Mallory von Sky- ================================================================================ Kapitel 1: Ankunft in Dark Creek -------------------------------- Es war wirklich ein Fehler gewesen, einfach weiterzufahren, anstatt ein Motel aufzusuchen. Die Uhr zeigte bereits Mitternacht und es war so dunkel, dass nicht einmal der Mond und die Sterne zu sehen waren. Inzwischen bereute Mallory den Entschluss, Hals über Kopf einfach loszufahren und selbst jetzt noch hinterm Steuer zu sitzen, obwohl sie müde war. Nun trank sie während der Fahrt bereits den dritten Kaffee, um sich wach zu halten, aber der war auch bereits kalt und schmeckte widerlich. Aber wäre sie nicht so überstürzt aufgebrochen, hätten ihre Pflegeeltern sicher noch eine Möglichkeit gefunden, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten, zu ihrer Heimatstadt Dark Creek zu fahren. Ihnen hätte sie in dieser Situation alles zugetraut, selbst dass sie ihren Wagenschlüssel versteckten oder sie anderweitig festnagelten. Doch das hätte Mallory sowieso nicht aufgehalten. Sie war ohnehin sauer genug gewesen, weil sie erst vor kurzem erfahren hatte, dass sie eigentlich keine geborene Whitmore war, sondern lediglich ein Pflegekind, das irgendwo auf der Landstraße in der Nähe von Dark Creek aufgegriffen wurde. Völlig verstört und blutüberströmt und dennoch körperlich unversehrt. Ihre leiblichen Eltern hatte man nie finden können, weshalb Mallory in Pflege kam, nämlich zu den Whitmores. Über ihre Kindheit oder über die Whitmores selbst konnte sie sich nicht beschweren. Sie war ganz normal aufgewachsen und ihre Pflegemutter hatte sie wie ihr eigenes Kind aufgezogen. Im Grunde war sie in einer glücklichen Familie groß geworden. Und mit Edna, der leiblichen Tochter von Ellen, hatte sie ein schwesterliches Verhältnis, auch wenn sie sich oft nur stritten. Lange Zeit wusste Mallory nichts und erfuhr erst durch einen alten Zeitungsartikel, dass sie gar nicht die leibliche Tochter war, sondern bloß zur Pflege damals aufgenommen wurde, weil man ihre Eltern nie finden konnte. Natürlich hatte Mallory ihre Pflegemutter daraufhin zur Rede gestellt und ihr Sachen an den Kopf geworfen, die sie inzwischen wieder bereute. Aber sie war einfach nur wütend gewesen, dass man ihr diese Geschichte bis heute verschwiegen hatte, obwohl sie schon 24 Jahre alt war. Und da sie sich an rein gar nichts an die Zeit vor den Whitmores erinnern konnte, hatte sie beschlossen, selbst nach Antworten zu suchen. Von ihren Pflegeeltern hatte sie keine vernünftigen Antworten bekommen und da Dark Creek der einzige Anhaltspunkt war, den sie hatte, hatte sie sich kurzerhand mit ihrem Reisegepäck in den Wagen gesetzt und war losgefahren. Da sie sowieso im Betrieb ihres Pflegevaters arbeitete und Edna solange die Vertretung im Büro machen konnte, konnte sie sich diese Freiheit angesichts all der Lügengeschichten seitens ihrer Familie herausnehmen. Inzwischen war sie schon knapp fünf Stunden unterwegs und hatte nur ein Mal kurz an der Tankstelle angehalten und keine Pausen gemacht. Aber bevor sie Dark Creek nicht erreicht hatte, wollte sie auch keine Pause einlegen. Außerdem dauerte es sowieso nicht mehr lange, bis sie dort war. Es konnte sich nur noch um höchstens zehn bis zwanzig Minuten handeln. Müde rieb sie sich die Augen und wäre beinahe eingenickt, da klingelte plötzlich ihr Handy und nachdem sie den Freisprecher betätigt hatte, nahm sie den Anruf entgegen. Als sie die Stimme ihrer besorgten Pflegemutter hörte, spürte sie, wie die Wut erneut in ihr hochkochte. „Mum, was gibt es?“ „Mallory, bist du immer noch unterwegs? Um diese Uhrzeit?“ „Lass das bitte meine Sorge sein. Ich bin kein kleines Kind mehr und ich habe jetzt auch keine Lust, mit dir zu reden. Ich bin immer noch stinksauer!“ „Aber du musst uns doch verstehen, Liebes. Wir wollten dich doch nur beschützen!“ „Und deshalb lügt ihr mir einfach ins Gesicht, ohne mit der Wimper zu zucken? Ihr hättet mir spätestens bei meinem 18. Geburtstag die Wahrheit sagen sollen. Hätte ich nicht diesen Zeitungsausschnitt gefunden, dann hättet ihr mich doch den Rest meines Lebens belogen. Und jetzt behaupte bloß nicht, dass das nicht stimmt!“ „Das… das habe ich auch nicht gesagt. Aber Mallory…“ „Ich muss mich sowieso auf den Verkehr konzentrieren und hab deshalb auch keine Zeit für dich. Ich schicke dir eine Nachricht, wenn ich angekommen bin und bis dahin will ich weder von dir, noch von Dad angerufen werden.“ Ohne die Antwort ihrer Pflegemutter abzuwarten, beendete Mallory das Gespräch und steckte ihr Handy wieder ein. Tatsächlich musste sie sich jetzt unbedingt auf die Straße konzentrieren. Sie hatte den Wald von Dark Creek erreicht und selbst mit Fernlicht konnte man kaum etwas erkennen. Eine Kollision mit einem Wild oder einem lebensmüden Nachtwanderer wäre das Allerletzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Doch trotzdem konnte sie die Tatsache einfach nicht vergessen, dass sie 17 Jahre lang belogen wurde, was ihre Herkunft betraf. Natürlich hatte sie sich manchmal gefragt, warum es keine Babyfotos von ihr gab, geschweige denn sonst irgendwelche Bilder von ihren ersten sieben Jahren. Aber Ellen und Richard hatten ihr so überzeugend erklärt, dass alle wichtigen Unterlagen bei einem Hausbrand verloren gegangen waren. Im Nachhinein ärgerte sie sich, dass sie so naiv gewesen war und diesen Schwachsinn doch tatsächlich geglaubt hatte. Dann hätte sie wahrscheinlich schon viel früher die Wahrheit in Erfahrung bringen können. Nun gut, dass die beiden sie beschützen wollten, konnte Mallory nachvollziehen. Aber inzwischen war sie längst volljährig und hätte ein Anrecht auf die Wahrheit gehabt. Trotzdem lebten sie alle dieses Leben weiter, welches nur auf Lügen aufgebaut war. Als sie merkte, dass sie viel zu schnell fuhr, ging sie ein wenig vom Gaspedal runter. Sie fuhr immer viel zu schnell, wenn sie wütend war und das war in so einer düsteren Gegend fernab der City ein Problem. Wenn sie jetzt einen Unfall baute, hätte sie schlechte Karten, denn bis ein Krankenwagen kommen würde, wäre sie sicherlich schon tot. Ich sollte mich besser beruhigen, dachte sie und atmete tief durch. Vergiss einfach diesen bescheuerten Streit und vergiss für einen Moment deine ebenso bescheuerten Eltern! Tatsächlich gelang es ihr, langsam wieder herunterzukommen und um sich ein wenig abzulenken, schaltete sie den CD-Spieler an. Doch anstatt ihren Lieblingshits von Nickelback spielte plötzlich Justin Bieber und das brachte das Fass zum Überlaufen. „Verdammt Edna! Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht mit meinem Wagen fahren!“ Es war doch jedes Mal das Gleiche mit ihrer Schwester. Egal wie oft sie Edna sagte, sie solle die Finger vom Wagen lassen, klaute sie ihr immer heimlich den Wagenschlüssel, weil sie noch selbst kein Auto hatte. Und ihre Eltern brauchten selbst den Combi, weshalb sie sich immer den Mercedes von Mallory auslieh. Natürlich erkannte Mallory sofort, wenn Edna im Wagen gewesen war, denn nur sie hörte Justin Bieber und vergaß ständig die CD im Wagen. Da sie schlecht während der Fahrt die CD wechseln konnte, schaltete Mallory stattdessen das Radio ein, wo aber nur die Nachrichten liefen. Irgendwie war das heute einfach nicht ihr Tag. Die Landstraße zog sich scheinbar ewig hin und es war vollkommen still. Kein Gegenverkehr, nur lauter Bäume… Mallory spürte, wie sie wieder müde wurde und den eiskalten Kaffee konnte sie auch nicht mehr trinken. Sie hasste nichts mehr als kalten Kaffee. Wirklich alles musste schief laufen. Zuerst der Familienstreit, dann die ewig lange Autofahrt, die Justin Bieber CD und zu guter Letzt noch der kalte Kaffee. Am liebsten hätte sie laut geschrieen, einfach nur um ihren Frust loszuwerden. Hoffentlich hatte sie mehr Glück, in Dark Creek eine Bleibe zu finden. Dummerweise war sie einfach losgefahren, ohne sich vorher über die Stadt zu informieren und in Erfahrung zu bringen, ob es dort überhaupt ein Hotel gab. Sie wusste lediglich, dass Dark Creek eine Kleinstadt mit allerhöchstens 2.000 Einwohnern war. Es gab dort nicht viel, dafür aber einen riesigen Wald und einen Teich, der ausschlaggebend für den Namen der Stadt war. Mallory konnte sich nur an sehr kurze Momente an ihre Vergangenheit in ihrer Heimatstadt erinnern und wusste, dass sie gerne am Teich gespielt hatte. Das war auch schon alles. An ihre Familie konnte sie sich nicht erinnern, sie wusste noch nicht einmal, ob sie überhaupt Geschwister hatte. Ihre einzige Hoffnung war, jemanden in Dark Creek zu finden, der sich vielleicht an sie erinnern konnte. Sie wollte jedenfalls nichts unversucht lassen, um mehr über ihre Herkunft zu erfahren und wieso sie damals blutüberströmt auf der Straße aufgefunden worden war. Womöglich war etwas Schlimmes passiert, vielleicht ein Mord. Was, wenn ihre Familie ermordet worden war und sie als Einzige überlebt hatte und entkommen konnte? Ein wirklich schauriger Gedanke, bei dem es ihr eiskalt den Rücken hinunterlief. Aber wenn es vor 17 Jahren einen Mord in Dark Creek gab, dann musste es doch Zeitungsartikel geben oder irgendeinen Hinweis darauf. Es war doch kaum möglich, so etwas zu vertuschen und dann musste es auch Leute in der Stadt geben, die sich an Näheres erinnern konnten. Einen Mord vergaß man selbst nach 17 Jahren nicht so einfach. Der Zeitungsartikel mit dem Foto, auf welchem sie als kleines siebenjähriges Kind zu sehen war, enthielt keine verwertbaren Informationen. Es war von einem verstörten Mädchen die Rede, von dem nicht mal der Name bekannt war. Und wenn ihre Pflegeeltern wirklich die Wahrheit gesagt hatten und nichts Genaueres über die Umstände wussten, dann musste die Polizei bis heute im Dunkeln tappen. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, dass wirklich niemand irgendetwas darüber wusste. Irgendwo mussten Beweise existieren und mit Sicherheit hatten Ellen und Richard nachgefragt, was eigentlich passiert war. Wer würde denn nicht als Elternteil wissen wollen, was einem siebenjährigen Kind zugestoßen war, das mitten in der Nacht verweint und blutüberströmt orientierungslos auf der Landstraße umherirrte. Man musste doch ausgehen, dass mehr passiert war als die Geschichte, dass man sein ständig nervendes Kind an der nächstbesten Raststätte aussetzte. Dergleichen kam ab und zu mal vor, wenn zum Glück auch nicht allzu häufig. Das wäre ja noch schöner gewesen. Jedenfalls konnten weder Ellen noch Richard etwas Genaueres sagen außer dem, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten. Wenn die Polizei damals wirklich gründlich gearbeitet hat, dann hatten sie sicher auch in Dark Creek Ermittlungen angestellt. Warum haben sie nichts herausgefunden? Vielleicht stammte sie ja gar nicht aus Dark Creek, sondern war vielleicht im Wald festgehalten worden und war wahrscheinlich das Opfer einer Entführung. Das wäre auch eine Möglichkeit, denn der Wald war riesig und so dicht bewachsen, dass man sich leicht verlaufen konnte. Aber Mallory konnte sich doch an kurze Szenen erinnern, wo sie am Teich von Dark Creek gespielt hatte und sie hätte wohl kaum diese Erinnerungen, wenn sie nicht dort gelebt hätte. Die ganze Sache war merkwürdig und stank gewaltig bis zum Himmel. Und bevor sie nicht eine zufriedenstellende Antwort auf ihre Fragen hatte und endlich die Wahrheit wusste, würde sie auch nicht wieder kehrt machen und nach Hause fahren. Ihre Pflegeeltern konnte sie ruhig eine ganze Weile warten lassen. Das geschah ihnen ganz Recht für die dreisten Lügen der letzten 17 Jahre. Der Weg führte immer weiter geradeaus und Mallory bemerkte, dass sich leichter Nebel am Boden bildete. Auch das noch, dachte sie und stöhnte entnervt. Jetzt auch noch Nebel. Wenn der sich noch verdichtete, konnte sie das Fernlicht vergessen und war somit fast völlig blind. Und im Schritttempo würde sie ewig brauchen, bis sie endlich ihr Reiseziel erreicht hatte. Aber es schien ganz gut auszusehen und offenbar blieb es tatsächlich nur bei leichtem Bodennebel. Nun ja, sie befand sich ja quasi auf dem Land und da war so etwas auch nicht unüblich. Vielleicht hatte sie ja Glück und der Nebel klärte sich gleich wieder. Wenn es nur nicht so stockfinster wäre. Sie wurde urplötzlich aus ihren Gedanken gerissen, als sie eine kleine Gestalt am Straßenrand bemerkte. Sie kniff angestrengt die Augen zusammen und glaubte, einen kleinen Jungen zu erkennen, der einen Pyjama trug. Er war ganz alleine und irgendwie kam dieses Bild ihr merkwürdig vertraut vor. Ein Deja-vu etwa? Sie beschloss, besser am Straßenrand anzuhalten und den Jungen anzusprechen. So alleine konnte sie in doch nicht herumlaufen lassen, er trug ja nicht einmal Schuhe. Irgendetwas musste passiert sein, so viel stand fest. Mallory fuhr ein wenig vor, dann stellte sie den Wagen am Straßenrand ab und stieg aus. Der Junge kam langsam mit mechanischen Bewegungen auf sie zu und zeigte keinerlei Reaktion. Selbst als sie auf ihn zukam und ihn ansprach, reagierte er nicht. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen, aber sie hatte schon mal von diesem Phänomen gehört. Offenbar war der Junge ein Schlafwandler. Stellte sich nur die Frage, was sie jetzt tun sollte. Ihn aufwecken? Irgendwo hatte sie mal gehört, dass man das nicht machen sollte, aber sie wusste nicht, warum. Ein Rascheln von der Seite schreckte sie auf und plötzlich kam jemand auf sie zugerannt. Mallorys Herz setzte fast einen Schlag aus und sie fürchtete zunächst, dass der Kerl bewaffnet war. Sie schrie auf und in dem Moment wachte auch der Junge auf. Völlig desorientiert sah er sich um und wusste anscheinend nicht, wo er war. Und als er realisierte, dass er in den Armen einer völlig wildfremden jungen Frau war, bekam er Angst und schrie seinerseits und versuchte, sich loszureißen. Er wehrte sich so heftig, dass Mallory ihn nicht festhalten konnte und so ließ sie ihn los, woraufhin er versuchte, die Flucht zu ergreifen. Die schattenhafte Gestalt hielt ihn schließlich fest und sprach dem Jungen beruhigend zu. Kurz darauf tauchte aus dem Wald eine weitere Gestalt auf, die mit einer Taschenlampe bewaffnet war. Sie kam völlig außer Atem herbeigestürmt und musste erst einmal Luft holen. „Und? Hast du ihn?“ Im Licht der Scheinwerfer kamen zwei junge Männer zum Vorschein. Der eine, der den Jungen im Arm hielt, war allerhöchstens ein oder zwei Jahre älter als Mallory und hatte rotbraunes schulterlanges Haar, zudem sah er sportlich gekleidet aus. Der andere war etwas kleiner und schmächtiger vom Körperbau und hatte blondes Haar, welches er teilweise unter seiner Mütze versteckte. Sein Hals war bandagiert und zusätzlich trug er schwarze Handschuhe. Er war völlig aus der Puste und rang nach Luft. „Alles in Ordnung, es geht ihm gut.“ „Gott sei Dank. Aber ehrlich Mann, beim nächsten Mal bitte nicht ganz so schnell, okay? Ich komm ja kaum hinterher.“ Erst jetzt schienen die beiden Mallory zu bemerken und konnten sich fast denken, was passiert war. „Entschuldige bitte. Dean schlafwandelt des Öfteren mal, aber sonst ist er nie in den Wald gegangen. Ich hoffe, es hat kein Unglück gegeben.“ „Nein, ich hab ihn noch rechtzeitig gesehen. Und wer seid ihr?“ Der Erste, der den Jungen abgefangen und ihn nun auf den Arm genommen hatte, stellte sich als Ilias Stein vor. Mallory fiel auf, dass er einen leichten Akzent hatte und auch sein Name klang irgendwie ausländisch. Vielleicht ein Europäer. Er machte einen netten Eindruck und auch sein Begleiter, der sich als Finnian McKinley vorstellte, wirkte sympathisch und harmlos. Allerdings schien Finnian etwas seltsam zu sein, denn er vermied es, Mallory die Hand zu reichen und er schaute ihr auch nicht in die Augen. Als hätte er etwas zu verbergen. Nachdem sie sich vorgestellt hatte, fragte Ilias direkt „Was machst du noch um die Uhrzeit in dieser Gegend? Du kommst nicht von hier, oder?“ „Nein, ich komme aus Hansington und wollte meine alte Heimatstadt besuchen.“ „Du kommst aus Dark Creek?“ Dass Ilias das fragte, ließ darauf schließen, dass er von dort kam. Na das war ja ein seltsamer Zufall. Sofort antwortete Mallory „Ja, ich hab vor 17 Jahren dort gelebt und wollte mehr über mein Leben und meine Familie herausfinden.“ „Dir ist aber schon klar, dass wir dort kein Hotel oder so was in der Art haben?“ Ganz kurz hatten sich Finnians und ihre Blicke gekreuzt, woraufhin dieser ihr komplett auswich. Ob er irgendwie schüchtern war? „Ach so. Ähm, gibt es vielleicht in der Nähe von Dark Creek irgendwo ein Motel oder so etwas in der Art?“ Beide Jungs tauschten unsichere Blicke aus und überlegten. „Also ich wüsste jetzt nichts in der Art. Du, Finny?“ „Nein, leider nicht. Aber Lewis hat doch sicher noch ein Zimmer frei.“ „Stimmt, daran hab ich gar nicht gedacht.“ Damit wandte sich Ilias wieder an Mallory. „Also die Sache sieht so aus: Ein Hotel in Dark Creek gibt es nicht und auch sonst ist hier nur dichter Wald. Aber Lewis, unser Arzt, wohnt in einer ehemaligen Pension und vermietet die Zimmer auch an andere. Ich wohne mit Dean auch dort. Wir können ihn ja mal fragen, ob er noch ein Zimmer frei hat, wenn das okay für dich ist.“ Da sie nur ungern die Nacht im Wagen verbringen wollte und auch keine Lust hatte, den ganzen Weg wieder durch den Wald zurückzufahren, erklärte sie sich einverstanden. Da Finnian und Ilias zu Fuß unterwegs waren und nun den kleinen Dean bei sich hatten, nahm Mallory sie im Wagen mit und ließ sich von Finnian, der direkt neben ihr auf dem Beifahrersitz saß, durch die Gegend lotsen. Ilias hatte es sich mit Dean auf der Rückbank bequem gemacht und versuchte, den Jungen wieder zum einschlafen zu bringen. Als sie in den Rückspiegel sah, bekam sie fast einen Schreck als sie erkannte, dass dem Jungen das rechte Auge fehlte. Das war ihr vorhin gar nicht aufgefallen. „Was ist mit seinem Auge passiert?“ „Keine Ahnung. Das war schon so, als er zu uns gekommen ist. Die Zwillinge haben ihn mir anvertraut und gesagt, dass er sonst niemanden hat. Seitdem kümmere ich mich um ihn.“ „Zwillinge?“ „Anna und Josephine. Sie leben abgeschieden und außerhalb von Dark Creek im Vergnügungspark. Josephine selbst bekommt man kaum zu Gesicht, weil sie blind ist. Aber ihre jüngere Schwester Anna kommt ab und zu vorbei, dann spielen sie und Dean zusammen. Aber was genau mit Dean ist, weiß keiner so wirklich. Vermutlich hat er keine Familie mehr, zumindest sagt er kaum etwas.“ Anna und Josephine. Irgendwo hatte sie diese Namen schon mal gehört, aber sie konnte sich das auch einbilden. Aber von einem Vergnügungspark wusste Mallory überhaupt nichts. Dark Creek war eine Kleinstadt, wozu brauchte man so etwas überhaupt, wenn der Ort sowieso derart abgeschieden war? Und an einen Park konnte sie sich überhaupt nicht erinnern. Wahrscheinlich war er viel später gebaut worden. Sie verließen den Wald nun und erreichten endlich Dark Creek. Von hier aus war es recht übersichtlich, da die Stadt nicht sehr dicht besiedelt war. In der Ferne erkannte Mallory die schattenhaften Umrisse eines Riesenrads und einer Achterbahn. Tatsächlich war dort ein Vergnügungspark. Aber… war er nicht genau an der Stelle, wo vor 17 Jahren noch der Teich gewesen war? Offenbar hatte man diesen zugeschüttet, trotzdem kam ihr das etwas seltsam vor. Sie erkannte nicht viel in der Dunkelheit, aber sie bekam eine Gänsehaut, als sie den Vergnügungspark sah. Es war, als würde von dort etwas Unheimliches ausgehen. „Wenn es dir nichts ausmacht, können wir erst mal bei mir vorbei. Ich hab meinen kleinen Bruder Keenan allein im Haus gelassen.“ Also ließ sich Mallory erst einmal zu Finnians Haus führen. Es lag etwas abgelegen und hatte mal deutlich bessere Zeiten gesehen. Die Fassade sah hässlich und alt aus, die Tür war zerkratzt und abgenutzt und der Rasen eine einzige Wildnis. Auch das Dach müsste mal repariert werden und ein Fenster war mit Brettern zugenagelt worden. Eine Bruchbude… Mit einem fröhlichen Grinsen bedankte sich Finnian für den Taxidienst und stieg aus. Mallory beobachtete, wie er zu diesem zerfallenen Haus ging und darin verschwand. Ungläubig wandte sie sich an Ilias. „Der wohnt doch nicht allen Ernstes dort!“ „Leider ja. Lewis hat ihm zwar angeboten, dass er in die Pension zieht, aber er weigert sich und man kann ihn ja schlecht zwingen.“ Ilias war es selbst ziemlich unangenehm und so versuchte er, das Thema schnell zu beenden und beschrieb Mallory den Weg zur Pension. Diese lag auf einer kleinen Anhöhe und machte einen sehr gepflegten und gemütlichen Eindruck, ganz im Gegensatz zu Finnians Haus. Es brannte noch Licht und nachdem Mallory den Wagen geparkt und ihre Sachen aus dem Kofferraum geholt hatte, folgte sie Ilias ins Innere der Pension. Dieser trug den schlafenden Jungen auf dem Rücken und als sie die Eingangshalle betraten, kam ihnen sogleich ein charismatischer junger Mann entgegen, der sie herzlich begrüßte. Er hatte langes blondes Haar, welches er zu einem Zopf gebunden hatte und strahlend blaue Augen. Noch nie in ihrem Leben hatte Mallory einen so schönen Mann gesehen und umso peinlicher wurde es ihr, als sie rot im Gesicht wurde. Zuerst wandte sich der Mann an Ilias und seine Erleichterung war nicht zu übersehen. „Gott sei dank, ihr habt ihn gefunden. Wo war er?“ „Er ist in den Wald gegangen und wäre beinahe unter die Räder gekommen. Diese junge Frau da braucht für die Nacht ein Zimmer. Hast du noch eines frei?“ „Natürlich, aber geh du erst mal mit Dean nach oben und leg ihn ins Bett.“ Damit verabschiedete sich Ilias von Mallory und ging mit dem Jungen auf dem Rücken die Treppe hoch ins obere Stockwerk. Nun galt die Aufmerksamkeit des charismatischen jungen Mannes allein Mallory. Er reichte ihr mit einem leicht verträumten, aber dennoch herzlichen Lächeln die Hand. „Mein Name ist Lewis Greenleaves, ich bin der Besitzer dieser bescheidenen Pension und der Arzt von Dark Creek. Du kannst ruhig Lewis zu mir sagen.“ Mallory erwiderte den Händedruck und spürte, wie sie schon wieder rot wurde. „Schönen guten Abend Lewis, ähm… mein Name ist Mallory Whitmore.“ „Schön, dich kennen zu lernen, Mallory. Wenn du willst, zeige ich dir dein Zimmer. Warte, ich helfe dir mit der Tasche.“ Der Typ sollte wirklich Arzt sein? Irgendwie wirkte er noch ziemlich jung für einen Arzt und er sah auch nicht wie einer aus. Er schien dafür viel zu verträumt und sanftmütig zu sein. Viel mehr schätzte sie ihn als Künstler oder Schriftsteller ein. Lewis nahm ihr die Tasche ab und führte sie hoch ins obere Stockwerk. Neugierig sah sie sich dabei um und stellte fest, dass die Pension zwar schlicht, aber sehr warm und gemütlich eingerichtet war. Sie hatte ihren gewissen Charme und wirklich überall hingen schöne Bilder an den Wänden und alles war mit Blumen dekoriert. „Wie viele wohnen hier eigentlich?“ „Nun, da wären zum einen ich, Ilias und Dean und dann noch drei weitere. Ab und zu kommt jemand hier vorbei, aber sonst ist hier nicht viel los. Ich vermiete die Zimmer, weil es sonst ziemlich einsam hier wäre und ein lebhaftes Haus ist doch viel angenehmer.“ Schließlich blieben sie vor der Zimmernummer 14 stehen, woraufhin Lewis einen Schlüssel hervorholte und aufschloss. Er stellte die Tasche auf dem Bett ab und schaltete das Licht an. Das Zimmer war hübsch eingerichtet. Es gab ein ungewöhnlich großes Bett, ein Bad und einen Kleiderschrank. Neben den Fenstern gab es sogar einen Zugang zum Balkon. „Wie lange willst du eigentlich hier bleiben, Mallory?“ Unsicher zuckte sie mit den Achseln und antwortete „So lange, bis ich gefunden habe, wonach ich suche. Keine Ahnung, wie lange.“ Mit einem etwas seltsamen Blick reichte Lewis ihr den Zimmerschlüssel und wandte sich zum Gehen. Er blieb aber an der Türschwelle stehen, ohne sich umzudrehen. „Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, dann solltest du so schnell wie möglich wieder von hier fortgehen. Glaub mir, es ist besser so. Diese Stadt ist ein Gefängnis und im schlimmsten Falle wirst du hier genauso festsitzen, wie wir alle hier.“ „Was… was meinst du damit?“ „In Dark Creek geschehen seltsame Dinge. Ich weiß noch nicht genau, was hier nicht stimmt, aber Fakt ist, dass niemand von uns hier diesem Ort entkommen kann. Und wenn du Pech hast, dann ist es für dich bereits auch zu spät. Lass dir das durch den Kopf gehen. Gute Nacht.“ Damit schloss Lewis die Tür hinter sich und ließ Mallory alleine im Zimmer. Kapitel 2: Das Geheimnis hinter der Maske ----------------------------------------- Die Nacht hatte Mallory kein Auge zugekriegt und war dementsprechend am nächsten Tag todmüde. Zumindest hatte sie für die Nacht ein weiches Bett gehabt und musste nicht, wie zuerst befürchtet, im Wagen übernachten. Erst, als sie aus dem Bad zurückkam, fiel ihr noch ein, dass sie völlig vergessen hatte, ihren Eltern Bescheid zu sagen, dass sie angekommen war. Sie holte ihr Handy raus und schrieb in einer kurz gehaltenen SMS, dass sie für die Nacht ein Zimmer gefunden hätte und es ihr gut ging. Trotzdem wünsche sie keine Anrufe, weil sie keine Lust darauf habe. Damit hatte sie ihre Pflicht getan und konnte guten Gewissens in den Tag starten. Gerade wollte sie hinunter ins Erdgeschoss gehen, da kam ihr Lewis entgegen, der offenbar an ihre Tür klopfen wollte. Sein Lächeln war so herzlich und seine Augen glänzten ungewöhnlich hell, dass sie wieder ganz rot wurde. „Guten Morgen Mallory, hast du gut geschlafen?“ „Nun ja, ich hab ehrlich gesagt kaum ein Auge zugekriegt.“ „Kann ich mir vorstellen. Die erste Nacht im fremden Bett ist immer unruhig und die Aufregung mit Dean war auch nicht ohne. Ich wollte gerade auf die Dachterrasse und das Frühstück vorbereiten. Wenn du möchtest, kannst du ja mitkommen.“ Wow, sogar eine Dachterrasse, dachte Mallory und folgte ihm. Sie war noch nie auf einer Dachterrasse gewesen, so traurig das auch klang. In Hansington gab es hauptsächlich Einfamilienhäuser und die wenigsten hatten eine Dachterrasse. Und da das Wetter draußen schön sonnig und fast wolkenfrei war, klang das Angebot verlockend. Also folgte sie ihm die Treppen hoch bis ins oberste Stockwerk und insgeheim fragte sie sich, wieso ein Arzt alleine in einer vierstöckigen Pension mit Dachterrasse wohnte. Als sie ihm die Frage stellte, lachte Lewis etwas schüchtern und erklärte „Das Haus war einfach so schön, genauso wie der Garten. Und ich habe mir schon immer ein Haus mit Dachterrasse gewünscht. Ich finde, es gibt nichts Schöneres, als einen freien Blick auf den Himmel und das Gefühl von Freiheit zu haben.“ Die Dachterrasse, die Lewis’ persönliches Reich war, glich einer Art märchenhaften Garten. Überall war alles mit Blumen dekoriert worden und in einer sehr gemütlich eingerichteten Ecke standen ein paar Stühle um einen gedeckten Tisch herum. Mallory blieb der Mund offen stehen, als sie das sah. „Hast du das alles selbst eingerichtet?“ „Zugegeben, ich bin ein Pflanzenfreund und dieser Ort hier ist sozusagen mein ganz persönliches Reich und ganzer Stolz.“ Mallory fiel auf, dass der Tisch nur für zwei Personen gedeckt war und für einen Moment kam ihr der leise Verdacht, dass Lewis sie rumkriegen wollte. Ach was, sie steigerte sich doch bloß in etwas rein. „Wir sind alleine?“ Lewis wartete, bis sie sich hingesetzt hatte, bevor er selbst Platz nahm. „Ja, Ilias ist schon heute früh raus, weil er noch ein paar Medikamente liefern musste und Dean ist bei Anna und Josephine. Die anderen Bewohner essen meistens auswärts, das erspart mir auch ein klein wenig Arbeit. Und außerdem möchte ich mich auf diese Weise für meine Worte letzte Nacht entschuldigen. Ich wollte dich nicht erschrecken, oder dir Angst einjagen.“ Offenbar meinte er damit diese unheimliche Warnung, dass sie schnell wieder gehen und Dark Creek verlassen sollte. Tatsächlich hatte sie das eine ganze Weile wach gehalten und sie hatte sich immer wieder gefragt, was er damit sagen wollte. In diesem Moment war er ihr irgendwie unheimlich vorgekommen. „Warum hast du das eigentlich gesagt?“ Lewis goss sich Tee in seine Tasse und gab zwei Löffel Zucker hinzu. Sein Blick nahm etwas Melancholisches an und er schwieg eine Weile, um sich eine gute Antwort zu überlegen. „Ich weiß es selbst nicht genau. Ich lebe hier schon einige Zeit und obwohl ich über mein Leben nicht klagen kann, ist mir dieser Friede nicht geheuer. Wie soll ich es am Besten beschreiben? Du kannst es nicht greifen oder anfassen, es ist bloß ein Gefühl. Die Leute selbst sind alle in Ordnung, ich mag sie alle und besonders Dean, Finny und Ilias sind mir sehr ans Herz gewachsen. Ich lebe glücklich und zufrieden in diesem Haus und tue das, was mir am meisten Freude bereitet. Aber trotzdem ist da dieses Gefühl, dass irgendetwas nicht ganz richtig ist und als würde etwas fehlen. Als würdest du auf ein Bild sehen und wissen, dass ein Fehler verborgen ist, aber du kannst ihn nicht finden.“ Irgendwie verstand Mallory nicht so wirklich, was Lewis ihr damit sagen wollte, aber sie hatte das Gefühl, als wüsste oder ahnte er etwas, das vielleicht wichtig sein könnte. „Und was genau hast du damit gemeint, als du sagtest, ihr würdet alle hier festsitzen? War das ernst gemeint?“ Wieder machte Lewis eine längere Pause und sein Blick wanderte zur Seite. „Auch das ist nicht einfach zu erklären und ich bin mir nicht sicher, ob es an mir selbst lag. Jedenfalls hatte ich eines Tages den Entschluss gefasst, Dark Creek zu verlassen. Ich stieg in den Wagen und fuhr los. Dark Creek kann man nur nach Ost und West über die Landstraße verlassen, die hier auch quer durch den Ort führt. Der Wald umgibt die Stadt wie einen dichten Ring. Die ganze Zeit bin ich in eine Richtung gefahren und dennoch bin ich wieder in Dark Creek gelandet, aber von der anderen Seite. Das gleiche Phänomen wiederholte sich immer und immer wieder, egal was ich tat. Selbst zu Fuß oder mit dem Rad verhielt es sich nicht anders. Egal in welche Richtung ich Dark Creek verließ, ich kehrte immer wieder zurück.“ „Das verstehe ich nicht. Wie kann man denn auf etwas zugehen, wenn man davon weggeht und sich darauf zu bewegen, wenn man die ganze Zeit geradeaus läuft?“ „Man geht um die Welt herum.“ Aus dieser Antwort wurde Mallory auch nicht schlauer und sie fragte sich, ob dieser Arzt ihr da gerade einen Bären aufband. Aber warum sollte er so einen Schwachsinn erfinden? „Wenn das stimmt, was ist mit den anderen?“ „Sie denken einfach nicht darüber nach und verschließen unbewusst die Augen vor der Wahrheit. Und solange alle hier glücklich sind, hat auch niemand ein Interesse daran, Dark Creek zu verlassen. Niemand will von hier weg und gleichzeitig kann niemand von hier weg und genau das ist es, was hier falsch läuft. Wir sind alle wie Goldfische in einem Glas und wollen nicht sehen, dass uns etwas Unsichtbares von der Außenwelt trennt. Ilias ist glücklich mit seinem Leben hier und er hat Dean, um den er sich kümmert. Im Grunde ist Finny der Einzige, der hier noch schlechter dran ist, als wir alle. Denn er ist in einer Welt gefangen, die sogar noch kleiner ist, als Dark Creek selbst. Seit ich gemerkt habe, dass mir etwas fehlt und ich deshalb nicht auf die Illusion einer perfekten Welt hereinfalle, suche ich nach Antworten auf die Fragen, wieso wir nicht weg können und was genau uns hier festhält.“ Lewis’ Blick wanderte zum Horizont und er schien die Wolken zu betrachten. Mallory wurde ein wenig unwohl und sie spürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Erst jetzt merkte sie auch, wie ausgehungert sie eigentlich war und so belud sie erst einmal ihren Teller und schüttete sich Kaffee ein. „Wie lange bist du eigentlich schon in Dark Creek?“ „Seit fast drei Jahren. Ich hab zuvor in einem Krankenhaus als Assistenzarzt gearbeitet, aber meine Gesundheit hatte stark darunter gelitten, weshalb ich meinen Job gekündigt und ein etwas ruhigeres Leben gesucht habe. Da Dark Creek keinen Arzt hat, kümmere ich mich um die medizinischen Fälle. Zum Glück passiert hier so gut wie nie etwas und wenn ich nicht als Arzt tätig bin, dann bin ich eben Vermieter und schreibe hin und wieder Liebesromane. Ein kleines Hobby von mir.“ Das sah ihm schon ähnlicher, das wusste Mallory sofort, obwohl sie ihn im Grunde gar nicht kannte. Er sah wirklich wie jemand aus, der Liebesromane schrieb, nicht wegen seinem Aussehen, sondern allein wegen seiner Ausstrahlung und seiner verträumten Art. „Wie kommt man als Arzt dazu, Schriftsteller zu werden?“ „Ehrlich gesagt war es immer mein Traum gewesen, solche Romane zu schreiben. Ich hab mich aber entschieden, Arzt zu werden, weil ich Menschen helfen wollte. Und während meiner Zeit als Assistenzarzt habe ich meine eigentliche Leidenschaft ziemlich vernachlässigt und stand andauernd nur unter Stress. Aber seit ich hier lebe, habe ich für beides Zeit und Ruhe.“ Mallory musste ungewollt schmunzeln. Irgendwie fand sie es süß, dass ein Mann Liebesromane schrieb, dabei war das doch meistens Frauensache. Und obwohl sie es eigentlich für sich behalten wollte, rutschte es ihr dann doch versehentlich heraus. „Das muss doch der Traum jeder Frau sein, wenn ihr Freund oder Mann solche Romane schreiben kann.“ Mit einem Male veränderte sich plötzlich Lewis’ Gesicht und sein Lächeln und seine Verträumtheit waren vollständig verschwunden. Was er gerade dachte oder fühlte, ließ sich schwer erkennen und Mallory fürchtete zunächst, sie könnte ein unangenehmes Thema angestoßen haben. Womöglich hatte Lewis gerade eine Trennung hinter sich und war deshalb hergekommen und nun war sie so dumm gewesen und riss diese Wunde wieder auf. Oder noch schlimmer: Seine Frau war verstorben! Mein Gott, was war sie doch für ein Esel. Sofort entschuldigte sie sich, aber da kehrte wieder dieses herzliche Lächeln in sein schönes Gesicht zurück. „Da gibt es nichts zu entschuldigen. Zurzeit bin ich Single, wenn das deine Frage beantwortet.“ Zwar strahlte Lewis übers Gesicht und es wirkte so warmherzig und freundlich, aber irgendwie erschien es Mallory mit einem Male aufgesetzt. Verschwieg er etwas vor ihr oder erinnerte er sich an irgendetwas Bestimmtes? Offenbar schien er nicht darüber reden zu wollen und da sie ihn eigentlich sowieso nicht kannte, stand es ihr auch nicht zu, nachzufragen. Um diese unangenehme Situation zu bereinigen, wechselte sie das Thema. „Hast du vielleicht irgendwo einen Anhaltspunkt, wo ich vielleicht jemanden finden könnte, der mir etwas über meine Vergangenheit sagen könnte?“ „Tja, da fragst du leider den Falschen. Ich komm nicht gerade viel in der Stadt herum, weil ich die meiste Zeit beschäftigt bin. Eigentlich wären Finny und Ilias die besten Ansprechpartner, weil sie sehr viel in der Stadt unterwegs sind und die Leute viel besser kennen als ich. Besonders Finny treibt sich häufig herum und kennt jeden Quadratmeter der Stadt. Er hat einen Musikladen ein paar Straßen weiter von hier, dort müsstest du ihn eigentlich antreffen können. Wenn nicht, dann wird er sich entweder zuhause oder in der Stadt aufhalten.“ Finny… das war doch der Kerl von gestern, der ihr nicht die Hand geben wollte und ständig ihren Blicken ausgewichen war. Sie hatte ein seltsames Gefühl bei ihm gehabt und dass er in dieser heruntergekommenen Bruchbude zusammen mit seinem kleinen Bruder lebte, behagte ihr auch nicht so ganz. „Ich weiß nicht… er kommt mir irgendwie seltsam vor…“ Lewis lachte nicht, seine Augen nahmen einen traurigen Glanz an und er schwieg erst mal dazu, bevor er schließlich sagte „Finny ist ein guter Junge, auf ihn kann man sich verlassen. Es ist nur so, dass er es in der Vergangenheit nicht immer einfach hatte. Genaueres weiß ich nicht darüber und selbst Ilias sagt er kaum etwas. Man muss ihn mit seinen Eigenheiten einfach so nehmen wie er ist, er tut es ja nicht aus Boshaftigkeit, oder weil er jemanden nicht mag.“ „Meinst du damit etwa diese Angewohnheit, dass er nie Augenkontakt hält und auch anderen nicht die Hand gibt?“ „Ganz richtig. Wie gesagt, er ist eigentlich ein echt netter Kerl. Wenn irgendetwas ist, dann ist er sofort zur Stelle und im Grunde hat er genauso ein schlimmes Helfersyndrom wie ich… Aber er hält seine Mitmenschen auf Abstand und das wird sicher seinen Grund haben.“ „Und wieso lebt er in dieser verfallenen Bruchbude?“ Auf diese Frage wusste Lewis auch keine Antwort, oder zumindest wollte er sie nicht nennen. Irgendwie schien er nicht mehr so redselig zu sein wie vorhin. Nein, seit Mallory das Thema Beziehung angesprochen hatte, war Lewis offenbar darauf aus, sie auf freundliche und diskrete Weise abzuwimmeln. Und er wusste offenbar noch einige andere Dinge bezüglich Dark Creek oder diesem Finnian, die er ihr verschwieg, aus welchem Grund auch immer. Da sie merkte, dass es nicht mehr viel Sinn machte, mit Lewis weiterzureden, aß sie schnell ihr Frühstück und verabschiedete sich. Gerade, als sie die Dachterrasse verlassen wollte, hielt Lewis sie noch kurz zurück. „Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, Mallory: An deiner Stelle würde ich nicht in die Nähe des Vergnügungsparks gehen.“ Mallory war aber so in Gedanken versunken, dass sie diese Warnung nur mit einem Ohr aufnahm und sich erst später wieder daran erinnerte. Sie verließ die Dachterrasse und ging die Treppen hinunter, bis sie das Erdgeschoss erreichte. Von dort aus ging sie nach draußen auf den Parkplatz, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte und überlegte erst, ob sie mit dem Auto fahren, oder doch lieber zu Fuß gehen sollte. Da es aber in Dark Creek wenig Verkehr gab, entschied sie sich für die erste Option und fuhr los. Ihr Ziel war der Vergnügungspark von Dark Creek. Zwar hatte Lewis sie gewarnt, aber sie war einfach zu neugierig. Ohnehin fragte sie sich, warum zum Teufel man einen Vergnügungspark so weit abgeschieden in einer Kleinstadt erbaut hatte und wieso sie nicht dorthin gehen sollte. Lewis wusste etwas und wollte nicht mit der Sprache so ganz herausrücken. Bezüglich ihrer Vergangenheit konnte sie ja später nachforschen, dieser Vergnügungspark war erst einmal interessanter. Mallory fragte sich unterwegs durch und brauchte dementsprechend eine Weile, bis sie endlich die Stelle erreicht hatte, wo sich einst ein Teich befand. Tatsächlich war er gänzlich verschwunden und an der Stelle war eine riesige Anlage erbaut worden. Fahrgeschäfte, Achterbahnen, ein Riesenrad, der Traum eines jeden Kindes. Und trotzdem war der Park komplett verwaist und wirkte total verfallen, als wäre er schon seit einer Ewigkeit geschlossen. Überall wuchs Unkraut aus den Ecken und Fugen und schwere Gewitter hatten in der Vergangenheit die Fahrgeschäfte schwer beschädigt und teilweise waren die Geräte verrostet. Die Drehtür, die den einzigen Eingang darstellte, war vergittert und daneben hing ein Schild mit der Aufschrift „Betreten Verboten“. Es mochte daran liegen, dass der Park schon so verfallen war und sich keine Menschenseele dort befand, aber Mallory überkam ein eiskalter Schauer. Totenstille herrschte, nicht einmal Naturgeräusche aus der Umgebung waren zu hören. Irgendwie hatte dieser Ort etwas Unheimliches an sich… „Ich an deiner Stelle würde da nicht reingehen. Man sagt, dort lebt eine menschenfressende Hexe!