, da hab ich mich angemeldet. Und nun soll ich einen Vortrag halten. Ich weiß ja einiges von dir, aber ich hab nichts außer Zeitschriften und Videos zum Zeigen. Deshalb dachte ich, du könntest mir vielleicht Klamotten oder so leihen.“ Meto schüttelte den Kopf. Er wollte seine geliebten Kleider nicht aus der Hand geben, auch nicht an Kasumi. Die Sachen waren seine Schätze, die blieben im Schrank, wenn er sie nicht trug. „Meto, bitte.“ Kasumi gab nicht so schnell auf. „Wieso denn nicht?“ „Das sind meine Sachen. Ich will nicht, dass denen was passiert.“ Kasumi überlegte einen Moment, dann hatte sie eine Idee: „Und wenn du mitkommst? Dann hast du sie immer im Blick. Und du siehst meine Uni mal von innen.“ Schließlich ließ Meto sich überzeugen. Er lief in sein Zimmer, holte seine Sporttasche und fragte Kasumi: „Zu welchem Stil denn?“ „Lolita. Sweet, Gothic, alles.“ Er packte das rosa-weiße Kleid ein, das schwarze und noch ein weißes mit roten Kunstblutspritzern. Alle, die er hatte. Dazu die passenden Haarschleifen, Kniestrümpfe, alles, was dazu gehörte. Wenn er Kasumi schon half, dann richtig. „Du bist heute aber ziemlich… normal angezogen“, bemerkte diese und zeigte auf Metos heutiges Outfit, dass aus recht schlichten, schwarzen Deorart-Sachen bestand. „Hab heute keine Lust, mich großartig schick anzuziehen.“ „Sieht aber gar nicht schlecht aus.“ Auch geschminkt hatte Meto sich heute kaum und als sie mit der großen Tasche aus dem Haus gingen, hatte er sich eine große, dunkle Sonnenbrille und eine blaue, weiß gepunktete Cap mit einer aufgemalten HelloKitty-Schleife und silbrigen Nieten aufgesetzt. „Du bist ja maskiert wie ein VK-Rockstar!“, bemerkte Kasumi. „Fehlt nur noch der Mundschutz.“ Meto kramte in seiner Handtasche nach selbigem, fand jedoch keinen. „Ein Rockstar bin ich trotzdem. Jedenfalls werde ich irgendwann einer.“ „Ich drück dir die Daumen“, sagte Kasumi und klang dabei recht ernst. Sie wusste, wie wichtig Meto dieser Traum war und wollte ihn, so gut sie konnte, unterstützen. Die Bahnfahrt zur Uni war nur insofern anstrengend, dass es ziemlich voll war. Kasumi, die jeden Tag zur Rushhour mit der Bahn durch Tokyo zur Uni fuhr, war daran gewöhnt und passte ein wenig auf, dass Meto, der ja meistens nur am Wochenende Bahn fuhr, nicht ins schlimmste Gedränge geriet. Sie kannte seine Soziophobie nur zu gut. Ansonsten passierte nichts Besonderes und auch Kasumis Vortrag verlief problemlos. Meto wartete auf dem Flur vor dem Vortragsraum und las in einer der herumliegenden Zeitschriften, während seine Kindheitsfreundin drinnen ihr Referat über Harajuku-Mode hielt. Auf der Rückfahrt war der Zug ziemlich voll, zuerst fanden sie beide keinen Sitzplatz und mussten stehen. „Mamehara?“, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Meto kam sie entfernt bekannt vor, doch erst, als er sich umdrehte, erkannte er, wieso: Hinter ihm und Kasumi standen zwei junge Studenten, die er sofort wiedererkannte. Es waren zwei frühere Mitschüler aus seiner alten Klasse, ein Mädchen namens Sashihara und ein Junge namens Suzuda. Er schob seine Sonnenbrille höher, zog die Cap ein Stück weiter runter und den Kragen seiner schwarzen Jacke hoch. Sein Herz begann zu rasen und er spürte eine unangenehme, aufgeregte Hitze aufsteigen. Kasumi, die sich ob der Ansprache mit ihrem Nachnamen ebenfalls umgedreht hatte, brauchte einen Moment, um zu begreifen, warum Meto so auf zwei einfache Studenten reagierte. Sie war zwar auf derselben Schule, aber nie in seiner Klasse gewesen und dort hatte auch niemand wirklich von ihrer Freundschaft gewusst. Sie begriff es einen Moment zu spät. Auf Sashiharas Stirn erschien eine verwirrte, fragende Falte. „Maeda?