“ Erschrocken drehte sich Mallory um und sah einen Mann, der eine weiße Maske mit einem Grinsgesicht trug. Lachend kam er näher und steckte die Hände in die Jackentaschen. „Nur keine Panik, ich bin es nur!“ „F-Finnian?“ „Kannst mich auch Finny nennen, das tun alle hier. Sorry übrigens, ich wollte dich nicht gleich zu Tode erschrecken. War ja auch bloß ein Scherz.“ Er schien ziemlich gut gelaunt zu sein und Mallory versuchte, sich zu einem Lachen zu zwingen, aber so wirklich gelingen wollte ihr das nicht. Warum zum Teufel trug Finny eine Maske am helllichten Tag? Irgendwie war er seltsam, aber das wusste sie ja vorher schon. Da er offenbar bemerkte, dass ihr irgendwie unwohl war, lachte er und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Hey, wie wäre es mit einer kleinen Rundführung? Ich hab sowieso im Moment nichts Besseres vor und dann lernst du die Stadt auch besser kennen.“ „Musst du nicht arbeiten?“ „In Dark Creek ist sowieso nicht viel los, da hat man oft genug Zeit für sich selbst. Und wenn jemand was will, krieg ich ne Mitteilung auf meinem Smartphone.“ Da Lewis ja gesagt hatte, dass Finnian jeden Winkel von Dark Creek kannte, nahm Mallory das Angebot an und fragte zuerst, was es mit dem Vergnügungspark auf sich habe und wieso er geschlossen war. „Tja“, murmelte er, ohne seinen heiteren Ton zu verlieren. „Der Park steht hier eigentlich schon seit einer Ewigkeit, soweit ich richtig gehört habe. Er wurde vor knapp 16 oder 17 Jahren erbaut, hatte aber nie genug Besucher und wurde deshalb geschlossen. Die Menschen in Dark Creek haben allesamt Angst vor dem Park, weil er ihnen nicht geheuer ist. Selbst Ilias und ich waren nie da drin, aber Dean geht da oft in Begleitung der beiden Schwestern rein, weil die dort leben. Die beiden und ihr komischer Butler gehen dort ständig ein und aus. Anscheinend wohnen sie dort und sie kommen eigentlich kaum heraus. Zumindest Josephine sieht man so gut wie nie, Anna kommt hin und wieder zu Besuch, weil sie mit Dean sehr gut befreundet ist.“ „Wer sind die Zwillinge überhaupt?“ „Das weiß ich nicht so genau. Sie haben schon hier gelebt, als ich und Keenan nach Dark Creek gekommen sind. Sie leben sehr zurückgezogen und vor allem vor Josephine haben alle hier Schiss. Man erzählt sich allerhand gruseliger Gerüchte über sie und sie zählt auch nicht gerade zu den freundlich gesinnten Individuen hier. Im Grunde hasst sie andere Menschen, aus welchem Grund auch immer. Anna hingegen ist da etwas umgänglicher, aber auch nicht gerade die einfachste Sorte Mensch.“ Gedankenverloren betrachtete Mallory den Park und fragte sich, was wohl zwei Mädchen dazu veranlasste, sich ausgerechnet hier niederzulassen. Und wie lange sie schon hier lebten? Da es sonst in der Nähe nichts Interessantes gab, gingen sie gemeinsam in Richtung Stadt, wobei ihr Finnian allerhand erzählte. Wie sich herausstellte, war er erst vor knapp acht Monaten nach Dark Creek gekommen, nachdem er sich mit seinem Vater gestritten hatte. Dieser war Alkoholiker gewesen und konnte sich nicht vernünftig um seine Kinder kümmern. Irgendwann hatte Finnian genug gehabt und war zusammen mit seinem kleinen Bruder nach Dark Creek gekommen mit dem Entschluss, nie wieder nach Hause zurückzukehren. Außerdem erzählte er, dass seine Eltern aus Irland eingewandert seien und er oft selbst fälschlicherweise für einen Iren gehalten wurde, obwohl er eigentlich amerikanische Staatsbürgerschaft besaß und Irland auch nie zu Gesicht bekommen hatte. Er entsprach auch überhaupt nicht dem stereotypischen Iren. Er hatte mit der Kirche rein gar nichts am Hut, vertrug nicht mal ein Glas Bier und er hasste den Regen. Aber zumindest war er auf seinen Namen Finnian McKinley stolz, denn er hatte einen schönen Klang und war außergewöhnlich. „Außergewöhnliche Namen zeugen von außergewöhnlichen Menschen, so hab ich zumindest gehört. Mallory und Ilias sind ja auch ziemlich seltene Namen.“ „Ob ich wirklich Mallory heiße, weiß ich ja nicht. Meine Pflegeeltern haben mich immer so genannt. Vielleicht ist es tatsächlich mein Name, oder sie haben ihn mir gegeben.“ „Trotzdem klingt er schön. Ich finde auch die Bedeutung von Namen ziemlich interessant. Mein Name leitet sich von einem blonden irischen Krieger ab. Manchmal sagen Namen etwas über Personen aus, auch wenn man meist die Bedeutung nicht kennt. So hat man mir das zumindest mal gesagt. Ilias ist israelisch und bedeutet „Sonnenkind“. Irgendwie passend für ihn, denn er ist wirklich ein wahrer Sonnenschein. Dean bedeutet witzigerweise „der Älteste“, obwohl er in unserer Runde eigentlich der Jüngste ist. Obwohl… Keenan ist sogar noch zwei Monate jünger als er. Zu guter Letzt haben wir noch unseren romantischen Schönling Lewis: Seiner bedeutet „starker Kämpfer“, wobei ich aber nicht ganz sicher bin, ob das so wirklich zu ihm passt…“ „Und was bedeutet mein Name?“ Hier zögerte Finnian und zuerst sah es danach aus, als wüsste er die Antwort nicht, aber dann beschlich Mallory das Gefühl, er wusste es zwar, wollte es aber nicht sagen. Nach einem Moment des Zögerns erklärte er schließlich „Der Name bedeutet „Unheil“.“ Na große Klasse, dachte Mallory, als sie das hörte. Da hatte sich ihre Pflegemutter ja einen schönen Namen für sie ausgedacht. Warum zum Teufel gab man ihr einen Namen mit einer derart negativen Bedeutung? Finnian bemerkte wohl, dass sie nicht ganz begeistert war und versuchte sogleich, sie aufzumuntern. „Ich denke, dass der Name gut gewählt wurde.“ „Wieso denn das, bitteschön?!“ „Na, manche Eltern geben ihrem Kind extra einen Namen mit negativer Bedeutung, weil sie ihr Kind ganz besonders lieben. Weißt du, wenn Kinder mit Einschränkungen oder Behinderungen zur Welt kommen, dann werden sie ganz anders von den Eltern geliebt, als normale Kinder. Diese Liebe ist viel stärker, weil die Eltern das Kind beschützen und ihm in seinem Leben helfen wollen. Deshalb geben Eltern ihrem Kind manchmal genau aus diesem Grund absichtlich einen Namen mit negativer Bedeutung.“ So hatte Mallory das nie gesehen und diese Sichtweise war auch sehr interessant. Je mehr sie mit Finnian redete, desto sympathischer wurde er ihr. Er war witzig und manchmal auch etwas albern, aber er konnte auch ernst und verständnisvoll sein. Im Grunde war er wie ein großer Bruder. Mallory ließ sich von ihm die Stadt zeigen und erfuhr sogleich, wo es welche Geschäfte gab und wo sie sich bei bestimmten Fragen hinwenden konnte. Auch zeigte er ihr das Stadtarchiv, wo sie vielleicht ein paar Informationen bezüglich ihrer Vergangenheit in Dark Creek finden konnte. Zu guter Letzt gingen sie zum Musikladen, in welchem Finnian arbeitete. Dabei kam ihnen zufällig Ilias mit dem Fahrrad entgegen und er hatte wirklich ein enormes Tempo drauf. Knapp vor der Ladentür bremste er scharf und kam zum Stehen. „Hey ihr beiden! Macht ihr etwa einen Spaziergang?“ „So in der Art. Ich hab Mallory die Stadt gezeigt. Und du? Hast du eine Lieferung für mich?“ „Klar doch. Im Gegensatz zu dir arbeite ich auch!“ Finnian deutete einen freundschaftlichen Schlag auf dem Oberarm seines Freundes an und beide mussten lachen. Aus seinem Rucksack holte er ein kleines Paket, das er dem Maskierten in die Hand drückte. „Mann, du bist so ein Herzchen!“ Sie mussten wieder lachen und als sich kurz Ilias’ Blick mit Mallorys traf, wurde er ein wenig rot um die Wangen und wich ihr sofort wieder aus. Konnte es etwa sein, dass er ein wenig schüchtern in ihrer Gegenwart war? Finnian schloss die Ladentür auf und nahm das Schild mit dem Hinweis, dass er auf dem Handy zu erreichen wäre, wieder ab. Während er hineinging, hing er seine Jacke an den Haken, nahm die Maske aber nicht ab. Auch die Handschuhe behielt er an und Mallory war es ein Rätsel, wie ihm mit dem Pullover und der Jacke bei dem warmen Wetter nicht heiß unter den Klamotten wurde. Ihm jedenfalls schien das gar nichts auszumachen und fröhlich pfiff er ein Lied, während er das Paket nach hinten brachte. Mallory sah sich währenddessen ein wenig im Laden um und tatsächlich fand sie hier alles Mögliche. CDs, Hörbücher, Musikvideos, Zubehör und auch Filme und Merchandise. Kurz darauf ging Musik an und leise wurde Porcelain Black gespielt. „Gehört dir der Laden etwa?“ fragte sie, als Finnian wieder nach vorne an den Verkaufstresen kam. „Hab ihn übernommen, als der Besitzer krank wurde. Zwar werde ich damit nicht reich, aber es reicht alle Male, um über die Runden zu kommen. Ich brauch sowieso nicht viel zum Leben. Wichtig ist nur, dass Keenan alles bekommt, was er braucht.“ Mallory fiel auf, dass Finnian oft über seinen kleinen Bruder sprach und seine Stimme dann immer besonders heiter wurde, wenn er das tat. Er schien seinen Bruder wirklich sehr zu lieben, aber wenn er ihm so wichtig war, warum wohnte er dann mit ihm in dieser Bruchbude? Er hatte doch die Möglichkeit, in die Pension zu ziehen. Als Mallory genau das fragte, sah sie für den Bruchteil einer Sekunde etwas Seltsames in Finnians Bewegung, was aber sofort von seinem scherzhaften Lachen überdeckt wurde. „Ich brauch die Hilfe anderer nicht, ich komm ganz gut alleine klar. Wir leben zwar nicht im Luxus, aber bis jetzt sind Keenan und ich hervorragend klargekommen und brauchen keine Unterstützung.“ Ilias wurde mit einem Male ernst und ergriff Mallorys Arm. Er verabschiedete sich von Finnian mit der Ankündigung, dass sie sich am Abend zum Tennisspiel treffen würden und verließ mit ihr den Laden oder besser gesagt: Sie wurde quasi vor die Tür gezogen. Er schloss die Tür hinter sich und ließ sie wieder los. „Sorry, das war gerade etwas ruppig von mir“, entschuldigte er sich sofort und begann sich verlegen am Kopf zu kratzen. „Wieso hast du mich rausgezerrt? Habe ich etwas Falsches gesagt?“ „Nein, es ist nur so, dass es nicht gut ist, Finny auf solche Sachen anzusprechen.“ „Und wieso nicht?“ Er rang mit den Worten, wusste aber nicht, was er sagen sollte und wirkte in dem Moment irgendwie hilflos. Zwar hatte er die Antwort, aber offenbar wollte er sie ihr nicht sagen. Schließlich aber erklärte er „Finny will über bestimmte Dinge nicht reden und auch nicht darauf angesprochen werden. Deshalb möchte ich dich einfach nur bitten, ihn nicht auf so etwas anzusprechen.“ „Was ist mit ihm? Hat er irgendwelche Probleme mit seinem Vater gehabt?“ Doch Ilias schwieg dazu und ihm war anzusehen, dass es ihm selbst ziemlich unangenehm war. Mallory war nicht blöd und merkte, dass wohl einiges vorgefallen sein musste, wenn niemand darüber sprechen wollte. Vielleicht etwas sehr Schlimmes… Sie wollte die Frage aussprechen, die ihr durch den Kopf ging, aber sie ließ sie unausgesprochen. Denn ein Teil von ihr wollte diese Antwort nicht wissen, obwohl sie sie schon im Inneren zu ahnen glaubte. Kapitel 3: Finnians Zusammenbruch --------------------------------- Da Finnian arbeiten musste und Ilias mit seinen Botengängen fertig war, bot er Mallory in einer etwas schüchternen Art an, dass sie eine kleine Radtour machen könnten. Obwohl sie nicht gerade die größte Lust darauf hatte, erklärte sie sich dennoch einverstanden und borgte sich solange Lewis’ Rad aus, da Finnian keines besaß. Der Weg führte sie in den Wald, wo es einige kleinere Radwege gab, die man befahren konnte. Ilias war unglaublich schnell und Mallory kam kaum hinterher. Mehrmals musste er abbremsen, damit der Abstand zwischen ihnen nicht allzu groß wurde. „Tut mir Leid, ich bin es gewohnt, schnell zu fahren…“ Sie bekam kaum ein Wort heraus, da sie sonst befürchtete, auf der Stelle zu kollabieren. Auf ihrer Stirn sammelten sich bereits Schweißperlen und sie bereute es jetzt schon, dass sie sich darauf eingelassen hatte. Zu den Sportlichsten hatte sie nie gezählt und Radfahren war immer besonders anstrengend für sie gewesen. Und mit einem solchen Sport-As wie Ilias war es noch schlimmer, weil sie immer wieder versuchen musste, mit ihm mitzuhalten. Schließlich stiegen sie ab und schoben die Räder über eine kleine Holzbrücke, die über einen Bach führte. Der Weg führte sie hinauf zu einer Anhöhe, wo sie eine Pause einlegten. Mallorys Gesicht war knallrot geworden und mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht. Ilias, der zwischendurch wie ein Wahnsinniger losgeschossen war, schien noch nicht einmal warm geworden zu sein. Kein Wunder, wenn man täglich viel unterwegs war. Sie saß da nur jeden Tag im Büro und kam deshalb nicht oft vor die Tür, obwohl sie gerne in die Natur rausging und für ihr Leben gerne fotografierte. Er reichte ihr eine Wasserflasche, die sie dankend entgegennahm. So etwas konnte sie nun wirklich gebrauchen. Unauffällig ließ sie dabei ihren Blick über den Europäer schweifen. Er war gut durchtrainiert und schien ein leidenschaftlicher Sportler zu sein. Und insgeheim erwischte sie sich dabei, wie sie gerade seinen Körper begutachtete und ihr dabei so einige Gedanken kamen. Okay, sie gab es zu: Er sah gut aus, aber man konnte ihn nicht mit Lewis vergleichen. Lewis wirkte wie ein Adliger in gewisser Hinsicht, während Ilias auf eine sportliche Weise gut aussah. Und Numero zwei entsprach deutlich mehr ihrem eigentlichen Männergeschmack. Sie hatte schon einige Beziehungen an der High School gehabt. Zwei Mal was Ernstes und ein Mal war es nur ein Flirt mit einem anschließenden One-Night-Stand. Als sich ihre Blicke trafen, schaute Ilias schnell zur Seite und man sah ihm an, dass er nervös war. Und für einen Moment herrschte peinliche Stille, weil er offenbar nicht wusste, was er sagen sollte. Also machte sie den Anfang. „Sag mal Ilias, wie kommt es eigentlich, dass du hier in Dark Creek lebst?“ Sichtlich erleichtert, dass endlich diese Stille vorbei war, lächelte er und erzählte frei heraus. „Ich bin vor drei Jahren hergekommen. Aufgewachsen bin ich in Deutschland, aber ich wollte in Amerika studieren. Ich hatte das Glück, ein Stipendium als guter Sportler zu bekommen, weil meine Eltern sonst die Studiengebühren nicht bezahlen konnten.“ „Und was hast du studiert?“ „Medizin, also das Gleiche wie Lewis. Ich hab aber gemerkt, dass das nichts für mich ist und so hab ich mein Studium abgebrochen. Mir ist das alles zu viel geworden und ich wollte mir eine Auszeit nehmen. Seitdem lebe ich hier und kümmere mich um Dean. Ich glaub, ich bin kurz nach Lewis hergezogen.“ „Dafür, dass du aus Deutschland kommst, sprichst du echt gut Englisch.“ Er wurde ganz verlegen als er das hörte und bei diesem Anblick konnte sie einfach nicht anders, als zu schmunzeln. Er war wirklich süß, wenn er verlegen war. Schließlich begann er, sich zu strecken und legte sich ins Gras. Mallory tat es ihm gleich und bemerkte, wie bequem das eigentlich war. „Hast du nicht manchmal Heimweh?“ „Nicht wirklich, ich fühl mich hier wohl und ich möchte auch hier bleiben. Nun gut, man kann in Dark Creek keine Partys feiern, aber hier kann ich das tun, was mir Spaß macht. Ich bin oft unterwegs, kenne jeden und Finny ist der beste Freund, den man sich vorstellen kann. Und dank Lewis hab ich immer genug zu tun, um keine Langeweile schieben zu müssen. Lewis kann ich alles erzählen und er ist in mancherlei Hinsicht wie eine Art Vaterfigur, obwohl er gerade mal zwei Jahre älter ist als ich. Aber ich hatte eben nie einen Vater und Lewis scheint immer für alles eine Lösung oder eine Antwort zu haben. Und Dean ist für mich wie ein kleiner Bruder und allein der Gedanke, mich von ihm trennen zu müssen, wenn ich weggehen würde, ist schrecklich.“ „Wieso müsstest du dich von ihm trennen, wenn du weggehen würdest?“ „Eigentlich lebt er bei Anna und Josephine, aber die beiden haben mich gebeten, mich um ihn zu kümmern. Dean braucht sehr viel Zuwendung und Aufmerksamkeit und ich wollte schon immer einen kleinen Bruder haben. Okay, ich hab auch eine jüngere Schwester, aber das ist nicht dasselbe.“ Da hatte er nun auch wieder Recht. Aber trotzdem wunderte sie sich, wieso Dean nicht bei seinen Verwandten lebte. Selbst wenn er seine Familie verloren hatte und es keine Verwandten gab, kümmerte sich doch normalerweise das Jugendamt darum. Ilias selbst schien sich da wenig Gedanken diesbezüglich zu machen. Nachdem sie sich eine Weile ausgeruht hatten, stiegen sie wieder auf die Räder und fuhren weiter. Es ging diverse Hügel rauf und runter und um mehrere Kurven. Als Mallory die Landstraße nicht weit von ihnen entfernt sah, erinnerte sie sich wieder an das, was Lewis gesagt hatte und wandte sich daraufhin fragend an Ilias. „Lewis hat gesagt, dass niemand von euch hier weg kann, stimmt das?“ „Keine Ahnung. Er sagte zwar, dass Dark Creek eine Art Gefängnis ist, aber ich hab mir ehrlich gesagt nie großartig darum Gedanken gemacht. Lewis sieht sowieso viele Dinge anders.“ „Und wenn es wirklich stimmt?“ Er zuckte mit den Achseln und diese eher gelassene und zugleich etwas gleichgültige Reaktion von ihm löste bei ihr Unbehagen aus. Lewis hatte auch gesagt, dass niemand darüber nachdenkt, weil hier alle glücklich sind. Deshalb hinterfragte auch keiner dieses merkwürdige Phänomen von Dark Creek. Aber hatte Lewis wirklich die Wahrheit gesagt, oder bildete er sich das bloß nur ein? Das Beste war, sie fand es selbst heraus, aber nicht jetzt. Sie war völlig am Ende und schaffte allerhöchstens noch den Rückweg. Ilias legte auch ein Tempo an den Tag, welches man nur als Spitzensportler mithalten konnte. Morgen, dachte sie und versuchte, ruhiger zu atmen und ihre letzten Kräfte zu mobilisieren. Morgen werde ich mir persönlich ein Bild machen, ob Lewis sich das alles bloß einbildet. Sie erreichten schließlich den Vergnügungspark, der im Lichte der hellen Tagessonne gar nicht mehr so verwaist und verfallen aussah. In der Nähe sahen sie zwei schwarz gekleidete Gestalten auf der anderen Seite des Zauns. Ein groß gewachsener Mann, der schon fast an die zwei Meter heranreichte und die Uniform eines Butlers trug. Bei ihm war ein kleines Mädchen mit kurz geschnittenem blonden Haar und einem langen schwarzen Kleid. Ihre Augen waren bandagiert und der Butler neben ihr hielt einen Sonnenschirm, um das Mädchen vor dem Licht zu schützen. Sie selbst war nicht älter als 12 oder 13 Jahre. Mallory stieg vom Rad ab und ging zum Zaun hin, Ilias folgte ihr. Das Mädchen blieb stehen und wandte sich zu Mallory. Obwohl sie durch die Bandagen eigentlich nichts sehen konnte, hatte die 24-jährige trotzdem das Gefühl, von ihr angestarrt zu werden. Ilias hingegen schien sie gar nicht zu bemerken. „Hi“, rief Mallory und blieb vor ihr stehen, sodass sie nur noch der Zaun trennte. „Wohnst du hier im Park?“ Das Mädchen lächelte, aber es wirkte irgendwie kühl und aufgesetzt. „Ja, ich mache gerade einen Spaziergang, um das Wetter zu genießen. Du bist neu hier in Dark Creek, nicht wahr?“ „Ja, ich heiße Mallory.“ „Mallory?“ fragte das Mädchen erstaunt, was verdächtig danach klang, als hätte sie den Namen irgendwo schon mal gehört. Dann aber fuhr sie fort. „Ach ja richtig! Du bist ja gestern angekommen und wohnst zurzeit in der Pension Greenleaves. Ich heiße Josephine.“ Das war also die ältere Zwillingsschwester, vor der alle Bewohner der Stadt Angst hatten. Schon verrückt, sie war doch noch ein Kind. Der Butler musterte Mallory mit einem nichts sagenden Blick und wandte sich seiner Begleiterin zu. Diese drehte sich schließlich weg und sagte nur noch „Dann wünsche ich dir noch einen schönen Aufenthalt in Dark Creek. Roth, halten Sie den Sonnenschirm richtig, mir wird ein wenig warm!“ „Sehr wohl.“ Damit gingen die beiden und Mallory sah ihnen hinterher. Das Mädchen war irgendwie seltsam. Obwohl sie noch ein Kind war, redete und verhielt sie sich nicht wie eines. Und trotz der Bandagen bewegte sie sich so sicher und das auch noch ohne Hilfe, als würde sie durch die Bandagen hindurchsehen. Auch Ilias hob erstaunt die Augenbrauen, wenn auch aus einem völlig anderen Grund. „Wow, Josephine hat tatsächlich nette Worte für dich übrig. Normalerweise ignoriert sie jeden in der Stadt, oder verhält sich total abweisend. Anscheinend hat sie Gefallen an dir gefunden.“ „Womit ich das wohl verdient habe?“ Sie setzten sich wieder auf die Räder und fuhren zur Pension zurück. Mallory war völlig erschöpft von dem Ausflug, war aber doch froh, dass sie Ilias’ Einladung angenommen hatte. Insgeheim hatte sie sich auch ein bisschen in ihn verguckt und so wie es aussah, schien auch er an ihr interessiert zu sein. Aber sie wollte es nicht überstürzt angehen, denn so etwas konnte schnell nach hinten losgehen. Schüchtern lächelte der Europäer und kratzte verlegen sich am Hinterkopf. Offenbar eine Angewohnheit, wenn er entweder nachdachte oder verlegen war. „Ich hoffe, wir können das irgendwann mal wiederholen.“ „Gerne. Aber beim nächsten Mal bitte keine Radtour, sonst muss ich noch ins Sauerstoffzelt.“ Sie mussten beide lachen und er versprach, dass sie etwas anderes unternehmen würden. „Und wo gehst du jetzt hin?“ „Ich hab mich mit Finny für nachher zum Tennisspiel verabredet. Vorher wollte ich aber noch bei Lewis vorbeischauen.“ Ilias hatte während ihrer Radtour kurz erwähnt gehabt, dass er seit seiner Kindheit steife Gelenke hätte und deshalb andauernd Sport trieb, um den Schmerzen entgegenzuwirken. Da Lewis ja der einzige Arzt in Dark Creek war, untersuchte er ihn regelmäßig und half ihm zusätzlich, seine Gelenke zu lockern. Dass man in dem Alter schon Probleme mit steifen Gelenken hatte, war für Mallory nur schwer vorstellbar. Und die Vorstellung, schon mit 24 Jahren so eingeschränkt zu sein, behagte ihr nicht. Aber Ilias schien sehr gut damit leben zu können. Der Sport half ihm, diesen Einschränkungen entgegenzuwirken und somit ein normales Leben führen zu können. Und er hatte ja Lewis, der ihm half. Mallory beobachtete, wie er in die Praxis nebenan verschwand, wo noch Licht brannte und ging selbst in den Garten. Sie setzte sich in einen der Gartenstühle und ließ sich die angenehm kühle Abendluft ins Gesicht wehen. Es war angenehm still, ganz im Gegensatz zu dem hektischen Leben in Hansington, wo man die ganze Zeit von Geräuschen umgeben war. Hier konnte sie entspannen und ihren Kopf frei bekommen. Ehe sie sich versah, fielen ihre Augenlider zu und sie döste ein. Als sie wieder aufwachte, sah sie Finnian vor sich stehen, der sie gerade zudecken wollte, da es inzwischen kühl geworden war. Müde rieb sie sich die Augen. „Wie lange hab ich geschlafen?“ „Keine Ahnung, vielleicht ne Stunde oder so. Sorry, wenn ich dich geweckt habe. Ich hab Dean wieder zurückgebracht, da hab ich dich hier schlafen sehen.“ Da ihr Körper inzwischen völlig ausgekühlt war, wickelte sie sich in die Decke ein und er selbst setzte sich neben sie. Auch dieses Mal trug er eine Maske, aus welchen Gründen auch immer. Obwohl es immer noch gefühlte 20°C waren, hatte er Pullover, Jacke und Handschuhe und dazu noch die Strickmütze an. „Ist dir in den Klamotten nicht warm?“ „Schon, aber ich mag keine T-Shirts und halbnackt durch die Gegend laufen ist auch nicht gerade anständig. Besonders nicht vor den Damen.“ Mallory musste unverhofft lachen, als er das sagte. Er wirkte so sorgenfrei und unbeschwert, aber irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass auch dies nur eine Maske von ihm war. Hinter diesem so sorgenlosem Lachen schienen sich wahre Abgründe zu verbergen, das sagte ihre Intuition. Ihr Blick wanderte zu den Bandagen an den Hals und ihre Brust schnürte sich zusammen. „Finny, darf ich dir eine Frage stellen?“ „Klar doch, Fragen kosten ja nichts.“ Ihr Blick wurde ernst und sie suchte hinter den Sehschlitzen dieser Maske seine Augen, entdeckte aber nichts dergleichen. „Warum hast du diese Bandagen am Hals?“ Zuerst rechnete sie mit einer ernsten Reaktion oder dass er ihr auswich, aber er erklärte ganz unbekümmert „Im Schlaf kratze ich mich immer am Hals, ist ne lästige Angewohnheit von mir. Auch wenn ich nervös bin oder unter Stress stehe, bekomme ich heftige Juckreize. Deshalb trage ich auch die Handschuhe.“ Warum nur wurde sie das Gefühl nicht los, dass Finnian ihr nur etwas vormachte? Oder war es vielleicht möglich, dass er sich selbst in irgendeiner Weise belog? „Wieso trägst du überhaupt die Maske?“ Er antwortete nicht, sondern wandte gänzlich den Blick von ihr ab. „Du hast sie bei unserem ersten Treffen doch auch nicht angehabt. Wieso jetzt?“ „Das eine Mal war eine Ausnahme gewesen, weil ich Dean gesucht habe. Hätte ich sie aufgehabt, hätte ich ihm nur Angst eingejagt und außerdem hätte ich damit noch weniger sehen können. Ich mag es nun mal nicht, mein Gesicht zu zeigen, das ist alles.“ Er wurde unruhig und an seiner Körpersprache allein schon war abzulesen, dass er sich schämte. Ja, er schämte sich, anderen in die Augen zu sehen, oder sein Gesicht zu zeigen. Und er schämte sich auch, seine Haut zu zeigen. Mallory spürte, wie der Stich in ihrer Brust intensiver wurde und ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Sie verspürte plötzlich das Verlangen, einfach zu weinen, dabei war sie eigentlich nicht so nah am Wasser gebaut. Aber Finnian so zu sehen und im tiefsten Herzen zu ahnen, warum er sich schämte, sein Gesicht oder seine Haut zu zeigen, nahm sie sehr mit. Was war bloß mit ihm passiert, bevor er nach Dark Creek kam? Als er sah, wie unglücklich sie ihn ansah, mit Tränen in den Augenwinkeln, begann er unverhofft zu lachen. „Mensch, was ziehst du denn für ein Gesicht? Du machst dir einfach zu viele Sorgen, Mallory.“ Er machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand, als wolle er damit sagen, dass es bloß eine Kleinigkeit war. Und damit fand er auch seine heitere Stimmung wiedergefunden. Doch das war zu viel für Mallory. Sie wurde von einer Welle unendlicher Traurigkeit übermannt und um nicht auch noch vor ihm heulen zu müssen, stand sie auf und ging. „Hey, was ist denn los? Hab ich was Falsches gesagt?“ Doch sie antwortete nicht. Sie ging an Ilias vorbei, der gerade ebenfalls mit Dean in den Garten gehen wollte. Er sah, dass sie unglücklich war und versuchte, sie anzusprechen, doch sie wimmelte ihn mit einer stummen Geste ab und verschwand auf ihr Zimmer. Sie blieb dort, bis sie sich wieder beruhigt hatte und dachte nach. Über Finnians Worte und seine Reaktionen und was Ilias und Lewis ihr gesagt hatten. Die beiden wussten mit Sicherheit, was Finnian zugestoßen war und hielten es geheim, weil sie ihm zusätzliche Probleme ersparen wollten. Was hatte Finnian ihr über seine Vergangenheit erzählt? Er und sein kleiner Bruder Keenan waren beide von ihrem Vater alleine großgezogen worden. Als er Alkoholiker wurde, kam es zum Krach und Finnian zog von zuhause aus, woraufhin er Keenan gleich mit sich nach Dark Creek nahm. Und seitdem hauste er in dieser Bruchbude. Mallory spürte, wie ihre Stirn zu glühen begann und sie Kopfschmerzen bekam. Da sie keine Kopfschmerztabletten hatte und sie Lewis auch nicht mehr für den Rest des Tages belästigen wollte, entschied sie sich, noch einen kleinen Spaziergang zu machen. Vielleicht half ja die frische Luft dagegen. Also zog sie ihre Jacke an, schaltete das Licht aus und schloss die Tür hinter sich. In der Pension war es still, offenbar waren die anderen Bewohner entweder draußen oder sie schliefen schon. Zwar hatte Mallory bereits einige Leute in der Stadt gesehen, aber niemand hatte wirklich einen bleibenden Eindruck hinterlassen und auch die Pensionsbewohner bekam sie kaum zu Gesicht. Vielleicht lag es ja auch daran, weil sie sich seit ihrer Ankunft so häufig mit Lewis, Ilias und Finnian unterhalten hatte. Ja, das musste es sein. Langsam stieg sie die Stufen hinunter und verließ die Pension durch den Vordereingang. Die kühle Abendbrise war wohltuend und tatsächlich schienen die Kopfschmerzen ein wenig zu weichen. Gerade wollte sie losgehen, da hörte sie, wie jemand nach ihr rief und sie entdeckte Finnian. Er winkte ihr zu und schien bei guter Laune zu sein, jedenfalls klang seine Stimme ganz danach. „Unterwegs zu einem kleinen Abendspaziergang?“ „Ja. Und du?“ „Ich geh nach Hause, Keenan wartet sicher schon auf mich und ich hab ihm versprochen, heute Abend zeitiger zurück zu sein, um ihm noch eine Geschichte vorzulesen. Wenn du willst, können wir ein Stück zusammen gehen. Ist doch viel schöner, nicht ganz so alleine gehen zu müssen.“ Er schien das Gespräch von vorhin völlig vergessen zu haben, oder aber er sprach sie aus einem anderen Grund nicht darauf an. Na was soll’s, dachte Mallory und zuckte mit den Achseln. Es konnte ja wirklich nicht schaden, ihn zu begleiten. So hatte sie wenigstens die Gelegenheit, sich bei ihm zu entschuldigen, weil sie ihn mit derart unangenehmen Fragen belästigt hatte. „Du hör mal Finny, wegen vorhin… das tut mir Leid.“ „Hä?“ fragte er verwirrt und schien offenbar nicht ganz zu verstehen, was sie damit meinte. Also erklärte sie es noch mal. „Na wegen dieser ganzen Fragen. Ich hätte das nicht tun sollen.“ „Was für Fragen?“ Entweder wollte er sie gerade für dumm verkaufen, oder er hatte es tatsächlich vergessen. Also beließ sie es einfach dabei und schüttelte einfach den Kopf. Sie gingen gemeinsam die Straße entlang und sie bemerkte, dass alles ganz verlassen und still war. Kein Mensch hielt sich mehr draußen auf, außer ihnen. Und in der Ferne sah sie die schattenhaften Umrisse des Vergnügungsparks. Sie dachte an ihre seltsame Begegnung mit Josephine, die mit ihrem Butler unterwegs gewesen war. „Sag mal Finny, was weißt du über Josephine?“ „Sag bloß, du bist ihr über den Weg gelaufen!“ „Eher zufällig. Sie wirkte irgendwie seltsam.“ „Ist sie auch. Mit der ist sowieso nicht gut Kirschen essen. Keine Ahnung, was ihr Problem ist, aber sie hasst und verachtet wirklich alles und jeden. Lediglich ihre Schwester Anna liebt sie abgöttisch und sieht es überhaupt nicht gern, wenn man ihr dumm kommt. Der Letzte, der das gewagt hat, wurde nie wieder gesehen. Über die beiden weiß ich so gut wie nichts, weil sie für gewöhnlich den Kontakt zu den anderen Bewohnern in der Stadt meiden. Man erzählt sich bloß Gerüchte. Angeblich hat Josephine ihre Seele an den Teufel verkauft, um ewige Jugend und Schönheit zu erlangen. Und als sie behauptet hat, sie wäre mächtiger als er, hat er ihr die Augen ausgerissen. Eine andere Story besagt, dass sie sich selbst die Augen entfernt hat, um ihre Seele zu verbergen. Denn man sagt ja: Die Augen sind die Spiegel der Seele.“ Diesen Spruch hatte Mallory schon mal gehört und sie fragte sich, ob Finnian deshalb Augenkontakt vermied oder diese Maske trug: Weil er nicht wollte, dass man in seine Seele schaute aus Angst, man könnte dort etwas erkennen, was er nicht zeigen wollte. Der Wind nahm zu und Mallory fröstelte es ein wenig. Eine beinahe unmenschliche Stille herrschte in der Stadt und ein Schauer überkam sie. Normalerweise hatte sie keine Angst im Dunkeln. Selbst vor Spinnen oder Ratten hatte sie keine Angst, aber diese Stadt hatte mit einem Male eine merkwürdige Atmosphäre angenommen und ihr war, als würde sie von irgendwo her von starren Augen beobachtet werden. Finnian, der diese unheimliche Spannung in der Luft nicht zu bemerken schien, begann aus guter Laune ein kleines Lied zu summen und schlenderte neben ihr her. Schließlich erreichten sie nach einer Weile das Haus, in welchem er wohnte. Inzwischen war es gänzlich dunkel geworden und dadurch wirkte das Haus nicht mehr ganz so heruntergekommen wie am Tage. Als er die Tür abgeschlossen hatte, bot er ihr an, noch auf eine Tasse Tee hereinzukommen. Zuerst wollte sie nicht reingehen, aber die Neugier war dann doch stärker und so nahm sie sein Angebot an. Das Innere des Hauses war in einem ähnlich schlechten Zustand wie die Außenseite. Die Tapeten waren teilweise abgerissen worden, der Boden musste dringend erneuert werden und es gab fast keine Möbel. Keine Schränke oder Tische, nur ein zerschlissenes Sofa und eine große Holzkiste. Überall lag Spielzeug herum, welches wohl Finnians kleinem Bruder gehörte. Hatte er nicht gesagt, Keenan wäre knapp zwei Monate jünger als Dean? Dann müsste er doch auch so um die zehn Jahre alt sein. Obwohl das „Wohnzimmer“ fast gänzlich kahl war und sogar teilweise der Putz von den Wänden bröckelte, schien hier eine gewisse Grundsauberkeit und Ordnung zu herrschen. Etwas weiter weg befand sich eine Küchenzeile, die wahrscheinlich auch schon um die 20 oder 30 Jahre alt sein musste. An einem Tisch standen knapp vier Stühle und auf dem Tisch lagen Zeichnungen, die mit Wachsmalstiften gemalt worden waren. Seltsamerweise herrschte hier überhaupt kein Chaos und es gab auch keine Anzeichen dafür, dass Finnian schlampig war. Im Gegenteil: Die Küche war aufgeräumt und es lag nirgendwo Müll herum. Auch auf der Spüle gab es kein dreckiges Geschirr und selbst die Tassen waren sauber. Während er den Wasserkocher aufsetzte, wandte er den Blick zur Treppe, die nach oben führte und rief „Keenan, ich bin wieder da und ich hab Besuch mitgebracht. Willst du runterkommen und hallo sagen?“ Keine Antwort und auch keine Schritte. Finnian seufzte und stellte die Tassen auf den Tisch. „Er ist ziemlich schüchtern gegenüber Fremden, fast genauso wie Dean. Wahrscheinlich liegt er auch schon im Bett. Ich werde mal nachsehen.“ Insgeheim wollte Mallory schon gern wissen, ob das Kinderzimmer einem ebenso katastrophalen Zustand war wie der Rest des Hauses, also begleitete sie Finnian. Sie stiegen die Treppe hoch, wobei jeder Tritt ein lautes Knarren zur Folge hatte. Da sie fürchtete, die Stufen könnten einbrechen, hielt sie sich am Geländer fest, aber auch das war recht wackelig und nur ein Wunder hielt es noch an seinem Platz. Im oberen Stockwerk war es bei weitem sauberer und es gab auch mehr Inventar als im Erdgeschoss. Auf dem Boden lag ein großer Teppich, der noch relativ neu aussah und überall lag Spielzeug herum. „Dein Bruder hat ja wirklich viel Spielzeug“, bemerkte sie und Finnian wurde ein wenig verlegen. „Ich selbst brauch nicht viel zum Leben, aber ich will, dass Keenan glücklich ist. Das ist alles, was ich mir wünsche. Er soll alles haben, was er sich wünscht.“ Vorsichtig klopfte Finnian an die Zimmertür, es kam aber keine Antwort und so öffnete er leise. Was dahinter lag, unterschied sich in krasser Weise zum Rest des Hauses. An den Wänden hingen Poster von Basketballspielern oder von Filmen und das Zimmer schien erst vor kurzem neu eingerichtet worden zu sein. Warmes gedimmtes Licht erfüllte den Raum, die weiß lackierten Möbel waren neu und überall lag Spielzeug herum. Angefangen von Spielzeugrobotern bis hin zu kleinen Autos, die man mit der Fernbedienung steuern konnte. Zwar herrschte ein gewisses Chaos, was darauf schließen ließ, dass hier vor kurzem noch ein Kind gespielt hatte, aber es sah aus wie ein ganz normales Kinderzimmer. Irgendwie wirkte dieser Raum so deplatziert, da der Rest des Hauses völlig sanierungsbedürftig war. Aber so erkannte man auch, welche Prioritäten Finnian hier setzte: Zuerst kam sein Bruder und dann erst der Rest. Insgeheim hätte Mallory auch gerne einen solchen großen Bruder gehabt, als sie noch jünger war. Mit Edna hatte sie sich ja nur andauernd gezankt. Das Einzige, was sie an diesem Raum störte, war dieser unangenehme Geruch, der zwar auch im Rest des Hauses herrschte, aber hier am Stärksten war. Sie konnte es nicht genau beschreiben, es roch leicht süßlich aber auch streng modrig, als würde irgendetwas faulen. Finnian jedenfalls schien den Geruch gar nicht zu bemerken. Stattdessen räumte er ein paar Spielzeuge in die Kiste, um ein wenig Platz zu schaffen, dann ging er vorsichtig zum Bett hin, wo Mallory jemanden liegen sah. Er schloss das Fenster, welches weit geöffnet war und drehte die Heizung ein wenig auf. Mit einem Kopfschütteln wandte er sich der kleinen Gestalt auf dem Bett zu und streichelte ihr zärtlich den Kopf. „Du wirst dir noch eine Erkältung holen, wenn du bei offenem Fenster schläfst. Mensch, du bist ja noch nicht einmal richtig zugedeckt.“ Vorsichtig nahm er die Decke und deckte seinen Bruder zu, da bewegte er ihn versehentlich an der Schulter, sodass der Kopf zur Seite rollte und Mallory das Gesicht sah. Bis heute hatte sie nie gewusst, wie eine acht Monate alte Kinderleiche aussah… Das Blut gefror in ihren Adern, als sie das schneeweiße leblose Gesicht des kleinen Jungen sah, der am Kopf mehrere schwere Verletzungen hatte, die wahrscheinlich die Todesursache waren. Ihre Knie wurden weich und sie hatte das Gefühl, jeden Moment den Boden unter den Füßen zu verlieren. Der Magen verdrehte sich, woraufhin ihr speiübel wurde und ihr Kopf begann zu dröhnen. Sie wurde von Angst ergriffen, als sie die Leiche im Bett liegen sah. Kalter Schweiß brach aus und ihr Herz raste, selbst Luft holen fiel ihr schwer. Dieser Anblick rief Szenen in ihr wach. Szenen von Toten, die auf den Straßen lagen und von Menschen, die in Panik schrieen und wie sich alles blutrot färbte. Nur mit Mühe gelang es ihr, einen Brechreiz zu unterdrücken und sie musste sich an der Wand abstützen. Finnian wandte sich ihr zu und fragte vorsichtig „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Sie versuchte, etwas zu sagen, aber ihr Kopf war mit einem Male völlig leer geworden. Was hatte das hier zu bedeuten und wieso lag da eine Leiche im Bett? Hatte Finnian etwa… Entsetzt starrte sie ihn an und er blieb stehen, zögerte unsicher. Dann endlich fand sie ihre Worte und sie schrie sie förmlich heraus. „Was ist das für ein krankes Spiel, Finny?“ Er legte warnend einen Finger auf die Lippen oder zumindest dort, wo sie hinter der Maske waren und flüsterte „Nicht so laut. Du weckst Keenan noch auf.“ „Bist du irgendwie psycho oder so? Siehst du denn nicht, dass da eine Leiche im Bett liegt?“ Sie rechnete mit jeder Reaktion. Dass er aggressiv wurde oder versuchte, die Situation zu erklären. Aber stattdessen fragte er völlig verwirrt „Sag mal, geht es dir nicht gut?“ „Das frage ich dich! Mensch, sieh doch genauer hin. Dein Bruder schläft nicht, er ist tot.“ Keine Reaktion. Niemand hätte sagen können, welcher Gesichtsausdruck sich hinter dieser breit grinsenden Maske verbarg, die Finnian zu tragen pflegte. Er war wie erstarrt und obwohl Mallory sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste sie, dass irgendetwas in ihm zerbrochen war. Sie hörte, wie er schneller zu atmen begann, sah wie sich seine Brust immer stärker hob und senkte. Er zitterte am ganzen Körper und es sah danach aus, als würde er gleich durchdrehen. Dann presste er seine Hände gegen den Kopf und begann laut zu schreien. Es war ein entsetzlicher Schrei, der Mallory durch Mark und Bein fuhr. Dieser Schrei zeugte von Angst, Entsetzen und Schmerz. Als würde es von jemandem kommen, der einen furchtbar qualvollen Tod erlitt. Sie wich einen Schritt von ihm zurück und beobachtete, wie er schreiend in die Knie sank. Die Maske fiel ihm vom Gesicht und sie sah, dass sein Gesicht kalkweiß war. Seine Augen waren weit aufgerissen und sie konnte die entsetzliche Angst sehen. Welche Horrorszenarien sich in diesem Moment vor seinem inneren Auge abspielten, wollte sie sich lieber nicht vorstellen. Der Angstschrei verwandelte sich schließlich in einen entsetzlichen Schmerzlaut und Finnians Gesicht verzerrte sich. Es zeugte von unvorstellbaren Qualen und es schien so, als würde dieser von seinem Kopf herkommen. Mallory war unsicher, was sie tun sollte. Fakt war, dass sie Finnian irgendwie helfen musste. Doch was konnte sie denn tun? Sie sah, wie sich seine Augen verdrehten und er ein qualvolles Stöhnen von sich gab und nach Luft schnappte, dann brach er auf dem Boden zusammen und verfiel in heftige Zuckungen. Nun überkam Mallory Panik, als sie ihn so sah. Großer Gott, was passierte da mit ihm? Hatte er etwa einen epileptischen Anfall? Das war eine absolute Katastrophe! Sie wusste nicht, was man in solch einem Falle machen sollte, denn mit so etwas war sie noch nie konfrontiert worden. In ihrer Hilflosigkeit begann sie um Hilfe zu rufen und eilte aus dem Zimmer. Sie musste irgendjemanden finden, der ihr helfen konnte… Laute Schritte kamen von der Treppe her und sie sah Ilias und Lewis. Beide machten einen gehetzten Eindruck und stürmten an ihr vorbei. Lewis trug eine Tasche bei sich und gemeinsam eilten sie ins Zimmer, wo der immer noch heftig zuckende Finnian lag und zu röcheln begann. Als sie versuchten, ihn festzuhalten, kehrte ein wenig Leben zurück und er begann sich heftig zu wehren, wobei er wieder in Todesqualen schrie. Ilias versuchte ihn festzuhalten, hielt aber inne, als ein zuckender Schmerz es ihm unmöglich machte, den rechten Arm zu heben. „Scheiße“, murmelte er und presste sich eine Hand an die rechte Schulter. „Meine Gelenke…“ Lewis war sofort zur Stelle und löste Ilias ab. „Hol die Spritze aus dem Koffer und bereite die Injektion vor, ich halte ihn solange fest.“ Aus seiner Hosentasche holte der Arzt ein Taschentuch hervor, drehte es zu einem Knebel und klemmte ihn dem Zuckenden zwischen die Zähne, damit er seine Zunge nicht verschlucken konnte. Da Finnian unkontrolliert zuckte und um sich schlug, blieb Lewis kaum eine andere Wahl, als sich über ihn zu beugen und seine Hände am Boden festzunageln. Er wandte sich schließlich Mallory zu. „Halt bitte seinen Kopf fest, damit er sich nicht verletzt!“ Sie nahm seine Worte wie durch Watte gefiltert war und irgendwie schien sich alles in Zeitlupe abzuspielen. Ihr Körper war wie erstarrt und sie hatte einfach nur Angst und in ihren Augen sammelten sich Tränen. Auch Ilias zitterte und war bleich, aber Lewis bewahrte die Fassung. „Atmet tief durch und versucht, euch zu beruhigen. Es bringt nichts, wenn ihr jetzt durchdreht, das wird Finny auch nicht helfen. Tut genau, was ich sage, dann wird alles gut gehen.“ Lewis’ beruhigende Worte zeigten Wirkung. Mallory ging zu ihm herüber, kniete sich auf den Boden hin und hielt mit beiden Händen Finnians Kopf fest, welchen er immer wieder heftig auf den Boden knallte, während Ilias die Spritze vorbereitete. Als er sie fertig aufgezogen hatte, ging er zu den anderen hin und setzte die Nadel an den Arm seines besten Freundes an. Doch er zögerte. Man konnte die Angst in seinen Augen sehen. Die Angst davor, einen Fehler zu machen und womöglich noch Finnian in Gefahr zu bringen. Lewis sah ihm tief in die Augen. „Ilias, du schaffst das. Hör auf, dir darüber Gedanken zu machen, was schief laufen könnte. Denk lieber daran, dass es darum geht, deinem besten Freund zu helfen.“ „O-okay…“ Mit einer Kraft, die man diesem eher zart wirkenden Arzt und Hobbyschriftsteller nicht zutrauen würde, hielt er den Arm fest, damit Ilias problemlos die Injektion setzen konnte. Vorsichtig stach er die Nadel in die Haut und langsam wurde die klare Flüssigkeit in den Blutkreislauf injiziert. Kurz darauf begann sich Finnian zu entspannen und die Krämpfe ließen nach. Seine Augen rollten orientierungslos herum, schafften es nicht, einen bestimmten Punkt zu fixieren. Langsam entspannten sich die Muskeln und Lewis nahm den Knebel aus seinem Mund. Kurz darauf fielen die Augen zu und es sah so aus, als würde er friedlich schlafen. Kreidebleich sank Ilias zu Boden und wischte sich den Schweiß von der Stirn, seine Lippen waren farblos. Lewis ging von dem Bewusstlosen runter und tätschelte seinem leichenblassen Assistenten den Kopf. „Das hast du gut gemacht.“ Doch der Deutschstämmige ließ den Kopf sinken und begann am Körper zu zittern. Seine Nerven lagen blank, genauso wie Mallorys. „Scheiße“, brachte er leise hervor und biss sich auf die Unterlippe. „Verdammte Scheiße…“ Tröstend legte Lewis ihm beide Hände auf die Schultern und diese Szene hatte fast etwas Väterliches. „Sei nicht zu hart zu dir. Du kannst nichts dafür, dass es wieder passiert ist. Und es ist doch gut ausgegangen, oder etwa nicht? Finny wird erst einmal tief und fest schlafen, dann ist er wieder ganz der Alte. Komm, geh nach Hause und ruh dich aus. Ich regle das hier schon.“ Stumm nickte Ilias und in dem Moment erinnerte er Mallory irgendwie an einen verängstigten kleinen Jungen, der seine Eltern verloren hatte. Etwas wankend kam er wieder auf die Beine und nahm den Koffer mit, den Lewis mitgebracht hatte. Dieser wandte sich Mallory zu und sein sanftes Lächeln hatte etwas so Beruhigendes an sich, dass auch ihre Angst wieder wich. „Du hast sicher einen furchtbaren Schreck gekriegt, nicht wahr? Keine Sorge, es geht ihm gut. Er muss sich nur ausruhen. Komm, ich bring ihn in sein Zimmer und dann begleite ich dich zur Pension zurück.“ Lewis ergriff Finnians Arm und hob ihn hoch. Obwohl er nicht so stark aussah, schaffte er es, den Bewusstlosen hochzuheben und nach nebenan in sein Zimmer zu bringen. Er legte ihn aufs Bett und deckte ihn zu. Nun brachen alle Dämme bei Mallory und sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie vergrub schluchzend das Gesicht in den Händen und tröstend nahm Lewis sie in den Arm. Sanft strich er ihr über den Kopf und sie spürte seinen Herzschlag. Obwohl Lewis so ruhig nach außen wirkte, raste sein Herz selbst wie verrückt, als hätte er selbst Ängste ausgestanden. Aber er hatte sich zusammengerissen, um stark für die anderen zu sein, weil es der einzige Weg war, um Finnian zu helfen. Und auch jetzt war er stark für Mallory, weil ihr selbst der Schreck noch tief in den Knochen saß. Sanft strich er ihr durchs Haar und hielt sie fest im Arm, bis sie sich beruhigt hatte. Er legte einen Arm um ihre Schulter und führte sie die Treppe hinunter nach draußen, damit sie frische Luft schnappen konnte. Die kühle Abendbrise war wohl tuend für ihr glühendes Gesicht und ihre Kopfschmerzen. Sie wurde augenblicklich ruhiger, musste sich aber dennoch setzen. Also nahmen sie auf der Mauer Platz, die das Grundstück von der Straße trennte. Der Himmel war sternenklar diese Nacht und wieder hatte Lewis diesen verträumten und zugleich schmerzlichen Blick. Er atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich dir die ganze Sache erkläre.“ Kapitel 4: Versteckte Narben ---------------------------- Mallorys Hände krallten sich in die Mauer und ihr ganzer Körper verkrampfte sich. „Hatte Finny Als er an deinengerade wirklich einen epileptischen Anfall?“ Ein Moment des Schweigens, dann schüttelte Lewis den Kopf. „Nein, aber sein Gehirn verursacht ähnliche Symptome als Abwehrreaktion. Ich bin kein Psychologe, aber ich habe während meiner Studienzeit sehr viel über psychosomatische Reaktionen gelernt. Tatsächlich können sich einige psychische Krankheiten auf unseren Körper auswirken, zum Beispiel Stress. Wir bekommen Kopfschmerzen, Bauchweh oder Übelkeit. Auch wenn wir vor etwas Angst haben. Und bei Finny ist es besonders stark ausgeprägt. Ich weiß nicht genau, was er hat und was ihm so zu schaffen macht, aber er lebt in einer Scheinwelt, die er sich selbst aufgebaut hat, um vor der Wahrheit zu fliehen. Und immer, wenn etwas diese Scheinwelt gefährdet und er mit der Realität konfrontiert wird, wehrt sich sein Unterbewusstsein derart heftig dagegen, dass er starke Schmerzen erleidet und in manchen Fällen sogar Symptome eines epileptischen Anfalls hat. Zwar sind es nur Symptome, aber es kann trotzdem gefährlich werden. Deshalb musste ich ihm ein Beruhigungsmittel geben, damit er sich entspannt.“ „Woher wusstet ihr, dass das mit Finny passiert ist?“ „Ilias hatte da so eine Vorahnung gehabt. Als er an deine Tür klopfte und sah, dass du weg warst, hat er befürchtet, dass so etwas in der Art passiert, weil du Finny so viele Fragen gestellt hattest. Ich hab sicherheitshalber meinen Notfallkoffer mitgenommen und dann haben wir auch schon die Schreie von draußen gehört.“ So war das also, dachte Mallory und senkte betrübt den Kopf. Ilias hatte sich Sorgen gemacht, weil sie so viele Fragen gestellt hatte und damit früher oder später so etwas verursachen würde. Wenn er nicht gekommen wäre, was wäre dann passiert? Hätte die Sache anders ausgehen können? Lewis strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und machte eine längere Pause. Offenbar wartete er darauf, dass Mallory ihm Fragen stellte, da er sich nicht sicher zu sein schien, ob sie die Geschichte bezüglich Finnians Vergangenheit wirklich hören wollte. Tatsächlich musste sie ihre Kräfte zusammennehmen, um diese Frage auszusprechen. „Was ist mit Finny passiert und wieso hat er eine Leiche bei sich im Haus?“ „Nun, er hat nie über seine Vergangenheit gesprochen und ich weiß nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, oder mir zusammenreimen konnte. Als Finny vor acht Monaten zu uns kam, hat er ständig diese Maske getragen, war aber überhaupt nicht verschlossen. Im Gegenteil! Er war genauso, wie du ihn kennen gelernt hast. Aber wir haben schnell gemerkt, dass er zwei Masken trug. Die im Gesicht und eine, die er sich selbst erschaffen hat, um vor sich selbst und seinen Erinnerungen zu fliehen. Ich merkte schon bei unserer ersten Begegnung, dass sich hinter diesem Lachen und der witzigen Art ein tiefer Abgrund verbergen musste. Das zeigte mir schon sein Verhalten. Er vermied jeglichen Körperkontakt, sah uns niemals in die Augen und selbst, als er sich überwinden konnte, vor uns seine Maske abzunehmen, hat er uns nie direkt angesehen. Und als ich ihn untersuchen wollte, hat er sehr heftig reagiert und mich auf Abstand gehalten. Ich ahnte, dass so einiges in seinem Elternhaus vorgefallen sein musste und er vor uns etwas verbarg. Aber der eigentliche Schock kam, als wir ihn zuhause waren und die Leiche seines kleinen Bruders fanden. Und Finny verhielt sich so, als wäre nichts und er sah auch nicht, dass Keenan eigentlich längst tot war. Er war vollständig in seiner eigenen Welt gefangen und als wir versuchten, ihm die Wahrheit vor Augen zu führen, bekam er einen heftigen Anfall. Es gelang uns, ihn ruhig zu stellen und als er wieder zu sich kam, erinnerte er sich an rein gar nichts mehr. Sein Gehirn hatte wieder alles verdrängt. Also versuchten wir es, ihm langsam und schonend beizubringen. Aber jedes Mal, wenn er mit unangenehmen Fragen oder Tatsachen konfrontiert wurde, erzählte er irgendetwas daher und vergaß später einfach, dass wir ihm diese Fragen gestellt haben. Als wir ihn das erste Mal ruhig stellten, habe ich die Gelegenheit genutzt, um ihn näher zu untersuchen. Und was ich gesehen habe, schockierte mich wirklich.“ Lewis wurde mit einem Male sehr ernst und er vergrub seine Hände in den Knien. So bedrückt hatte Mallory ihn bis jetzt noch nicht gesehen. Es musste wirklich schlimm sein. „Am ganzen Körper hatte er blaue Flecken, manche waren wirklich groß. Und am Rücken hatte er Brandspuren eines Bügeleisens und das sah nicht nach einem Unfall aus. Außerdem fand ich unzählige Narben, die wahrscheinlich von Striemen herrührten. Außerdem habe ich noch andere Narben entdeckt, die darauf schließen ließen, dass er in der Vergangenheit sexueller Gewalt ausgesetzt war.“ Alles Blut wich aus ihrem Kopf und ihr Magen verkrampfte sich, woraufhin ihr schlecht wurde. Wollte Lewis ihr etwa allen Ernstes sagen, dass… „Er… er wurde vergewaltigt?“ Als sie dieses letzte Wort aussprach, schloss Lewis die Augen und er schien mit sich selbst zu kämpfen. Sie lag also richtig. „Es sieht ganz stark danach aus. Und ich fürchte, dass es kein einmaliger Fall war. Zusätzlich fand ich an seinen Händen alte Bissspuren. Ich vermute, dass er sich die Hände blutig gebissen hat, um diese Tortur ertragen zu können. Und an seinem Hals fand ich eine noch nicht ganz verblasste Narbe, die danach aussah, als wäre er dort mit einem Messer verletzt worden.“ „Hat man etwa versucht, ihn umzubringen?“ „Entweder das, oder es war ein Selbstmordversuch. Jedenfalls fand ich noch weitere Verletzungen an seinem Körper. Brandspuren von Zigaretten und noch weitere ältere Wunden an Intimstellen, die ich nicht näher erläutern möchte. Als wir das alles sahen, konnten wir verstehen, warum sich sein Unterbewusstsein mit aller Macht dagegen wehrte, sich an diese schrecklichen Szenen zu erinnern. Und wir verstanden auch, wieso Finny nicht angefasst werden wollte, oder wieso er niemals Augenkontakt halten konnte. Auch warum er so oft log und diese Lügen auch selbst glaubte. Obwohl er sich nicht erinnert, bzw. nicht erinnern will, haben diese Traumata Spuren bei ihm hinterlassen. Er empfindet unterbewusst Scham und versucht deshalb, sein Gesicht zu verstecken.“ Ein dicker Kloß verstopfte ihren Hals und Tränen rannen wie Sturzbäche ihre leichenblasse Wangen hinunter. Sie machte sich schwere Vorwürfe und fühlte sich miserabel. Nur weil sie so neugierig war, hatte sie Finnian dazu gebracht, sich an diese schrecklichen Dinge zu erinnern und erneut diese Tortur in seinem Kopf zu durchleben. Nur wegen ihr war er zusammengebrochen. „Wer hat ihm das angetan und wer hat seinen Bruder getötet?“ Auch hier konnte Lewis nur spekulieren und auch diese Theorien gefielen ihm nicht. „Nun, Finny hat ja gesagt, dass er einen Alkoholiker zum Vater hatte und er wegen ihm von zuhause ausgezogen ist. Ich glaube, wir wissen, wer Finny zu dem gemacht hat, was er jetzt ist. Vermutlich hat sein Vater Keenan ebenfalls misshandelt und in dieser extremen Situation hat Finny die Ersatzvaterrolle für seinen kleinen Bruder übernommen und versucht, ihn zu beschützen. Aber dann muss es wohl irgendwie eskaliert sein und dabei wurde Keenan wahrscheinlich totgeprügelt. Das war sicherlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Finny ist ein Mensch, der selbst viel einstecken und ertragen kann, wenn er dadurch andere beschützen kann. Er hat einen unglaublich starken Beschützerinstinkt, besonders gegenüber seinem kleinen Bruder. Solange es Keenan gut ging, schien er noch einigermaßen gesund zu sein, aber als sein kleiner Bruder starb, war das zu viel für ihn gewesen. Er kann einfach die Wahrheit nicht akzeptieren, dass Keenan tot ist, deshalb hat er sich in die Wahnidee hineingesteigert, dass dieser noch lebt. Er begann alles zu verdrängen, was ihn an Keenans Tod und seine eigene Tortur erinnerte und erfand stattdessen irgendwelche Geschichten bezüglich seiner Verletzungen, die er schließlich selbst zu glauben begann. So erzählt er, dass er die Handschuhe und die Bandagen trägt, weil er sich im Schlaf und bei Nervosität blutig kratzt. Und selbst bei heißem Sommerwetter trägt er einen Pullover mit der Behauptung, er fände es unanständig, halbnackt herumzulaufen. In Wahrheit schämt er sich, seine Haut zu zeigen. Nicht bloß wegen seiner Verletzungen, sondern weil er sexueller Gewalt ausgesetzt war. Aber… es gibt noch eine andere Theorie bezüglich Keenans Tod.“ Noch eine? Mallory hatte insgeheim Angst vor dieser Theorie, aber sie wollte sich diese trotzdem anhören. „Es besteht die Möglichkeit, dass Finny selbst für Keenans Tod verantwortlich ist.“ „Wie bitte? Wieso sollte er so etwas tun? Ich dachte, er liebt seinen kleinen Bruder.“ „Ich weiß, dass das verrückt klingt, aber so etwas kommt überall vor. Wenn Menschen sich in einer ausweglosen und verzweifelten Lage befinden, handeln sie oft irrational und können keine vernünftigen Entscheidungen treffen. Oft genug hört man von Eltern, die ihre eigenen Kinder töten, weil sie in ihrer Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung keinen anderen Ausweg gewusst haben. Finny kann seinen Bruder im Affekt getötet haben, weil er die Gewalt zuhause nicht mehr ertragen konnte und ein Ventil brauchte, um sich abzureagieren. Vielleicht tötete er ihn auch, um ihn von diesem Elend zu erlösen, in welchem sie beide gefangen waren. Und als er erkannte, was er da angerichtet hatte und genau die Person getötet hat, die er eigentlich beschützen wollte, schaltete sich etwas in seinem Kopf ab. Er konnte nicht mit der Schuld leben, wollte es einfach nicht wahrhaben und begann daraufhin die Tatsachen zu verdrehen. Ich will damit nicht sagen, dass ich Finny für einen Mörder halte. Er kann eigentlich keiner Fliege etwas zuleide tun, aber wie schon gesagt: In einer verzweifelten und völlig aussichtslosen Lage können Menschen Dinge tun, die jeglicher Logik entbehren.“ Konnte das wirklich sein? War es wirklich möglich, dass Finnian aus reiner Hilflosigkeit seinen eigenen Bruder getötet hatte? Mallory schüttelte den Kopf, ihre Augen starrten ins Leere. Sie konnte nicht glauben, was sie da gehört hatte. Finnian war zwar in manchen Dingen etwas seltsam, aber er war doch so ein netter und witziger Kerl. Er war hilfsbereit und die Lebensfreude in Person und dabei verbarg sich so eine schreckliche Geschichte hinter seiner Person. Verprügelt, gefoltert und vergewaltigt. „Warum lasst ihr zu, dass er in diesem Zustand hier bleibt und dann auch noch mit der Leiche seines Bruders in diesem Haus wohnt? Er braucht professionelle Hilfe!“ „Das weiß ich auch“, erwiderte Lewis plötzlich in einem lauten Ton, als sei er wütend. Aber seine Wut richtete sich nicht gegen Mallory, sondern gegen sich selbst und seine eigene Unfähigkeit. „Ich würde ihm ja gerne helfen, aber es geht einfach nicht. Wir sitzen hier fest, weil wir Dark Creek aus unerfindlichen Gründen nicht verlassen können. Deshalb können wir auch nichts tun, um Finny zu helfen. Stattdessen bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Krankheit einfach zu akzeptieren und ihn in seiner Welt zu lassen, wenn wir dadurch weitere Anfälle vermeiden können.“ Mallory erinnerte sich, dass Lewis so etwas beim Frühstück auf der Dachterrasse gesagt hatte. Aber sie hatte es nicht ganz hundertprozentig ernst genommen, weil es so abwegig klang. Er meinte es also tatsächlich ernst, dass sie hier festsaßen? „Wenn das wirklich stimmt, dass ihr nicht weg könnt… dann heißt das, ich bin auch hier gefangen?“ Lewis zuckte unsicher mit den Achseln. „Ich weiß nicht. Da wir schon so lange hier sind, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob es von der Aufenthaltsdauer abhängig ist. Du kannst es gerne versuchen, wenn du willst. Es wäre sowieso besser für dich, nicht länger als nötig hier zu bleiben.“ „Und wie kann man wieder entkommen?“ Mallory ärgerte sich, dass sie diese dämliche Frage gestellt hatte. Wenn Lewis die Antwort wüsste, dann hätte er Dark Creek doch längst wieder verlassen. Aber sein Schweigen und sein Blick verrieten ihm, dass er die Antwort vielleicht schon wusste, oder zumindest erahnte. „Lewis… weißt du irgendetwas?“ Er atmete leise aus und antwortete nicht auf ihre Frage. Stattdessen sah er starr in den Himmel, wo er die Sterne betrachtete. Etwas Trauriges lag in seinem Blick. „Die Antwort kennen wir alle bereits tief in unserem Herzen, aber… wir müssen sie selbst herausfinden, auch du. Nicht umsonst sitzen wir hier alle fest. Ich glaube nämlich, dass wir tief in unserem Unterbewusstsein gar nicht von hier weg wollen, weil wir vor der Antwort fliehen und unsere Augen verschließen. Das friedliche Leben hier ist einfach zu verlockend, aber im Grunde ist es mit einer Dystopie vergleichbar: All das hier ist bloß eine Illusion. Ich weiß nicht, ob es die Stadt selbst ist oder irgendjemand in unseren Reihen. Aber Fakt ist, dass wir mit diesem friedlichen und sorglosen Leben geködert werden, um keine Fragen zu stellen und nicht einmal daran zu denken, von hier wegzugehen. Nimm dir Ilias und Finny als Beispiel: Sie sind auf ihre Weise glücklich hier und bekommen das, was sie sich wünschen und auch ich hatte lange Zeit alles, was ich zum Glücklichsein brauchte. Ich habe die Pension, mein eigenes Reich auf dem Dach, die Schriftstellerei und wunderbare und herzensgute Freunde. Und doch war die ganze Zeit das leise Gefühl, dass es trotzdem nicht das ist, was mich wirklich glücklich machte. Egal was ich tat, etwas in mir war immer noch leer. Aber ich wusste nicht, was es war und daraufhin begann ich, das Leben hier mit anderen Augen zu sehen.“ In diesem Moment machte er wirklich den Eindruck, als wäre er nicht glücklich, aber was genau fehlte ihm denn? Was brauchte er denn noch, das war die Frage. Manchmal war er Mallory ein Rätsel, aber gleichzeitig schätzte sie ihn sehr. Er war für sie alle wie eine Art väterlicher Freund, obwohl der Altersunterschied eigentlich nicht so groß war. Nachdenklich betrachtete sie ihn und im Licht des Mondes schien er eine fast engelsgleiche Ausstrahlung zu haben. „Ehrlich gesagt, würde ich gerne mit dir tauschen“, sagte sie schließlich, um ihn ein wenig aufzumuntern. „Du hast die besten Freunde auf der Welt, alle sehen zu dir auf und schätzen dich und mit deinem Aussehen kriegst du sicher jede Frau herum.“ Sie erwartete, dass er lachte oder geschmeichelt war, aber es kam nichts dergleichen. Nur ein trauriges Lächeln. Plötzlich stand er auf, schob seine Hände in die Hosentaschen und senkte den Kopf. „Das mag sein, aber im Gegensatz zu dir kann ich keine Kinder zur Welt bringen.“ Damit ging er und verwirrt über diese Worte blieb Mallory zurück. Was sollte das gerade bedeuten? Da ihr langsam kalt wurde, machte sie sich wieder auf den Rückweg und ging die leere Straße entlang. Dabei kam sie an einem kleinen Spielplatz vorbei, wo sie eine kleine Gestalt auf einer Schaukel sitzen sah. Zuerst dachte sie, es sei Dean, der wieder schlafwandelte, aber dann bemerkte sie, dass es ein Mädchen war. Sie hatte langes blondes Haar, starre blaue Augen wie die einer Puppe und sie trug ein weißes Kleid. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Josephine war nicht zu übersehen und auch das Alter kam gut hin. Das musste ihre jüngere Schwester Anna sein. Langsam schaukelte sie vor und zurück und ihr Blick hatte etwas Unmenschliches an sich. Es waren keine Emotionen im Gesicht lesbar, es war starr wie das einer Puppe. Sollte sie weitergehen? Mallory dachte tatsächlich erst mal daran, aber dann entschied sie sich anders und ging zu ihr hin. „Hey, ist dir nicht kalt? Was machst du noch alleine hier draußen?“ Erst jetzt schien Anna sie zu bemerken und starrte sie an. Mallory wurde es unbehaglich dabei, denn sie wurde das Gefühl nicht los, dass dieses Mädchen ihr nicht bloß in die Augen sah. Nein, sie sah hindurch bis tief in ihr Innerstes, was Mallory ein sehr unangenehmes Gefühl der Nacktheit gab. Dieses Mädchen war wirklich seltsam. Da sie nichts sagte, glaubte Mallory zuerst an kindliche Schüchternheit und blieb vor ihr stehen. „Hallo, ich heiße Mallory, bist du Anna?“ „Warum?“ fragte das Mädchen tonlos und Mallorys Augenbrauen senkten sich ein wenig. „Wie? Ich verstehe nicht…“ „Warum tust du das?“ „Was meinst du damit?“ „Hör auf, dich in Dinge einzumischen, die dich nichts angehen.“ Sprach sie den Vorfall mit Finnian an? Hatte sie rein zufällig von draußen etwas mitbekommen? Annas Aufforderung klang jedenfalls nicht wie eine Drohung, sondern mehr wie eine Warnung. „Verschwinde von hier, gleich morgen früh. Du hast hier nichts verloren, du gehörst nicht hierher.“ Was redete sie da bloß und warum war Anna so feindselig ihr gegenüber? In ihrem Gesicht waren immer noch keine Emotionen zu sehen. Keine Wut, kein Hass, rein gar nichts, selbst ihre Augen waren vollkommen leer und starr. Mit der blassen Haut sah sie wirklich wie eine Puppe aus. Und wieso sagte sie so etwas? „Wieso soll ich nicht hier hingehören? Ich bin hier immerhin geboren worden und ich gehe erst wieder, wenn ich das gefunden habe, wonach ich suche.“ Kein Zucken, nur ein kurzes Blinzeln. Wirklich gar nichts ging von diesem Mädchen aus, weder Kälte noch Wärme. Als sei sie nur ein Trugbild und eigentlich gar nicht vorhanden. Mallory wurde unruhig, denn ihr war es unangenehm, so von ihr angestarrt zu werden. „Du irrst dich“, sagte sie tonlos und ruhig. „Dieser Ort hat nichts mit dir zu tun. Er hat keine Vergangenheit und ist längst nicht mehr das Dark Creek, in welchem du geboren wurdest.“ „Was meinst du damit?“ „Geh wieder nach Hause und lass uns alle in Frieden. Hör auf dich in Dinge einzumischen, die dich nichts angehen und steck deine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten. Ich lasse mir unseren Traum nicht von dir kaputt machen, Mallory.“ Woher wusste sie ihren Namen? Mit Sicherheit von ihrer Schwester Josephine. Obwohl die Leute in der Stadt allesamt Angst vor Josephine hatten, war Mallory eher die jüngere Schwester unheimlich. „Was für ein Traum? Wovon sprichst du und wieso ist das hier nicht Dark Creek?“ Anna schwieg und sah sie mit einem starren Blick an, der keinerlei Emotionen hatte. Nichts an ihr zeugte überhaupt von menschlichen Gefühlsregungen. Mallory spürte, wie die Wut in ihr aufstieg. Sie wusste, dass sie überreagierte, aber es war einfach zu viel passiert. Finnians Anfall, das Gespräch mit Lewis… und jetzt kam so ein kleines Mädchen daher und meinte, sie könne sie herumkommandieren und sie einschüchtern. Mit einem finsteren Blick ging sie auf die Kleine zu und wollte sie am Arm packen, da wich Anna zurück und rief „Fass mich nicht an!!!“ Nun war etwas Leben in ihre Stimme gekommen, doch ihre Augen waren weiterhin starr und leblos wie Puppenaugen. Und als hätten ihre Worte irgendetwas ausgelöst, gab es einen lauten Knall und das Licht einer Straßenlaterne explodierte regelrecht. Mallory wich erschrocken zurück als sie das sah und in diesem Moment schienen diese starren Augen sie wie Pfeile zu durchbohren. „Wag es niemals, mir zu nahe zu kommen“, wiederholte Anna mit tonloser Stimme. „Und verschwinde von hier. Du hast hier nichts verloren.“ Damit wandte sich das weiß gekleidete Mädchen um und verschwand in der Dunkelheit. Mallory machte keinerlei Anstalten, ihr zu folgen. Sie war wie erstarrt und verstand nicht, was gerade passiert war. War das etwa gerade ein Zufall gewesen, oder war das Licht der Straßenlaterne auf Annas Willen hin explodiert? Wer zum Teufel war dieses Mädchen und was wusste sie über Dark Creek? Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass an Lewis’ Worten etwas Wahres dran war: Irgendetwas schien in dieser Stadt nicht zu stimmen und wahrscheinlich hatten Anna und Josephine etwas damit zu tun, auch wenn sie selbst noch keinen Plan hatte, was hier eigentlich falsch war. Kapitel 5: Josephines Drohung ----------------------------- Der nächste Morgen war für Mallory noch schlimmer, denn sie wachte mit entsetzlichen Kopfschmerzen auf. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich aus dem Bett zu kämpfen, anzuziehen und dann Lewis aufzusuchen. Dieser gab ihr ein gutes Mittel gegen Kopfschmerzen und vermutete, dass es wohl von der Aufregung des Vortages kam. Er sah aber trotzdem besorgt aus und fragte, ob sie noch andere Sorgen hatte. Tatsächlich bedrückte sie etwas und da sie glaubte, ihm vertrauen zu können, war sie für ein Gespräch dankbar. Um in einer angenehmeren Umgebung reden zu können, gingen sie wieder auf die Dachterrasse, wo sich auch Mallory deutlich wohler fühlte. Sie redeten über den gestrigen Vorfall und wie es in Zukunft weitergehen sollte. Lewis lächelte verständnisvoll und versicherte ihr, dass es nicht ihre Schuld war und es sei auch nichts wirklich Schlimmes passiert. „Finny geht es inzwischen wieder gut. Er war vorhin hier gewesen, um mit Dean und Ilias Fußball zu spielen. Er macht wie immer seine Späße und ist der Sonnenschein in Person.“ „Und wegen dem Anfall?“ „Er hat alles wieder komplett verdrängt und erinnert sich an nichts mehr. Ich hab mit ihm geredet und er glaubt, dass er sich ganz normal verabschiedet hat und nach Hause gegangen ist, wo er schließlich im Bett einschlief.“ Insgeheim war Mallory erleichtert, dass Finnian keine ernsthaften Schäden davongetragen hatte und es ihm gut ging. Aber… im Grunde ging es ihm nicht gut, nur oberflächlich. Im Inneren war er immer noch völlig kaputt und brauchte dringend professionelle Hilfe. Am besten in einer psychiatrischen Einrichtung, wo er all diese schlimmen Dinge verarbeiten konnte, anstatt sie zu verdrängen. „Wie soll ich mich ihm gegenüber verhalten?“ Lewis schüttete sich und Mallory Kaffee ein und gab zwei Würfel Zucker herein. „Ich weiß, dass das hart ist, wenn man weiß, was für ein tiefer Abgrund sich hinter der Maske eines fröhlichen Jungen verbirgt und welcher Schmerz unter der Kleidung verborgen liegt. Aber wir können momentan nichts anderes tun, als Finnys Spiel mitzuspielen und ihm das Gefühl geben, es wäre alles in Ordnung, so wie es jetzt im Moment ist. Nur so können wir seinen Zustand stabil halten und ihn vor einem weiteren Anfall schützen. Zwar hat er nur eine Art falsche Epilepsie gehabt, aber es besteht die Gefahr, dass er beim nächsten Mal ernsthaft verletzt werden könnte. Also sprich ihn bitte nicht auf seine Vergangenheit oder seinen Bruder an, okay?“ Insgeheim spürte sie aber, dass es ihr schwer fallen würde, die Erinnerung an die gestrigen Geschehnisse auszublenden und die Tatsache zu verdrängen, dass Finnian in der Vergangenheit verprügelt und vergewaltigt und sein Bruder ermordet worden war. „Vielleicht sollte ich ihm eine Weile aus dem Weg gehen…“ Lewis nickte verständnisvoll und meinte „Das kann ich gut verstehen. Wenn du das für dich die beste Lösung ist, dann kann ich dir nur schlecht davon abraten.“ Irgendwie wirkte der Arzt heute anders als sonst. Er hatte zwar immer noch diese charismatische Ausstrahlung und dieses wunderschöne engelsgleiche Lächeln, aber Mallory hatte einen siebten Sinn für solche Dinge. Etwas war passiert, was nicht nur Finnian verändert hatte, sondern auch ihn. Diese seltsame Bemerkung von gestern Abend ging ihr wieder durch den Kopf. Was hatte er noch mal gesagt? „Im Gegensatz zu dir kann ich keine Kinder zur Welt bringen.“ Was hatte er bloß damit gemeint? Als er merkte, dass sie ihn mit einem merkwürdigen Blick ansah, stellte er seine Tasse wieder ab und erhob sich. Sein warmherziger Blick war nun gewichen und er wirkte irgendwie nachdenklich. Ob er wohl spürte, dass sie über ihn nachdachte? „Entschuldige mich bitte, Mallory. Ich habe noch einige sehr wichtige Dinge zu erledigen.“ „Wo gehst du hin?“ „Zum Vergnügungspark. Es gibt da etwas, was ich noch überprüfen muss.“ Der Vergnügungspark. Finnian hatte erzählt gehabt, dass die Menschen in Dark Creek Angst vor diesem Ort hatten. Er war kurz nach dem Massaker erbaut und wurde von den Zwillingsschwestern allein bewohnt. Was erhoffte sich Lewis davon, dorthin zu gehen? Mallory spürte, dass er ihr keine Antwort geben würde, wenn sie ihm diese Frage stellte und so sah sie ihm schweigend nach, wie er die Dachterrasse verließ. Eine Weile saß sie noch da und trank ihren Kaffee, dann stand sie ebenfalls auf und machte sich auf den Weg. Sie wollte endlich mit ihrer eigentlichen Arbeit beginnen und anfangen, nach ihrer Vergangenheit zu suchen. Je eher sie hier fertig wurde, desto besser. Dieser Ort wurde ihr immer seltsamer und der Blick dieses unheimlichen Mädchens schien sie immer noch zu verfolgen. Was zum Teufel war nur Annas Problem gewesen? Offenbar konnte sie Mallory nicht ausstehen, aber das war ihr im Grunde auch egal. Sie ließ sich von niemandem verjagen oder einschüchtern. Ihr Entschluss stand fest, dass sie erst wieder gehen würde, wenn sie wusste, wer sie war und was vor 17 Jahren mit ihr und ihrer Familie passierte. Und von einem kleinen Mädchen würde sie sich auch nicht davon abhalten lassen. Sie ging auf ihr Zimmer, holte ihre Jacke und ihre Handtasche und machte sich auf dem Weg. Da sie sich nicht mehr wirklich erinnern konnte, wo das Stadtarchiv war, musste sie sich unterwegs durchfragen. Doch schon bald merkte sie, dass etwas anders war als sonst. Aus irgendeinem Grund gingen ihr die Leute aus dem Weg und taten so, als würden sie sie nicht sehen. Egal ob sie in den Laden ging oder Passanten fragte, alle behandelten sie wie Luft oder jemand mit Aussatz. Sie brauchte nicht wirklich eins und eins zusammenzählen um zu merken, was hier vor sich ging. Allem Anschein nach gingen ihr die Leute aus dem Weg, weil es mit den Zwillingsschwestern zu tun hatte. Anna wollte sie nicht in Dark Creek haben und das schien für die Bewohner hier Grund genug zu sein, Mallory von da an zu meiden. Aber warum bloß hatten die Schwestern so einen Einfluss auf die Leute und wieso hatten sie Angst vor zwei kleinen Mädchen? Mallory versuchte es wirklich in der ganzen Stadt und erhielt überall die gleiche Reaktion. Fast zwei Stunden versuchte sie, sich durchzufragen und jemanden zu finden, der sich an sie von damals erinnern konnte. Schließlich aber traf sich der Zufall, dass sie Ilias begegnete, der mit seinem Rad unterwegs war, um Lieferungen zu machen. Als er sie sah, wurde er wieder ganz rot im Gesicht und wich erst ihrem Blick aus. Zwar spielte er vor anderen den Coolen, aber er schien wohl ziemlich schüchtern zu werden, wenn er verliebt war. Das fand Mallory irgendwie süß an ihm. Er stieg von seinem Rad ab und fragte, wohin sie gehen wollte. „Ich wollte mich im Ort herumfragen, ob mich jemand von früher kennt und ich hab das Stadtarchiv nicht gefunden. Aber jeder geht mir aus dem Weg und behandelt mich wie Luft.“ „Das ist eigenartig“, murmelte er und seine Schüchternheit wich. Er selbst war erstaunt, denn seiner Meinung nach passte das eigentlich nicht zum Charakter der Leute. „Normalerweise sind sie alle sehr hilfsbereit und freundlich. Ist irgendetwas passiert?“ Mallory dachte an Anna, die sie aufgefordert hatte, sofort zu verschwinden. Sie sollte ihm besser davon erzählen. „Ich hab nach der Sache mit Finny gestern ein Mädchen getroffen. Ich glaube, das war die jüngere von den Zwillingsschwestern.“ „Du meinst Anna?“ „Ja. Sie hat mir gesagt, ich solle sofort von hier verschwinden und aufhören, mich in Dinge einzumischen, die mich nichts angehen. Außerdem sagte sie, dass Dark Creek nichts mit meiner Vergangenheit zu tun habe und ich hier deshalb nichts zu suchen hätte. Keine Ahnung, was ihr Problem ist.“ Auch Ilias konnte sich das nicht erklären und war verwundert über diese Worte. „Normalerweise ist Anna eher still und sagt so etwas nicht. Es scheint, als hätte sie etwas persönlich gegen dich und so wie ich das sehe, würde das dann wohl auch die Reaktion der Leute hier erklären. Josephine und Anna halten wie Pech und Schwefel zusammen und wenn Anna dich nicht leiden kann, dann hast du bei Josephine noch schlechtere Karten. Und da alle Leute Angst vor Josephine haben, wollen sie nicht auch noch ihren Unmut auf sich ziehen und gehen dir wahrscheinlich deshalb aus dem Weg.“ „Und was ist mit dir? Hast du keine Angst?“ „Nun ja, Josephine ist zwar unheimlich, aber Lewis war der Meinung, dass sie und Anna einfach nur missverstanden sind. Deshalb hab ich irgendwann angefangen, die beiden anders zu sehen und…“ Ilias brach mitten im Satz ab und blieb abrupt stehen, woraufhin auch Mallory das Gleiche tat. „Hey Ilias, was ist?“ Er sagte nichts, er war vollkommen erstarrt, seine Augen waren weit aufgerissen und seine Brust hob und senkte sich schneller. In diesem Moment sah er genauso aus wie Finnian am Vorabend, bevor er seinen Anfall hatte. Mallory stellte sich vor ihm hin und sah ihm in die Augen. „Was ist los mit dir? Sag doch was.“ Sie folgte seinem Blick und entdeckte eine gusseiserne Statue, die eine Frau zeigte, die mit einem Kind auf dem Arm auf einem Sockel saß. Wahrscheinlich ein Denkmal oder so. Ilias biss sich auf die Unterlippe und kniff die Augen zusammen. „Nichts… schon okay. Lass uns einfach weitergehen, okay?“ Er ergriff ihre Hand und zog sie weiter. Sein Griff war fest und schon schmerzhaft, aber Mallory sagte nichts und folgte ihm einfach. „Hast du etwa Angst vor dem Ding?“ Keine Antwort, nur beschämtes Schweigen. Anscheinend hatte sie ins Schwarze getroffen. „Sag bloß, dass du Angst vor Statuen hast.“ „Ich weiß auch nicht wieso, aber ich bekomme immer Atemprobleme und Herzrasen, wenn ich Statuen sehe und dann tun mir meine Gelenke entsetzlich weh.“ Er hat panische Angst, so wie ich wenn ich Blut sehe, dachte Mallory und sah ihn besorgt an. Diese Situation war ihm mehr als unangenehm und er versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen, aber da nahm sie seine Hand und hielt sie fest. „Keine Sorge. Gemeinsam schaffen wir das, okay?