“, fragte sie, „Bist du das?“ Meto versteinerte förmlich. Zumindest äußerlich. Innerlich tobte ein Taifun mit heißem Regen, Sturm und Gedankenblitzen. „Du meinst Maeda Haruka?“, fragte Suzuda seine Begleiterin. „Nee, du! Das ist der nie im Leben. Maeda und blonde Haare, nein, dazu ist der doch gar nicht der Typ. Und schon gar nicht für Piercings!“ Sashihara starrte Meto weiter an. „Hey, bist du’s?“ Metos Hände begannen leicht zu zittern. Er stand sichtlich unter Druck. Gerade noch rechtzeitig schritt Kasumi ein. „Ihr verwechselt ihn. Das ist nicht Haruka. Sein Name ist Meto.“ „Häh? Meto? Was ist denn das für ein Name?“, fragte Suzuda. „Bestimmt ein Spitzname. Suzuda, ich sag’s dir, das ist Haruka“, wisperte Sashihara. „Der hatte nämlich auch solche auffälligen Lippen. So was vergess ich nicht!“ „Aber überleg mal, was Maeda Haruka für ein Typ war!“, widersprach Suzuda. „Der war doch komplett unauffällig, hätte sich nie im Leben Piercings stechen lassen oder die Haare so blond gefärbt! So jemand Unsichtbares macht doch so was nicht!“ „Hört mal, wir beide haben grad eine anstrengende Prüfung hinter uns“, log Kasumi genervt. „Könntet ihr uns jetzt also in Ruhe lassen?“ „Hast du denn noch Kontakt zu Maeda?“, fragte Suzuda. „Ja, ab und zu. Aber das geht euch nichts an.“ Sashihara bedachte Meto mit einem weiteren forschenden Blick. Sie schien fest davon überzeugt, ihn erkannt zu haben. Und das setzte ihn extrem unter Strom. An der nächsten Station stiegen sie und Suzuda jedoch aus und Meto und Kasumi konnten sich zwei Sitzplätze sichern. Für den Rest der Fahrt war Meto völlig apathisch und kaum ansprechbar. Er wirkte wie ein verletztes oder tief erschrockenes Tier, obwohl die große Sonnenbrille und der hochgezogene Kragen nicht viel erkennen ließen. Der Weg von der Bahnstation nach Hause war ebenfalls eine wortlose Angelegenheit. Kasumi wusste, dass solche ‚Begegnungen mit Haruka‘ für Meto furchtbar waren, doch dass es so schlimm war, hatte sie nicht vermutet. An der Haustür sagte sie „Auf Wiedersehen“, doch Meto ignorierte sie, schloss hektisch die Tür auf und verschwand im Haus. Der Taifun in seinem Kopf hatte immer weiter an Geschwindigkeit zugenommen, tobte so wie zuletzt vor über einem Jahr und zum ersten Mal seit so langer Zeit spürte er wieder diesen furchtbaren Druck im Kopf. Während er sich umzog und sich ziemlich unsanft das wenige Make-up aus dem Gesicht wischte, zitterte er am ganzen Körper und versuchte krampfhaft, sich am Gedanken an eine scharfe Klinge zu hindern. „Nein! Nein, und nochmals nein, Meto! Du wirst jetzt NICHT in diese alten Sachen zurückfallen!“, schrie er sich innerlich an, zerrte sich das T-Shirt über den Kopf, stand auf und rannte aus dem Zimmer. Auf dem Flur kam ihm seine Mutter entgegen. „Meto, alles o…“, begann sie, ehe sie erkannte, in welchem Zustand ihr Sohn war. Erschrocken trat sie beiseite und er rauschte an ihr vorbei. Lautes Türenknallen, dann war er allein mit der Musikanlage und seinem Schlagzeug. Er setzte sich dahinter, nahm die Sticks in die Hände und begann, den Druck in Stücke zu schlagen, abzubauen und im Lärm zu ersticken. „Du kriegst mich nicht klein! Ich will mich nie wieder selbst verletzen und ich hab Tsuzuku versprochen, dass ich’s nie mehr tue! Und deshalb wirst du Ungeheuer mich jetzt in Ruhe lassen! Sashihara und Suzuda haben doch keine Ahnung von mir! Ich bin nicht mehr Haruka! Ich heiße Meto, verstanden?!