“ Beschämt darüber, dass er vor ihr Schwäche gezeigt hatte, färbten sich seine Wangen rot und er wich ihrem Blick aus. Sie machten einen großen Bogen um die Statue, wobei sie ihm beschwörend zusprach, er solle allein auf sie achten. Ihre Pflegemutter hatte das auch immer so gemacht. Als sie alle eine Fahrradtour gemacht hatten, war Edna schwer gestürzt und hatte sich dabei das Knie aufgeschlagen, weshalb es ziemlich schlimm geblutet hatte. Mallory hatte daraufhin fast eine Panikattacke gekriegt, wäre Ellen nicht da gewesen und hätte sie wieder beruhigt. Jedes Mal, wenn Mallory Blut oder Tote sah, egal ob im TV oder in der Realität, bekam sie Herzrasen und unkontrollierbare Angst. Inzwischen wusste sie, dass das mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte und wahrscheinlich auch mit ihrer leiblichen Familie. Insgeheim war sie neugierig, weshalb Ilias so eine Angst vor Statuen hatte. Als sie ihn das fragte, war er sich selbst nicht ganz sicher. „Ich denke, es hängt mit meinen steifen Gelenken zusammen. Wenn ich mich längere Zeit nicht bewege, dann tut alles weh und ich kann kaum meine Arme heben. Ich denke, dass es daher kommt. Allein der Gedanke, dass ich mich irgendwann gar nicht mehr bewegen kann, macht mir Angst.“ „Hm, das kann ich gut verstehen. Aber keine Sorge: Ich werde deswegen nicht unbedingt schlechter von dir denken. Immerhin hat jeder seine Ängste. Weißt du, ich kann weder Blut noch Leichen sehen, egal ob es Tierkadaver sind oder so. Das macht es mir leider nicht gerade einfach, Krimis zu sehen.“ Sie mussten beide lachen und schließlich entspannte er sich deutlich. Als sie weit genug weg waren, ließ sie seine Hand wieder los und gemeinsam gingen sie weiter in Richtung Stadtarchiv. Auch hier wurde Mallory gemieden, aber Ilias konnte durch gezielte Fragen schließlich herausfinden, dass aus Platzgründen Akten vernichtet werden mussten, die älter als zehn Jahre alt waren. Das hieß also, dass es keine Unterlagen zu Mallory gab und sie auf diesem Weg nicht herausfinden konnte, was mit ihrer Familie passierte. Das war eine herbe Enttäuschung für sie und vollkommen demotiviert verließ sie das Archiv. Zuerst sah sie danach aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, aber dann stampfte sie laut auf dem Boden auf und trat gegen die Wand. „Verdammte Scheiße!“ rief sie und trat erneut gegen die Ziegelwand. „Elender Scheißdreck.“ Sie setzte sich auf eine Bank nicht weit entfernt und atmete tief durch, damit sie sich wieder etwas beruhigen konnte. Ilias gesellte sich zu ihr, wobei er aussah, als hätte er Schuldgefühle. „Tut mir echt Leid, dass du umsonst hergekommen bist.“ „Du kannst ja nichts dafür. Es ist nur so, dass ich endlich wissen will, wer ich eigentlich bin und warum man nie meine Eltern finden konnte. Mit Sicherheit würden mir einige Leute etwas sagen können, aber die tun so, als wäre ich Luft. Und daran sind nur diese zwei Gruselschwestern Schuld.“ „Vielleicht wissen die ja etwas.“ „Wie denn? Als ich damals gefunden wurde, haben sie doch gar nicht gelebt.“ Aber Ilias zog ein Gesicht, als wüsste er etwas, das alles ändern könnte. Nur war er sich noch nicht ganz sicher, ob er es wirklich sagen sollte. Schließlich aber tat er es doch. „Anna und Josephine sind keine gewöhnlichen Mädchen. Als ich vor drei Jahren herkam, da sahen sie noch genauso aus wie heute. Als wären sie keinen Tag gealtert. Halt mich ruhig für bescheuert, aber ich glaube nicht, dass sie überhaupt normale Menschen sind.“ „Wie? Willst du etwa damit sagen, sie sind so etwas wie Geister?“ Unsicher zuckte Ilias mit den Achseln. „So würde ich das jetzt nicht nennen. Ich kann sie genauso anfassen wie sie mich und sie sind auch nicht wirklich Geister. Zumindest hab ich nie gesehen, wie sie durchsichtig wurden, durch Wände gingen oder durch die Gegend schwebten. Keine Ahnung, was sie eigentlich sind.“ „Was weißt du über die beiden?“ „So gut wie gar nichts, genauso wie jeder andere hier. Anna ist sehr introvertiert und zeigt eigentlich nie Emotionen, im Gegensatz zu Josephine. Die liebt ihre jüngere Schwester abgöttisch und würde alles für sie tun. Soweit ich weiß, hatten die beiden keine Eltern und Josephine ist sozusagen die Ersatzmutter für Anna. Jedenfalls haben die beiden eine viel engere Verbindung zueinander als jeder andere Mensch auf dieser Welt. Anna ist im Grunde ganz in Ordnung und ich mag sie, aber Josephine ist diejenige, vor der man eigentlich Angst haben sollte. Über sie kursieren ziemlich viele Gerüchte und unheimliche Geschichten.“ „Ich glaub, Finny hat mir schon mal die Story erzählt, dass Josephine einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, woraufhin man ihr die Augen ausstach und sie lebendig einmauerte.“ „Das ist die wohl bekannteste Geschichte. Eine andere erzählt, dass Anna und Josephine Hexen sind und sie auf dem Scheiterhaufen ihre Seele für ewiges Leben gegeben haben. Die meisten Storys sind völlig hirnrissig, aber es lässt sich nun mal nicht abstreiten, dass diese beiden Schwestern nicht normal sind.“ „Jedenfalls schien es so, als wüsste Anna etwas über mich und über die Ereignisse von vor 17 Jahren. Und kaum, dass ich Fragen stelle, meidet mich plötzlich jeder hier und Anna verlangt, dass ich von hier verschwinde. Das ist irgendwie verdächtig, wenn du mich fragst. Ich sollte vielleicht mal zum Vergnügungspark und den beiden einen Besuch abstatten.“ Fassungslosigkeit spiegelte sich in Ilias’ Gesicht wider, als er das hörte. „In den Vergnügungspark? Obwohl dich die Schwestern loswerden wollen? Das ist verrückt, Mallory. Das ist glatter Selbstmord.“ „Ich gehe hier nicht eher weg, bis ich meine Antworten habe und ich lasse mich nicht von zwei kleinen Mädchen einschüchtern.“ Doch Ilias blieb skeptisch und ihm war anzusehen, dass er Angst um sie hatte. Aber Mallory wollte endlich Antworten haben und wenn diese Schwestern etwas wussten, dann sollten sie ihr das sagen. So schnell würde sie nicht von hier weggehen. „Wenn du wirklich hingehen willst, solltest du nicht alleine gehen. Was, wenn Josephine dich angreifen wird?“ „Die Kleine reicht mir nicht einmal zum Hals, erwürgen kann die mich schon mal nicht.“ „Ich meine es ernst!“ Der Himmel verdüsterte sich mit einem Male und der Wind nahm zu. Es sah aus, als würde es bald gewittern. Ilias’ Handy meldete sich und er bekam eine Nachricht, dass er noch ein paar Lieferungen machen musste. Also trennten sich ihre Wege und er bat sie noch, nicht gleich in den Vergnügungspark zu gehen, sondern erst einmal zu warten. Es war offensichtlich, dass er nicht wollte, dass sie alleine hing ging. Wahrscheinlich würde er sogar mitkommen, auch wenn er insgeheim selbst Angst vor dem Park hatte. Zuerst spielte Mallory tatsächlich mit dem Gedanken, gleich jetzt zu gehen, aber was war, wenn es tatsächlich gefährlich werden würde? Sie musste an die explodierte Straßenlaterne denken, als Anna sie angeschrien hatte. Was, wenn sie das wirklich gewesen war und sowohl sie als auch Josephine Kräfte besaßen, die man sich nicht erklären konnte? Mallory glaubte an so etwas eigentlich nicht, aber in der ganzen Stadt ging alles so merkwürdig zu, dass sie tatsächlich begann, solche Dinge in Betracht zu ziehen. Der Wind nahm zu und sie beeilte sich, zur Pension zurückzukehren, bevor das Unwetter hereinbrach. Schnell eilte sie über die Straße und bog um die Ecke, wo sie Josephine sah, die einen schwarzen Sonnenschirm bei sich hatte. Dieses Mal war sie ohne Begleitung, oder zumindest fast ohne Begleitung. Eine schwarze Katze mit einer roten Schleife und einem goldenen Glöckchen folgte ihr. An ihrer linken Vorderpfote trug sie drei goldene kleine Ringe. Josephine stand mit dem Rücken zu Mallory und schien sie nicht zu bemerken. Stattdessen ging sie langsam die Straße entlang und sang ein Lied. „Twinkle, twinkle, little star, How I wonder what you are! Up above the world so high, Like a diamond in the sky! When the blazing sun is gone, When he nothing shines upon, Then you show your little light, Twinkle, twinkle, all the night. Then the traveller in the dark, Thanks you for your little spark, He could not see which way to go, If you did not twinkle so. Twinkle, twinkle little star, How I wonder what you are…” Mallory kannte dieses Lied natürlich, aber es klang irgendwie unheimlich, als Josephine es sang. Und als sie der Melodie lauschte merkte sie, dass sie Kopfschmerzen bekam und ihr schlecht wurde. Sie musste kurz stehen bleiben und sich an der Häuserwand abstützen. Was war denn bloß mit ihr los? Ihr Kopf begann zu dröhnen und alles um sie herum schien sich zu drehen. Und das nur, weil Josephine dieses Kinderlied sang, welches sie schon oft gehört hatte? Irgendwie kam es ihr merkwürdig vertraut war, dieses Lied mit Josephines Stimme zu hören. Als hätte sie das schon mal erlebt, aber wieder vergessen. Plötzlich hörte das Mädchen zu singen auf und drehte sich um. Eigentlich konnte sie Mallory mit den Bandagen vor den Augen nicht sehen, trotzdem beschlich die 24-jährige das Gefühl, als würde die Kleine sie genauso anstarren wie Anna. Und das machte sie nervös. Ein Lächeln spielte sich auf ihre Lippen, aber es wirkte irgendwie verächtlich und falsch. „Du bist ja noch da. Und ich dachte schon, du wärst schon gegangen.“ „Ich gehe erst wieder, wenn ich weiß, wer ich bin und was damals mit meiner Familie passiert ist. Und von euch beiden lasse ich mich bestimmt nicht einschüchtern.“ Josephine begann amüsiert zu kichern, als sie das hörte und ging ein paar Schritte auf Mallory zu. Ihr Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. „Du willst wissen, was damals passiert ist und bist deshalb hergekommen? Das ist ja wirklich zu witzig. Dabei hast du ja nicht mal die leiseste Ahnung, mit welchen Kräften du dich hier anlegst. Und an deiner Stelle wäre ich lieber vorsichtig. Es gibt Dinge, vor denen man besser Angst haben sollte!“ Eine leichte Vibration ging durch den Boden und erfasste auch die Häuser. Zuerst fürchtete Mallory, dass es ein Erdbeben sein könnte, da ertönte urplötzlich ein lauter Knall und sämtliche Fenster explodierten regelrecht. Sofort ging sie in Deckung und versuchte, ihren Kopf zu schützen. Glasscherben regneten wie kleine Diamanten vom Himmel und es gab ein helles Klirren, als sie zu Boden fielen. Was war das denn gewesen? Hatte Josephine das etwa getan? Entsetzt sah sie das kleine Mädchen an und dieses hämische Grinsen sagte mehr als tausend Worte. Das war ihr Werk gewesen! „Großer Gott…“, brachte Mallory fassungslos hervor und nahm langsam die Hände wieder runter. Josephine lachte verächtlich, als sie das hörte. „Gott? Gott existiert hier schon lange nicht mehr. Um genau zu sein, wollte er noch nie etwas von uns wissen! Und deshalb werde ich mir nehmen, was ich will und lasse mir das nicht von dir kaputt machen, Mallory!“ Ein weiterer Knall ertönte und kurz darauf wurde ein Wagen neben Josephine wie eine Coladose zusammengedrückt, sodass nur noch ein deformierter Blechhaufen übrig blieb. Mallory erkannte die Gefahr sofort und rannte davon. Hinter sich hört sie Josephines wahnsinniges Gelächter und hatte einfach nur Angst. In ihrem ganzen Leben hatte sie niemals an das Übernatürliche geglaubt. Soweit sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie nie vor Monstern, Geistern oder Vampiren Angst gehabt. Selbst vor Spinnen, Ratten oder Insekten fürchtete sie sich nicht, aber das hier war eindeutig zu viel. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sagen, dass Josephine das Auto und die Fenster zerstört hatte und das allein mit ihrer Willenskraft. Offenbar verfügte sie über Fähigkeiten, die über das Normalmenschliche hinausgingen und höchstwahrscheinlich war Anna auch ähnlich begabt. Dann war sie es gewesen, die die Laterne zerstört hatte. Mallory lief so schnell sie konnte und rannte selbst dann noch, als sie Josephine schon gar nicht mehr hören konnte. Schnell bog sie um eine Ecke und stieß direkt mit Lewis zusammen, der offensichtlich gerade einen kleinen Spaziergang unternehmen wollte. Sie fiel nach hinten, doch er bekam sie noch rechtzeitig zu fassen, bevor sie stürzen konnte. „Hey Mallory, was ist denn los?“ „Wir müssen sofort weg hier!“ rief sie und wollte weiter rennen, aber er hielt sie fest. „Jetzt beruhige dich doch mal. Du bist ja ganz durcheinander. Was ist passiert?“ Doch sie war so durch den Wind, dass es für sie fast unmöglich war, zusammenhängende Sätze zu sprechen. Stattdessen gab sie hauptsächlich nur Gestammel von sich. Sie versuchte sich selbst zu beruhigen, aber als sie darüber sprach, was sie erlebt hatte, kamen unkontrolliert diese ganzen Emotionen wieder hoch und sie brachte kaum einen Satz zustande. „Da war gerade Josephine. Sie hat irgendetwas gemacht und dann sind sämtliche Fenster in die Luft geflogen und das Auto… das… das…“ Lewis hielt sie behutsam aber dennoch bestimmt fest und sah ihr tief in die Augen. „Ganz ruhig. Atme tief durch und versuch, dich zu sammeln.“ Diese unglaubliche Ruhe und Festigkeit, die Lewis ausstrahlte, schien tatsächlich zu bewirken, dass Mallorys Angst wich und ihr Atem ruhiger wurde. Schließlich, nachdem sie wieder die Kraft hatte, Worte zu fassen, senkte sie den Blick und ballte ihre Hände zu Fäusten. „Lewis, ich muss so schnell wie möglich von hier weg und Dark Creek verlassen.“ Als er das hörte, ließ er sie wieder los und betrachtete sie besorgt. Dann aber nickte er und sagte „Dann lass dich nicht aufhalten. Ich hoffe, du schaffst es.“ Sie dankte ihm und rannte los. Das, was sie gesehen hatte, konnte sie nicht glauben und sie hatte entsetzliche Angst vor Josephine und Anna. Diese beiden verfügten über Kräfte, die über ihr Fassungsvermögen ging und für sie stand fest, dass diese unheimlichen Zwillinge gefährlich waren. Sehr gefährlich sogar. Sie wollten sie nicht in Dark Creek haben und mit Sicherheit würden sie sogar noch weitergehen, wenn sie nicht ihren Willen bekommen würden. Also setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr los. Sie ließ die Stadt hinter sich und fuhr direkt in den Wald, der Dark Creek wie einen Ring umschloss. Ganz egal ob sie herausfand, wer sie war und was mit ihrer Familie passiert war, sie würde dafür sicherlich nicht so leichtfertig ihr Leben aufs Spiel setzen. Dazu war es ihr zu kostbar. Als sie den Wald erreichte, drückte sie aufs Gaspedal und ihr war es auch egal, dass sie mindestens 30km/h zu schnell fuhr. Sobald sie diesen Wald hinter sich gelassen hatte, war sie aus diesem verfluchten Ort raus und endlich in Sicherheit. Um sich ein wenig dabei abzulenken, schaltete sie das Radio an, wo gerade „Hey There Delilah“ lief. Während sie fuhr, holte Mallory ihr Handy heraus und rief Ellen an. Sie musste unbedingt mit ihr sprechen und ihre Stimme hören. „Na komm schon, geh ran. Geh bitte ran!“ Aber es ging bloß die Mailbox ran. Das Gleiche verhielt sich auch bei Richard. Verdammt, warum zum Teufel mussten sie ausgerechnet dann verhindert sein, wenn man sie am Meisten brauchte? Selbst Edna konnte sie nicht erreichen und so legte sie das Handy beiseite und fuhr weiter. Etwas später sah sie das Ende des Waldes und Licht strömte ihr entgegen. Mallory begann zu lachen vor Erleichterung, dann aber kurz darauf erfüllte Entsetzen ihr Gesicht, als sie sich nicht an der Tankstelle wieder fand, die nicht weit vom Wald entfernt gewesen war, sondern in der Ferne plötzlich Dark Creek sah. Dieses Mal aber kam sie nicht vom Vergnügungspark her, sondern aus der anderen Richtung, wo die Kirche stand. Fassungslos sah sie das und konnte es nicht verstehen. Wieso war sie plötzlich wieder hier? Was hatte das zu bedeuten? Ihr erleichtertes Lachen zeugte nun von abgrundtiefer Verzweiflung und Hilflosigkeit, als ihr klar wurde, was das bedeutete. Es war genauso wie Lewis es gesagt hatte. Wenn sie Dark Creek in eine Richtung des Waldes verließ, würde sie zur anderen zurückkehren, als würde sie ein Mal um eine sehr kleine Welt reisen. Sofort riss Mallory das Steuer herum und fuhr zurück. Sie wollte nicht glauben, dass sie hier festsaß. Das konnte unmöglich sein. Doch egal wie oft sie auch versuchte, Dark Creek zu verlassen, sie kehrte immer wieder zurück. Schließlich bremste sie den Wagen, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte. Kapitel 6: Gefangen in Dark Creek --------------------------------- Wie lange sie im Wagen gesessen und geweint hatte, wusste Mallory selbst nicht mehr. Es war schließlich Dean, der an das Wagenfenster klopfte und zu ihr hineinschaute. Bei ihm war Finnian, der ihn an der Hand hielt. Mallory wischte sich die Tränen weg und kurbelte das Fenster herunter. Zwar trug Finnian seine Maske, aber man konnte hören, dass er sehr besorgt war. „Mallory, was ist los? Wie lange sitzt du schon da drin und warum weinst du?“ „Ich stecke echt in der Scheiße“, sagte sie schließlich und sah ihn an, doch sie fand seine Augen hinter der Maske nicht. „Ich… ich komme nicht von hier weg und ich glaube, Josephine will mich umbringen.“ Finnian ging einen Schritt zurück, als würde er auch Angst haben, aber dann sah er zu Dean und streichelte ihm den Kopf. „Dean, geh zur Pension und sag Lewis und Ilias Bescheid, dass wir Ärger haben. Ich bleib bei Mallory.“ Ohne etwas zu sagen nickte der Junge und eilte los, Finnian ging ums Auto herum, öffnete dann die Beifahrertür und setzte sich neben die völlig aufgewühlte Mallory. „Ich weiß nicht, was passiert ist und was zwischen dir und Josephine vorgefallen ist, dass sie dir nun nach dem Leben trachtet. Aber wenn ich etwas nicht gerne sehe, dann ist das jemand, der so am Boden ist, dass er sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als zu weinen. Mallory, wir kennen uns nicht lange, aber wenn du in Gefahr bist, dann werden wir dich sicher nicht alleine lassen. Niemand lässt den anderen im Stich und auf mich, Ilias und Lewis kannst du dich immer verlassen, okay?“ „Aber dann seid ihr auch in Gefahr. Ihr habt doch keine Ahnung, wozu Josephine in der Lage ist! Sie hat übermenschliche Kräfte und dagegen kann man nichts ausrichten.“ „Ich kann einfach niemanden im Stich lassen, besonders nicht, wenn er Hilfe braucht. Das kann ich einfach nicht ertragen. Ebenso wie ich niemals ertragen könnte, wenn meinem Bruder etwas zustoßen würde. Und im Grunde stecken wir doch alle im selben Schlamassel, oder etwa nicht? Also müssen wir auch zusammenhalten. Das Beste wird sein, wir kehren erst mal zur Pension zurück, Lewis wird sicher eine Lösung einfallen.“ Er wollte zuerst einen Arm um sie legen, um sie zu trösten, ließ es aber und blieb auf Distanz. Vielleicht fürchtete er, es könnte ihr unangenehm sein, oder es lag an den Spuren seines Traumas, dass er trotz allem einfach keinen Augen- oder Körperkontakt ertragen konnte. Dann aber, nach einer Weile des Schweigens, sagte Finnian schließlich „Egal was auch kommt, du kannst dich auf uns verlassen. Uns wird sicher eine Lösung einfallen, wie wir Josephine umstimmen können. Dean ist sehr gut mit Anna befreundet, vielleicht kann er sie ein wenig bearbeiten, damit sie Josephine davon abbringt.“ „Aber Anna hat mir selbst gesagt, ich soll verschwinden und ist dabei auch aggressiv geworden.“ „Das ist seltsam“, murmelte Finnian und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. „Es sieht Anna eigentlich nicht ähnlich, so etwas zu sagen. Für gewöhnlich ist sie sehr schüchtern und zurückhaltend. Das Beste wird sein, wir sprechen mit Lewis darüber.“ Mallory nickte und startete schließlich den Motor. Sie fuhr zur Pension zurück und kaum, dass sie am Eingang vorbei zum Parkplatz fuhr, kam auch schon Lewis herbei und ging zu ihr hin. Er wusste, wieso sie wieder zurück war und sah sehr besorgt aus. Besonders, weil sie so fertig wirkte. Da es zu regnen begann, gingen sie nicht auf die Dachterrasse, sondern in einen der Aufenthaltsräume, wo es sehr gemütlich eingerichtet war. Ilias saß mit Dean an einem Tisch und spielte ein Kartenspiel. Als aber die anderen hinzukamen, räumte er es wieder weg und rückte ein wenig beiseite, damit die anderen Platz nehmen konnten. Lewis hatte sich zurückgelehnt, die Arme verschränkt und machte ein sehr ernstes Gesicht, während er in Gedanken versunken war. „Dean kam vorhin hier an und sagte, du hättest verzweifelt im Wagen gesessen und geweint. Möchtest du darüber reden?“ Sollte sie die anderen tatsächlich mit ihren Problemen belasten und sie vielleicht auch in Gefahr bringen? Was, wenn Josephine sie auch noch ins Visier nahm? Zuerst zögerte sie, aber ihr wurde klar, dass sie Hilfe brauchte und es sicherlich nicht alleine schaffen würde. Also fasste sie sich ein Herz und erzählte. „Es war nach meinem letzten Gespräch mit Lewis, da habe ich Anna getroffen. Sie sagte, dass ich aufhören sollte, mich in Angelegenheiten anderer Leute einzumischen und sie forderte mich auf, sofort die Stadt zu verlassen. Daraufhin gingen mir die anderen Bewohner aus dem Weg, weil sie Angst hatten. Eine Weile war ich mit Ilias unterwegs und als wir uns vorhin verabschiedet hatten, traf ich Josephine, die mit ihrer Katze unterwegs war. Sie war verwundert, dass ich noch da war und hat sich darüber lustig gemacht, dass ich nach Informationen bezüglich meiner Vergangenheit suchte. Dann meinte sie, dass ich keine Ahnung habe, mit was ich mich da eigentlich anlegen würde und dann vibrierte der ganze Boden. Die Fensterscheiben explodierten und ein Auto wurde komplett zusammengedrückt. Sie begann wie eine Wahnsinnige zu lachen und ich hab daraufhin die Flucht ergriffen. Keine Ahnung wie sie das gemacht hat, aber Josephine hat mir gezeigt, dass sie über übernatürliche Kräfte verfügt und ich hab es mit der Angst zu tun bekommen, deshalb wollte ich von hier verschwinden. Aber als ich die Landstraße Richtung Osten verlassen wollte, kam ich auf der gleichen Landstraße von Westen wieder zurück. Ich sitze hier fest… ich kann nicht mehr nach Hause zurück… Und ich hab Angst.“ Stille trat ein. Was Finnian gerade dachte oder fühlte, war hinter der Maske nicht erkennbar, Ilias wandte seinen Blick fragend an Lewis, der seinerseits ein wenig abwesend zu sein schien und immer noch nachdachte. Schließlich aber war es überraschend Dean, der etwas sagte. „Anna ist doch gar nicht so gemein. So etwas würde sie nie sagen.“ „Hat sie aber“, sagte Mallory und bemühte sich, ruhig und sanft zu sprechen, um dem Jungen keine Angst einzujagen. „Sie sagte, sie will sich nicht ihren Traum meinetwegen kaputt machen lassen und deshalb soll ich von hier verschwinden.“ „Was meinte sie damit?“ fragte Ilias irritiert und verstand es selbst nicht. „Was für ein Traum?“ „Das hat sie mir nicht gesagt. Sie hat mich nur erneut aufgefordert, dass ich von hier verschwinden soll. Aber ich kann es nicht. Ich sitze hier fest, aus welchem Grund auch immer, genauso wie alle anderen hier. Dabei hatte mich Lewis doch extra gewarnt, aber ich hab es nicht geglaubt.“ Nun nahm auch Finnian die gleiche nachdenkliche Haltung an wie der charismatische und zugleich verträumte Arzt und grübelte ebenfalls. Er schüttelte nach einer Weile den Kopf und meinte „Ich kapier’s nicht. Ich meine, warum zum Teufel kommt denn keiner hier weg und wieso wollen die Zwillinge Mallory aus der Stadt jagen?“ „Wenn die beiden wirklich über besondere Kräfte verfügen, könnten sie doch etwas mit dem Phänomen zu tun haben, dass man Dark Creek nicht verlassen kann.“ „Das würde aber einen Widerspruch darstellen“, warf Lewis ein und unterbrach somit sein Schweigen. „Wenn es wirklich stimmt und die Zwillinge sind für dieses Phänomen verantwortlich, dann hätte Mallory doch die Stadt verlassen können, weil sie offensichtlich nicht erwünscht ist. Da sie aber nach wie vor hier ist und ebenfalls gefangen ist, bedeutet es eins: Entweder sie sind gar nicht die Verursacher, oder es gibt einen bestimmten Grund, wieso wir diesen Ort nicht verlassen können. Und solange wir diesen Grund nicht kennen, ist es vergeudete Zeit, eine Flucht von hier zu versuchen.“ „Aber was für ein Grund?“ „Der Grund liegt bei uns selbst. Ich denke, dass uns etwas in uns selbst an diesen Ort festkettet und diesen müssen wir selbst herausfinden.“ „Du weißt doch irgendetwas, oder nicht?“ Lewis antwortete nicht auf Ilias’ Frage und wirkte wieder sehr abwesend. Auch Mallory wurde das Gefühl nicht los, als wüsste er die Antwort, aber er wollte sie nicht nennen. Warum nicht? „Ich habe es schon zu Mallory gesagt: Im Grunde unseres Herzens kennen wir eigentlich die Antwort. Aber wir wollen sie nicht sehen, weil wir Angst vor ihr haben. Und solange wir die Wahrheit nicht ertragen können, werden wir auch nicht von hier entkommen können.“ „Du weißt es also doch! Und du weißt, wer dafür verantwortlich ist. Verdammt Lewis, warum sagst du es nicht, sondern sprichst die ganze Zeit in Rätseln?“ Lewis hörte Ilias gar nicht zu, sondern schien an etwas anderes zu denken. So abgelenkt hatte sie ihn bis dato noch nicht gesehen und er sah gleichzeitig sehr unglücklich aus. Und als er eine Hand auf seinen Bauch legte, musste Mallory an seine seltsamen Worte denken, als er mit ihr gesprochen hatte. „Im Gegensatz zu dir kann ich keine Kinder bekommen.“ Was ging ihm bloß durch den Kopf und was hatte dieser seltsame Satz für eine Bedeutung? Er wirkte schon seit dem Vorfall mit Finnian etwas bedrückt, aber jetzt, da er hörte, dass Mallory ebenfalls hier gefangen war, wirkte er wirklich unglücklich. Doch dann kniff er die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe, als würde er plötzlich einen stechenden Schmerz spüren. Er sah auch sehr blass aus und auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. Nun hörte auch Ilias auf, ihn zu bedrängen und stand auf. „Lewis, geht es dir nicht gut?“ Der Schmerzausdruck verschwand augenblicklich wieder und blinzelnd öffnete Lewis wieder die Augen. „Ich hab ein wenig Magenschmerzen. Entschuldigt bitte, aber mir ist nicht gut.“ „Soll ich dich aufs Zimmer bringen?“ „Ach was, das geht schon. Mallory braucht euch beide jetzt dringender.“ Lewis entschuldigte sich und verließ die Gruppe. Tatsächlich sah er stark danach aus, als ginge es ihm gesundheitlich nicht gut, aber Mallory glaubte nicht, dass das der einzige Grund war, wieso er sich so seltsam verhielt. Lewis war im Vergnügungspark gewesen, obwohl alle Bewohner Angst vor diesem Ort hatten. Er hatte ihn nicht grundlos aufgesucht, es gab einen bestimmten Grund. Wahrscheinlich wusste er längst die Antwort, wie man von hier entkommen konnte, oder wieso niemand Dark Creek verlassen konnte. Aber er konnte es den anderen nicht sagen, wieso auch immer konnte sich keiner so wirklich erklären. Dean sah ebenfalls niedergeschlagen aus und lehnte sich gegen Ilias’ Schulter, woraufhin dieser einen Arm um ihn legte. „Irgendwie gefällt mir das Ganze nicht“, sagte er schließlich. „Wenn Anna und Josephine tatsächlich über besondere Kräfte verfügen, dann wäre es doch eigentlich die logische Schlussfolgerung, dass sie für das Phänomen verantwortlich sind. Und offenbar können sie es nicht direkt steuern. Wenn Lewis Recht hat und es hat mit uns selbst zu tun, dann müssen wir nach den Gemeinsamkeiten suchen. Irgendetwas muss uns alle verbinden! Nur was, das ist die Frage.“ Ja, das stimmte. Sie alle mussten etwas gemeinsam haben. Mallory begann zu überlegen. „Mich würde ja überhaupt interessieren, warum ihr ausgerechnet nach Dark Creek gekommen seid und nicht in irgendeine andere Stadt. Das muss doch eigentlich einen Grund gehabt haben.“ „Eigentlich nicht“, erklärte Finnian schließlich. „Ich hab mir bloß einen ruhigen Ort ausgesucht, wo ich mit Keenan glücklich leben kann.“ „Und ich wollte genau das Gleiche wie Lewis.“ „Was ist mit dir, Dean?“ Sofort riss der Junge sein Auge weit auf und starrte Mallory mit einem erschrockenen Blick an. Er sagte nichts, klammerte sich stattdessen an Ilias und begann vor Angst zu zittern. Dean war der Einzige, dessen Vergangenheit am fragwürdigsten war. Über seine Familie war nichts bekannt und es waren Anna und Josephine gewesen, die sich um ihn gekümmert hatten, bevor er zu Ilias kam. Also hatte er eine Zeit lang bei ihnen gelebt. „Hast du eine Familie, Dean?“ Sein Gesicht verlor jegliche Farbe und nackte Todesangst spiegelte sich in seinem verbliebenen Auge wieder. Ilias nahm ihn in den Arm und versuchte, ihn zu beruhigen. Finnian erklärte schließlich „Dean kann sich an nichts erinnern, er hat eine Amnesie und wenn er auf seine Vergangenheit angesprochen wird, bekommt er Panikattacken.“ Er hat genauso wie ich eine Amnesie, dachte Mallory und legte ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. War das ein Zufall oder konnte hier eine Verbindung liegen? Sie konnte sich auch an nichts erinnern und Finnian hatte ein schweres Trauma, woraufhin er in einer völlig verdrehten Realität lebte. Konnte es sein, dass eine durch Traumata bedingte Amnesie der Schlüssel zum Ganzen war, obwohl das eigentlich völlig verrückt und abwegig klang? Aber Ilias und Lewis machten nicht den Anschein, als hätten sie ein Trauma. Zumindest hatte sie aus den Gesprächen nichts Verdächtiges herausgehört und beide benahmen sich völlig normal. Ilias war Student gewesen, trieb gerne Sport und hatte als Einziges bloß das Problem, dass er seit seiner Kindheit zu steifen Gelenken neigte und sich deshalb viel bewegte, um dem entgegenzuwirken. Seine einzige Angst war vor Statuen, was man mit seiner gesundheitlichen Einschränkung in Verbindung bringen konnte. Aber kein normaler Mensch wurde durch steife Gelenke so traumatisiert, dass er daraufhin irgendwelche Erinnerungen verdrängte. Und wenn Ilias irgendwelche schweren Krankheiten hätte, dann wäre es Lewis sicher längst aufgefallen. Und was war mit ihm? Im Grunde hatte er Mallory nicht sehr viel über sein Leben erzählt. Er war Assistenzarzt, wollte aber lieber Schriftsteller sein und hatte sich für die erstere Laufbahn entschieden, weil er Menschen helfen wollte. Dann hatte er seinen Job im Krankenhaus gekündigt und war nach Dark Creek gekommen, um Abstand zu nehmen. Womöglich war ihm ein schrecklicher Fehler unterlaufen, den er sich nicht verzeihen konnte, weshalb er seinen Job aufgab. Aber dann hätte er und nicht Ilias so ängstlich reagiert, als es darum ging, Finnian die Injektion zu geben, als dieser so getobt hatte. Was gab es denn noch? Sie bewegten sich alle in den 20ern. Lewis war 27, Finnian 23, Ilias 25 und Mallory selbst war 24 Jahre alt. Lediglich Dean fiel mit seinen 10 Jahren aus dem Rahmen. Was hatten sie noch gemeinsam? Mallory war aufgefallen, dass die drei einen stark ausgeprägten Helfer- und Beschützerinstinkt hatten. Lewis war quasi eine Art Vaterfigur für die anderen und stand ihnen allen mit Rat und Tat zur Seite, egal was auch war. Und er hatte auch ihr geholfen, obwohl er sie eigentlich gar nicht kannte. Ilias hatte sich ohne zu zögern bereit erklärt, sich um Dean zu kümmern, der keine Familie hatte und er war wie ein großer Bruder für ihn. Und er stand auch ihr immer hilfreich zur Seite. Außerdem sagte Lewis, dass sowohl er als auch Finnian ein Helfersyndrom hatten. Finnians Wunsch, anderen zu helfen, war wohl am stärksten ausgeprägt. Er tat alles, damit es seinem Bruder Keenan gut ging, obwohl dieser doch schon längst tot war. Sie alle waren hilfsbereite und liebevolle Menschen, wobei auch wieder Dean aus der Rolle fiel, weil er auf Hilfe und Zuwendung anderer angewiesen war. Und Mallory glaubte nicht, dass ihre Hilfsbereitschaft annähernd an die der anderen heranreichte. Trotzdem wollte sie nicht von der Hand weisen, dass auch sie eine hilfsbereite Natur besaß. Aber war das wirklich der Grund dafür, dass sie hier festsaßen? Das fiel ihr irgendwie schwer zu glauben. Irgendwie stand sie vor einer Sackgasse und wusste rein gar nichts mehr. Sie fühlte sich müde und erschöpft. Schließlich sagte Finnian „Ich werde mich ein wenig mehr über Josephine umhören und versuchen, mit Anna zu reden. Du hältst dich am Besten erst mal im Hintergrund, Mallory. Vielleicht haben wir ja Glück und die Zwillinge wissen noch nicht, dass du hier festsitzt. Ruh dich am Besten erst mal aus, morgen sehen wir weiter und dann wird es auch hoffentlich Lewis wieder besser gehen. Der sah ja gerade echt übel aus.“ „Du hast Recht, außerdem muss Dean auch gleich ins Bett.“ „Aber ich bin doch gar nicht müde!“ „Trotzdem gehst du gleich schlafen. Und wenn du dir die Zähne geputzt hast, lese ich dir eine Geschichte vor.“ Das überzeugte den Kleinen und so wünschte er Mallory und Finnian noch eine gute Nacht und ging mit Ilias, der sich ebenfalls verabschiedete. Auch sein bester Freund erhob sich und erklärte, dass er auch nach Hause gehen müsste, weil Keenan bereits auf ihn wartete. Zuvor tauschten die drei noch Handynummern aus, für den Fall, dass etwas passieren sollte. Mallory blieb im Aufenthaltsraum und versuchte noch eine Weile, ihre Pflegefamilie anzurufen, aber leider ohne Erfolg. Langsam kam ihr der Verdacht, dass ein Kontakt zur Außenwelt aus irgendwelchen Gründen nicht möglich war. Wahrscheinlich auch ein Teil des Phänomens. Um die Illusion zu erwecken, dass alles ganz normal war, wurde das Signal nicht gestört. Man bekam ganz einfach die Nachricht, dass er gewünschte Teilnehmer nicht erreichbar wäre und daraufhin meldete sich die Mailbox. Die Nachricht würde die Mailbox aber niemals erreichen. Nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, verließ sie den Raum und wollte in Richtung Zimmer gehen, doch als sie am Salon vorbei kam, sah sie Lewis, der sich auf einem Sofa abstützte und hustete. Er sah wirklich nicht gut aus und er schien auch Schmerzen zu haben. Sie eilte zu ihm hin und stützte ihn noch rechtzeitig ab, bevor er zusammenbrechen konnte. „Lewis, was ist mit dir?“ „Es ist nichts Ernstes. Ich glaube, ich werde langsam krank. Wahrscheinlich bloß ein kleiner Infekt.“ Sein Gesicht war blasser geworden und Mallory betrachtete ihn besorgt. „Komm, ich begleite dich auf dein Zimmer. Du musst dich ausruhen.“ Als er sich aufrichten wollte, verzog er wieder das Gesicht vor Schmerz und biss sich auf die Unterlippe. „Warum sagst du denn nicht, dass es dir schlecht geht? Wir hätten doch nichts gesagt.“ „Ich hab mir Sorgen um dich gemacht“, erklärte er und wich ihrem Blick aus. „Du warst so aufgelöst, dass ich zunächst mit dem Schlimmsten gerechnet habe. Deshalb wollte ich dich und die anderen nicht noch mehr belasten.“ „Idiot!“ rief sie und schüttelte den Kopf. „Es bringt niemandem etwas, wenn du dich so quälst. Die anderen machen sich auch Sorgen um dich und sie sehen zu dir auf.“ „Ach was“, sagte Lewis traurig und sein Blick hatte etwas Kummervolles angenommen. „Im Grunde bin ich genauso machtlos wie alle anderen.“ „Sag so etwas nicht. Du hast immer ein offenes Ohr und man kann mit dir über alles reden, außerdem bist du der Arzt hier! Im Grunde bist du die wichtigste Person hier in der Stadt.“ Ein verlegenes Lächeln spielte sich auf seine Lippen und Mallorys aufmunternde Worte schienen Wirkung zu zeigen. Wahrscheinlich hatte er aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit ein kleines emotionales Tief. Immerzu setzte er sich selbst stark unter Druck, dass er immer anderen helfen und für sie da sein musste. Er wusste um seine Notwendigkeit in der Stadt. Ilias brauchte ihn wegen seiner steifen Gelenke und er war es, der Finnian rettete, wenn dieser aufgrund seiner Traumata diese heftigen Attacken bekam. Und deshalb machte er sich schwere Vorwürfe, wenn er selbst schwach wurde und nicht helfen konnte. Er erlaubte sich selbst keine Schwächen. Im Grunde hatte sich Finnian geirrt als er mit Mallory über die Namensbedeutung sprach. Insgeheim hatte er bezweifelt, dass Lewis wirklich ein großer Kämpfer war, so wie sein Name vermuten ließ. Aber Lewis war ein Kämpfer, das wusste Mallory. Er stellte das Wohl der anderen stets über sein eigenes und verbarg seine eigenen Schwächen vor den anderen. Und das führte dazu, dass er sich übernahm, obwohl er krank war. „Es ist okay, wenn man mal schwach ist. Jeder Mensch hat das Recht dazu“, sagte sie, als sie gemeinsam die Stufen hinaufgingen. „Wir sind nicht perfekt und es besteht auch kein Grund dazu, es sein zu müssen. Niemand verlangt das von dir, nur du selbst und das ist Schwachsinn. Dieser ganze Drang zum Perfektionismus führt doch nur dazu, dass man sich selbst bloß kaputt macht. Glaub mir, ich spreche da aus Erfahrung!“ Lewis lächelte schwach, sagte aber nichts. Mallory begleitete ihn auf sein Zimmer, welches fast genauso schön eingerichtet war wie die Dachterrasse. Es gab so viele Blumen, dass einem schon schwindelig werden konnte und alles war bunt dekoriert. Alles in diesem Raum war voller Leben. „Meine Güte, du scheinst Blumen ja richtig zu lieben.“ „Ich hatte schon immer diese Leidenschaft und die Angewohnheit, niemals einen Strauß zu verschenken. Für mich sind Blumen fast wie Lebewesen, die mit ihrer Schönheit eine Geschichte erzählen, oder ein Gefühl vermitteln. Ich finde es immer traurig, wenn sie abgeschnitten werden und dann langsam verwelken.“ Jetzt wo er es sagte, fiel Mallory tatsächlich auf, dass hier überall kleinere Blumentöpfe standen, aber niemals so etwas wie ein Blumenstrauß in einer Vase. Selbst im Speisesaal oder auf der Dachterrasse nicht. „Die meisten Blumen habe ich schon seit ich hier bin.“ Drei Jahre waren sie alt? Mallory staunte nicht schlecht, denn sie hatte für so etwas überhaupt kein Händchen. Selbst ihr Zimmerkaktus hatte nicht lange überlebt, obwohl Kakteen doch die pflegeleichtesten Pflanzen von allen waren. Seitdem hatte sie auch nie wieder einen Strauß bekommen, weil sie direkt sagte, dass ihr die Blumen dafür zu schade waren. Insgeheim wünschte sie sich, sie hätte so einen grünen Daumen wie Lewis. Er konnte offensichtlich gut Romane schreiben, hatte ein Geschick für Pflanzen, er war ein Schönling und er hatte einen tollen Charakter. Mann, der Kerl war doch der Traum jeder Schwiegereltern. Wenn er nur nicht so ein geringes Selbstbewusstsein hätte und glaubte, er müsse immer perfekt sein und dürfe nie einen Fehler begehen. „Okay Lewis, ruh dich erst mal aus, bis es dir wieder besser geht. Wenn etwas ist, Ilias, Finny und ich sind über Handy erreichbar.“ Kapitel 7: Eine furchtbare Tragödie ----------------------------------- Am nächsten Morgen waren Mallorys Kopfschmerzen vollständig gewichen und sie fühlte sich viel besser. Ja sie hatte sogar richtig gute Laune am morgen und ging fröhlich summend nach unten in den Speisesaal, wo Ilias das Frühstück vorbereitet hatte. Dean saß auch bereits am Tisch und aß Cornflakes. Mallory grüßte die beiden und erkundigte sich dabei auch direkt nach Lewis. „Der liegt sicher noch im Bett. Gestern sah er ja wirklich übel aus. Und wie geht es dir?“ „Ganz gut soweit. Ich hab geschlafen, wie eine Tote. Und wie geht es dir, Dean?“ Der Junge sah von seinen Cornflakes auf und sah sie schüchtern an. Inzwischen hatte er wohl seine Angst vor ihr verloren und lächelte etwas unsicher. „Mir geht es gut. Ilias hat mir gestern eine Geschichte vorgelesen, in der es um ein Mädchen mit ganz langen Haaren in einem Turm ging.“ „Dean lässt sich sehr gerne Märchen vorlesen“, erklärte Ilias, da Mallory mit Deans eher dürftiger Beschreibung nichts anfangen konnte. „Er mag keine Geschichten, in denen Menschen sterben oder verletzt werden, deshalb hört er sich besonders Märchen sehr gerne an, weil es da fast immer Happy Ends gibt.“ Ilias streichelte ihm den Kopf und daraufhin umarmte Dean ihn. Die beiden wirkten tatsächlich wie zwei Brüder. Und der Kleine sah so süß aus, dass Mallory sich insgeheim auch einen kleinen Bruder wünschte. Aber süß waren die Jungs auch nur, solange sie noch klein waren. Dann begann nämlich die Pubertät und da wollte man sie nur noch loswerden. „Finny ist auch schon im Musikladen. Wie es aussieht, sind die Zwillinge wieder im Park, zumindest hat man Josephine nicht mehr gesehen. Du brauchst dich also nicht hier zu verstecken. Aber sag mal, könntest du mir einen Gefallen tun? Ich weiß, ich sollte eigentlich nicht fragen…“ „Ist schon gut, sag es einfach!“ „Könntest du eine Weile auf Dean aufpassen? Ich muss noch ein paar Botengänge machen und kann ihn schlecht alleine lassen.“ Der 10-jährige sah Ilias mit einem fragenden Blick an und schaute dann zu Mallory. Diese hatte durchaus nichts dagegen, eine Weile auf den Kleinen aufzupassen. Die anderen hatten ihr schon so oft geholfen, dass sie sich jetzt auch mal endlich revanchieren konnte. Und auch Dean nickte schweigend. Ilias fiel wirklich ein Stein vom Herzen. „Tut mir Leid, dass ich dich das bitte, aber Finny muss heute arbeiten und Lewis geht es nicht gut. Und vor den anderen Leuten hat Dean Angst. Sorry, dass ich dir das aufdrücke…“ Er sieht so süß aus, wenn er verlegen ist und sich entschuldigt, dachte Mallory und musste schmunzeln. „Ist doch kein Problem. So kann ich mich auch ein Stück weit bei euch bedanken für eure Hilfe.“ Ilias war sichtlich erleichtert und verabschiedete sich sogleich, damit er auch schneller fertig war mit seiner Arbeit. Nachdem sich auch Mallory gestärkt hatte, schlug sie Dean vor, einen kleinen Ausflug in den Wald zu unternehmen. Er war begeistert und so liehen sie sich Fahrräder aus und fuhr los. Zum Glück legte Dean nicht so ein rasantes Tempo vor wie Ilias, wodurch es zu einer sehr gemütlichen Fahrt wurde. Schließlich, als sie von der Landstraße auf einen kleinen Waldweg abbogen, stiegen sie ab und sogleich begann der 10-jährige damit, auf einen Baum zu klettern. Er konnte das ziemlich gut und hatte richtig Spaß dabei. Mallory sah ihm vom Boden aus zu und passte auf, dass er nicht vielleicht noch herunterfiel. Aber Dean bewegte sich so sicher, als wäre er auf Bäumen aufgewachsen. „Kletterst du oft?“ „Ja. Wenn ich bei Anna bin, dann spielen wir immer in einem Baumhaus. Sie kann aber nicht so gut klettern wie ich.“ Mallory kam ein Gedanke. Dean kannte Anna und Josephine viel besser als jeder andere hier in Dark Creek, also war das doch die Gelegenheit, um ihm ein paar Fragen zu stellen. Natürlich ganz unauffällig und vorsichtig, damit er nicht nervös wurde oder Angst bekam. „Wie sind denn die Zwillinge so?“ „Anna ist total lieb. Ich mag sie sehr, aber sie ist oft sehr traurig.“ „Und warum?“ „Weil sie ganz einsam ist. Und Josephine ist auch total nett. Sie spielt auch oft mit uns und sie kann ganz tolle Dinge machen. Sie sagt, sie kann zaubern.“ „Was kann sie denn so?“ „Sie lässt Sachen durch das Zimmer fliegen und kann kaputte Dinge wieder ganz machen. Und sie kann sogar mit verbundenen Augen sehen.“ „Warum hat sie ihre Augen verbunden?“ „Sie sagt, sie will nicht, dass ihre Freunde Angst vor ihr haben. Deshalb muss sie ihre Augen verstecken.“ Dean setzte sich nun auf einen Ast und schaute zu Mallory herunter. Sie räusperte sich kurz und fragte weiter. „Wie hast du Anna eigentlich kennen gelernt?“ „Da war ich auf dem Spielplatz. Ich war ganz traurig, weil mich die anderen Kinder immer geärgert hatten und da kam Anna und sagte, sie wäre auch ganz einsam wie ich. Daraufhin haben wir oft miteinander gespielt.“ „Und wieso lebst du bei ihr und Josephine?“ Hier schien Dean ein wenig unruhig zu werden. Er wich Mallorys Blick aus und zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern.“ Also doch eine Amnesie, dachte sie und begann zu überlegen. So wie sie verstanden hatte, war Dean offenbar ganz normal aufgewachsen und kam dann durch irgendwelche Umstände zu Anna und Josephine. Diese kümmerten sich eine Weile um ihn, bis er dann zu Ilias kam. „Wieso haben dich die beiden zu Ilias geschickt?“ „Josephine meinte, es wäre das Beste für mich.“ „Weißt du, warum Josephine so böse auf die Menschen ist?“ „Weil sie ihr und Anna sehr wehgetan haben. Sie sagte, die Menschen seien alle böse und gemein.“ Mallory musste an Finnians Geschichten über die beiden denken. Ein Gerücht besagte, Josephine habe ihre Seele an den Teufel verkauft und sei daraufhin zu einer Hexe geworden. Man stach ihr die Augen aus und mauerte sie lebendig ein. Eine weitere Geschichte besagte, dass Josephine den Teufel persönlich herausgefordert und sich über ihn gestellt hat, woraufhin er ihr die Augen ausbrannte. Was, wenn an diesen seltsamen Geschichten etwas Wahres dran war und Josephines Kräfte dämonischer Natur waren? Mallory hatte schon des Öfteren mal von Besessenheit gehört, wo Dämonen oder böse Geister in die Körper von Menschen schlüpften und nur mittels eines Exorzismus ausgetrieben werden konnten. Sie glaubte zwar nicht wirklich daran, aber hier in Dark Creek war etwas Übernatürliches am Werk und wer weiß… vielleicht stimmte es ja und Josephine hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Aber was bezweckte sie damit, die Menschen in Dark Creek gefangen zu halten und wie passte das mit Anna zusammen? Irgendwie wollte sich noch kein logisches Bild ergeben. Doch schließlich kam Mallory eine Idee: Wenn Ilias und Finnian Recht hatten und diese Zwillinge älter waren, als sie eigentlich aussahen, dann hatten sie ja womöglich schon vor 17 Jahren gelebt und wussten, was damals passiert war. Und wahrscheinlich wollten sie verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kam. Ein Knacken ertönte und Dean schrie auf. Der Ast war abgebrochen und er schaffte es nur mit Mühe, sich an einem anderen Ast festzuhalten, um nicht abzustürzen. Mallory war sofort da und hielt sich bereit, ihn aufzufangen. „Keine Angst Dean, lass einfach los. Ich fang dich auf!“ Doch er ließ nicht los, sondern klammerte sich fest und geriet in Panik. Der Arme musste einen furchtbaren Schreck bekommen haben. „Dean, beruhige dich doch. Es kann dir nichts passieren. Bleib ganz ruhig.“ Aber er war völlig in Panik und rief immer wieder nach seiner Mutter und egal was Mallory auch versuchte, er wollte nicht loslassen, in seiner Angst hörte er sie nicht einmal. Und auf den Baum klettern konnte sie auch nicht, der würde ihr Gewicht sicherlich nicht so leicht aushalten, wenn er schon unter Deans Gewicht nachgab. „Dean! Es kann dir rein gar nichts passieren, ich bin ja bei dir und ich fange dich auf.“ Es knackte erneut und das war zu viel für den Jungen. Er krallte sich fest und schrie völlig verängstigt um Hilfe und das Geschrei hallte durch den ganzen Wald. Mallory versuchte, ihn an den Füßen zu fassen zu bekommen, aber leider war er viel zu hoch, oder sie war einfach zu klein. Aber dann sah sie etwas anderes. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich eine schwarze Katze auf dem Baum auf und sie erkannte diese als dieselbe Katze wieder, die bei Josephine gewesen war. Sie trug drei Ringe um ihre linke Vorderpfote und eine rote Schleife mit einem goldenen Glöckchen um den Hals. Vorsichtig ging sie zu Dean und begann zu miauen. Langsam hob der Junge den Blick, mit Tränen der Angst in seinem Auge und sah die Katze. „Dean!“ rief Mallory und nun endlich schien er sie zu bemerken. „Lass ruhig los, ich fang dich auf.“ „Okay…“ Er ließ los und landete wohlbehalten in ihren Armen. Sofort umarmte er sie und beruhigte sich langsam. Tröstend streichelte sie ihm den Kopf und redete beruhigend auf ihn ein, dann sah sie wieder hinauf zu dem Baum, wo gerade noch die Katze war. Doch sie war verschwunden. War sie etwa zufällig hier gewesen, oder hatte Josephine sie geschickt? Dann wusste diese mit Sicherheit schon, dass Mallory immer noch hier war. Vorsichtig setzte sie Dean ab und wischte ihm mit einem Taschentuch die Tränen weg. „Hey, es ist doch alles gut, siehst du?“ Da Dean die Lust am Klettern vergangen war, gingen sie ein Stückchen weiter. Sie erreichten einen kleinen Wasserlauf und setzten sich erst einmal. Da Dean sich bei dem kleinen Sturz eine Schürfwunde zugezogen hatte, säuberte Mallory diese vorher und tupfte vorsichtig das Blut ab. „Da hast du gerade einen ziemlich großen Schreck gekriegt, nicht wahr?“ Er nickte stumm und senkte den Blick. „Hast du auch diese Katze auf dem Baum gesehen?“ Wieder nickte er und antwortete nach einer Weile „Das ist Amducias. Er ist Josephines Kater.“ Ob es Zufall war, dass dieser Kater einfach so auftauchte, als Dean in Schwierigkeiten steckte? Vielleicht hatte Josephine ihn tatsächlich geschickt. Da Dean ja mit ihrer jüngeren Schwester Anna befreundet war, hatte sie anscheinend ein besonderes Auge auf ihn. Und es war sicherlich nicht ganz auszuschließen, dass Josephine jetzt dank ihrem Haustier wusste, dass ihr Plan, Mallory zu verjagen, fehlgeschlagen war. Hoffentlich hatte das keine schlimmeren Konsequenzen, denn Mallory hatte nicht gerade Lust dazu, sich mit zwei übernatürlich begabten Mädchen anzulegen. Aber da fiel ihr noch etwas ein, was sie völlig vergessen hatte: Im Handschuhfach ihres Wagens war doch ihre Beretta, die sie sich gekauft hatte. Ja richtig, sie hatte doch auf Anraten ihres Pflegevaters eine Pistole gekauft, damit sie sich im Notfall schützen konnte. Und sie hatte das Ding total vergessen. Vielleicht war es besser, wenn sie von nun an die Pistole in ihrer Handtasche aufbewahrte. Zwar war sie sich nicht ganz sicher, ob es wirklich vernünftig war, zwei übersinnlich begabte Mädchen mit einer Pistole zu bedrohen, aber die Umstände waren gesondert und wer weiß, was diese im Schilde führten. Und außerdem stand zur Befürchtung, dass Josephine vielleicht auch den anderen etwas antun könnte, wenn sie sich ihr widersetzten. Um Dean brauchte sich zum Glück niemand Sorgen zu machen. Dieser stand offenbar unter Annas und Josephines Schutz und war somit automatisch aus dem Schneider. Den anderen ging Josephine aus dem Weg und schien sie eher zu dulden, als wirklich eine freundschaftliche Beziehung zu ihnen zu pflegen. Aber wenn herauskam, dass sie alle vorhatten, Mallory zu helfen, dann würde dieses unheimliche Mädchen noch ziemlich sauer werden. Zwar hatte Dean gesagt, dass die Zwillinge eigentlich nette Mädchen waren, aber die ältere der beiden war extrem gefährlich, das wusste jeder in Dark Creek. „Du, Mallory“, rief Dean schließlich vom Wasserlauf her und kam vorsichtig auf sie zu und musste aufpassen, dass er nicht noch wegrutschte und ganz nass wurde. „Magst du Ilias eigentlich?“ Erstaunt über diese Frage wusste sie erst einmal nicht, was sie sagen sollte. Der Kleine hatte offenbar gemerkt, dass sowohl sie als auch Ilias Gefühle füreinander hatten, sich aber noch nicht trauten, einen Schritt weiterzugehen. Sie lächelte ein wenig verlegen und erklärte „Ja, ich mag ihn sehr.“ „Er sagte, dass er dich auch sehr mag. Werdet ihr heiraten?“ „Was?“ fragte sie verblüfft und musste lachen, als sie das hörte. Dean war wirklich noch ein Kind, wenn er so etwas dachte. „Wir kennen uns kaum und man heiratet doch erst, wenn man sich länger kennt und sehr lieb hat. Ich glaube, das wäre noch ein bisschen früh. Wieso fragst du? Hast du etwa Angst, dass er mich mehr mögen könnte als dich?“ Dean sagte nichts und wusste offenbar nicht, was er darauf antworten sollte. Aber Mallory sah schon, dass sie nicht ganz verkehrt lag mit ihrer Vermutung. Dean war ein Kind, das sehr viel Zuwendung und Aufmerksamkeit brauchte und er fasste nur sehr schwer Vertrauen zu anderen. Ihr hatte er sich sicherlich angenähert, weil er sah, dass sie und sein „großer Bruder“ sich sehr gern hatten und sie damit in seinen Augen vertrauenswürdig war. Fakt war, dass Ilias für ihn die wohl wichtigste Bezugsperson in Dark Creek darstellte. Da war seine Angst, dass sich dieses Verhältnis wegen Ilias’ Gefühle für Mallory verändern könnte. Er hatte Angst, nicht mehr wichtig für Ilias zu sein. „Mach dir keine Sorgen, mein Kleiner“, sagte sie schließlich und tätschelte ihm den Kopf. „Nur weil Ilias und ich uns mögen, heißt das noch lange nicht, dass du nicht mehr sein kleiner Bruder bist. Ich glaube, du wirst für ihn immer die Nummer eins bleiben. Weißt du was er mir mal gesagt hat? Selbst wenn er die Möglichkeit hätte, von hier wegzugehen, würde er es nicht tun, weil er es sehr schade fände, sich von dir trennen zu müssen. Und wenn du willst, kannst du auch gerne mein kleiner Bruder sein. Dann hast du auch eine große Schwester, die auf dich aufpasst.“ Seine Augen wurden groß, als er das hörte und er sah zugleich erleichtert und froh aus, das zu hören. Als Mallory ihn so betrachtete, musste sie wieder an ihr eigenes Dilemma denken, nämlich ihre verlorene Vergangenheit. Sie fragte sich, ob sie vielleicht einen Bruder hatte und wie wohl ihre Eltern gewesen waren? War ihre Mutter eine einfache Hausfrau gewesen, oder hatte sie gearbeitet? War ihr Vater ein Familienmensch gewesen, oder ein typischer Macho? Diese Fragen hatte sie sich immer wieder gestellt, seit sie herausgefunden hatte, dass die Whitmores bloß ihre Pflegefamilie waren. Sie hatte gehofft, in ihrer Heimatstadt Antworten zu finden und nun saß sie hier fest und wurde von Zwillingen mit telekinetischen Kräften bedroht. Und einer ihrer neuen Bekannten war psychisch krank und lebte mit der Leiche seines kleinen Bruders in einer Bruchbude. So hatte sie sich ihren Ausflug sicher nicht vorgestellt. Als Dean langsam Hunger bekam und sie von Ilias eine Nachricht bekam, dass er mit den Lieferungen fertig war, machten sie sich auf den Rückweg und holten dabei auch Ilias ab, der gerade mit dem Fahrrad angerast kam. Scharf bremste er ab und fragte direkt nach. „Na, wie war es denn?“ „Ich hab den Kleinen mit in den Wald genommen, damit er sich ein bisschen austoben kann.“ „Und hattest du auch Spaß?“ Dean nickte, erzählte aber nichts von seinem kleinen Absturz vom Baum. Wahrscheinlich, weil er befürchtete, dass sein großer Bruder sonst überreagieren könnte, weil er auch in gewisser Hinsicht überfürsorglich sein konnte. Also verlor Mallory auch kein Wort darüber und als sich Ilias wegen der Schürfwunde erkundigte, erklärte sie kurzerhand, dass es ein kleines harmloses Malheur gegeben hatte. „Na wenn sonst weiter nichts passiert ist, ist es ja kein Drama.“ Da Ilias mit seinem Fahrrad viel zu schnell war, schoben sie ihre Räder und gingen nebeneinander her. Die Sonne brannte bereits und es war ziemlich warm. Obwohl Mallory auf ihre Jacke verzichtet hatte, bildeten sich bereit Schweißperlen auf ihrer Stirn und sie freute sich jetzt schon auf ein kaltes Mineralwasser, um sich ein wenig abzukühlen. Normalerweise hatte sie nichts gegen sommerliches Wetter, aber irgendwie schien es heute drückend zu sein. Wahrscheinlich wegen der hohen Luftfeuchtigkeit durch das gestrige Gewitter. „Heute wird es sicher noch richtig heiß werden.“ „Der arme Finny tut mir jetzt schon Leid. Wenigstens ist der Musikladen klimatisiert.“ Stimmt ja, dachte Mallory und erinnerte sich wieder. Finnian zog niemals T-Shirts an, sondern trug ja zu jeder Jahreszeit Jacke, Pullover, Strickmütze und die Maske. Sonst könnte man die verbliebenen Spuren der jahrelangen Misshandlung seines Vaters sehen. Die Hochsommer müssten ja die Hölle für ihn sein. Sie stiegen eine Anhöhe hinauf, woraufhin Dean immer mehr zurückfiel. Also gingen die anderen etwas langsamer, damit der Abstand nicht allzu groß wurde. „Wir sind ja gleich da. Nur noch ein kleines Stück.“ Sie blieben kurz stehen, als sie die Steigung hinter sich hatten, damit Dean kurz Luft holen konnte, denn das Wetter schien ihm nicht zu bekommen. Aber noch etwas anderes bremste ihn. „Geht es dir nicht gut, Dean?“ „Mein Bein tut nur etwas weh.“ „Warum sagst du denn nichts? Na komm.“ Sie stellten die Räder ab und schlossen sie ab, dann nahm Ilias den Jungen auf den Rücken. „Wenn wir zuhause sind, werden wir dein Bein kühlen, damit es auch keine Schwellung gibt. Und dann gibt es auch ein Eis.“ „Au ja, ich möchte Schokolade!!!“ Sie kamen an der Kirche vorbei und für einen Moment glaubte Mallory, wieder den Kater von Josephine zu sehen. Er kam ihnen entgegen und sah sie mit seinen gelb leuchtenden Augen an. Warum nur hatte sie das Gefühl, dass dieses Tier ihretwegen hier war und sie in Josephines Auftrag beobachtete? Sie schüttelte den Kopf und konnte nicht glauben, dass sie so etwas dachte. Allmählich werde ich wohl paranoid, dachte sie und versuchte, den Kater zu ignorieren. Amducias… warum hatte sie das Gefühl, sie hätte den Namen irgendwo schon mal gehört, als sie noch klein war? Oder war es irgendwo anders? Wenn sie so nachdachte, war ein schwarzer Kater doch irgendwie ziemlich stereotypisch für Hexen, ebenso wie schwarze Kleidung. Außerdem waren sie Boten des Unheils. War Josephine vielleicht eine Hexe? Und was war dann Anna? „Sag mal Dean, hat Josephine jemals gesagt, woher sie diese Kräfte hat, Dinge durch den Raum fliegen zu lassen?“ „Sie sagt, sie hat sie schon immer gehabt, genauso wie Anna. Sie kann aber noch viel mehr.“ „So? Was denn zum Beispiel?“ „Schlimme Dinge“, antwortete Dean mit gedämpfter Stimme. „Sehr schlimme Dinge, genauso wie Anna. Aber sie hat mir nicht gesagt, was es für schlimme Dinge waren.“ Vielleicht hatte Josephine mehr mit ihrer Vergangenheit zu tun, als Mallory es ursprünglich für möglich gehalten hatte. Jedenfalls schien sie einiges zu wissen und zu verheimlichen. Ich sollte in den Vergnügungspark gehen, ganz egal was Lewis dazu sagt. Wenn ich hier schon sterben muss, dann nicht ohne Antworten. Ich will endlich wissen, wer ich bin und was aus meiner Familie geworden ist. Sie waren nur noch eine Abbiegung von der Pension entfernt, da stießen sie beinahe mit Finnian zusammen. Er war völlig aus der Puste und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Seine Hände zitterten und irgendwie wirkte er seltsam. Das spürte auch Ilias und so ließ er Dean herunter und ging auf seinen besten Freund zu. „Hey Finny, was ist los? Warum rennst du so?“ Doch er bekam kein Wort heraus und atmete schwer, als bekäme er keine Luft mehr. Und zwischendurch klang es fast wie ein Schluchzen. „Finny! Was ist passiert?“ „Vielleicht kriegt er wieder einen Anfall!“ Finnian führte langsam die Hände zu seiner Maske, um sie abzunehmen. Doch seine Hände zitterten so heftig, dass er es kaum schaffte. Sein Gesicht war fast genauso weiß wie seine Maske und es war ebenso von Entsetzen gezeichnet wie am Abend seines letzten Anfalls. Er bekam kaum ein Wort heraus und Tränen hatten sich in seinen Augenwinkeln gesammelt. „I-Ilias…“ brachte er mit Mühe hervor und wandte sich an seinen Freund. „Du… du musst kommen…“ „Was ist passiert? Sag schon!“ „Lewis… er liegt da und blutet… ich glaube, er ist von der Dachterrasse gestürzt.“ Ilias stürmte sofort los und die anderen hatten Mühe, mit seinem Tempo Schritt zu halten. Als sie die Pension erreichten, sahen sie es schließlich selbst mit eigenen Augen und konnten es dennoch nicht fassen. Rücklings lag Lewis auf dem Boden, um ihn herum eine sich weiter ausbreitende Blutlache. „Lewis!“ rief Ilias und lief direkt zu ihm hin, woraufhin er sofort versuchte, ihn anzusprechen und zu reanimieren. Mallory blieb stehen, als sie diesen Anblick sah und wankte. Mit einem Mal drehte sich die ganze Welt vor ihren Augen wie ein Karussell und sie glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren und in einen tiefen Abgrund zu stürzen. Ihre Brust schnürte sich zusammen und sie bekam keine Luft mehr. Die verzweifelten Rufe von Ilias, während er versuchte, ein Lebenszeichen von Lewis zu bekommen oder Deans lautes Weinen und Schluchzen bekam sie kaum noch mit, als würde es aus weiter Ferne kommen. In ihrem Kopf drehte sich alles und ihr wurde schlecht. Sie taumelte einen Schritt zurück und schloss die Augen. Angst lähmte ihren Verstand und sie war einer Panik nahe. Blut… warum nur bekam sie jedes Mal so heftige Panikattacken, wenn sie Blut sah? Vor ihrem inneren Auge tauchten plötzlich Bilder auf. Sie sah Menschen in Panik davon laufen und um Hilfe rufen, Leichen auf den Straßen und weinende Kinder. Nein, ich will das nicht sehen, rief diese Stimme in ihrem Kopf und sie presste eine Hand gegen die Schläfe. Ich will diese schrecklichen Bilder nicht sehen! Nur mit Mühe konnte sie diese Szene aus ihrem Kopf verbannen und wieder ins eigentliche Geschehen zurückkehren. Noch immer versuchte Ilias, ein Lebenszeichen von Lewis zu bekommen und stand nun selbst vor der Verzweiflung. Finnian stand regungslos da und hielt den Jungen im Arm, der völlig aufgelöst war und weinte. Sein Blick war starr auf die beiden gerichtet und ungläubig begann er zu lachen. „Das… das ist doch ein Scherz, oder? Das ist doch alles bloß ein Scherz…“ Ilias stand nun den Tränen nahe und begann mit einer Herzmassage und rief immer noch verzweifelt Lewis’ Namen, um ein Lebenszeichen von ihm zu bekommen. Zuerst verstand Mallory nicht, wieso Finnian so etwas sagte, aber dann sah sie, wieso er so verwirrt war: Es war Lewis’ Gesicht. Er lächelte. Mit ausgestreckten Armen lag er einem segnenden Engel ähnelnd in einer Blutlache und lächelte, als wäre er glücklich. Und in dem Moment kam die schreckliche Erkenntnis, die sie nicht fassen konnte, obwohl sie es eigentlich hätte ahnen müssen: Lewis war nicht von der Dachterrasse gestürzt, er hatte Selbstmord begangen. „Er hat sich umgebracht.“ „So etwas würde er nie tun!“ rief Ilias und hätte wahrscheinlich immer noch die Reanimation durchgeführt, wenn Finnian ihn nicht endlich gestoppt hätte. „Lewis würde sich niemals umbringen!“ „Und wie erklärst du dir dann das Lächeln? Ein Mensch, der bei einem Unfall hinunterstürzt, lächelt doch nicht dabei.“ „Und was ist mit seinen Beinen?“ Mallory verstand zunächst nicht und sah sich das linke Bein des Toten an. Zuerst hatte sie es nicht bemerkt, weil sie von dem vielen Blut so neben der Spur war, aber jetzt sah sie es selbst: An seinem linken Oberschenkel hatte Lewis eine tiefe Wunde, als hätte sich irgendetwas Spitzes hineingebohrt. Beide Beine waren grotesk verdreht, was darauf schließen ließ, dass sie mehrfach gebrochen waren. Aber konnte ein Sturz vom Dach des vierten Stockwerks so etwas anrichten? War es vielleicht möglich, dass es kein Selbstmord war? Aber wenn er gestürzt oder sogar gestoßen wurde, wieso lächelte er dann so glücklich dabei? Kapitel 8: Zeilen der Hoffnungslosigkeit ---------------------------------------- Da Ilias immer noch schwer unter Schock stand und auch Finnian neben der Spur war, blieb Mallory nichts anderes übrig, als selbst stark zu sein. Für sich selbst und für ihre Freunde. Sie kannte Lewis nicht so gut wie die anderen und wusste deshalb nicht, was ihm durch den Kopf gegangen war, als er in den Tod stürzte. Fakt war, dass es einige Ungereimtheiten gab und diese mussten geklärt werden. Um nicht auch noch beim Anblick des vielen Blutes in Panik zu geraten, hatte sie den Blick von der Leiche abgewandt und versuchte, an etwas anderes zu denken. Diese Verletzungen waren seltsam und es war schon auffällig, dass ausgerechnet Lewis gestorben ist. Immerhin hatte dieser sich in der letzten Zeit sehr intensiv mit dem Phänomen von Dark Creek beschäftigt und war auch im Vergnügungspark gewesen. Was, wenn er zum Schweigen gebracht wurde und man es wie einen Selbstmord aussehen ließ? Aber wieso lächelte er dann? Mallory eilte nach oben auf die Dachterrasse in der Hoffnung, dort vielleicht etwas zu finden, was Aufschluss geben könnte. Hinter sich hörte sie Schritte und als sie sich umdrehte, sah sie Finnian, der ihr folgte. Entweder hatte er denselben Gedanken, oder er verfolgte ein anderes Ziel. Kurz vor der Tür verschnaufte Mallory kurz, dann öffnete sie diese. Auf der Dachterrasse schien auf dem ersten Blick nichts Ungewöhnliches zu sein. Überall standen die Blumentöpfe an ihrem Platz und es gab auch keine Spuren, die vielleicht auf einen Kampf hindeuten konnten. Aber dann entdeckte sie Blut auf dem Boden. Obwohl sie sich innerlich darauf vorbereitet hatte, wurde ihr wieder schwindelig, die Angst kam zurück und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihren Kopf wie eine glühende Nadel und sie presste sich eine Hand gegen ihre Schläfe, wo der Schmerz am stärksten war. Sie drehte sich um und hielt sich an Finnian fest, der selbst zuerst erschrocken über den plötzlichen Körperkontakt war. „Mallory, was ist denn?“ Ihre Knie zitterten unkontrolliert und wieder sah sie diese Bilder vor ihren Augen. Tote Kinder, sterbende Eltern und Schreie überall. Diese schrecklichen Szenen tauchten immer auf, wenn sie Blut sah und insgeheim wusste sie, was das für Bilder waren. Das waren Fragmente ihrer verdrängten Erinnerung. Etwas Entsetzliches war damals passiert und sie hatte es mit ansehen müssen. Und dennoch war sie verschont worden. Aber warum sie und wieso waren überhaupt so viele Menschen gestorben? Wieso sprach niemand darüber? Sie sank in die Knie und konnte nur mit Mühe einen Brechreiz unterdrücken. „Ich kann kein Blut sehen, egal wie viel es ist.“ „Dann sehe ich mich um und du bleibst hier.“ Mallory hielt die Augen geschlossen und begann sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Sie musste ihre Angst wieder unter Kontrolle bekommen, damit sie nicht noch einen panischen Anfall bekam. Nichts hasste sie mehr, als wenn sie vor Angst gelähmt und handlungsunfähig war. Überhaupt hasste sie es, schwach zu sein. Schließlich hörte sie Finnian rufen „Am Geländer sind mehrere Spuren und blutige Handabdrücke. Seltsam…“ „Was ist seltsam?“ „Hinter dem Geländer sind auch blutige Handabdrücke, als hätte Lewis versucht, sich festzuhalten. Was, wenn er doch nicht gesprungen, sondern hinuntergestürzt ist?“ „Das wäre doch Quatsch. Wieso wäre er dann über das Geländer gestiegen? Aber andererseits… wenn er tatsächlich gesprungen wäre, dann hätten wir ihn mit dem Gesicht nach unten finden müssen. Wenn er sich tatsächlich noch festgehalten hat, dann würde es erklären, wieso er auf dem Rücken liegt. Aber wieso lächelt er, wenn es kein Selbstmord war und wieso ist hier überall Blut?“ Mallory musste an gestern denken und erinnerte sich an Lewis’ schmerzverzerrtes Gesicht. Irgendetwas war mit ihm gewesen und wahrscheinlich hatte es mit seinem Tod zu tun. Was, wenn Josephine ihn umgebracht hat, weil er zu gefährlich für sie wurde? Konnte es tatsächlich sein, dass sie ihre Kraft eingesetzt hatte, um ihn auszuschalten, weil er wusste, wie man aus Dark Creek entkommen konnte? Hatte sie ihn manipuliert und dann umgebracht? Doch wieso lächelte er dann? Wieder hatte sie sein Gesicht vor Augen, erinnerte sich an ihre gemeinsamen Gespräche und erneut kamen ihr die Tränen. Lewis hatte gesagt, dass er eine innere Leere verspürte und Dark Creek als ein Gefängnis empfand. Doch trotzdem hätte sie nie damit gerechnet, dass er deshalb Selbstmord begehen könnte. Obwohl er ein verträumter Mensch gewesen war, der hin und wieder zu Melancholie neigte, war er immer hilfsbereit und stets bemüht gewesen, anderen zu helfen. Für Ilias, Finnian und Dean war er wie ein väterlicher Freund und ihre große Stütze. Und doch war er nun tot und einiges deutete darauf hin, dass er gesprungen war. Allein dieses glückliche Lächeln auf seinem toten Gesicht… Mallory dachte an den Vorabend, als er krank wurde und starke Schmerzen hatte und als er erfuhr, dass auch sie in Dark Creek gefangen war. Er hatte sehr unglücklich ausgesehen und sich im Stillen schwere Vorwürfe gemacht, weil er so machtlos war und ihr nicht helfen konnte. Oder hatte sie vielleicht irgendetwas gesagt, was ihn dazu veranlasst hat, sich in den Tod zu stürzen? Hatte sie seinen Tod etwa genauso verschuldet wie Finnians Anfall? Zweifel und Schuldgefühle befielen sie und sie fragte sich, ob sie es nicht hätte verhindern können. Wenn sie die Anzeichen richtig gedeutet hätte, dann wäre sie vielleicht in der Lage gewesen, ihn aufzuhalten und ihn somit zu retten. Und mit schmerzlicher Gewissheit wurde ihr bewusst, dass sie vielleicht Mitschuld an seinem Tod hatte und die ganze Zeit so blind gewesen war. Im Grunde hatte sie sich nur auf ihre eigenen Probleme konzentriert und dabei völlig ignoriert, dass es Lewis so schlecht ging. „Mallory, hier… hier liegt so etwas wie ein Brief.“ Sie schaute auf und sah Finnian am Tisch stehen, wo Lewis immer saß und wo eine Schreibmaschine stand. Offenbar hatte er hier auch seine Romane geschrieben und wenn hier ein Brief lag, konnte es sich um einen Abschiedsbrief handeln. Finnian, der inzwischen seine Maske wieder aufgesetzt hatte, reichte ihr den Brief. „Ist es das, was ich vermute?“ Sie las ihn sich nicht näher durch, sondern überflog ihn ganz kurz. Dabei begannen ihre Hände heftig zu zittern. „Ja, das ist sein Abschiedsbrief.“ Finnian senkte den Kopf und sagte nichts. Mallory kauerte am Boden und weinte bitterlich. Es war also tatsächlich Selbstmord! Lewis war gesprungen, weil er keinen anderen Ausweg mehr für sich selbst sah und sie hatte nicht rechtzeitig erkannt, wie es wirklich in ihm drin ausgesehen hatte. Warum nur hatte sie nie richtig hingehört, als er ihr seine wahren Gefühle offenbart hatte? Spätestens da hätte sie doch erkennen müssen, dass er völlig verzweifelt war und Hilfe brauchte. Warum nur hatte sie die Zeichen nicht richtig gedeutet? Doch es war zu spät und niemand konnte die Zeit zurückdrehen. Lewis war tot und noch nie hatte sich Mallory noch niemals so hilflos und schwach gefühlt wie in diesem Moment. Lewis’ Leichnam wurde schließlich fortgebracht und Ilias, der immer noch unter Schock stand, musste ein Beruhigungsmittel nehmen, um wieder ansprechbar zu werden. Da er unfähig war, sich in dieser Verfassung um Dean zu kümmern, wurde dieser von Josephines Butler Roth abgeholt und kam vorerst zu Anna und Josephine. Mallory fühlte sich selbst nicht in der Lage, auf ihn aufzupassen und man konnte dem Jungen auch nicht zumuten, bei Finnian zu wohnen. Schließlich trafen sie sich alle im Salon, sagten aber kaum etwas und schwiegen die meiste Zeit, während sie teilnahmslos ins Leere starrten. Nach einer Weile eröffnete Finnian das Gespräch. „Mallory und ich waren auf dem Dach gewesen und haben Blutspuren gefunden. Ich glaube, Lewis war schwer verletzt gewesen, als er runterstürzte. Aber… irgendwie verstehe ich das alles nicht. Wieso hat er gelächelt und warum lag da dieser Brief?“ „Was für ein Brief?“ Mallory holte die Zeilen hervor, die Lewis geschrieben hatte und betrachtete sie eine Weile. „Ich glaube, er hat einen Abschiedsbrief geschrieben, bevor er gestorben ist.“ „Und was steht drin?“ Sie atmete tief durch und bereitete sich darauf vor, den Abschiedsbrief vorzulesen, aber sie wusste im Inneren schon, dass sie es nicht schaffen konnte. Sie würde in Tränen ausbrechen und dann kein Wort mehr hervorbringen. Erneut würde sie sich wieder die Schuld für Lewis’ Tod geben und in Verzweiflung verfallen. Mit Tränen in den Augen schüttelte sie den Kopf und mit einem heftigen Schluchzer sagte sie „Tut mir Leid, ich kann das nicht.“ Also nahm Finnian ihn entgegen und begann nun selbst, den Brief vorzulesen und damit ihnen allen Lewis’ letzte Gedanken zu offenbaren. „Diese Zeilen hier zu schreiben, ist gewiss nicht leicht für mich. Auf der einen Seite schmerzt es mich, hier meine letzten Gedanken und Gefühle festzuhalten mit der Gewissheit, dass mein Entschluss mit diesem Schritt etwas Endgültiges annimmt. Aber andererseits ist es auch eine Befreiung für mich, da ich mich nun endlich von meinen Lasten und Sorgen befreien kann, bevor ich diese Welt für immer verlassen werde. In den letzten Wochen, Monaten und Jahren, in denen ich in dieser Stadt gelebt habe, hatte ich viel Zeit, um über einiges nachzudenken. Zum Beispiel über die Frage, warum wir überhaupt hierhergezogen sind und was mit dieser Stadt nicht stimmt. Aber vor allem fragte ich mich, was mit mir nicht stimmte. Zwar glaubte ich, mich an jedes Detail meiner Vergangenheit zu erinnern, aber mich ließ das Gefühl nicht los, als würde da etwas fehlen. Etwas Entscheidendes. Es ließ mir keine Ruhe und es fühlte sich an wie das fehlende Teil eines Puzzles. Etwas in mir war leer und konnte nicht gefüllt werden. Anders kann ich es nicht in Worten beschreiben. Deshalb begann ich, nach und nach die einzelnen Fragmente zusammenzufügen und nach den fehlenden Teilen zu suchen. Und obwohl ich noch nicht alles in Erfahrung bringen konnte, so wusste ich schon genug um sagen zu können, dass Dark Creek ein Gefängnis ist. Es ist ein Käfig für mich und für alle seine Bewohner. Und solange ich hier bin, habe ich keine Zukunft und keine Hoffnung. Alles, was mir geblieben ist, das ist meine Vergangenheit und die damit verbunden Emotionen und Wünsche. Und bevor mir nach meiner Freiheit auch dies genommen werden kann, habe ich beschlossen, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und mich aus diesem Gefängnis zu befreien. Im Grunde meines Herzens wusste ich schon lange, dass es keinen anderen Ausweg mehr gibt, doch ich wollte es nicht wahrhaben. Dark Creek ist nichts anderes als eine niemals enden wollende Welt, in der wir nichts Weiteres sind als Puppen, die auf einem Tisch tanzen. Man lässt uns tanzen, obwohl wir es Leid sind und nur aus eigener Kraft können wir es schaffen, die Fäden durchzuschneiden und uns von dieser Macht befreien, die uns an diesen Ort hält und einsperrt. Lange Zeit war ich mir nicht wirklich bewusst, warum ich überhaupt hier bin, weshalb überhaupt jemand an so einem Ort lebt und wieso niemand von hier entkommen kann. Erst vor kurzem habe ich endlich die Antwort finden können und daraufhin fasste ich den Entschluss, mir meine Freiheit zurückzuholen und diesem Gefängnis zu entfliehen. Diese Entscheidung fiel mir seltsamerweise gar nicht so schwer wie ich zunächst dachte, obwohl ich hier viele Menschen habe, die ich in mein Herz geschlossen habe und die ich nur ungern zurücklassen würde. Aber mir ist eines klar geworden: Dieses friedliche Leben, das wir führen, ist nichts Weiteres als eine Illusion. Wir werden manipuliert, um dieses Dasein nicht zu hinterfragen und freiwillig hier zu bleiben. Unser Leben gleicht denen von Goldfischen in einem Glas, die zwar wissen, dass es außerhalb des Glases etwas gibt, doch solange sie glücklich mit ihrem Dasein sind, käme ihnen nie in den Sinn, nach mehr zu streben. Doch ich bin nicht glücklich mit dieser Leere in meinem Herzen und ich ertrage diese Illusion und diesen Käfig nicht länger. Und umso weniger ertrage ich das Dasein an diesem Ort, da ich nun endlich weiß, woher diese Leere rührt und warum sie erst entstand. Die Wahrheit ist, dass ich einfach vergessen habe, was mich wirklich glücklich gemacht hat und was mein Leben erfüllte. Ich habe mein altes Leben vergessen und den Menschen, den ich über alles geliebt habe. Ich wuchs in einer wohlhabenden Familie auf, in der mir jeder materielle Wunsch erfüllt wurde. Da aber meine Mutter als Rechtsanwältin und mein Vater als Unternehmer nie zuhause waren, erfuhr ich niemals elterliche Liebe und war sehr einsam. Erst mein Privatlehrer Mr. Simmons, der wie ein Vater für mich war und mich immer in schweren Zeiten unterstützt hat, konnte mir erst das geben, was ich wirklich brauchte und half mir über diese schweren Zeiten hinweg. Ich merkte schon früh, dass ich nicht gerade das war, was konservative Eltern als normal bezeichnen würden. Strenge Erziehung durch Nannys und weitere Privatlehrer sollten dem Abhilfe schaffen, aber ich konnte mich einfach nicht ändern. Und so konnte ich auch nichts dagegen tun, als ich mich in der High School in Zane Donovan verliebte. Zane war das, was man einen hoffnungslosen Fall nennen konnte. Er hatte bereits zwei Kinder gezeugt und ein drittes war damals unterwegs gewesen, als ich ihn kennen lernte. Im Grunde war er ein Schürzenjäger und Herzensbrecher und damit genau das, wovor Väter ihre Töchter lieber fernhalten wollen. Warum ich mich ausgerechnet in ihn verliebte, konnte ich selbst nicht begreifen. Hinzu kam noch die Tatsache, dass er die Mädchen zwar schwängerte, aber nie an einer festen Beziehung interessiert war. Für die Kinder kam er aber auf und erkannte auch die Vaterschaft an. Jedenfalls schien er nur an gebärfähigen Personen interessiert zu sein und das führte bei mir zu allerhand Komplexen. Obwohl ich wusste, dass ich ein Junge war und selbst nach einer Geschlechtsumwandlung niemals eine vollwertige Frau sein würde, wuchs in mir der Wunsch, sein Kind auszutragen. Ich wollte auch keine Geschlechtsumwandlung machen, denn trotz allem fühlte ich mich nicht als Frau. Trotzdem hegte ich diesen Wunsch und schämte mich zugleich dafür. Weil ich mich auch wegen meiner Gefühle für einen Jungen schämte, ließ ich meinen Frust an Zane aus. Wir gerieten immer wieder aneinander und irgendwann kam es dazu, dass ich ihm eher versehentlich und im Affekt meine Gefühle für ihn offenbarte. Das war für ihn erst ein Schock gewesen, aber dann geschah das, womit