“ Dieses Mal schrie er laut, doch seine Stimme wurde von den unzähligen Schlägen aufs Schlagzeug fast völlig übertönt. Unermüdlich hämmerte er darauf ein, lange, so lange, bis er sich wieder etwas beruhigter fühlte. Er stand auf, nahm ein Handtuch vom Tisch neben der Anlage und trocknete seinen schweißüberströmten Oberkörper ab. Schwer atmend blieb er einen Moment lang mitten im Raum stehen und überlegte, ob er Tsuzuku eine Nachricht schreiben sollte, entschied sich aber zuerst dagegen. Sein Freund würde sich nachher noch Sorgen um ihn machen und das wollte Meto nicht. Also tat er etwas anderes, legte eine Versailles-Playbackplatte in die Anlage und setzte sich wieder hinters Schlagzeug, um Yukis Parts weiter zu üben. Nach einer halben Stunde Üben machte er Schluss für heute. Der Sturm hatte sich gelegt und als Meto in sein Zimmer zurückging, hatte er die Begegnung im Zug größtenteils abgehakt. „Geht’s dir besser, Meto?“, fragte seine Mutter, die in der Tür stand, respektvoll und sorgsam darauf bedacht, nicht hereinzukommen. Er nickte und lächelte kurz. „Das ist schön. Tsuzuku hat nämlich vorhin angerufen und gefragt, wie es dir geht. Er sagte, er hätte ein ungutes Gefühl gehabt.“ Sie hatte das Telefon in der Hand. „Willst du ihn gleich zurückrufen?“ Meto schüttelte den Kopf, schrieb „Später.“ und Minami legte das Telefon auf den Teppich. Sie zog ihren Grundsatz, Metos Zimmer nicht zu betreten, ziemlich genau durch. Der Blonde setzte sich erst einmal aufs Bett, nahm die neueste Ausgabe der „Tribal Tattoo“ vom Nachtschrank und blätterte darin herum. Als leidenschaftlicher Bodyart-Fan bewunderte er auch gern die kunstvollen Tattoos anderer und träumte selbst von neuen. In dieser Zeitschrift gab es auch einen großen Teil über Piercings und dieser interessierte ihn im Augenblick besonders. Sobald er wieder genug Geld hätte, wollte er sich ein neues stechen lassen. Die Frage war nur, welches und wo. Er konnte sich noch nicht recht entscheiden und dazu kam, dass das Stechen bei Kawakami Ken je nach Art des Piercings ziemlich teuer war, weil dieser sämtliche Gesundheitsbestimmungen sehr genau einhielt. Das war neben Kens Freundlichkeit auch der Grund, warum Meto kein anderes Studio aufsuchte. Also hieß es Sparen. Er schlug die Zeitschrift zu, stand auf, nahm das Telefon und drückte die Wahlwiederholungstaste, woraufhin Tsuzukus Handynummer auf dem Display erschien. Doch in diesem Moment wurde Meto klar, dass es Jahre her war, dass er zuletzt telefoniert hatte, und so bekam er ziemliches Herzklopfen allein davon, dass er das Gerät in der Hand hielt. Nach einigem „Soll ich, soll ich nicht?“ legte er es wieder aus der Hand und schrieb Tsuzuku stattdessen per Handy eine SMS: „Ich bin okay, hatte ein schlimmes Gewitter, ist aber vorbei.“ Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: „Wieso denn?“ „Ich bin mit Kasumi unterwegs gewesen und im Zug auf der Rückfahrt waren ehemalige Mitschüler von mir. Hat mich ganz schön durcheinander gebracht.“ „Kann ich mir vorstellen. Aber jetzt geht’s dir wieder gut?“ „Ja, alles okay. Hab mich gleich ans Schlagzeug gesetzt.“ „Sehr gut, du weißt dir ja zu helfen. Und wenn du drüber reden willst, ich hab in ‘ner Viertelstunde Schichtende, dann kannst du zu mir nach Hause kommen.“ Darüber reden. Meto war sich erst nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Schließlich holte das alles wieder nach vorn. Doch andererseits erschien es ihm so, als würde er, wenn er Tsuzuku nicht davon erzählte, eine Art Geheimnis vor ihm haben, und das wollte er auch nicht. Also beschloss er, hinzufahren, zog sich an, legte das übliche Make-up auf und machte sich auf den Weg nach Ichigaya. Als er an dem Haus ankam, war Tsuzuku noch nicht da und so setzte Meto sich auf die Stufen im Hauseingang und wartete. Es war ziemlich warm, die Straße flirrte im Licht des späten Nachmittags und in der Luft kündigte sich schon ein kommender Regen an. Meto hatte außer seinem Handy nichts dabei, um sich die Zeit zu vertreiben, also beobachtete er die vorbeigehenden Leute und stellte fest, in welchen Punkten sich dieses Viertel von seinem Zuhause unterschied. Hier sahen die meisten so aus, als würden sie allein leben, während in Adachi viele Familien wohnten. Die Häuser in Ichigaya waren ganz andere und es gab Läden und Restaurants. „Wo ist wohl der Laden, in dem Tsu arbeitet?“, fragte Meto sich. „Wenn er so lange für den Heimweg braucht, sicher in einem anderen Viertel.“ Er sah auf und in dem Moment kam Tsuzuku um die Ecke, sichtlich müde von der Arbeit, aber mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. „Hey“, sagte er, als er vor ihm stand, und schloss die Haustür auf. „Hast du lange gewartet?“ Meto schüttelte den Kopf. „Mir war jedenfalls nicht langweilig.“ Als sie dann kurz darauf zusammen in Tsuzukus Wohnzimmer saßen, fragte dieser: „Und? Magst du es mir erzählen?“ „Na ja… ich hab Kasumi zur Uni begleitet, weil sie sich für einen Vortrag Sachen von mir geliehen hat. Und auf der Rückfahrt… da waren halt Sashihara und Suzuda aus meiner alten Klasse. Sashihara hat mich erkannt, obwohl ich ‘ne Cap und ‘ne große Sonnenbrille auf hatte. Suzuda meinte dann, ich könnte das nicht sein, so von wegen ‚Haruka war doch komplett unauffällig, der würde nie Piercings und gefärbte Haare haben‘ und Kasumi hat sogar gelogen, ich wäre das nicht, aber Sashihara war sich total sicher. Die saß mal neben mir, deshalb weiß sie ziemlich gut, wie mein Gesicht aussieht.“ „M-hm…“ Tsuzuku nickte verstehend. Er konnte sich gut vorstellen, was für ein Durcheinander so eine Begegnung bei Meto auslösen konnte. „Das hat mich total umgehauen, so richtig. Zu Hause musste ich echt kämpfen, um keine Dummheiten zu machen und hab mich dann halt gleich ans Schlagzeug gesetzt.“ „Und gespielt bis zum Umfallen?“ Meto nickte. „Ich muss den Druck in Stücke schlagen.“ „Du hast echt gute Bilder für so was“, bemerkte Tsuzuku anerkennend. „Du bestimmt auch. Sag mal, schreibst du eigentlich auch Songs? Ich meine, weil… die meisten Sänger schreiben ja selbst.“ Tsuzuku stand auf, ging zum Schrank und kramte die lose Mappe mit seinen selbstgeschriebenen Songs heraus. „Ja, hin und wieder. Aber ich weiß nicht, ob sie gut sind.“ „Zeig mal her.“ Tsuzuku reichte ihm wahllos ein Blatt aus der Mappe, Meto nahm es entgegen und überflog es. Dabei schlich sich ein süßes Grinsen auf sein Gesicht. „Ziegen?