ich niemals gerechnet hätte: Er erwiderte meine Gefühle. Obwohl ich nie ein Kind gebären könnte, liebte er mich und nahm mich so, wie ich bin. Bis zu meinem Liebesgeständnis war ihm selbst nie wirklich klar gewesen, dass auch er schwul war. Zwar mochte er Mädchen, aber er hatte sie nie auf solch eine Weise lieben können wie mich. Wir wurden schließlich ein Paar, outeten uns aber erst im letzten Jahr der High School und hielten unsere Beziehung bis dahin erfolgreich geheim. Als meine Eltern von unserer gemeinsamen Liebe erfuhren, konnten sie das nicht akzeptieren und so wurde ich verstoßen und enterbt. Für sie war ich nicht mehr ihr Sohn und der Kontakt brach ab. Das war sehr hart für mich, aber solange ich Zane hatte, war ich glücklich. Ich studierte schließlich Medizin an der Universität, obwohl ich eigentlich lieber Schriftsteller geworden wäre. Doch mein Wunsch, anderen Menschen zu helfen, war stärker gewesen und ich war der Ansicht, dass man durch die Schriftstellerei nichts verdienen konnte und ich es als Autor nie weit bringen würde. Aber das Studium war hart und ich stieß bald an meine Grenzen. Ich fing daraufhin an, Ritalin zu nehmen, um mich besser konzentrieren zu können. Bald kamen auch Antidepressiva dazu. Lange Zeit merkte ich nichts, bis Zane mich darauf aufmerksam machte, dass ich bereits abhängig war und ich nicht nur psychisch, sondern auch gesundheitlich litt. Ich beruhigte ihn mit der Erklärung, dass es nur eine Phase war und ich alles im Griff hätte. Wenn ich mit dem Studium fertig wäre, bräuchte ich sie nicht mehr. Als ich dann aber schließlich Assistenzarzt wurde, verschlimmerten sich mein Zustand und meine Abhängigkeit, woraufhin mir Zane ein Ultimatum stellte. Wenn ich meinen Job nicht kündigen würde, hätte unsere Liebe kaum noch eine Zukunft. Zuerst war ich sehr verletzt, aber dann erkannte ich, dass er es tat, weil er mich liebte und mir helfen wollte. Auch ich merkte, dass mir die Arbeit im Krankenhaus nicht gut tat und so folgte ich seinem Wunsch. Stattdessen begann ich meiner eigentlichen Leidenschaft, nämlich der Schriftstellerei nachzugehen und siehe da: Es waren Liebesromane. Meine Beziehung zu Zane war die beste Vorlage dafür und ich hatte endlich das gefunden, was mich wirklich auf Dauer glücklich machen konnte. Aber obwohl ich glücklich war mit dem Mann, den ich liebte und der Arbeit, die mir Freude machte, konnte ich mir diesen einen Wunsch nicht erfüllen und das hinterließ Spuren bei mir. Ich geriet in Zweifel, ob wir wirklich auf Dauer glücklich sein konnten, weil ich ihm niemals das geben konnte, was wir uns wünschten: nämlich ein Kind. Zane versicherte mir, dass es ihm egal wäre, dass wir niemals zusammen Kinder haben konnten und es ja noch die Möglichkeit einer Adoption gab, aber eine Adoption wäre niemals das Gleiche gewesen. Und ich hasste mich in diesen Momenten dafür, dass ich keine Frau sein konnte. Dann hätte es auch nicht so viele Vorurteile und Feindseligkeiten gegen unsere gemeinsame Liebe geben müssen. Und oft genug zweifelte ich, ob ich wirklich der Richtige für Zane war und ob er wirklich glücklich mit mir war. Nachdem ich meinen Job gekündigt hatte, ging es mir gesundheitlich wieder besser. Ich fand bei einer Selbsthilfegruppe für Medikamentenabhängige den nötigen Halt und Zane stand mir auch zur Seite. Er arbeitete nachts als DJ und ich blieb zuhause, kümmerte mich um den Garten und von den Ersparnissen konnten wir eine Zeit lang gut leben, solange ich keinen Job hatte und auch eine Entziehungskur machte. Als es mit der Schriftstellerei immer besser ging und meine Bücher immer gefragter wurden, erhielt ich einen Termin bei einem Verleger, der sich tatsächlich für meine Bücher interessierte. Wir freuten uns gemeinsam für diese gute Nachricht und wollten diesen Erfolg feiern, wenn der Vertrag unterschrieben war. Während Zane alles für unser kleines Fest vorbereiten wollte, nahm ich gleich die nächste Bahn zum Verlag. Aber auf den Weg dorthin kam es zu einem furchtbaren Unglück. Der Tunnel war bereits durch ein Erdbeben in der Vergangenheit beschädigt worden und stürzte durch die tagtäglichen Vibrationen der durchfahrenden Züge über uns ein. Wir alle wurden verschüttet und von da an fehlten mir jegliche Erinnerungen, was währenddessen oder kurz danach passiert ist. Ich weiß nicht, was aus Zane geworden ist und wieso ich nicht mehr bei ihm bin. All das hatte ich vergessen, ich hatte sogar ihn vergessen. Erst vor kurzem ist mir genau das klar geworden, als ich mich wieder an meine Gefühle und an meinen sehnlichsten Herzenswunsch erinnerte. Ich weiß nicht genau, wieso ich mein eigenes Leben dermaßen vergessen habe und dann auch noch Zane. Es scheint so, als hätte all dies mit meinem jetzigen Leben in Dark Creek zu tun und dem Grund, wieso ich hier bin. Aber nun, da ich mich wieder an mein wirkliches Leben erinnere und die Wahrheit kenne, spüre ich, wie sich mein Dasein in dieser Stadt dem Ende zuneigt. Mein Tod rückt langsam näher, aber ich werde ihm entschlossen und ohne Angst entgegentreten und mich endlich von alledem hier loslösen. Die Wahrheit wird einige von euch vielleicht genauso erleichtern wie mich, womöglich aber wird sie euch den Verstand rauben und alle Hoffnung nehmen. Ihr kennt sie alle, die Antwort auf die Frage, was in Dark Creek nicht stimmt und wieso es niemanden kümmert, warum wir hier gefangen sind. Im Grunde eures Herzens habt ihr es immer gewusst, doch ihr wollt es einfach nicht wahrhaben und solange ihr vor der Wahrheit flieht, könnt ihr niemals frei sein. Aber ihr müsst es alleine herausfinden und aus eigener Kraft die Wahrheit aufdecken. Doch lasst mich eines sagen: Dark Creek ist ein Gefängnis für uns alle und eine Lüge. Das Leben hier ist wie eine Zugfahrt ohne Bahnhof, verdammt dazu, niemals ein Ziel zu haben, bis wir es selbst finden. Solange habe ich keine Zukunft… niemand in dieser Stadt hat eine Zukunft. Aber wenn ich schon sterben muss, dann will ich es tun, so wie ich es will und ich will es als freier Mensch tun, denn das ist das einzige Glück, was ich mir noch erhoffe. Bevor ich diese Zeilen, die man auch als meinen persönlichen Abschiedsbrief betrachten kann, beende, möchte ich noch dies noch unbedingt sagen: Ich liebe dich Zane, ich liebe dich von ganzem Herzen und ich vermisse dich so sehr. Es tut mir so Leid, dass wir uns in dieser Welt wohl nicht mehr sehen werden und bitte verzeih mir, dass ich dich und unsere gemeinsame Liebe einfach vergessen habe… Aber vielleicht, vielleicht besteht ja die winzige Hoffnung, dass wir uns in einem anderen Leben wieder sehen. Und dann werde ich hoffentlich in der Lage sein, dir deinen und meinen größten Herzenswunsch zu erfüllen. Trotzdem danke ich dir, dass du mir die Kraft gibst, diesen letzten Weg glücklich und ohne Angst und Zweifel zu gehen. Und ich danke dir für deine aufrichtige Liebe. Und außerdem möchte ich mich bei meinen Freunden entschuldigen. Bitte verzeiht, dass ich nicht mehr die Kraft aufbringe, diesen Käfig und dieses hoffnungslose Schicksal zu ertragen. Verzeiht, dass ich euch alle auf solch schreckliche Art und Weise im Stich lasse. Ich habe wirklich versucht, für euch stark zu sein, aber ich kann es einfach nicht mehr. Weder mental, noch körperlich. So oder so werde ich sterben müssen, aber ich will wenigstens noch die Freiheit besitzen, es aus eigener Kraft zu tun.“ Betroffenes Schweigen breitete sich aus. Mallory schluchzte und erinnerte sich wieder an diese seltsamen Worte von Lewis, als er sagte, dass er im Gegensatz zu ihr keine Kinder zur Welt bringen könnte. Nun endlich verstand sie, was diese Worte zu bedeuten hatten. Lewis hatte sich an seinen innigsten Herzenswunsch erinnert, den er sich niemals erfüllen konnte und er hatte sich wieder an sein Leben mit dem Menschen erinnert, den er liebte. Und weil er glaubte, er würde nie wieder in sein altes Leben zurückkehren können, war er vom Dach gesprungen. Aber… warum schrieb er, dass so oder so gestorben wäre? Sie musste sich an das Blut auf dem Dach erinnern und an die Schmerzen, die er am Vorabend seines Todes hatte. Was, wenn diese Schmerzen mit dem Blut und der Verletzung an seinem Bein zusammen hingen? Lewis hatte gewusst, dass er sterben würde und er wollte dem zuvorkommen, indem er vorher in den Tod sprang. Doch bevor er von selbst springen konnte, war er gestürzt oder abgerutscht und hatte sich instinktiv festgehalten. Und als er erkannte, dass es für ihn zu spät war, hat er losgelassen und war daraufhin mit einem Lächeln gestorben. War es so gewesen? Aber warum hatte Lewis überhaupt sterben müssen? Etwa, weil er zu viel wusste? Mallory kam schließlich ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn Josephine tatsächlich für seinen Tod mitverantwortlich war? Immerhin hatte sie gezeigt gehabt, dass sie über besondere Kräfte verfügte und da war es also nicht auszuschließen, dass sie diese eingesetzt hatte, um Lewis auszuschalten. Aber dieser wollte ihr zuvorkommen und beendete es schließlich selbst. Ihr Blick wanderte zu Finnian, der in ein tiefes Schweigen versunken war und wegen der Maske konnte sie nicht erkennen, wie er sich gerade fühlte. Auch Ilias sagte nichts und wirkte irgendwie apathisch. Nach einer Weile sagte er schließlich „Ich kann nicht glauben, dass er all das vor uns verschwiegen hat. Wir… wir hätten ihm doch helfen können.“ „Ich glaube nicht, dass ihn überhaupt jemand noch retten konnte“, entgegnete Finnian mit einem Kopfschütteln. „Er wusste, dass er sterben wird und niemand etwas dagegen tun konnte.“ „Aber wieso und was ist mit ihm passiert, dass da Blut auf dem Dach war?“ „Vielleicht war sie es“, sagte Mallory und wunderte sich selbst, dass ihre Stimme so tonlos dabei klang. „Was, wenn Josephine ihn in den Tod getrieben hat? Ich meine, Lewis wusste offenbar, wie wir entkommen können und wenn dieses Mädchen tatsächlich dahinter steckt, dann hat sie mit Sicherheit versucht, ihn zum Schweigen zu bringen. Es muss einen Grund dafür geben, wieso wir alle gegen unseren Willen festgehalten werden. Lewis ist in den Vergnügungspark gegangen, um Antworten zu finden. Was, wenn er für dieses Wissen so oder so sterben musste und er letztlich vor der Wahl stand, getötet zu werden oder freiwillig zu sterben?“ Der Ausdruck in Ilias’ Augen veränderte sich, aber es war unmöglich zu erkennen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Aber dann sah er sie mit einem erschrockenen Blick an, als würde er an etwas Bestimmtes denken. „Wenn das wirklich stimmt… was ist mit Dean? Und was ist mit uns?“ „Keine Ahnung“, antwortete Mallory niedergeschlagen und stützte ihren Kopf auf ihrer Hand ab. „Aber da die beiden Zwillinge so aggressiv auf mich reagiert haben, steht zur Befürchtung, dass sie ausnahmslos jeden töten werden, der es wagt, das Geheimnis zu lüften, wie wir von hier entkommen können.“ Kapitel 9: Erste Erinnerungen ----------------------------- Nachdem sie langsam den Schock über Lewis’ Selbstmord überwunden hatten, mussten sie überlegen, was nun passieren sollte. Sie alle wussten, dass es nicht mehr weitergehen konnte, so wie bis jetzt. Der tragische Tod ihres Freundes hatte gezeigt, dass das Problem nicht unterschätzt werden durfte und sie sich etwas einfallen lassen mussten. Zwar hatte Lewis eindeutig Selbstmord begangen, so stand es auch in seinem Abschiedsbrief, aber es war auch Tatsache, dass er sowieso nicht mehr lange zu leben gehabt hätte. Denn er hatte etwas herausgefunden, das ihn in Lebensgefahr gebracht hatte. Und da es kaum eine andere Schlussfolgerung zuließ, war sich Mallory sicher, dass Josephine dahinter steckte. Was Anna betraf, so war sie sich noch nicht hundertprozentig sicher, aber ganz auszuschließen war es nicht. Aber sicherlich war Josephine die treibende Kraft und Anna hielt sich eher im Hintergrund. Sie waren der Grund dafür, wieso niemand Dark Creek verlassen konnte und jeder, der die Wahrheit aufdeckte, wurde umgebracht. Und Lewis hatte sich entschieden, es vorher aus freiem Willen zu tun. Er hatte herausgefunden, was ihm in seinem vermeintlich glücklichen Leben in Dark Creek fehlte und was er vergessen hatte. Und wahrscheinlich hatte er auch den Grund herausgefunden, wieso er überhaupt in dieser Kleinstadt war, die er als ein Gefängnis empfunden hatte. Doch was sollten sie jetzt tun? Sollten sie so tun, als wäre alles in bester Ordnung und weitermachen wie bisher? Sollte Mallory auch ein Teil dieser Lüge werden, den Rest ihres Lebens hier bleiben und zu einer Marionette von Josephine werden wie all die anderen? Fragend schaute sie zu Ilias, der sich offenbar auch Gedanken über all das machte und wohl selbst nicht wirklich wusste, was er tun sollte. Bei ihm stand mehr auf dem Spiel, als bloß sein eigenes Leben. Er hatte Angst um Dean und um seinen besten Freund, was man natürlich nachvollziehen konnte. Und Finnian sorgte sich um seinen kleinen Bruder Keenan. Mallory hatte wohl keine andere Wahl, sie musste es ganz alleine tun und in den Vergnügungspark gehen, um sich Josephine und Anna zu stellen. Vielleicht fand sie dann auch einen Weg aus Dark Creek raus und konnte dann endlich nach Hause. Nachdem sie die ganze Zeit schweigend zusammen gesessen hatten, stand die 24-jährige auf und wollte den Raum verlassen, da hob Finnian den Kopf und fragte „Wo willst du hin?“ „Zum Vergnügungspark.“ „Wie bitte?“ riefen beide Jungs fassungslos und sprangen sofort auf. Ilias sah sie entsetzt an und sicher hatte sein Freund unter der Maske den gleichen fassungslosen Gesichtsausdruck. „Nach dem, was Lewis passiert ist, willst du allen Ernstes dorthin?“ „Hab ich denn eine andere Wahl?“ fragte sie und wurde dabei laut, ohne es zu wollen. „Wir sitzen alle fest und kommen nicht aus eigener Kraft raus, es sei denn, wir geben uns wie Lewis selbst die Kugel. Und wenn ich schon sterben muss, dann nicht, ohne vorher die Wahrheit zu wissen. Lewis hat im Vergnügungspark die Antwort gefunden, warum niemand hier weg kann und er wollte, dass wir es aus eigener Kraft herausfinden. Mag sein, dass mich die beiden Mädchen hassen und vielleicht sogar tot sehen wollen, aber ich werde mich ganz sicher nicht feige verkriechen, oder so tun, als wäre alles in Ordnung. Ich habe im Handschuhfach meines Wagens eine Waffe und wenn Josephine versuchen sollte, mich umzubringen, dann werde ich es ihr ganz sicherlich nicht allzu leicht machen.“ „Das ist doch verrückt! Willst du unbedingt sterben?“ „Nein, aber noch weniger will ich tatenlos herumsitzen und hier den Rest meines Lebens eingesperrt bleiben und irgendwann noch verrückt werden. Ich will auch niemanden zwingen, mit mir zu kommen. Im Gegensatz zu euch habe ich hier nichts zu verlieren.“ Damit ließ sie die beiden allein zurück und verließ die Pension in Richtung Parkplatz, wo sie den Wagen geparkt hatte. Tatsächlich befand sich die Beretta noch dort, wo sie sie zurückgelassen hatte und sie besaß noch das komplette Magazin. Offen gestanden war sie sich nicht sicher, ob die Kugeln wirklich reichen würden, um Josephine und Anna zu töten. Vielleicht würde es überhaupt nichts bringen, aber zumindest gab ihr diese Waffe Sicherheit und die nötige innere Stärke. Sie wollte nicht einfach so sterben. Nicht, bevor sie die Wahrheit kannte, die Lewis das Leben gekostet hat. Und sollte Josephine vorhaben, sie danach umzubringen, so war sie vorbereitet. Aber eine Sorge hatte sie dennoch: Der kleine Dean. Was war mit ihm? Ging es ihm gut, oder könnte er genauso in Gefahr geraten? Es war sicher das Beste, wenn sie ihn vorher in Sicherheit brachte, bevor sie sich den Zwillingen widmete. Sie hörte Schritte und als sie sich umdrehte, sah sie Ilias und Finnian herbeieilen. Sofort blieben sie stehen, als sie die Waffe sahen. „Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“ „Das ist mein Ernst. Ich gehe in diesen Park und stelle die beiden zur Rede. Aber vorher hol ich noch Dean da raus, bevor sie ihm auch etwas antun können.“ Ilias war völlig hilflos in dieser Situation und wusste nicht, was er tun sollte. Normalerweise war Lewis immer da und regelte alles auf seine ruhige und besonnene Art, aber nun war er jetzt der Älteste der Gruppe und musste den Platz seines verstorbenen Freundes einnehmen. Und damit war er einfach völlig überfordert. Alles kam viel zu plötzlich und er war unsicher, was er tun sollte. Gerade eben war Lewis von der Dachterrasse gesprungen und jetzt wollte das Mädchen, in das er sich verliebt hatte, mit einer Beretta bewaffnet in den Vergnügungspark gehen. Dabei wusste sie doch um die Gefahr, die von Josephine ausging und trotzdem tat sie es. Was sollte er tun? Sie abhalten? Sie ziehen lassen, oder mit ihr mitgehen? Er wusste es einfach nicht und er wünschte sich, dass er diese Wahl nicht treffen musste. Was, wenn er eine falsche Entscheidung traf und es dann seinetwegen ein schlimmes Ende nehmen würde? Nein, das konnte er nicht. Er konnte diese Entscheidung nicht treffen! Die Verantwortung war einfach viel zu groß dafür und er hatte entsetzliche Angst vor dem Versagen. Finnian sah, was sein bester Freund gerade durchlebte und übernahm deshalb das Wort für ihn. „Glaubst du, wir lassen dich einfach so in den Tod gehen, nachdem wir bereits Lewis verloren haben?“ „Ich kann doch schlecht von euch verlangen, dass ihr mitkommt. Ihr habt schon so viel für mich getan und wer weiß, was Josephine euch noch antun wird.“ „Du hast es wohl nicht verstanden“, sagte Finnian schließlich und stellte sich direkt vor sie, wobei er die Arme verschränkte. Zusätzlich mit der Maske wirkte er wie ein dubioser Räuber, der sie gleich ausrauben wollte. „Zwar kennen wir uns noch nicht so lange, aber du gehörst trotzdem dazu und deshalb lassen wir dich nicht so einfach gehen. Besonders nicht, wenn Dean auch in Gefahr sein könnte. Lewis hat die Sache mit sich ganz alleine ausgemacht und ist gestorben. Vielleicht hätten wir irgendetwas tun können, um das zu verhindern, wenn wir das vorher gewusst hätten. Wenn wir dich einfach so gehen lassen und du auch stirbst, könnten wir uns das niemals verzeihen.“ „Finny hat Recht! Du bist nicht alleine, Mallory. Wir stecken alle in derselben Scheiße und einfach hier zu bleiben und nichts zu tun ist auch keine Lösung. Wer weiß, was sonst noch passiert.“ Mallory wusste nicht, was sie dazu noch sagen sollte und mit gemischten Gefühlen sah sie die beiden an. Auf der einen Seite war sie unendlich dankbar und froh, dass sie ihr zur Seite stehen und ihr helfen wollten, aber andererseits hatte sie Angst, dass auch sie in Gefahr geraten könnten. Was, wenn Finnian wieder einen Anfall bekommen würde und ihm dieses Mal niemand helfen konnte? Und was, wenn Ilias sterben würde? Allein der Gedanke schnürte ihr die Brust zu und am liebsten hätte sie die Hilfe der beiden ausgeschlagen, nur um sicherzugehen, dass sie dann noch leben würden und es ihnen gut ging. Josephine und Anna bereiteten ihr bei weitem nicht so viele Probleme wie die furchtbare Angst davor, dass jeder sterben würde, der ihr etwas bedeutete und sie ganz alleine war. So wie damals, als sie gesehen hatte, wie all die Menschen in Dark Creek sterben mussten. Diese blutigen Szenen, die sie gesehen hatte, waren ihre verdrängten Erinnerungen gewesen an die Nacht, als unzählige Menschen in Dark Creek vor ihren Augen abgeschlachtet wurden. Sie wusste es, sie hatte es aber nicht wahrhaben wollen. Doch jetzt da sie wusste, dass Lewis so oder so hätte sterben müssen, hatte sie diese Erinnerung wohl oder übel akzeptiert, anstatt sie zu verdrängen. Sie hatte vor 17 Jahren ein furchtbares Blutbad miterlebt und nun musste sie herausfinden, wie es dazu kommen konnte und wieso man sie am Leben gelassen hatte. Und vor allem wollte sie wissen, was Josephine wusste und warum niemand Dark Creek verlassen konnte. Hing das alles etwa irgendwie zusammen? Es gab nur ein Weg, das herauszufinden und dazu musste sie in die Höhle des Löwen gehen. Zugegeben, sie hatte Angst vor dem Tod und auch vor ihren eigenen Erinnerungen, aber sie musste sich dem stellen, wenn sie einen Weg nach Hause finden wollte. „Ich… ich kann nicht verlangen, dass ihr euch meinetwegen in Gefahr begebt.“ Ihre Brust schnürte sich zusammen und in ihren Augen sammelten sich erneut Tränen. Sie versuchte sie zurückzuhalten und nicht zu weinen, aber es war kaum möglich. In diesem Moment fühlte sie sich wie ein hilfloses kleines Kind und sie hasste dieses Gefühl. Überhaupt hasste sie es, schwach zu sein und sich beschützen zu lassen, das war auch gar nicht ihre Art. Aber momentan war einfach alles zu viel. Lewis, mit dem sie sich die letzten Tage immer so viel unterhalten hatte und der ihr immer Halt gab, wenn sie ihn brauchte, war nicht mehr da. Sein Abschiedsbrief hatte offenbart, dass auch er sich hilflos fühlte und schwach war. Und Finnian war gefangen in seiner eigenen Welt und verdrängte mit aller Macht die Tatsache, dass sein über alles geliebter Bruder tot war und nur noch seine Leiche existierte. Und zwei übersinnlich begabte Mädchen wollten sie vertreiben und vielleicht sogar umbringen. Allmählich begann sie sich mit der Tatsache abzufinden, dass sie hier in Dark Creek höchstwahrscheinlich sterben würde. Wenn nicht eines natürlichen Todes, dann entweder durch Josephine oder Anna, oder indem sie selbst ihr Leid beendete, nachdem sie jahrelang hier gefangen war. Dieser Gedanke war schrecklich und hinterließ nichts anderes als unendliche Hoffnungslosigkeit in ihrem Herzen. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Nun verstand sie endlich, was Lewis gefühlt haben musste. Es war ihm genauso ergangen wie ihr jetzt. Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass er hier sterben würde, nur nicht wie und wann. Drei Jahre lang hatte er es vor Augen gehabt und nur deshalb so lange durchgehalten, weil er für Ilias, Dean und Finnian stark sein und ihnen helfen wollte. Sie brauchten ihn, das hatte er gewusst, deshalb konnte er diese Gedanken verdrängen. Aber dann war etwas geschehen, was ihn dazu bewegt hatte, sich selbst von diesem Elend zu befreien. Mallory Whitmore war nach Dark Creek gekommen, um mehr über ihre Vergangenheit herauszufinden. Sie begann Fragen zu stellen und das führte dazu, dass sich Lewis wieder an seine ganze Vergangenheit erinnerte und auch an seinen sehnlichsten Herzenswunsch und seine große Liebe Zane. Ich bin der Grund, warum er sterben musste, sagte ihre innere Stimme wieder und wieder und die Schuldgefühle fühlten sich wie bleischwere Ketten an ihrem Körper an. Nur meinetwegen ist er jetzt tot… ich habe ihn umgebracht… Ilias nahm sie in den Arm und kämpfte selbst mit den Emotionen. „Du musst das nicht tun, Mallory. Niemand von uns hat Schuld daran, dass Lewis Selbstmord begangen hat. Bitte überleg es dir noch mal.“ Als sie spürte, wie sehr er am ganzen Körper zitterte, musste sie sich an die Szene erinnern, als Finnian seinen Anfall bekam und Ilias ihm die Spritze mit dem Beruhigungsmittel geben musste. Er hatte panische Angst vor dem Versagen gehabt und nur dank Lewis hatte er diese Angst überwinden können. Ilias war im Grunde genauso wie er. Er setzte sich selbst enorm unter Druck, weil er sich selbst niemals Fehler erlaubte und furchtbare Angst davor hatte, welche zu begehen und eventuell jemanden in Gefahr zu bringen. Sicherlich machte er sich auch schreckliche Vorwürfe, dass er nicht rechtzeitig erkannt hatte, wie es in Lewis’ Herzen ausgesehen hatte und er ihn nicht retten konnte. Und nun, da Lewis nicht mehr da war und er somit die Verantwortung übernehmen musste, war er vollkommen überfordert. Mallory erwiderte seine Umarmung und beruhigte sich langsam wieder, dennoch blieben die Schuldgefühle, weil sie wusste, dass sie den Stein überhaupt ins Rollen gebracht hatte. „Tut mir Leid Ilias, aber es geht nicht anders. Ich will nicht für den Rest meines Lebens hier eingesperrt bleiben und nur auf den Tod warten. Vielleicht gelingt es mir, einen Weg zu finden, dass wir alle entkommen können. Hier zu bleiben ist doch auch keine Lösung. Egal was wir auch tun, solange wir nicht die Wahrheit kennen, werden wir hier für immer Gefangene sein.“ „Aber ich will nicht, dass noch irgendjemand sterben muss.“ „Das will ich doch auch nicht.“ Finnian betrachtete die Szene schweigend und hatte die behandschuhten Hände in die Hosentaschen gesteckt. Wegen der Maske war es unmöglich zu sehen, was ihm gerade durch den Kopf ging und er suchte auch nicht den näheren Kontakt zu den beiden. Diese waren gerade mit sich selbst beschäftigt und er würde diesen Augenblick nur stören. Außerdem konnte er es sowieso nicht über sich bringen, mit jemandem in solch einen Kontakt zu treten. Dean war die einzige Ausnahme überhaupt und das auch nur, weil er genauso alt war wie Keenan. In diesem Moment wirkte er irgendwie alleine und Mallory sah das. Aber als sie einen Annäherungsversuch machen wollte, hielt er sie sogleich auf Abstand und erklärte mit seiner typisch gut gelaunten und scherzhaften Art „Lass das lieber, sonst wird Ilias noch eifersüchtig.“ Aber in Wahrheit fühlte er sich genauso verloren und hilflos wie sein bester Freund. „Wie sollen wir am Besten vorgehen?“ fragte Ilias schließlich, nachdem er sich wieder von Mallory gelöst hatte. Diese erklärte „Wir müssen Dean unbedingt von den Zwillingen wegholen. Ich glaube zwar nicht, dass sie ihm etwas antun werden, aber wir können kein Risiko eingehen. Dann werde ich mir Josephine vorknöpfen und von ihr Antworten fordern. Sie soll mir endlich sagen, was damals in Dark Creek passiert ist und wieso sie uns alle hier gefangen hält. Wer weiß, vielleicht gibt sie ja freiwillig eine Antwort, wahrscheinlich wird sie mich aber auch ganz einfach umbringen. Wenn sie etwas in der Art versuchen sollte, habe ich immer noch die Beretta. Wer weiß, womöglich hilft die ja tatsächlich gegen sie.“ „Du willst sie erschießen?“ fragte Finnian entsetzt und wich einen Schritt zurück, auch Ilias sah geschockt aus, als er das hörte. Mallory versuchte, die beiden zu beruhigen. „Glaubt mir, eigentlich will ich das auch nicht. Aber sie ist für Lewis’ Tod mitverantwortlich, da bin ich mir ziemlich sicher. Diese schweren Verletzungen, die er hatte, kamen nicht von dem Sturz. Er war bereits auf dem Dach verwundet und hat geblutet. Außerdem habe ich gesehen, dass er am Vorabend starke Schmerzen hatte und die kamen sicherlich nicht von irgendwelchen Magenbeschwerden. Und ich hab selbst erlebt, wozu Josephine in der Lage ist. Damit ist nicht zu spaßen und ich will lieber nicht wissen, was da noch im Vergnügungspark auf uns lauern wird.“ Am liebsten hätte sie die beiden noch mal dazu bewegt, ihr lieber nicht zu folgen, aber sie wusste auch, dass die beiden genauso stur sein konnten wie sie selbst. „Wir sollten noch etwas warten und uns vorbereiten, bevor wir das Ganze überstürzen. Und wenn möglich, dann sollten wir uns noch einen Plan zurechtlegen, wie wir denn am Besten vorgehen.“ Mit einigem Widerwillen folgte Mallory ihnen wieder in die Pension zurück und spielte mit dem Gedanken, jetzt einfach in den Wagen zu steigen und zum Vergnügungspark zu fahren. Aber das machte auch keinen Sinn, Ilias war einfach zu schnell und hätte sie eingeholt, bevor sie überhaupt den Wagen starten konnte. Eigentlich sollte sie froh sein über die Hilfsbereitschaft der beiden, aber im Grunde erfüllte es sie einfach nur mit Angst. Sie hatte entsetzliche Angst davor, dass die beiden auch ihretwegen sterben könnten. Und sie hatte Angst, wieder diese schrecklichen Bilder sehen zu müssen. Während Finnian noch ein paar Dinge holen ging, die sie gut gebrauchen könnten, blieb Ilias bei Mallory, da er sie nur ungern alleine lassen wollte. Insgeheim befürchtete er auch, sie könnte kurzerhand die Flucht ergreifen und alleine zum Park gehen. Nach einigem Zögern nahm er ihre Hand in die seine und schaute sie mit seinen smaragdgrünen Augen an. Für einen Moment sah er so aus, als wolle er ihr etwas sagen, aber er tat es doch nicht und wich ihrem Blick wieder aus. Dann aber nahm er seinen ganzen Mut zusammen und atmete tief durch, bevor er ihr näher kam und sie küsste. Der Kuss war etwas zögerlich und unbeholfen, was wohl ein Anzeichen dafür sein konnte, dass es sein erstes Mal war, dass er ein Mädchen küsste. Für Mallory kam das alles sehr überraschend und plötzlich. Zwar hatte sie schon vorher gemerkt, dass er Gefühle für sie hatte und auch sie fand ihn süß, aber trotzdem war sie überrumpelt und konnte gar nicht darauf reagieren. Langsam löste er seine Lippen wieder von den ihren und umarmte sie. „Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst, das verspreche ich dir. Ich… ich werde dich und die anderen beschützen.“ Und Mallory, die von einem totalen Gefühlschaos beherrscht wurde, war nicht in der Lage, etwas darauf zu erwidern. In diesem Moment war ihr Kopf einfach nur leer und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Stattdessen gab sie sich einfach ihrem Bedürfnis hin, diese Umarmung zu erwidern. Für gewöhnlich war sie eine starke Frau und hatte schon viele Schwierigkeiten aus eigener Kraft meistern können, ohne sich von jemandem helfen zu lassen. Sie hatte es auch immer gehasst, sich beschützen zu lassen und selbst als schwaches Mädchen dazustehen. Aber dieser Selbstmord hatte sie völlig aus der Bahn geworfen, besonders weil er so viele Bilder in ihr wachrief, die sie gar nicht sehen wollte. Und in diesem Moment gestand sie sich auch ein, dass sie schwach war und selbst Halt brauchte. Waren es auch nicht ihre Worte am Vorabend gewesen, bevor Lewis starb? Jeder Mensch durfte mal schwach sein und sie war da keine Ausnahme. Und bei Ilias hatte sie das Gefühl, dass es durchaus in Ordnung war, wenn sie nicht mehr die starke und selbstbewusste Mallory Whitmore war, die vor gar nichts Angst hatte, sondern ganz einfach bloß Mallory, die auch mal Trost und eine starke Schulter brauchte. Dieses Gefühl hatte sie nicht mal bei ihrem ersten Freund gehabt. Vielleicht war diese Liebe, die sie für Ilias empfand eine gänzlich andere, eine viel intensivere. Sie schloss ihre Augen und spürte, wie dieses tosende Gefühlschaos langsam abebbte, zumindest für den Augenblick, wo er sie im Arm hielt und für sie stark war. Wann hatte sie das letzte Mal dieses vertraute Gefühl der Geborgenheit gehabt, außer bei ihren Pflegeeltern? Bei ihrer richtigen Familie? Vor ihrem geistigen Auge tauchte plötzlich eine neue Szene auf, eine gänzlich andere als die vorherigen, die nicht von Leichen und Menschen handelten, die in Panik davon liefen. Verschwommen sah sie den Teich, es war heller Sonnenschein und sie hörte, wie jemand ihren Namen rief. Ein kleines Mädchen kam auf sie zugeeilt und winkte ihr zu. Sie sah genauso aus wie sie, als sie noch klein war und trug ein blaues Kleid und dazu einen Sonnenhut mit Schleife. Aber wer war dieses Mädchen und woher kannte Mallory sie? Und warum sah sie ihr so ähnlich? Die Erkenntnis kam genauso plötzlich wie dieses Erinnerungsfragment und nun fiel es ihr wieder ein. Das war ihre Schwester, ja richtig! Sie hatte eine jüngere Zwillingsschwester namens Laura gehabt. Als sie sich wieder erinnerte, dass sie eine Schwester namens Laura hatte, krallten sich ihre Hände in Ilias’ Jacke und sie begann zu zittern. „Mallory, was… was ist mit dir?“ Sie löste sich augenblicklich von ihm und ihr wurde mit einem Male schlecht. Um sie herum drehte sich alles, woraufhin ihr schwindelig wurde. Wenn sie sich nicht setzte, würde sie noch ohnmächtig werden. Ilias brachte sie zu einem Stuhl und holte ihr ein Glas Wasser. „Alles in Ordnung? Du bist auf einmal ganz bleich geworden.“ „Ich hab mich gerade an etwas aus meiner Vergangenheit erinnert“, erklärte sie und nahm dankend das Glas Wasser entgegen, woraufhin sie einen Schluck trank. „Ich hatte eine jüngere Zwillingsschwester namens Laura. Wir haben zusammengehalten wie Pech und Schwefel und ich hab sie immer beschützt, weil sie immer so ängstlich und schüchtern war. Im Grunde war unsere Beziehung ähnlich wie die von Anna und Josephine. Aber dann ist etwas Schreckliches passiert und ich weiß nicht, wieso es dazu kam und wer dafür verantwortlich ist. Laura ist plötzlich verschwunden und dabei ereignete sich auch dieses Massaker in Dark Creek. Ich erinnere mich nur an kurze Szenen, als ich überall Tote liegen sah, Kinder liefen schreiend und weinend umher und Menschen starben. Überall flohen die Leute in Panik und fielen tot zu Boden. Ich weiß noch, dass ich in diesem Chaos nach irgendjemanden gesucht habe, aber alles was ich sah, waren sterbende Menschen.“ Ilias sah sie unsicher an, war geschockt über das, was sie da gerade erzählt hatte, aber zumindest verstand er nun, wieso sich Mallory an nichts erinnern konnte und wieso sie so heftig auf Blut reagierte. Es hatte mit ihrem Trauma zu tun. Sie hatte vor 17 Jahren ein schreckliches Blutbad miterleben müssen, bei dem wahrscheinlich auch ihre jüngere Schwester verschwand. Aber eine Frage stellte sich noch und diese sprach er schließlich laut aus. „Wie kam es dazu und was ist passiert, dass damals so viele Menschen gestorben sind?“ „Ich weiß es nicht. Alles, woran ich mich erinnere, ist der Anblick der vielen Toten und dass ich in dem Durcheinander jemanden gesucht habe. Wahrscheinlich meine Eltern oder Laura. Danach ist alles ganz verschwommen und wenig später hat man mich dann wohl auf der Landstraße aufgegriffen. Aber wenn ich so darüber nachdenke und an das, was Dean gesagt hat, ergibt sich langsam ein Bild. Josephine hat ihm gesagt, dass sie damals schlimme Dinge tun kann. Was ist, wenn sie für das Blutbad verantwortlich ist und nun versucht, es zu vertuschen?“ „Wieso sollte Josephine so etwas Furchtbares tun?“ „Eben das muss ich herausfinden. Irgendetwas ist damals passiert, weshalb sie all diese Menschen umgebracht hat. Und ebenso muss es einen Grund geben, wieso niemals davon etwas an die Öffentlichkeit gekommen ist und warum niemand von uns Dark Creek verlassen kann. Lewis hat die Antwort herausgefunden und er wollte, dass wir es auch aus eigener Kraft schaffen.“ Kapitel 10: Erinnerungen an glückliche Zeiten --------------------------------------------- Finnian kam schließlich mit einer Tasche zurück, in welcher er die wichtigsten Sachen verstaut hatte, die er finden konnte. Zur Ausrüstung gehörten drei Taschenlampen, ein Seil, ein Feuerzeug und zwei Fleischmesser aus der Küche. Dazu hatte er noch eine Brechstange auftreiben können, die sie wahrscheinlich noch brauchen könnten. „Wir müssen sicher mit allem rechnen, wenn es wirklich stimmt, dass Josephine und Anna übersinnlich begabt sind. Das Wichtigste wird erst einmal sein, Dean in Sicherheit zu bringen, bevor ihm noch etwas passiert. Ich weiß ja nicht, welche Geschütze Josephine auffahren wird, aber wenn sie tatsächlich vor 17 Jahren ein Blutbad in der Stadt angerichtet hat, könnte das nichts Gutes bedeuten. Und wenn du dabei gewesen bist, könnte die Kleine vielleicht auf den Trichter kommen, dich auch noch umzubringen. Deshalb habe ich folgende Idee: Ilias ist der Sportlichste von uns. Wenn wir auf Josephine treffen, wird er ein Ablenkungsmanöver starten, damit wir beide zu Anna gelangen und Dean abholen können. Gleichzeitig kannst du von Anna deine Antworten bekommen und dann verschwinden wir wieder. Mit etwas Glück kommen wir mit einem blauen Auge davon. Aber wir müssen uns darauf einstellen, dass jemand von uns es nicht schaffen könnte. Ilias, sollte ich derjenige sein, dann kümmere du dich bitte an meiner Stelle um Keenan.“ „Sag so etwas doch nicht! Wir werden es schon schaffen!“ „Bleib doch realistisch! Wir haben es mit einer Übermacht zu tun und was wir haben, sind Messer, eine einzige Pistole mit begrenzter Munition und eine Brechstange. Josephine beherrscht genauso wie Anna telekinetische Kräfte. Die werden sich wahrscheinlich totlachen und locker unsere eigenen Waffen gegen uns verwenden. Ich werde mein Möglichstes tun, um Mallory und Dean sicher wieder zurückzubringen, aber wir sollten uns trotzdem auf den schlimmsten Fall einstellen, dass wir dabei draufgehen könnten.“ Da hatte er leider nicht ganz Unrecht und obwohl sie es nicht gerne hörten, sprach er doch Tatsachen aus. Es brachte eben nichts, sich alles schön zu reden und naiv davon auszugehen, dass alles ein gutes Ende nehmen würde. Fakt war, dass sie selbst mit Waffen kaum bzw. gar keine Chance gegen die beiden Schwestern hatten. Im schlimmsten Fall würden ihre eigenen Waffen einfach gegen sie verwendet werden und dann konnte sie nur noch ein Wunder retten. Sie spielten ein äußerst riskantes Spiel und mussten auf ihre Stärken vertrauen. Ilias war das Sport-As unter ihnen, schneller als jeder andere in Dark Creek und vor allem hatte er die größte Ausdauer. Das gab ihm eine reelle Chance, sich eine Zeit lang gegen Josephine zu behaupten. Finnian kannte jeden Winkel von Dark Creek im Schlaf. Wenn sie es schaffen sollten, den Vergnügungspark lebend zu verlassen, dann würde er sicher ein gutes Versteck finden, wo sie alle erst mal in Sicherheit bleiben konnten. Und er würde sicher eine gute Fluchtroute kennen. Mallory war die Einzige, die gänzlich im Nachteil war. Sie kannte ihre alte Heimatstadt nicht mehr und war bei weitem nicht so durchtrainiert wie Ilias. Deshalb blieb Finnian auch bei ihr, um sie im Notfall zu beschützen, sollte Anna ihnen gefährlich werden. Insgeheim hatte sie aber dennoch Angst, dass sie alle sterben könnten. Aber es blieb ihnen keine andere Alternative, wenn sie Dark Creek endlich verlassen wollten. Instinktiv wanderte ihre Hand zu der Pistole in ihrer Handtasche und sogleich fühlte sie sich ein kleines bisschen sicherer. Sie wandte sich schließlich ihren Freunden zu. „Sollen wir losgehen?