“, fragte er und sah Tsuzuku fragend an. Dieser blickte verlegen zur Seite. Meto hatte einen der Punkte in seiner Art, Songs zu schreiben, gefunden, die er nicht mal selbst ganz verstand. „Ich mag Ziegen… ich finde, sie geben eine gute Symbolik ab“, gestand Tsuzuku schließlich. Meto kicherte leise. „Tsu, das ist so ein Klischee!“ „Ich weiß.“ Es war das erste Mal, dass Tsuzuku überhaupt mit jemandem über seine Songtexte sprach und so begann sein Herz wieder aufgeregt zu klopfen. Dass Meto auch noch gleich eine dieser schwer verständlichen Passagen gefunden hatte, verstärkte das noch. „Gefällt mir aber“, sagte der Jüngere. „Dekadentes Ziegenzählen, nee wirklich, das hat was.“ „Der Song ist noch lange nicht fertig.“ Das Blatt war nicht in Strophen unterteilt, sondern eine notizblatthafte Ansammlung von Stichworten, die Tsuzuku irgendwann eingefallen waren und die er dann zusammenpassend aufgeschrieben hatte. Er wusste weder eine Melodie, noch hatte er eine Art Film dazu im Kopf. „Hast du auch schon einen fertig?“, fragte Meto. Tsuzuku suchte ein anderes Blatt aus der Mappe. Es war der einzige Song, den er bisher mit Melodie und Entwurf fertig hatte. Er schrieb doch recht selten, und oft nur einen Satz oder ein Stichwort, deshalb kam er kaum voran. Auch wegen der Arbeit im Tanaka, nach der er meist so müde war, dass es gerade noch so für seine täglichen Gesangsübungen reichte. Dieses Blatt las Meto sich ganz durch, Wort für Wort, in einem Zug. Am Ende lächelte er, doch seine Augen schimmerten verdächtig. „Oh mein Gott, Tsuzuku…“, kam es leise über seine Lippen. Der Song drehte sich um Angst. Angst vor Menschen, vor Einsamkeit, vor der halben Welt. Jene Angst, die sie beide nur zu gut kannten. Tsuzuku sprach Meto mit diesem Song aus der Seele und rührte ihn beinahe zu Tränen. „Gefällt er dir?“, fragte er Schwarzhaarige. Meto nickte, blinzelte die Tränen weg, stand auf und schloss Tsuzuku in seine Arme. „Der Song ist wunderschön, Tsu. Den musst du irgendwann mal singen, auf einer richtigen Bühne, wenn wir ‘ne echte Band haben.“ Tsuzuku sagte leise: „Wenn ich dann mal nicht auf der Bühne anfange zu weinen…“ „Dann steh ich auf und nehm dich in den Arm.“ Meto lächelte. „So wie jetzt?“ „Ganz genau so. Wenn mein Tsu weint, muss ich ihn doch trösten.“ Jetzt war es Tsuzuku, der den Tränen auf einmal gefährlich nahe kam. „Mein Gott, Meto… sag das doch nicht…“ „Rührt dich das so stark? Mensch, Tsuzuku, ich weiß ja, dass du emotional bist, aber so sehr?“ Meto sah seinen Freund einen Moment lang an, dann fragte er: „Hat das jetzt vielleicht irgendwas mit deinem Früher zu tun?“ „Mein was?“ „Na ja, wie du früher warst und so. Was bei mir Haruka war. Weil… dieser Song… das hast du selbst so erlebt, oder?“ Tsuzuku nickte und versuchte, die Tränen wegzublinzeln. Es gefiel ihm gar nicht, schon wieder vor seinem besten Freund zu weinen, doch als dieser ihn mit „Jetzt komm schon, erzähl!“ aufforderte, waren seine Versuche, die Tränen zu unterdrücken, vergeblich. Meto tat dasselbe wie beim letzten Mal, wartete geduldig, bis Tsuzuku sich wieder halbwegs beruhigt hatte und fragte dann vorsichtig noch einmal nach. „…erzähl mir doch mal was davon, wie du früher warst…“ Tsuzuku wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg, was seinem dunklen Augen-Makeup den Rest gab, und begann, mit leiser Stimme zum ersten Mal wirklich mit jemandem über sein Leben früher mit Saeko zu sprechen. „Du weißt ja, dass ich… mit meiner Mutter nicht so besonders gut zurechtkomme. Dass ich nur ab und zu mit ihr telefoniere und sie ansonsten aus meinem Leben raushalte. Und du weißt, warum. Weil sie eben… nicht gerade das ist, was man einen umsichtigen Menschen nennt.