“ Um Zeit zu sparen, entschieden sie sich, den Wagen zu nehmen und mit diesem bis zum Vergnügungspark zu fahren. Sie fuhren einfach die Landstraße entlang, was an sich kein Problem darstellte, nur besaß der Park keine Straße dorthin und auch keinen Parkplatz. Sie mussten also den Rest des Weges über unebenen Boden fahren und die Fahrt war ziemlich holprig. Am Eingang des Parks hielten sie schließlich an und stiegen aus. Irgendetwas Düsteres lag über diesen Ort und Mallory bekam eine Gänsehaut. Es war so, als würde eine unheimliche Aura wie ein dichter und dennoch unsichtbarer Nebel hinter diesem Zaun liegen und das spürten auch Ilias und Finnian. Seltsam, dachte sie, als sie diese Angst bemerkte. Vorher hatte sie so etwas nicht verspürt, als sie mit Ilias das erste Mal hier war. Ob es daran lag, dass Josephine sie bereits erwarten könnte, oder weil Mallory die Zwillinge nun mit ganz anderen Augen betrachtete und wusste, wie gefährlich sie in Wirklichkeit waren? Was würde dort drin auf sie warten? Sie mussten wirklich mit allem rechnen. Nach einigem Zögern gingen sie zur Drehtür und kletterten kurzerhand drüber, da diese mit einer Kette versperrt war. Selbst für Mallory war das kein großes Problem und kaum, dass sie einen Fuß in den Park gesetzt hatten, spürten sie sofort, dass sich in diesem Moment irgendetwas regte. Als hätten sie mit ihrem Eindringen ein schlafendes Monster geweckt und jeder von ihnen bekam es mit der Angst zu tun. Ein verlassener Vergnügungspark, der zudem völlig heruntergekommen war, hatte an sich schon etwas Unheimliches an sich, aber nun wirkte er wie ein Teil eines Horrorspiels. Und sie wollten lieber nicht wissen, welche Schrecken vielleicht auf sie warten könnten. Mit einem Male herrschte Totenstille im Park und nicht einmal der Wind wehte mehr und selbst von den Krähen in der Umgebung war nichts mehr zu hören. Und eine seltsame Spannung lag in der Luft, als hätte sie sich elektrisch aufgeladen. Ilias war beunruhigt und sah sich um. „Ich habe echt ein mieses Gefühl bei der Sache.“ „Scheiße, ist das gruselig hier…“ Langsam gingen sie voran und erreichten die ersten Imbissbuden. Diese waren schon seit einer Ewigkeit verlassen und überall lag eine zentimeterdicke Staubschicht. Das Essen war bereits völlig verrottet und sie fanden auch hin und wieder einen toten Vogel. Mallory war es von Anfang an ein Rätsel gewesen, wieso sich die Zwillinge einen solchen Ort als Zuhause wählten, aber inzwischen konnte sie es schon verstehen. Dieser verlassene Park war ziemlich gruselig und außerdem gut abgeriegelt. Freiwillig ging hier kein Mensch hin, mit der Ausnahme von ihnen und Lewis und auch Dean, der ja oft Anna besuchen ging. Aber wieso gab es hier überhaupt einen Vergnügungspark? Dark Creek war eine ländliche Kleinstadt, da war so etwas doch pure Geldverschwendung. Es war ein Wunder, dass dieser Ort überhaupt das Geld oder einen Sponsoren für diese Schnapsidee gehabt hatte. Auch die anderen Buden hatten schon mal bessere Zeiten gesehen, ebenso wie das Karussell, welches sie als erstes erreichten. Dieses war nicht gerade das, was man als modern bezeichnen konnte, sondern wirkte etwas altmodisch mit seinen hölzernen Pferdchen. Aber gleichzeitig hatte es etwas sehr Nostalgisches an sich. Zumindest war es mal so gewesen, als es noch in Betrieb gewesen war und nicht so ausgesehen hatte wie jetzt. Die Pferdchen waren teilweise zerstört, die Farbe blätterte ab und einem schwarzen Pferd hatte man sogar den Kopf abgeschlagen. Anderen fehlte teilweise ein Bein und die Stangen waren verrostet. Das Holz war zerkratzt und einem weißen Pferdchen hatte man die Augen beschmiert. Insgeheim tat es Mallory in der Seele weh, dieses Karussell in solch einem erbärmlichen Zustand vorzufinden, denn als Kind hatte sie es geliebt, auf einem dieser Holzpferde zu sitzen. Edna hatte so etwas immer langweilig gefunden und wollte stattdessen immer auf die Achterbahn. Bis heute liebte Mallory diese nostalgischen Karussells. Aber dieses war nicht das einzige Fahrgeschäft, das schon fast bemitleidenswert aussah. Nicht weit entfernt gab es eines dieser berühmten Teetassenkarussells, aber auch dort war alles demoliert, durch schwere Witterungen zerstört und verrostet. Ein metallisches Klicken ertönte und Musik wurde gespielt. Mallory bekam fast einen Herzstillstand vor Schreck, als sich plötzlich das Pferdekarussell in Bewegung setzte. Ilias erschrak genauso und stellte sich sofort schützend vor sie, da er zunächst glaubte, es würde gleich ein Angriff folgen, aber dergleichen kam nicht. Stattdessen drehte sich das Karussell einfach. Finnian ging hin und sah sich das Ganze näher an. „Da ist niemand“, rief er, als er die Schaltanlage erreichte. „Offenbar hat sich das Ding von alleine in Gang gesetzt, oder es lässt sich per Fernschalter starten!“ „Anscheinend wollen die Zwillinge uns Willkommen heißen“, murmelte Mallory und ging nun selbst näher. Ilias versuchte noch, sie festzuhalten, aber sie war schon außer Reichweite. Sie beobachtete, wie das Karussell sich langsam drehte und wie die bunten Lichter leuchteten. Und die Musik, die gespielt wurde, kam ihr auch so seltsam vertraut vor. Es war die Melodie „Twinkle, twinkle, little star“ und nun erinnerte sie sich auch wieder, warum ihr das alles so vertraut vorkam: Laura hatte eine Spieluhr besessen. Eine kleine Box, die sich öffnen ließ und dann ein Miniatur-Pferdekarussell erscheinen ließ, das sich zu dieser Melodie drehte. Laura hatte diese Spieluhr geliebt und sie überall hin mitgenommen und immer zu der Melodie gesungen. Mallory wich einige Schritte zurück und musste ein wenig ihre Fantasie anstrengen, aber dieses Karussell sah tatsächlich haargenau so aus wie die Spieluhr von Laura, nur war es völlig heruntergekommen und beschädigt. Sie beobachtete, wie es sich drehte und glaubte für einen Moment, ihre jüngere Schwester Laura auf einem der Pferde sitzen zu sehen und wie sie ihr fröhlich zuwinkte. In diesem Moment überkam sie eine entsetzliche Angst. Sie wollte nur noch weg von dem Karussell und es so schnell wie möglich hinter sich lassen. Also ergriff sie Ilias’ Arm und eilte weiter. „Mallory, was ist los mit dir?“ Doch sie konnte keine Antwort geben, denn sie verstand selbst nicht genau, warum sie so eine furchtbare Angst hatte. Das Karussell war jedenfalls nicht der Grund, ebenso wenig die Melodie. War es Laura selbst, vor der sie Angst hatte oder die Erinnerung an ihre Schwester? Sie ließen das Karussell hinter sich und erreichten schließlich ein Haus, das irgendwie deplatziert wirkte und nach einem gemütlichen Einfamilienhaus wie aus dem Forrest Gump Film aussah. Wahrscheinlich ein Restaurant oder so. Mallory und Ilias wollten schon weitergehen, doch Finnian ging einfach darauf zu und schaute zum Fenster hinein. „Finny, was ist los?“ rief sein bester Freund zu ihm rüber, ging aber nicht näher hin, da er instinktiv eine Gefahr vermutete. Aber er erhielt keine Antwort, stattdessen ging Finnian einfach zur Tür hin und sah sich das Schild über der Klingel an. „Ich glaube das nicht“, sagte er nach einer Weile und wandte sich an die anderen. „Hier steht Lewis’ Name drauf!“ Nun kamen auch die anderen näher und sahen sich das Ganze genauer an. Und tatsächlich stand auf dem Schild „Greenleaves & Donovan“ Aber was hatte das zu bedeuten? Wieso stand da Lewis’ Name und der seines Lebensgefährten auf dem Schild? Irgendwie war dieser Vergnügungspark seltsam. „Ich glaube, wir sollten besser weitergehen.“ Doch Finnian hörte gar nicht, was Mallory sagte, sondern öffnete die Tür und trat ein. „Was zum Teufel hat er bloß vor?“ fragte Ilias und gemeinsam folgten sie ihrem Freund. Wie sich herausstellte, spiegelte das Innere des Hauses genau das wieder, was Mallory in Lewis’ Zimmer gesehen hatte: Blumen, bunte Dekorationen und hübsche Teelichter. Alles war so liebevoll eingerichtet und so voller Leben, ganz im Gegensatz zum Rest des Vergnügungsparks. An den Wänden hingen Fotos von Lewis und einem etwas ernst drein schauenden Mann mit kurz geschnittenem schwarzen Haar, Kinnbart und mehreren Piercings im Gesicht. Sein Hals als auch seine Arme waren tätowiert und irgendwie passte er so gar nicht in dieses Haus und besonders nicht an Lewis’ Seite. Ilias nahm eines der Bilder, welches auf der Kommode stand und betrachtete es genauer. Auf diesem lachte Lewis glücklich in die Kamera und umarmte den Tätowierten, wobei er ihm scherzhaft in die Wange kniff. Und auch dieser sah sehr glücklich aus, während er Lewis im Arm hielt. „Das müssen Fotos aus Lewis’ Vergangenheit sein.“ „Dann ist das wohl sein Lebensgefährte Zane.“ „Sie sehen wirklich sehr glücklich aus…“ Mallorys Brust schnürte sich zusammen, als sie an die traurigen Worte in Lewis’ Abschiedsbrief dachte. Lewis hatte erzählt gehabt, dass Zane nicht gerade der Vorzeigeschwiegersohn war und an der High School drei Mädchen geschwängert hatte. Er und Lewis waren zwei grundverschiedene Menschen gewesen. Lewis ein sensibler und einfühlsamer Mensch mit Liebe zur Schriftstellerei und Zane ein tätowierter und gepiercter DJ, der sicherlich der starke Mann in der Beziehung war. Aber andererseits mussten sie auch wirklich gut zusammengepasst haben, wenn man sich Lewis’ Charakter anschaute. Er versuchte immer, für alles und jeden stark zu sein und er hatte unglaublich viele Kämpfe bestreiten müssen. Seien es seine schwulenfeindlichen und lieblosen Eltern, das Studium, die Intoleranz seiner Mitmenschen oder die Medikamentensucht. Lewis war trotz seines sensiblen Charakters ein Kämpfer, der aber auch schnell an seine Grenzen stoßen konnte. Und dann brauchte er selbst jemanden und Zane schien ein Mensch zu sein, der ein ganz anderes Selbstbewusstsein und eine viel größere mentale Stärke besaß als Lewis, der selbst unter Komplexen litt und sich oft selbst nicht lieben konnte. Und so wie Zane auf diesem Foto aussah, schien er auch an Lewis’ Seite glücklich zu sein. Aber was war nur passiert, dass dieses Paar auseinandergerissen wurde? Nein, viel wichtiger war doch die Frage, wieso es hier Fotos von Lewis und Zane gab. Mallory sah sich in den anderen Räumen um und entdeckte im Wohnzimmer auf einem Tisch mehrere Seiten verstreut liegen und daneben war eine Schreibmaschine. Es war genau die gleiche wie auf der Dachterrasse. Offenbar hatte Lewis hier seine Romane geschrieben. Sie nahm ein paar der Seiten und überflog sie kurz. Es waren tatsächlich Liebesgeschichten und als Pseudonym hatte sich Lewis den Namen „Jessica Wyatt“ zugelegt. Offenbar war er der Meinung gewesen, dass man lieber Liebesromane von Frauen lesen würde. Dieser Roman trug den Titel „Suche (k)einen Mann fürs Leben“ und fasste gut 300 Seiten. Den Titel und diesen Namen kannte sie doch. Es war das Lieblingsbuch ihrer Pflegemutter gewesen, die ein absolut großer Fan von Jessica Wyatt war und dieses Buch war ein absoluter Bestseller, genauso wie all ihre anderen Bücher. Jessica Wyatt war als große Newcomer-Autorin gefeiert worden und ihre Bücher verkauften sich wie heiße Semmeln. Unfassbar, dass Lewis hinter diesem Namen steckte. „Ich glaub es nicht“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Ausgerechnet Lewis steckt hinter der größten Lieblingsautorin meiner Mutter.“ Vorsichtig legte sie die Seiten wieder zurück, als handle es sich um ein sehr wertvolles Erinnerungsstück und sah sich den Rest des Wohnzimmers an. Es war sehr hell und gemütlich eingerichtet und an den Wänden hingen Bilder von weißen Sandstränden und Leuchttürmen. Schließlich sahen sie sich noch die anderen Zimmer an. Irgendwie wirkte dieses Haus so, als wäre noch vor kurzem jemand hier gewesen und hätte dort gelebt. An der Kühlschranktür hingen sogar noch einige Zettel, darunter auch Einkaufslisten. Der Küchentisch war für eine Person gedeckt und eine rote Rose lag auf dem Teller, zusätzlich zu einer kleinen Nachricht. „Guten Morgen, Schlafmütze. Ich bin auf dem Weg zum Verlag und komme spätestens gegen Mittag wieder. Hab schon mal den Sekt für nachher kaltgestellt. Tausend Küsse – Lewis.“ Langsam wurde Mallory die ganze Sache unheimlich. War das etwa die Nachricht, die Lewis seinem Lebensgefährten hinterlassen hatte, bevor sich dieser Unfall auf dem Weg zum Verlag ereignet hatte? Was hatte das alles bloß zu bedeuten? Konnte es etwa tatsächlich sein, dass Lewis’ verlorene Erinnerungen alle in diesem Haus waren und er vor seinem Tode hier gewesen war? Auch Ilias schien dieser Gedanke zu kommen und er wandte sich fragend an die anderen. „Wollen wir uns noch hier umsehen, oder lieber weitergehen?“ „Ich würde schon gerne herausfinden, was nach dem Zugunglück passiert ist.“ Sie gingen ins obere Stockwerk und fanden sowohl ein gemeinsames Schlafzimmer, als auch eigene Privaträume. Das Zimmer von Zane war schalldicht, da er gerne Schlagzeug zu spielen schien und außerdem lagen überall Posters von Rockbands herum, zudem ein komplettes DJ-Equipment. Lewis’ Zimmer hingegen war das komplette Gegenteil von Zanes’ Zimmer. Es war ein klein wenig kitschig und mit weißen Möbeln eingerichtet. Neben Blumen gab es sehr viele Stofftiere. Offenbar auch eine kleine Leidenschaft von Lewis. Jeder von ihnen hatte ein eigenes Hobbyzimmer gehabt, damit sie sich mit ihren völlig verschiedenen Interessen nicht in den Weg kamen und es somit vielleicht Konflikte gegeben hätte. Schließlich aber gab es noch einen Raum, der das Interesse der drei erweckte, da dieser als einziger abgeschlossen war. „Wieso ist die Tür abgeschlossen?“ „Wahrscheinlich weil dahinter etwas liegt, was er nicht erfahren durfte…“ Dann konnte dahinter also die Antwort liegen, wie man aus Dark Creek entkam? Diese Chance wollte Mallory nicht ungenutzt lassen und so schnappte sie sich die Brechstange und versuchte ein paar Male, die Tür aufzubekommen, allerdings fehlte ihr die nötige Kraft dazu. Also überließ sie Ilias die Arbeit, der die Tür mit ein paar gezielten Griffen öffnen konnte. Der Raum dahinter sah irgendwie ganz anders aus als die anderen und eine seltsame Atmosphäre herrschte da drin. Es sah aus wie der Operationsraum eines Krankenhauses und sie hörten das rhythmische Piepen eines EKGs. Der OP-Tisch in der Mitte des Raumes war leer, aber an den Wänden hingen mehrere Röntgenbilder und Auswertungen von CTs. Auch Fotos von verschiedenen Personen hingen an den Wänden, die mit Namen versehen waren. Ilias, der als Einziger von ihnen ein Medizinstudium hatte, konnte etwas mit diesen Bildern anfangen. Eine Weile betrachtete er die Aufnahmen und dachte nach. „Und?“ fragte Finnian etwas ungeduldig. „Was bedeuten diese Aufnahmen?“ „Die Beine sind anscheinend mehrfach gebrochen und so wie es aussieht, liegen auch innere Blutungen vor. Aber… ich verstehe nicht so ganz, was diese Bilder mit Lewis zu tun haben.“ „Er hat doch in seinem Abschiedsbrief geschrieben, dass er in ein Zugunglück verwickelt war“, erklärte Mallory. „Es ist höchstwahrscheinlich, dass er sich dabei schwer verletzt hat.“ „Das wäre eine Erklärung, aber warum hatte er diese Verletzungen, als er von der Dachterrasse gestürzt ist?“ Da war auch sie überfragt und sie wunderte sich, wieso Fotos von verschiedenen Personen an der Wand hingen. Eines davon zeigte ein kleines blasses Mädchen mit aschblondem Haar. Darunter stand der Name „Desiree Portland“. Daneben befand sich das Foto eines jungen Mannes namens „Toby Myers“ und die anderen zeigten Männer und Frauen Mitte 30. Insgesamt sieben Fotos hingen dort und keiner hatte den Nachnamen Greenleaves oder Donovan. Ob es vielleicht Personen waren, die bei diesem Zugunglück ums Leben gekommen waren? Aber was war mit Lewis selbst passiert? Irgendwie beschlich Mallory das Gefühl, als würde da etwas fehlen. Irgendetwas Entscheidendes, was Lewis nach dem Zugunglück erlebt hat und wie er nach Dark Creek kam. Sie überlegte noch eine Weile, da unterbrach Finnian die Stille. „Ist es euch nicht auch ein wenig verdächtig vorgekommen, dass die Tür abgeschlossen war?“ „Wieso?“ „Lewis muss doch auch hier reingekommen sein. Wieso sollte er dann die Tür abschließen?“ Jetzt wo Finnian es sagte, fiel es Mallory auch auf. Alle Zimmer in diesem Haus waren offen aber dieses war das einzige, welches abgeschlossen war. Und es machte doch keinen Sinn, wenn Lewis es abschließen würde. „Vermutlich waren das die Zwillinge, kurz nachdem Lewis hier gewesen war. Ich glaube, sie haben hier irgendetwas aus dem Raum entfernt, was wir nicht sehen sollten. Wahrscheinlich wussten sie, dass ich trotz allem irgendwann hierher kommen würde und die Tür mich auch nicht abhalten wird. Deshalb gingen sie auf Nummer sicher und nahmen noch einige Dinge mit, die vielleicht die Wahrheit verraten könnten.“ „Und was für Dinge?“ „Lewis war doch bei einem Zugunglück dabei. Vielleicht existieren ja Zeitungsartikel darüber und die könnten Aufschluss geben, warum er nach Dark Creek kam und wieso er sich nicht mehr an Zane erinnern konnte. Josephine und Anna wollen mit aller Macht verhindern, dass sonst noch jemand die Wahrheit erfährt. Ich glaube, wir sollten besser gehen. Hier werden wir ganz sicher nichts finden.“ Sie verließen das Zimmer und schlossen die Tür. Insgeheim war Mallory froh, wieder draußen zu sein, denn in diesem Raum herrschte eine sehr bedrückende Atmosphäre. Erleichtert atmete sie durch und ging zur Treppe, die ins Erdgeschoss führte, da sah sie ein gelb leuchtendes Augenpaar, das sie anstarrte. Es gehörte einer schwarzen Katze, die eine rote Schleife mit einem goldenen Glöckchen um den Hals trug und an ihrer linken Vorderpfote drei goldene Ringe hatte. Auch Finnian sah das Tier und wandte sich fragend an seinen besten Freund. „Ist das nicht der Kater von Josephine?“ „Ich glaub schon. Amducias trägt als Erkennungszeichen immer diese Schleife und die drei Ringe.“ „Shit, dann wissen die also bereits, dass wir hier sind?“ „Die haben es schon gewusst, bevor wir überhaupt den Plan gefasst hatten“, erklärte Mallory und ihr Blick nahm etwas Ernstes an. Wenn sie richtig lag, dann hatten Anna und Josephine spätestens seit Lewis’ Besuch gewusst, dass es früher oder später so kommen würde. Deshalb hatten sie vorgesorgt und alles aus diesem Raum entfernt, was Aufschluss geben könnte, wieso Lewis nach Dark Creek gekommen war. Aber wahrscheinlich würde es noch nicht alles sein. Die beiden würden sich sicherlich noch etwas einfallen lassen, um die unerwünschten Besucher wieder zu verjagen. „Wir müssen mit allem rechnen. Also passt bloß auf!“ „Dasselbe gilt aber auch für dich!“ Da sie mit allem rechnen mussten, ging Ilias vor und hielt die Brechstange bereit. Er war fest entschlossen, seine Freunde um jeden Preis zu beschützen und nicht zuzulassen, dass einer von ihnen sterben musste. Sie gingen wieder zurück ins Erdgeschoss und sahen, wie Amducias durch die offen stehende Haustür nach draußen huschte. „Irgendwie habe ich ein echt ungutes Gefühl.“ Ein eisiger Schauer fuhr Mallory über den Rücken und mit einem Male bekam sie Angst. Sie spürte, dass jemand außer ihnen noch im Haus war und dass sie besser schnellstmöglich verschwinden sollten, bevor es noch gefährlich werden könnte. Das Erscheinen von Amducias war sicherlich kein Zufall gewesen und nun wusste Josephine mit Sicherheit, wo sie waren. Sofort ergriff sie die Beretta in ihrer Handtasche, als sie plötzlich das Geräusch schwerer Schritte aus dem Wohnzimmer hören konnte. Ilias hielt die Brechstange bereit und stellte sich schützend vor seine Freunde. „Scheiße, die Zwillinge sind also doch hier.“ „Nein, das klingt nach schweren Stiefeln, ich glaube nicht, dass das von einem Kind kommt.“ Langsam kamen sie näher und Mallory hob die Pistole, bereit sofort zu schießen, wenn der Unbekannte bewaffnet war. Langsam ging sie rückwärts, die Tür zum Wohnzimmer im Auge behaltend. Sie entsicherte nun die Waffe und atmete tief durch. Das Schießen hatte sie schon mehr als genug geübt gehabt, Richard hatte ihr das oft genug gezeigt und sie immer gewarnt, dass sie immer ruhig bleiben sollte, wenn sie eine Schusswaffe in der Hand hielt. Wer unvorsichtig war, konnte sehr schnell einen Unschuldigen verletzen. Wieder spürte sie einen brennenden Stich in ihrer Schläfe und in ihrem Kopf begann es zu dröhnen. Verdammt, ausgerechnet jetzt bekam sie wieder Kopfschmerzen. Warum nur musste so etwas in den ungünstigsten Momenten kommen? Die Schritte kamen näher und Mallory versuchte, sich weiterhin zu konzentrieren und zielte genau auf die Tür. Sie hatte freie Bahn und wenn irgendjemand plötzlich durch die Tür kommen und sie angreifen sollte, dann würde sie schneller sein. Doch dann spürte sie plötzlich einen leichten Windzug in ihrem Nacken und eine eiskalte Hand legte sich auf ihre Schulter. Etwas kam ganz dicht an ihr Ohr und flüsterte „Mallory…“ Kapitel 11: Konfrontation mit der Angst --------------------------------------- Mallory war vor Angst erstarrt, als sie plötzlich diese Hand spürte, die noch kälter als Eis zu sein schien. Jemand oder etwas stand ganz dicht hinter ihr, sodass sie sogar seinen Atem im Nacken spüren konnte. Sie brachte in diesem Moment nicht einmal einen Schrei zustande. Ihre Hände zitterten heftig und innerlich schrie ihre Stimme verzweifelt danach, laut um Hilfe zu rufen, oder sich einfach umzudrehen. Aber sie konnte es in diesem Moment einfach nicht. Sie hatte vollständig die Kontrolle über ihren Körper verloren. Finnian, der wohl auch merkte, dass etwas nicht stimmte, wandte sich ihr zu und sah, was sich hinter ihr befand. „Mallory!“ rief er und in dem Moment war seine Angst um sie größer als seine Furcht vor Körperkontakt. Er ergriff ihre Hand und zog sie weg und als sie sah, wer da gerade noch hinter ihr gestanden hatte, glaubte sie, den Verstand zu verlieren. Eine Frau mit langem schwarzen Haar und leichenblasser Haut stand da und war vollkommen blutüberströmt. Das komplette Gesicht fehlte, stattdessen fand sie oberhalb des intakten Unterkiefers nur eine widerliche Mischung aus Blut, Fleisch, Knochensplittern und Hirnmasse. Entsetzt schrie Mallory auf und klammerte sich an Finnian fest und selbst Ilias war zu geschockt über diesen monströsen Anblick, als dass er mit der Brechstange hätte angreifen können. Just in dem Moment wurde die Tür zum Wohnzimmer aufgestoßen und ein leicht untersetzter Mann mit Dreitagebart und einer starken Fahne kam auf sie zu. In der einen Hand hielt er einen Nietengürtel und in der anderen eine zerbrochene Bierflasche. Er kam direkt auf Finnian zu und rief mit einem starken irischen Akzent „Da bist du endlich du verdammter Bengel. Komm sofort her, oder ich muss davon wieder Gebrauch machen. Willst du, dass ich wieder wütend werde?“ Finnian schrie in nackter Todesangst, als er den Mann sah und wich zurück, wobei er die Arme hob, um sein Gesicht zu verstecken. „Na los! Komm endlich her, oder soll ich erst deutlicher werden?“ „Nein, lass mich in Ruhe! Verschwinde!!!“ Der Mann erhob seinen Arm und schlug mit dem Nietengürtel zu. Die Schnalle traf Finnians Arm und dieser schrie vor Schmerz auf. Doch das brachte den Säufer noch mehr in Rage und er warf die Bierflasche nach ihm. Sie traf ihn dieses Mal direkt im Gesicht und zerbrach seine Maske. Benommen von dem Schlag taumelte Finnian weiter zurück und konnte nicht rechtzeitig reagieren, als der Mann ihn wieder mit dem Nietengürtel schlug und ihn dieses Mal an der Brust traf. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerz und er versuchte, einen weiteren Schrei zu unterdrücken. Als ein weiterer Hieb ihn direkt gegen die Stirn traf, stöhnte er auf und sank zu Boden. „Hör auf zu winseln, du Flasche. Und jetzt will ich, dass du aufstehst und die Hände an die Wand legst, das Gesicht zur Wand!“ „Nein, bitte… ich will das nicht…“ Obwohl Finnian kräftemäßig eine reelle Chance gegen diesen Mann hatte, war er nicht imstande, sich gegen ihn zu wehren. Die Angst beherrschte ihn vollständig und in dem Moment wirkte er wie ein kleines Kind, das vom cholerischen Vater verprügelt wurde. Der Säufer zerrte ihn hoch, riss ihm die Mütze vom Kopf, packte ihn an den Haaren und stieß seinen Kopf gegen die Wand. „Wenn du es nicht machst, dann werde ich es tun.“ „Nein, bitte hör auf…“ Ilias vergaß für einen Moment die monströse gesichtslose Frau und schlug dem Angreifer seines besten Freundes die Brechstange gegen den Hinterkopf. Doch statt Blut spritzte eine vollkommen pechschwarze Flüssigkeit, die so schwarz war, dass sie sogar das Licht zu absorbieren schien. Bewusstlos oder vielleicht auch tot brach der Mann zusammen, wobei er Finnian losließ. Mallory ihrerseits hob ihre Waffe und schoss der gesichtslosen Frau in die Brust und konnte sie somit außer Gefecht setzen. „Schnell, wir müssen hier weg!!!“ rief sie den anderen zu und ergriff Ilias’ Arm. Dieser steckte die Brechstange wieder ein, damit er seine andere Hand frei hatte, um Finnian zu fassen zu bekommen. Er zog ihn mit sich, als sie fluchtartig das Haus verließen und die Straße entlang eilten, bis sie weit genug weg waren, um kurz in einer kleinen Seitengasse zu verschnaufen und sich zu sammeln. Kaum, dass sie stehen blieben, sank Finnian zu Boden und kauerte da wie ein kleines Häufchen Elend, während er am ganzen Körper zitterte und das Gesicht in den Händen verbarg. Auch Mallory stand völlig neben sich und konnte nicht fassen, was da gerade passiert war. Was um Gottes Willen war das bloß für eine Kreatur gewesen, deren Gesicht bloß noch aus Fleisch, Knochensplittern und Hirnmasse bestand? Als dieses entsetzliche Bild wieder vor ihr auftauchte, begann ihr Magen zu rebellieren und sie konnte es dieses Mal nicht mehr zurückhalten. Unter Krämpfen erbrach sie sich und stützte sich dabei an der Wand ab. Der Schmerz in ihrem Kopf begann zu pulsieren und gegen ihre Schläfe zu drücken. Nur mir Mühe konnte sie einen weiteren Brechreiz unterdrücken und dieses furchtbare Bild aus ihrem Kopf verbannen. Aus ihrer Handtasche holte sie eine angebrochene Flasche Wasser und trank einen Schluck, um den säuerlichen Geschmack wieder loszuwerden. Ilias legte einen Arm um ihre Schulter. „Geht es wieder?“ „Ich glaub schon“, murmelte sie etwas benommen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Scheiße, was zur Hölle war das bloß für ein Monster?“ „Vermutlich Josephines letzte Warnung an uns. Sie will uns mit aller Macht wieder vertreiben und schreckt offenbar vor gar nichts mehr zurück.“ Mallory wandte sich an Finnian, der immer noch auf dem Boden kauerte und sich so klein gemacht hatte, dass er tatsächlich wie ein kleines Kind wirkte. Er war völlig aufgelöst und durcheinander. Sie kniete sich neben ihm hin und versuchte, ihn anzusprechen. So wie er sich verhielt und wie der Mann vorhin gesprochen hatte, ahnte sie, warum er so verstört war. Dieser Mann musste sein Vater gewesen sein. Und sie erinnerte sich wieder, was sie alles aus seiner düsteren Vergangenheit erfahren hatte. Finnian war vor seiner Ankunft in Dark Creek mehrmals schwer misshandelt worden, das hatte Lewis ihr am Abend nach dessen Anfall erzählt. Sein ganzer Körper war von Narben, alten Brandwunden und blauen Flecken gezeichnet. Narben von Verbrennungen durch Zigaretten und einem Bügeleisen, außerdem von Striemen an seinem Rücken und eine Narbe an seinem Hals, die von einer alten Schnittwunde herrührte. Immer wenn er von seinem betrunkenen Vater vergewaltigt worden war, hatte er sich die Hände blutig gebissen, um diese Tortur irgendwie ertragen zu können. Er hatte mit seinem kleinen Bruder Keenan jahrelang in der Hölle gelebt, bis es schließlich zu einer Tragödie kam. Keenan, der der einzige Halt für Finnian war, starb und das konnte sein großer Bruder nicht verkraften. Der einzige Lichtschimmer in seiner inneren Finsternis war verschwunden und das hatte ihn gebrochen. Daraufhin war er mit der Leiche seines kleinen Bruders nach Dark Creek gekommen und wurde ein Gefangener in seiner eigenen Welt, in der Keenan noch lebte und gesund war. Doch obwohl er die schrecklichen Erinnerungen an den Tod seines Bruders, an die jahrelange Misshandlung und die unzähligen Vergewaltigungen verdrängt hatte, waren doch Narben geblieben. Sowohl körperliche als auch seelische. Seitdem versteckte er seinen Körper vor anderen und trug eine Maske, weil er sich dafür schämte, dass er vergewaltigt worden war. Und er konnte auch deswegen niemals einem anderen in die Augen sehen, da er Angst hatte, dass man sehen konnte, wie es hinter seinem ausgelassenen Lachen und seiner fröhlichen Art wirklich aussah. Und er wollte auch nie wieder von jemandem angefasst werden, deshalb hielt er seine Mitmenschen auf Abstand und verstrickte sich in unzählige Lügengeschichten, die er schließlich selbst zu glauben begann, um sich vor der Wahrheit zu schützen. Acht Monate lang ging das gut, doch nun war er mit seinem größten Alptraum konfrontiert worden. Sein Vater war wieder da und damit begann der ganze Terror noch mal für ihn. Das musste für ihn wirklich die Hölle sein. Mallory hätte ihn nur zu gerne getröstet, aber sie wusste, dass sie es nur schlimmer machte, wenn sie ihm zu nahe kam. „Finny, wir werden nicht zulassen, dass er dir je wieder etwas antut. Das versprechen wir dir. Wenn er dir nur ein einziges Mal zu nahe kommt, bringe ich ihn um!“ „Wir sollten ihn nach Hause bringen und die Sache besser abbrechen, das schafft er nicht. Das ist einfach zu viel für ihn.“ Doch Mallory verfolgte ihre eigenen Gedanken. „Genau das haben die Zwillinge bezweckt. Sie fahren schweres Geschütz auf, nur um uns von hier zu verjagen. Dabei schrecken sie nicht mal davor zurück, Finny mit seinem Vater zu konfrontieren. Ich will lieber nicht wissen, was da noch kommen könnte.“ „Deshalb sollten wir besser gehen.“ „Nein, ich gehe ganz sicher nicht. Das ist es doch, was die Zwillinge wollen! Sie wollen uns Angst einjagen und uns dazu bewegen, von hier zu verschwinden. Lewis hat es auch geschafft, also können wir es theoretisch auch. Allerdings kann ich nicht von Finny verlangen, dass er sich das alles antut, das sehe ich ja auch ein. Du kannst ihn gerne nach Hause bringen, aber ich bleibe hier.“ „Ich verstehe dich einfach nicht“, rief Ilias plötzlich und erschrocken über diese heftige Reaktion zuckte Mallory zusammen. Er war bisher noch nie laut geworden, aber diese Begegnung mit Finnians Vater und dieser monströsen Frau und die Geschehnisse der letzten Zeit waren endgültig zu viel und seine Hilflosigkeit wurde zur Aggression. „Nach alledem, was vorgefallen ist, willst du immer noch dieses Risiko eingehen? Was soll denn bitteschön noch passieren, bis du endlich aufhörst?“ „Glaubst du etwa, das macht mir Spaß?“ entgegnete nun Mallory in einem lauten Tonfall und stand auf, um ihm direkt ins Gesicht zu sehen. Auch sie war wütend, allerdings nicht auf ihn, sondern einfach auf die ganze Situation, in welche man sie alle gebracht hatte. „Ich würde am liebsten auch einfach abhauen und die ganze Sache vergessen, aber das bringt doch alles nichts. Ich will nicht so enden wie Lewis und vom Dach springen, weil ich nicht mehr weiter weiß und noch verrückt werde, weil ich hier festsitze. Lewis hat es ganz klar zum Ausdruck gebracht: Niemand von uns wird jemals frei sein, solange wir vor der Wahrheit davonlaufen. Er hat seinen Ängsten ins Auge gesehen und ich will es auch tun, weil ich nach Hause zu meiner Familie will. Und ich will herausfinden, was mit meiner leiblichen Familie passiert ist, was aus Laura geworden ist und wieso Josephine damals dieses Massaker angerichtet hat. Okay, ich habe Angst, verdammt große Angst sogar. Jedes Mal, wenn ich diese schrecklichen Bilder sehe, bekomme ich Panik und entsetzliche Kopfschmerzen und am liebsten würde ich nur davonlaufen. Aber das wird keinem von uns etwas nützen. Wir müssen uns endlich unseren Ängsten stellen und die Wahrheit akzeptieren. Das hat auch Lewis von uns gewollt!“ Diese Worte hatten gesessen und nun wich auch Ilias’ Wut wieder und traurig wandte er den Blick von ihr ab. „Entschuldige, ich wollte dich nicht anschreien. Ich weiß ja, dass es auch für dich nicht leicht ist. Aber ich habe Angst um dich und die anderen. Ich könnte es nicht ertragen, nach Lewis auch noch euch zu verlieren.“ Ihn so zu sehen, ließ auch Mallory ihre Wut wieder schwinden und sie umarmte ihn. Er wollte sie genauso beschützen, wie sie ihn und Finnian und Dean beschützen wollte. Sie beide hatten Angst davor, im entscheidenden Moment zu versagen und ihren Freunden nicht helfen zu können. Und da musste sie sich wieder an ihre Schwester Laura erinnern. Sie hatte sie immer beschützt und getröstet, weil sie immer so ein Angsthase war und oft geheult hatte. Laura hatte vor allem Möglichen Angst gehabt. Angefangen von Spinnen und Ratten bis hin zu Hunden und sie hatte sich immer an ihre ältere Zwillingsschwester geklammert und sich immer hinter ihr versteckt. Mallory hatte schon damals hingegen vor nichts dergleichen Angst gehabt und sich sogar mit Jungs angelegt, was sich normalerweise kaum einer traute. Egal was auch war, sie war immer für Laura da gewesen. Immerzu hatte sie ihre Schwester beschützt… und noch jemand anderen. Ja, da war noch jemand gewesen, den sie damals beschützen und dem sie helfen wollte. Aber sie hatte es vergessen. Was war nur aus Laura geworden und war sie vielleicht noch am Leben? Langsam löste sich Mallory wieder von Ilias, denn sie sorgte sich um Finnian. Dieser kauerte immer noch völlig verstört am Boden und murmelte etwas vor sich hin. „Finny, steh auf. Wir können nicht hier bleiben.“ „Ich… ich will das nicht mehr…“, brachte er mit zitternder Stimme hervor und seine Augen waren vor Angst und Entsetzen geweitet. Mallory kniete sich neben ihm hin und führte vorsichtig ihre Hand näher an ihn heran. „Hab keine Angst, es wird dir nichts passieren. Wir sind ja bei dir.“ Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und zuerst zuckte er zusammen, aber langsam beruhigte er sich wieder. Wahrscheinlich, weil Mallorys sanfte und beruhigende Art ihn an Lewis erinnerte. Zum ersten Mal nahm Finnian Blickkontakt auf und nun sah sie auch erstmals, dass er die gleiche Augenfarbe hatte wie sie: Ein strahlendes unverfälschtes blau. Und sie sah auch die Angst in seinen Augen und die Verzweiflung. In diesem Moment waren es aber plötzlich nicht mehr Finnians Augen, stattdessen tauchte ein anderes Bild vor ihren Augen auf, nämlich das von Anna. Sie sah das kleine Mädchen mit Tränen in den Augen auf dem Boden kauernd und nun hatte sie nicht mehr diese starren und leblosen Puppenaugen wie zuvor. In dieses sonst so bleiche und regungslose Gesicht war Leben zurückgekehrt und mit zitternder Stimme rief sie „Nein, komm mir nicht näher! Fass mich nicht an!“ Sofort zog Mallory ihre Hand zurück, als sie realisierte, dass das nicht Annas, sondern Finnians Worte gewesen waren. „Entschuldige, das wollte ich nicht.“ Zuerst fürchtete sie, er könnte wieder in Angst verfallen, doch überraschenderweise stand er auf und sammelte sich wieder. „Es geht schon wieder. Alles in Ordnung.“ „Keine Sorge, wir werden nicht zulassen, dass dich dieses Drecksschwein noch einmal anfasst.“ Es kostete Finnian unglaublich viel Mühe, sich zusammenzureißen und seine Angst zu unterdrücken. Innerlich litt er immer noch, denn diese entsetzlichen Erinnerungen zu verdrängen war nun nicht mehr so einfach wie zuvor und es stand zur Befürchtung, dass er jeden Moment wieder einen Anfall erleiden könnte. Sie mussten gut auf ihn Acht geben. Mallory verließ als Erste die Gasse, da sie die Pistole in der Hand hatte und sie bereitete sich darauf vor, sofort zu schießen, wenn jemand sie angreifen sollte. Doch als sie sich umsah, konnte sie niemanden entdecken und so gab sie Entwarnung an die anderen. Ilias blieb dicht bei seinem besten Freund, um ihm beizustehen und hielt selbst die Brechstange bereit. Sie gingen nach rechts und erreichten die erste Achterbahn. Die Waggons waren einfach auf der Strecke geblieben und die künstlichen Teiche waren mit Algen zugewachsen. Außerdem trieben tote Fische an der Oberfläche. Am Eingang hing ein Schild und darauf stand „Farewell Ride“. Irgendwie ein seltsamer Name für eine Achterbahn. „Hey, da sind doch Anna und Dean!“ Mallory folgte Ilias’ Fingerzeig und konnte tatsächlich Anna entdecken, die den 10-jährigen an der Hand hielt und mit ihm in Richtung der Achterbahn verschwand. „Dean!“ rief Ilias und tatsächlich blieben er und Anna stehen und sahen zu ihnen herüber. Im selben Moment stürzte sich etwas auf Mallory und packte sie an der Kehle. Es war die gesichtslose Frau. Sofort schoss Mallory und traf die Frau in die Brust und in den Kopf. Vier Male schoss sie, dann brach das Monster zusammen. Doch schon kam Verstärkung herbei. Von allen Seiten her kamen immer mehr menschenähnliche Wesen herbei, die vollkommen weiß waren und sich unbeholfen bewegten wie Puppen, die gerade erst selbst das Laufen erlernt hatten. Sie wankten und ihre Gesichter waren starr und unbeweglich, genauso wie ihre Augen. Ilias schlug mit der Brechstange zu und traf eine der Kreaturen am Kopf, woraufhin der Schädel in Stücke zerbrach. Und mit Entsetzen erkannte Mallory, dass es keine Menschen waren, sondern Statuen. Ihre schlimmsten Alpträume waren zum Leben erwacht und machten nun Jagd auf sie. Schnell erhob sie erneut die Pistole und schoss einer Statue, die Finnian mit einer Axt angreifen wollte, in den Kopf. „Aufhören!!!“ rief Anna plötzlich zu ihnen herüber und in dem Moment zerbrach die Beretta in Mallorys Hand in ihre Einzelteile. Im nächsten Moment griff eine der Statuen sie an und nur ein Sprung zur Seite konnte sie retten. Schon war Finnian zur Stelle, der mit einem gezielten Roundhouse Kick die Statue in die Brust traf und wegschleuderte. „Mallory, Ilias und ich regeln das hier schon. Geh schon!“ Da Anna ihre Beretta zerstört hatte, war Mallory vollkommen unbewaffnet und damit bloß ein leichtes Ziel. Sie musste einfach darauf vertrauen, dass Ilias und Finnian es schaffen konnten. Also lief sie zur Achterbahn, wohin Anna und Dean verschwunden waren. Hoffentlich tat Anna dem Jungen nichts an. Hinter sich hörte sie, wie ihre beiden Freunde gegen diese Monster kämpften und wieder befiel sie die Angst, dass sie es nicht schaffen würden und sogar sterben könnten. Alles Schönreden half da nichts, die Chancen standen leider nicht sehr gut. Ilias hatte entsetzliche Angst vor Statuen und er hatte nur deshalb so stark sein können, weil sein Wunsch, seine Freunde zu beschützen, viel größer war als seine Angst. Und wer weiß wie Finnian sich machen würde, wenn er wieder auf seinen Vater treffen würde. Josephine und Anna hatten sich wirklich etwas Hinterhältiges einfallen lassen, sie alle mit ihren schlimmsten Ängsten zu konfrontieren. Aber… wer war diese gesichtslose blutüberströmte Frau gewesen? Sollte sie etwa tatsächlich ihre schlimmste Angst darstellen? Nun gut, sie hatte furchtbare Angst vor Blut, aber sie verstand nicht, was es mit dieser Frau auf sich hatte. Ob es sich bei der Frau um eine Person aus ihrer Vergangenheit handelte? Sie bog um eine Ecke und sah, wie Dean und Anna in Richtung einer Spiegelkammer verschwanden. Na toll, dachte Mallory und versuchte nun schneller zu laufen, um sie vorher einzuholen. Diese elenden Spiegelkammern hatten sie schon als Kind immer in den Wahnsinn getrieben, weil sie nie den Ausgang gefunden hatte und ewig festsaß, bis ihre Pflegeeltern oder Edna sie rausgeholt hatten. Auch in Labyrinthen hatte sie einen katastrophalen Orientierungssinn und wäre jedes Mal darin versauert, wenn sie nicht bei ihrer Familie geblieben wäre. „Bleibt stehen!