“ Er dachte: „Hasse ich sie?“ und dann: „Nein, hassen tu ich sie nicht. Sie ist mir eher egal und ich will einfach nichts mit ihr zu tun haben.“ Es war keine glühende Wut, die er empfand, wenn er mit Saeko konfrontiert wurde, sondern ein schmerzhaft stumpfes, kaltes Gefühl, wie weiß verbrannte Asche. „Sie ist eben entsetzlich unsensibel und verletzend“, sagte er. Meto nickte. „War sie schon immer so?“ „Ja. Manchmal fast sogar noch schlimmer. Ich meine, sie hat mich nie geschlagen oder so, das nicht, aber wirklich um mich gekümmert hat sie sich auch nicht. Essen, warmes Zimmer, 5000 Yen Taschengeld und so, das hatte ich alles, aber emotional… war da nichts. Nie so was wie Interesse oder Mitgefühl, ich war ihr irgendwie… ziemlich egal. Ich weiß nicht, warum sie so ist, nur, was das mit mir gemacht hat, beziehungsweise was ich deswegen nicht kann. Weil sie mir nie beigebracht hat, wie man mit Menschen richtig umgeht, musste ich mir das alles selbst aneignen. Ich musste sehen, wie ich das alles selbstständig lerne und hab angefangen, die Leute zu beobachten, um rauszukriegen, wie Menschen funktionieren und wie ich mit ihnen umgehen muss. Und ich hab’s auch relativ schnell gelernt, wenn ich’s erstmal verstanden habe. Aber… na ja, wenn man sich solche Sachen selbst beibringen muss, bleibt da immer so eine Unsicherheit und eine ganz gemeine Angst. Deshalb konnte ich nie jemanden wirklich nah an mich heranlassen und bin meistens auf Distanz geblieben. Und wenn jetzt jemand wie du oder MiA oder deine Eltern so nett zu mir ist, kriege ich Herzklopfen und gerate so aus der Fassung.“ „Ist ja klar, weil du das einfach von zu Hause nicht kennst“, sagte Meto. „Aber ich glaub, irgendwann gewöhnst du dich daran, dann ist es für dich nur noch schön.“ „Ja, vielleicht.“ „Und wenn nicht, dann musst du das vor mir auch nicht verstecken. Vor mir kannst du immer so sein, wie du bist, Tsuzuku.“ Meto lächelte. „Und jetzt haben wir beide für heute genug geheult und machen mal was Lustiges. Wo hast du deine Schminksachen?“ Schminken war etwas, das Meto wirklich Spaß machte, und obwohl Tsuzuku etwas weniger Auswahl an bunten Farben im Schminkkasten hatte, reichte es doch aus, dass beide ihre Freude daran hatten, dem jeweils anderen ein schönes Make-up aufs Gesicht zu zaubern. Hier zeigte sich Metos Experimentierfreudigkeit besonders deutlich und so erkannte Tsuzuku sich, als er schließlich in den Spiegel schaute, erst selbst kaum wieder. „…wow…“, entfuhr es ihm überrascht. Meto kicherte. Er zog sein Handy hervor. „Lächeln, Tsu!“ und schon war das für Tsuzukus Verhältnisse recht bunte Make-up auf Bild verewigt. „Wenn wir irgendwann mal berühmt sind, dann stelle ich das irgendwo online“, dachte Tsuzuku. „Als Erinnerung an die Anfänge sozusagen.“ Dieser Traum, irgendwann auf einer echten Bühne zu stehen, zu singen und die Halle zum Kochen zu bringen, daran dachte er den Rest des Abends. Auch als Meto schon nach Hause gegangen war. Und dieser Traum kam mit stetigen Schritten näher, machte ihm glückliches Herzklopfen und trieb ihm beinahe schon Freudentränen in die Augen. Aber nur beinahe. Heute hatte er schon genug geweint. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)