“ rief sie und beobachtete, wie die beiden Kinder im Inneren verschwanden. „Verdammt noch mal, wartet!“ Es nützte nichts, die beiden waren bereits in der Spiegelkammer drin. Wohl oder übel musste Mallory ihnen folgen und sie hoffte, dass es nur ein einfacher Durchgang war, bei dem wenigstens nicht die Gefahr bestand, dass sie sich verlaufen könnte. Doch schon als sie durch das Drehkreuz gegangen war und überall die Spiegel sah, in denen Dean und Anna in verschiedene Richtungen verschwanden, wurde sie in ihrer schlimmsten Befürchtung bestätigt. Es war ein Labyrinth. Irgendwie hatte sie wirklich nur Pech… Sie lief den Gang geradeaus und folgte einem engen Gang, in welchem überall Spiegel hingen. Sogleich tauchte von allen Seiten ihr Spiegelbild auf und brachte sie nun völlig aus der Konzentration. Überall sah sie Bewegungen und sie konnte nicht mal mehr erkennen, wo sie weitergehen konnte. Ihr Gehirn war mit dieser plötzlichen Reizüberflutung vollkommen überfordert und spielte ihr Trugbilder vor. Sie musste ihre Hände zur Hilfe nehmen, um nicht noch gegen einen Spiegel zu laufen. Warum nur musste es ausgerechnet ein Spiegellabyrinth sein? „Dean!“ rief sie und versuchte, etwas schneller zu laufen, aber als sie sich kurz zur Seite umsah, knallte sie auch schon gegen einen Spiegel und taumelte kurz zurück. „Dean! Anna!!!“ Sie hörte rein gar nichts, nur ihre eigenen Schritte und außer ihren eigenen Spiegelbildern konnte sie auch nichts erkennen. Egal wohin sie auch blickte, sie sah nur sich selbst in diesen vielen Spiegeln und es schien kein Ende nehmen zu wollen. Durch diese unzähligen Reflexionen spiegelte sie sich nicht nur ein Mal, sondern gleich tausende Male in einer Reihe wider, wodurch sie vollkommen orientierungslos wurde. Sie rief erneut nach ihrem kleinen Freund, hörte aber rein gar nichts. Dafür aber sah sie einen Schatten hinter sich und erkannte entsetzt, dass es wieder die gesichtslose Frau war. „Mallory…“, brachte diese hervor und streckte ihre knochigen Hände nach ihr aus. Mallory schrie auf und rannte los, doch da prallte sie wieder gegen einen Spiegel und presste eine Hand gegen die schmerzende Stelle, wo sie gegen das Glas geschlagen war. So ein Mist, dachte sie und versuchte, den nächsten Gang zu ertasten. So kam sie garantiert nicht weiter. Diese vielen Spiegelbilder verwirrten sie nur und machten es ihr sehr schwer, überhaupt zu erkennen, wohin sie gehen musste. Eine eiskalte Hand ergriff sie am Arm und zerrte sie zurück. Die gesichtslose Frau, die eigentlich nicht mal einen richtigen Mund, sondern höchstens einen intakten Unterkiefer ohne Zunge hatte, hielt sie so fest, dass es schon schmerzhaft war. „Lass los!“ rief Mallory und versuchte, ihre Angreiferin wegzustoßen, doch diese packte auch ihren anderen Arm. Blut strömte aus ihrem zerfetzten Gesicht und floss aus den Schusswunden. Die 24-jährige wehrte sich nach Leibeskräften, aber sie war nicht stark genug. „Mallory…“, krächzte diese Kreatur hervor und zog sie näher an sich heran. Nun bekam Mallory richtig Angst, denn sie fürchtete, dass dieses Ding sie gleich hier und jetzt umbringen würde. So etwas kann es doch nicht geben, dachte sie und konnte nur mit Mühe eine Panik unterdrücken. Das ist bloß ein furchtbarer Alptraum. Bitte lass mich in einem einfachen Motel aufwachen und realisieren, dass diese ganze Scheiße hier nur geträumt ist und dass ich niemals nach Dark Creek gekommen bin. Bitte lass diesen Alptraum endlich vorbei sein! Doch es war kein Traum, sondern die nackte Realität. Und mit Entsetzen sah sie dieses entsetzliche Gemisch aus Blut, Fleisch, Hirnmasse und Knochensplittern, wo früher vielleicht mal ein menschliches Gesicht gewesen war. „Mallory…“ „Was willst du von mir?“ „Mein Gesicht… ich will mein Gesicht…“ „Ich… ich habe dein Gesicht nicht!“ „Doch. Du hast es mir genommen, du Diebin. Du hast mir mein Gesicht genommen und ich werde es mir wiederholen. Ich werde mir einfach deines nehmen.“ Es mochte am plötzlichen Adrenalinschub liegen oder daran, dass Mallory aus lauter Panik all ihre Kraftreserven mobilisierte, aber es gelang ihr mit einem Aufschrei der Todesangst, ihre Angreiferin von sich zu stoßen. Diese fiel nach hinten und stieß mit dem Hinterkopf gegen einen der Spiegel, woraufhin dieser von Blut völlig verschmiert wurde. Mallory nutzte diese Chance und tastete sich, so schnell sie konnte, weiter voran, um bloß schnell von dieser Kreatur wegzukommen. Diese Kreatur wollte ihr Gesicht haben, aber warum? Mallory verstand die Welt nicht mehr, sie verstand sowieso überhaupt nichts mehr. Was war das nur für ein Monster und wieso passierte das hier alles nur? Alles in dieser Stadt ergab überhaupt keinen Sinn mehr und sie fragte sich, was Lewis hier wohl durchmachen musste. Er war ganz alleine hier gewesen, ohne Hilfe. Was für Schrecken hatten wohl auf ihn gewartet? „Du wirst mir nicht entkommen, Mallory!“ Die eiskalte Hand der gesichtslosen Frau bekam sie an den Haaren zu fassen und riss sie brutal nach hinten. Mallory schrie auf und versuchte, sich irgendwo festzuhalten oder sich aus dem Griff zu befreien, doch die Frau war einfach zu stark für sie. Ohne eine Waffe hatte sie nicht die geringste Chance, gegen dieses Monster anzukämpfen. Sie war einfach nicht stark genug, sie war noch nie stark genug gewesen… Sie war schwach… „Und jetzt wirst du sterben, du Miststück.“ Mallorys Sicht verschwamm hinter den vielen Tränen und ein dicker Kloß verstopfte ihren Hals. Nicht einmal einen Schrei brachte sie zustande. Jetzt war es endgültig aus, das wusste sie. Hier und jetzt würde sie in diesem Vergnügungspark sterben und hinterher genauso aussehen wie diese gesichtslose Frau. Bitte, irgendjemand muss mir helfen. Ich will hier nicht sterben… Ein Schrei ertönte und in dem Moment löste sich der Griff. Mallory stolperte nach vorne und verstand nicht, was da gerade passiert war. Hatte da gerade jemand ihre Gebete erhört? War da gerade ein gottverdammtes Wunder geschehen? Sie sah die gesichtslose Frau zu Boden fallen und inmitten der sich ausbreitenden Blutlache Josephine stehen, die eine Machete in der Hand hielt. Ihr Gesicht und auch ihre Hände waren voller Blut. Nein, das war kein Wunder gewesen. Jetzt stand Josephine bewaffnet vor ihr und so wie sie aussah, würde sie diese Waffe auch noch mal benutzen. Und Mallory hatte nichts, womit sie sich wehren konnte. Ihr blieb nur noch die Flucht durch dieses verfluchte Spiegelkabinett. Kapitel 12: Die Augen eines Monsters ------------------------------------ Mallory lief blindlings weiter, wusste nicht wohin und konnte kaum Luft holen, da ihre Kehle immer noch wie zugeschnürt war. Sie hörte, wie Josephine nach ihr rief, aber sie konnte nicht umkehren oder stehen bleiben. Die Angst um ihr Leben hatte ihren Verstand komplett ausgeschaltet und sie hatte auch somit die Tatsache ausgeblendet, dass sie eigentlich aus dem Grund hierher gekommen war, weil sie Josephine und Anna sprechen wollte. Aber die Begegnung mit diesem Monster war einfach zu viel gewesen. Hätte Josephine es nicht mit dieser Machete erschlagen, dann wäre das ihr Tod gewesen. Und Mallory wollte lieber nicht herausfinden, was erst Josephine mit ihr vorhatte. Keuchend stolperte sie vorwärts, stützte sich an den Spiegelwänden ab und Tränen vermischten sich mit Blut. Sie wollte einfach nur hier raus und das so schnell wie möglich. Länger hielt sie es in dieser Hölle nicht aus. Obwohl die gesichtslose Frau ihr nicht mehr folgte, glaubte Mallory dennoch, ihre eiskalten Hände im Nacken zu spüren und ihre Stimme zu hören, wie sie ihren Namen rief. Bei ihrer Flucht stieß sie gegen einen weiteren Spiegel und stolperte kurz nach hinten. Ihre Beine gaben nach und sie stürzte und da ihre Hände schweißnass waren, konnte sie sich auch nirgendwo festhalten. Bitte lieber Gott, hol mich endlich aus dieser Hölle raus. Ich stehe das keine Minute mehr durch. Das waren die einzigen Gedanken, die Mallory noch zu fassen vermochte. Es gelang ihr, wieder auf die Beine zu kommen und wieder hörte sie nicht weit entfernt Schritte und die Stimme von Josephine. Die Angst trieb sie mehr voran als hundert Peitschenhiebe und obwohl sich ihre Beine wie Gummi anfühlten, schaffte sie es trotzdem, weiterzulaufen. Der Weg führte sie zwei Male nach rechts, dann folgte sie einem Gang nach links, da bot sich nicht weit von ihr entfernt ein schrecklicher Anblick: Sie sah Dean auf dem Boden liegen in einer Blutlache. Schon wieder Blut… Alles in ihrem Verstand drehte sich nur noch um Blut und wieder tauchten unzählige Bilder vor ihr auf. Sie sah nichts anderes mehr als blutüberströmte Leichen, hörte nichts außer Schreie der Todesagonie und der Angst. Sie sah Lewis in einer Blutlache und wie er glücklich lächelnd auf dem Boden lag, den Blick zum Himmel gerichtet. Aber dieses Mal war es nicht Lewis, der da ein einer Blutlache lag, sondern Dean. „Dean!“ rief Mallory und stürzte zu ihm, fiel auf die Knie und drehte ihn auf den Rücken. Entsetzt sah sie, dass in seinem rechten Auge, welches schon zuvor gefehlt hatte, ein Loch klaffte und Blut floss. Es sah aus, als hätte man ihm in den Kopf geschossen. Aber wie war das möglich? Anna war doch als Einzige bei ihm gewesen… „D-Dean?“ brachte sie hervor und mit zitternden Händen versuchte sie, ein Lebenszeichen von ihm zu bekommen. Doch es war vergebens. Er lebte bereits nicht mehr. „Oh Gott… bitte nicht…“ Schon wieder war jemand gestorben, den sie kannte. Zuerst Lewis und dann auch noch ein kleiner 10-jähriger Junge. Warum nur? Warum das alles? Wieso musste ausgerechnet Dean sterben? Er hatte doch vorhin noch gelebt, als sie das Labyrinth betreten hatten. Schritte hinter ihr ertönten. Es war Josephine, die sie nun eingeholt hatte. „Verdammt“, murmelte sie und blieb einige Schritte hinter Mallory stehen. „Der liegt ja noch da.“ Mallory sah Josephine an, die immer noch ihre Augenbinde trug und in ihr wuchs der unbändige Zorn. Dieses Mädchen da redete so gleichgültig über den Tod dieses kleinen Jungen, als wäre es ihr vollkommen egal und mit Sicherheit hatte sie genauso viel mit seinem Tod zu tun wie Anna. „Ihr…“, brachte Mallory mit Mühe hervor und hätte am liebsten auf das Mädchen eingeprügelt, so wütend war sie in dem Moment. „Ihr habt ihn umgebracht! Ihr habt ihn getötet, genauso wie ihr Lewis auf dem Gewissen habt, ihr Monster!!!“ Josephine reagierte nicht auf Mallorys blindem Zorn, sie war nicht mal erschrocken über die heftige Reaktion. Sie seufzte nur und erklärte „Tut mir Leid, den Anblick wollte ich dir gerne ersparen. Und dass es mit der Tussi vorhin so aus dem Ruder läuft, hätte selbst ich nicht geahnt.“ „Warum habt ihr ihn umgebracht? Ich dachte, Dean ist euer Freund!“ „Natürlich war er das“, sagte Josephine aber ihr Ton klang dabei so unfassbar gleichgültig, als würde es sich bei Deans Tod um eine Lappalie handeln. „Und es ist schade, aber getötet habe ich ihn nicht und Anna ebenso wenig.“ „Hör auf, mich für dumm zu verkaufen. Er ist doch nicht einfach so tot umgefallen, er ist erschossen worden. Und als ich dieses verdammte Labyrinth betreten habe, hat er noch gelebt und Anna war die Einzige, die bei ihm war!“ Nun war Josephine ruhig und sie hatte auch ihre leicht herablassende und verächtliche Art abgelegt. Nein, in diesem Moment wirkte sie nicht mehr so furchteinflößend und unheimlich wie sonst. Mallory selbst verlor hingegen völlig die Beherrschung. Sie stürzte sich auf Josephine und riss sie zu Boden, wobei sie ihre Hände um den Hals des Mädchens legte. „Warum nur tut ihr das? Wieso haltet ihr uns gefangen und warum habt ihr Lewis und Dean umgebracht? Und wieso hast du damals all diese Menschen getötet?“ Ihre Hände schlossen sich immer fester um Josephines Hals, doch diese wehrte sich noch nicht einmal. Stattdessen packte jemand Mallory von hinten und zerrte sie von dem Mädchen herunter. Es war der Butler Roth. Josephine kam wieder auf die Beine und klopfte sich den Dreck von ihrem Kleid. „Ich sage es dir noch mal: Ich habe weder Lewis noch Dean getötet. Es war allein ihre Schuld, auch wenn das für dich vielleicht grausam klingt. Lewis ist doch selbst vom Dach gesprungen und Dean hat einfach zu viel gewusst und dafür hat er sterben müssen. All das hätte nicht passieren müssen, wenn du nicht so viele Fragen gestellt und alles in Gefahr gebracht hättest. Wir haben dich ja noch extra gewarnt, aber stattdessen musstest du ja unbedingt hierher kommen. Du warst schon damals ein Dummkopf und das wirst du immer bleiben, Mallory! Du weißt einfach nie, wann es Zeit ist, endlich aufzuhören und manche Dinge einfach bleiben zu lassen.“ Mallory versuchte sich loszureißen, doch Roth hielt sie mit einer unglaublichen Kraft fest. Selbst Fußtritte brachten nichts. „Deine Hartnäckigkeit geht mir allmählich auf die Nerven und meine Geduld ist langsam am Ende. Aber ich mache dir ein Angebot, Mallory: Anna und ich lassen dich gehen und dafür verlässt du Dark Creek auf der Stelle. Du wirst nie wieder hierher zurückkehren und die anderen bleiben hier.“ „Vergiss es“, rief Mallory und kämpfte immer noch wie eine Wilde. „Ihr könnt doch nicht einfach so Menschen zu eurem eigenen Vergnügen hier gefangen halten. Und außerdem will ich endlich wissen, was vor 17 Jahren passiert ist und was aus Laura und meinen Eltern wurde. Ich will endlich die Wahrheit wissen!“ „Die Wahrheit? Sei doch mal ehrlich, die willst du doch gar nicht wissen. Sonst würdest du ja nicht vor deinen schlimmsten Ängsten davonlaufen, genauso wie die anderen. Hör auf, dich selbst zu quälen und geh wieder zurück zu deiner Familie. Und was deine Eltern und die anderen betrifft… sie sind selbst Schuld, dass sie sterben mussten. Hätten sie damals Anna nicht umgebracht, dann hätte das alles nicht eskalieren müssen.“ Mallory hörte auf zu kämpfen, als sie hörte, was Josephine da gesagt hatte. Hatte sie da gerade richtig gehört? Anna war ermordet worden? Aber… sie hatte sie doch selbst gesehen. „Das… das ist doch ein Scherz, oder? Ich habe Anna doch selbst gesehen.“ „Natürlich, weil wir beide keine Menschen sind. Wir sehen euch zum Verwechseln ähnlich, wir kopieren euer Verhalten, euer Aussehen und eure Gewohnheiten, aber wir sind selbst niemals wirklich welche gewesen. Deswegen war es Anna auch möglich, wieder zu erwachen. Aber die Menschen mussten trotzdem dafür büßen. Sie haben uns alles kaputt gemacht und sogar unsere Freunde in Gefahr gebracht. All die Jahre bin ich gnädig gewesen mit den Bewohnern, solange sie es bloß nicht wagten, Anna und unseren Freunden auch nur ein Haar zu krümmen. Was sie mit mir machten, war mir egal. Und ich bin schon so oft gestorben in all den Jahrzehnten und Jahrhunderten, in denen ich gelebt habe. Ich wurde erschlagen, erstochen, vergiftet, erwürgt, auf dem Scheiterhaufen als Hexe verbrannt, ertränkt, geköpft, gerädert, vergast, erhängt, erschossen und ich wurde sogar schon mal in ein Säurebad geworfen. Ich habe die Menschen von ihrer grausamsten Seite gesehen und weiß, was sie wirklich sind: mordlüsternde, gierige und selbstsüchtige Bestien. Selbst Tiere haben mehr Würde, denn sie töten wenigstens aus einem Überlebenstrieb heraus. An dem Tag, als sie mir die Augen mit glühendem Eisen ausgebrannt und mich in diesem Zustand im Keller eines Klosters eingemauert haben, wurde mir klar, dass die Menschen allesamt verachtenswertes Vieh sind!“ Josephine, die sich regelrecht in Rage geredet hatte und all ihrem Hass freien Lauf ließ, riss sich die Augenbinde ab und öffnete ihre Augen. Mallory hatte geglaubt, dass allein schon der Anblick dieser gesichtslosen Frau schlimm genug war, aber Josephine ohne diese Augenbinde zu sehen, raubte ihr den Atem. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Augen gesehen, nicht mal bei einem Tier. Die Pupillen waren Schlitze wie die einer Katze, die Iris von einem stechenden gelb und der Rest war ein dunkles Blutrot. Ein Höllenfeuer schien in diesen monströsen Augen zu lodern, die mehr denen eines Dämons glichen als jenen eines Lebewesens. Ein dünnes Blutrinnsal floss aus den Augen wie Tränen und ein breites Grinsen zog sich über Josephines Lippen. In diesem Moment wirkten ihre Zähne wie die eines Raubtieres. „Na, wie gefällt dir der Anblick meiner Seele? Sie haben mich unzählige Male als Hexe verbrannt und versucht, meine Seele zu retten. Aber sie waren es, die meine Seele erst so verdorben haben! Sie haben mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Die da haben mich zu einem Monster gemacht, kapiert? Und wenn mich das Leben etwas gelehrt hat, dann, dass man sich einfach das nehmen sollte, was man will. Die Welt ist egoistisch, also bin ich es auch und das lasse ich mir von niemandem kaputt machen. Weder von dir, noch von irgendjemand anderem. Und solltest du es wagen, mir noch ein Mal in die Quere zu kommen, dann werde ich dir die wahre Hölle zeigen!“ Roth ließ sie auf ein Nicken von Josephine hin los und in dem Moment ergriff Mallory die Flucht. Sie stolperte durch weitere Gänge und gelangte schließlich nach draußen. Ihre Beine gaben den Geist auf, woraufhin sie stürzte und sie schaffte es nicht mehr, wieder aufzustehen. Ihr ganzer Körper gehorchte ihr einfach nicht mehr. Es stimmte also doch. Josephine hatte vor 17 Jahren all diese Menschen umgebracht. Und sie hatte auch ihre Familie auf dem Gewissen, weil Anna getötet worden war. Josephine war ein Monster, das vor rein gar nichts zurückschreckte. Weder vor Mord, noch vor Terror. Sie quälte die Menschen mit ihren schlimmsten Ängsten und manipulierte sie nach ihrem Willen. Indem sie das tat, hatte sie die vollständige Kontrolle über Dark Creek und hielt Menschen aus einem perversen Vergnügen heraus gefangen. Und wer es wagte, dies zu hinterfragen, wurde kaltblütig getötet. Wenn nicht durch sie, dann durch ihren Butler, damit sie sich selbst nicht die Hände schmutzig machen musste. Es gab keinen Ausweg… niemand konnte Dark Creek lebend verlassen. Jeder, der die Wahrheit herausfand, der musste sterben. War es das gewesen, was Lewis vor ihnen verschwiegen hatte? Bestand die einzige Flucht von hier darin, zu sterben? Das konnte doch unmöglich sein. Das musste ein Irrtum sein. Mallory fühlte sich völlig hilflos und wusste nicht mehr weiter. Alles schien über sie hereinzubrechen und sie zu erschlagen. Lewis’ Selbstmord, Deans Tod, ihre ausweglose Lage, ihre blutige Vergangenheit… Und sie konnte die anderen nicht retten. Josephine war bereit, sie gehen zu lassen, aber nicht die anderen. Und wenn Ilias und Finnian zu fliehen versuchten, würden sie umgebracht werden. Warum nur musste das alles passieren? Die Tränen flossen wie Sturzbäche und nur mit Mühe gelang es ihr, sich wieder auf die Beine zu quälen und zurück zu den anderen zu laufen. Doch was sollte sie ihnen sagen? Wie konnte sie ihnen überhaupt noch unter die Augen treten? Ilias hatte den Kleinen wie seinen eigenen Bruder geliebt und Finnian würde noch jemanden verlieren, der so alt war wie Keenan. Er würde einen erneuten Anfall bekommen und dieses Mal würde Lewis nicht kommen und ihn retten. Was sollte sie nur tun? Wie konnten diese Zwillinge nur derart grausam sein und einen kleinen Jungen umbringen, mit dem sie sogar befreundet waren? Es war, wie Josephine sagte: Sie war ein Monster! Mallory war völlig am Ende und wollte einfach nur raus aus diesem Alptraum. Sie bog nach links ab, wohin sie zur Achterbahn gelangte und sah Anna auf einer Bank sitzen. Ihr Blick war starr ins Leere gerichtet und keine Emotionen waren in diesem puppenhaften Gesicht abzulesen. Doch als sie näher trat, erkannte sie, dass Anna weinte. Tränen glitzerten auf ihrem blassen Gesicht, das seit 17 Jahren nicht mehr lächelte, lachte, oder Wut und Trauer zeigte. Und doch glänzte es von Tränen, die sie für Dean vergossen hatte. Als Anna Mallory bemerkte, stand sie auf und wandte sich zum Gehen. „Bleib stehen“, rief Mallory, doch es klang mehr wie ein ersticktes Krächzen und tatsächlich blieb die jüngere Zwillingsschwester stehen, versuchte aber trotzdem Abstand zu halten. „Was willst du?“ fragte sie in einem kalten und verärgert klingenden Ton. „Verschwinde von hier, Mallory! Geh zurück nach Hause.“ „Ich will wissen, warum ihr das getan habt. Wieso musste Dean sterben? Stimmt es, was Josephine gesagt hat? Habt ihr meine Eltern getötet? Habt ihr auch Laura umgebracht?“ Mit einem Male bröckelte die äußerliche Fassade und Leben kehrte in dieses puppenhafte Gesicht zurück. Anna wich ihrem Blick aus und wirkte mit einem Male unendlich traurig. „Manche Dinge passieren eben, die man nicht ändern kann.“ „Und wieso habt ihr mich damals am Leben gelassen und dafür meine Familie getötet? Wieso?“ „Weil du unsere Freundin warst.“ In dem Moment drehte Anna sich um und lief davon. Mallory eilte ihr hinterher und versuchte, sie am Arm zu fassen zu bekommen. Hatte sie da gerade richtig gehört? Sie war vor 17 Jahren mit den beiden befreundet gewesen und war nur deshalb verschont worden, während dafür ihre Eltern und ihre jüngere Schwester umgebracht worden waren? Das konnte doch unmöglich sein. Wenn das wirklich stimmte, warum bedrohten Anna und Josephine sie und wollten unbedingt, dass sie Dark Creek verließ? „Warte Anna!“ rief sie und hätte die Klein beinahe am Arm zu fassen gekriegt, da schoss hinter einer Mülltonne Amducias hervor und stellte sich ihr in den Weg. Er fauchte angriffslustig und machte einen Buckel, wobei sich sein Fell sträubte. Anna sah zurück und ihr starrer Blick nahm etwas Bedrohliches an. „Fass mich nicht an, hörst du? Wenn du mich auch nur ein Mal anrührst, dann bist du tot.“ Wieso nur kam diese Szene ihr so vertraut vor? Vielleicht, weil sie das alles schon mal erlebt hatte? Ja, vor 17 Jahren hatte Anna ihr das schon einmal gesagt, aber da war sie nicht so wütend gewesen wie jetzt. Sie hatte Angst gehabt. Angst davor, dass man sie berührte. Wieder kehrte dieser stechende Kopfschmerz wieder zurück und Mallory presste sich eine Hand gegen die Schläfe. Nicht schon wieder. Warum musste das ausgerechnet in so einem Moment passieren? Ein neues Bild tauchte vor ihr auf. Vor ihrem geistigen Auge tauchte Laura auf, die ihre Spieluhr vor sich auf den Boden liegen hatte und davor saß. Und sie war nicht allein. Josephine und Anna saßen bei ihr. Und Anna lag in den Armen ihrer älteren Schwester und weinte, während Josephine sie zu trösten versuchte. Mallory erinnerte sich, dass sie irgendetwas zu Anna gesagt hatte, woraufhin sie aufgehört hatte zu weinen. Aber was hatte sie damals zu ihr gesagt und warum nur reagierten sowohl sie als auch Josephine jetzt nach 17 Jahren so aggressiv auf sie? „Habe ich irgendetwas falsch gemacht, dass ihr mich so abgrundtief hasst?“ Annas Augen weiteten sich und sie wich zurück, wobei sie ihre Hände zu Fäusten ballte. Sie hatte Angst, das sah man sofort. Aber sie hatte keine Angst vor Mallory, sondern davor, ihr die Wahrheit zu sagen. „Du… du hast nichts falsch gemacht. Niemand von uns hat etwas falsch gemacht.“ „Wieso musste sogar meine Schwester sterben? Sie war erst sieben Jahre alt! Warum hat Josephine das getan? Wieso hat sie Laura umgebracht?“ „Josephine hat sie nicht getötet. Lauras Tod war ein furchtbarer Unfall. Und jetzt verschwinde endlich, du hast hier nichts verloren. Amducias, halt sie auf.“ Anna wandte sich um und lief davon. Mallory wollte ihr folgen, doch der Kater stellte sich ihr in den Weg und schlug angriffslustig seine Klauen nach ihr. „Aus dem Weg du Mistvieh“, rief sie und versuchte an dem pechschwarzen Kater vorbeizugehen, doch schon sprang er sie an und versenkte seine Klauen in ihre Hand. Eine tiefe Kratzwunde zog sich über ihre Hand, welche schließlich zu bluten begann. Um bei diesem Anblick nicht wieder in Panik zu geraten, wickelte sich Mallory schnell ein Taschentuch um ihre Hand und lief einen anderen Weg. An diesem wild gewordenen Kater kam sie sicher nicht vorbei, also musste sie einen anderen Weg gehen. Aber irgendwie verstand sie das alles nicht mehr. Josephine hatte vor 17 Jahren ein schreckliches Massaker angerichtet, weil die Bewohner von Dark Creek Anna getötet hatten. Da die Zwillinge keine Menschen waren, konnte Anna zurückkehren, doch trotzdem hatte Josephine grausame Rache gefordert. Dabei starb auch Laura, aber die beiden ließen sie, Mallory, am Leben. Ihr gelang es, Dark Creek zu verlassen und aufgrund des schweren Traumas verlor sie ihr Gedächtnis. Anna und Josephine blieben trotz allem in Dark Creek und lockten Menschen dorthin, die sie manipulierten und dann gefangen hielten. Und jeder, der die Wahrheit aufdeckte, musste sterben. Zuerst Lewis und dann Dean. Mallory ging nach links und erreichte nach einer Weile schließlich die Achterbahn, wo sie Ilias und Finnian zurückgelassen hatte. Doch da waren die beiden nicht mehr, stattdessen lagen überall Trümmern der Statuen herum, die Finnian und Ilias gemeinsam zerschlagen hatten. Wie es schien, waren die beiden fertig geworden, oder aber ihnen war etwas passiert. „Finny? Ilias? Wo seid ihr?“ Mallorys Brust schnürte sich zusammen und sie bekam furchtbare Angst, als ihr ein schrecklicher Gedanke kam. Was, wenn sie zu spät war und es für die beiden auch keine Rettung mehr gab. Was, wenn Josephine und dieser schmierige Butler ihnen irgendetwas angetan hatten? Das durfte nicht passieren. Wenn jetzt auch noch Ilias und Finnian sterben würden, was sollte sie dann noch tun? Dann war sie wieder ganz alleine, genauso wie vor 17 Jahren. Das durfte sie nie und nimmer noch einmal geschehen lassen. „Ilias!“ rief sie und sah sich nach allen Seiten um in der Hoffnung, ihn oder Finnian irgendwo entdecken zu können. „Wo seid ihr?“ Sie blieb stehen und versuchte etwas zu hören. Bitte lass es noch nicht zu spät für sie sein, dachte sie und lief weiter, um ihre Freunde zu finden. Bitte lass mich noch rechtzeitig da sein, um sie zu retten. „Finny! Ilias, bitte sagt doch etwas!“ Wieder nur Stille. Es war so, als wäre der Park mit einem Male verlassen und sie ganz alleine. Mallory hatte entsetzliche Angst, als sie so ganz alleine war und auf ihre Rufe niemand antwortete. Genauso wie damals, als sie völlig verstört durch die Straßen geirrt war und an ihren Händen und an ihrer ganzen Kleidung Blut klebte. Auch damals hatte sie verzweifelt nach jemandem gesucht und furchtbare Angst gehabt. Das alles war nichts anderes als ein alptraumhaftes Deja-vu und sie wünschte sich in diesem Moment, sie hätte nicht an diesen schrecklichen Ort kommen müssen. Dann wäre vielleicht Dean nicht gestorben. Sie hatte gehofft, hier Antworten zu finden, aber stattdessen wurden sie alle von ihren schlimmsten Alpträumen gejagt und angegriffen. Was war das überhaupt nur für ein Ort? Wieso stand hier Lewis’ Haus und warum versuchten Josephine und Anna, sie mit aller Macht zu vertreiben? Konnte es etwa sein, dass dieser Vergnügungspark nichts anderes war, als eine Tarnung? Waren hier all ihre verlorenen Erinnerungen versammelt, die sie selbst mit aller Macht verdrängt hatten und waren deshalb ihre schlimmsten Alpträume und Ängste hinter ihnen her? Wenn dem so war, dann würde es auch erklären, wieso Lewis hierher gekommen war und wieso er sagte, dass sie alle die Wahrheit kannten, sie aber nicht sehen wollten. Sie hatte es die ganze Zeit vor Augen gehabt: Der Grund, wieso niemand Dark Creek verlassen konnte, war einfach der, dass sie alle ein bestimmtes Trauma verdrängt hatten und ihre Erinnerungen nicht annehmen konnten. Und solange ihnen die Erinnerung fehlte, waren sie hier gefangen. Und Josephine und Anna hatten diese im Vergnügungspark versteckt. Im Grunde war dieser Park nichts anderes als der Spiegel ihrer eigenen Angst und solange sie vor ihren schlimmsten Ängsten davonliefen, würden sie niemals die Wahrheit annehmen können. Lewis hatte seine Angst überwunden und es akzeptiert, deshalb konnte er trotz allem mit einem Lächeln sterben und hatte es geschafft, seine Erinnerungen zurückzuholen. Doch der Preis dafür war sein Leben gewesen. Und Dean hatte sie unbewusst herausgefunden. Er hatte nicht gezielt danach gesucht, sondern konnte sich aus eigener Kraft wieder erinnern, weshalb er kurz darauf auch sterben musste. Aber wieso starb denn jeder, der die Wahrheit herausfand und was versuchten Anna und Josephine vor ihr geheim zu halten? Ein lauter Schrei riss sie aus ihren Gedanken und sie blieb sofort stehen. Sie musste ein wenig genauer hinhören, aber dann erkannte sie, dass es Finnian war, der so laut schrie. Sofort eilte Mallory hin in der Hoffnung, dass sie noch nicht zu spät war. Kapitel 13: Die bittere Wahrheit -------------------------------- Mallory erreichte einen heruntergekommenen Kinderspielplatz, wo sie Finnian und Ilias fand. Ilias lag auf dem Boden und schien sich kaum bewegen zu können und sein bester Freund stand Todesängste aus, während er am ganzen Körper zitternd in einer Ecke kauerte. Sein Vater war da und er hatte den Gürtel in der Hand, mit dem er immer wieder auf Finnian eindrosch, während dieser versuchte, mit den Armen sein Gesicht zu schützen. „Du verdammter Bengel“, brüllte der Säufer, während er wieder und wieder auf seinen Sohn einschlug, der vor lauter Angst völlig unfähig war, sich zu wehren. „Hör auf zu flennen und tu endlich, was man dir sagt. Bist du ein Mädchen, oder was? Na los, jetzt mach endlich!“ „Nein, bitte hör auf. Ich will das nicht!“ Immer und immer wieder drosch er auf Finnian ein, um ihn endgültig zu brechen. Er würde nicht eher aufhören, bis er ihm gehorchte und dann würde die wahre Tortur noch beginnen. So weit durfte es nicht kommen! Da Ilias nicht imstande war, aufzustehen und seinen besten Freund zu beschützen, musste Mallory es selbst tun. Und sie war fest entschlossen, alles zu tun, damit dieses Schwein endlich damit aufhörte. Solange sie noch etwas tun konnte, würde sie nicht zulassen, dass er Finnian noch mal anfasste. „Aufhören“, rief sie und griff sich die Brechstange, die einer der beiden vorhin fallen gelassen haben musste. „Lassen Sie auf der Stelle Finny in Ruhe!“ Doch der stämmige Mittvierziger ignorierte sie völlig und packte schließlich Finnian an den Haaren und zerrte ihn hoch. „Du weißt, was du zu tun hast, also mach es gefälligst, oder ich schlag dir die Zähne einzeln raus!“ „Dad, bitte hör auf…“ „Nun mach schon, oder soll ich dir den Schädel genauso einschlagen, wie deinem Bruder?“ Mallory holte aus und schlug mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, die Brechstange auf den Kopf des Mannes und dieser Schlag war stark genug, um ihm den Rest zu geben. Wie ein nasser Sack fiel er zu Boden und erneut schlug sie zu, um auch wirklich sicher zu sein, dass er nicht mehr aufstehen würde. Pechschwarzes Blut spritzte, während sie auf ihn eindrosch und schließlich ließ sie die Brechstange sinken, um sich das Blut, falls es überhaupt welches war, aus dem Gesicht zu wischen. Ihre Lunge schmerzte und sie hatte Mühe, Luft zu holen. Sie war völlig außer Atem und ihre Arme taten von den kräftigen Schlägen weh. Außerdem bekam sie schon wieder Kreislaufprobleme, denn der Anblick des Toten begann schon wieder Angst bei ihr auszulösen. Schon jetzt spürte sie wieder, wie ihr Kreislauf zu rebellieren begann und ihr wurde schwindelig. Außerdem kehrten die Kopfschmerzen wieder zurück und wieder spürte sie diesen brennenden Stich in der Schläfe. Aber sie ignorierte den Schmerz, denn es gab jetzt viel wichtigere Dinge: Sie musste sich um die anderen kümmern, insbesondere um den armen Finnian, der sicher die Hölle durchgemacht haben musste, während sie nicht da gewesen war. Er hatte ziemlich viele Schläge abbekommen und starrte apathisch ins Leere, die Augen waren matt und starr und sein Blick war vollkommen leer geworden. Weder auf Mallory selbst, noch auf irgendwelche Worte reagierte er überhaupt noch. Er stand völlig neben der Spur. Also wandte sie sich zuerst an Ilias, der neben ihm auf dem Boden lag und drehte ihn auf den Rücken. Als sie seinen Arm dabei zu fassen bekam, bemerkte sie mit leisem Schrecken, dass er sich ganz kalt und hart anfühlte, als wäre er aus Marmor. „Ilias, was ist mit dir? Sag doch etwas!“ Ihre Blicke trafen sich, doch dieses Mal leuchteten seine Augen nicht mehr so wunderschön grün wie sonst. Nein, sie waren glasig und wirkten trüb, ja schon fast farblos. In seinem Gesicht war nichts als unendliche Verzweiflung und Todesangst zu sehen. „Mallory…“ Er streckte seine Hand nach ihr aus, doch bevor er sie berühren konnte, erstarrte seine leichenblasse Hand in der Bewegung und auf der Haut begannen sich Risse zu bilden. Ein hässliches Knirschen ertönte und dann zerbrachen seine Finger wie Stein. Dabei verzerrte sich sein Gesicht, als würde er von einer Welle unvorstellbarer Schmerzen erfasst werden. Er stöhnte gequält auf und atmete schwer, während der Prozess immer weiter fortschritt. Mallory konnte nicht fassen, was da gerade passierte und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie hielt seine Hand, spürte aber nur hartes und kaltes Gestein. Ilias begann vor ihren Augen zu versteinern und zu zerfallen. „Ilias, was passiert mit dir? Du… du verwandelst dich in eine Statue!“ „Hilf mir Mallory… bitte…“ Er hatte Angst, entsetzliche Angst sogar und wusste, was da gerade mit ihm passierte. In seinen Augen erkannte sie, dass er genau wusste, warum er versteinerte und zerfiel. Er hatte genauso wie Lewis und Dean die Antwort gefunden, was unweigerlich seinen Tod zur Folge hatte. Und er erlitt das Schicksal, das er am Meisten fürchtete. Das war für ihn noch schlimmer als die Tatsache, dass er sterben würde. „Ich… ich will nicht sterben, ich will keine Statue werden. Bitte hilf mir, ich will keine Statue werden, ich hab Angst!!!“ Doch Mallory wusste nicht, was sie für ihn tun konnte und ob es überhaupt etwas gab, was sie tun konnte, um diesen Prozess aufzuhalten. Stattdessen musste sie hilflos mit ansehen, wie Ilias’ restlicher Arm zerbröckelte und auch der Rest seines Körpers versteinerte. Seine Arme, seine Beine, wirklich alles wurde hart und kalt. Und auch als Mallory um Hilfe zu rufen begann, tat sich nichts. Kein rettendes Wunder geschah, stattdessen begann nun auch Ilias’ restliche Körperhälfte nach und nach zu zerfallen. Er starb langsam in ihren Armen und musste dabei entsetzliche Schmerzen ertragen. Schluchzend drückte sie ihn an sich und vergoss still ihre Tränen. Gab es denn gar nichts, was sie für ihn tun konnte, um ihm zu helfen? War denn wirklich alles zu spät? Wieso überhaupt verwandelte er sich langsam in eine Statue und zerfiel vor ihren Augen? Selbst sein Gesicht begann sich kalt anzufühlen und dunkle Risse zogen sich über seine Haut, als wäre sie zerbrechendes Porzellan. Wieso nur musste Ilias sterben und dann auch noch auf diese Weise? Das hatte er nicht verdient. „Ilias… bitte lass mich nicht alleine. Du darfst nicht gehen, hörst du? Bleib bei mir, ich brauche dich!“ Doch sein Blick verriet, dass es bereits zu spät war. Nichts und niemand konnte ihn jetzt noch retten. Sein Gesicht wurde nun auch so hart und kalt wie Marmor und verlor an Farbe. Die Risse wurden größer und sein Atem wurde immer schwerer. Dieser furchtbare Prozess musste unendlich schmerzhaft für ihn sein. „Es… tut mir Leid, Mallory. Dabei wollte ich dich und Finny beschützen und jetzt… jetzt lasse ich euch alle im Stich. Ich bin für niemanden eine Hilfe, immerzu versage ich auf ganzer Linie. Ich konnte Lewis nicht retten, ebenso wenig wie meine Mutter und meine Schwester.“ „Das stimmt nicht, bist kein Versager. Für mich warst du ein großartiger Mensch, genauso wie Lewis und Finny. Keiner von euch war je ein Versager oder ein Feigling. Ich bin hier diejenige, die versagt hat. Wegen mir ist Lewis gestorben und ich konnte nicht einmal Dean retten.“ Wie sehr wünschte sie sich, dass Ilias sie noch ein allerletztes Mal in den Arm nehmen und sie trösten würde. Sie wollte seine Wärme und seinen Herzschlag spüren und wissen, dass es in Ordnung war, auch mal schwach zu sein. Aber es würde nie wieder so sein. Seine Arme waren zerbrochen, ebenso wie seine linke Körperhälfte. Was von ihm übrig blieb, war ein kläglicher Rest, der unter furchtbaren Schmerzen langsam versteinerte. Und Mallory wurde auf schmerzliche Art und Weise klar, dass es nichts mehr gab, was sie noch für Ilias tun könnte. Er war verloren… genauso wie es Lewis und Dean waren. Sanft strich sie über sein Haar und küsste ihn ein allerletztes Mal. Es war ein trauriger Abschiedskuss und durch die vielen Tränen konnte sie kaum noch etwas sehen. Und doch… obwohl Ilias so starke Schmerzen hatte und wusste, dass er gleich sterben würde, lächelte er und ein kleiner Lebensfunke kehrte in seine wunderschönen grünen Augen zurück. „Mallory, ich… ich liebe dich. Eigentlich wollte ich dir das schon die ganze Zeit sagen, aber ich habe bis jetzt nie den Mut dazu aufgebracht, weil ich noch nie wirklich verliebt gewesen war. Und auch wenn die Zeit mit dir nur sehr kurz war, fand ich sie doch sehr schön. Die Zeit mit dir und den anderen hat mein Leben erst wirklich lebenswert gemacht. Und dafür möchte ich dir noch danken. Du bist meine erste große Liebe…“ „Und du die meine…“ Diese Worte brachte Mallory nur mit Mühe zustande, denn sie begann heftig zu schluchzen und konnte diesen Blick kaum ertragen. Sie konnte es nicht ertragen, Ilias so leiden zu sehen, geschweige denn, ihn sterben zu sehen. Insgeheim hoffte sie immer noch, dass ein Wunder geschehen und das Leben wieder in ihn zurückkehren würde. Dass die Versteinerung aufhören und er bald wieder ganz der Alte sein würde. Aber tief in ihrem Herzen wusste sie, dass es so etwas wie Wunder nicht gab. Happy Ends gab es nur in Romanen und Filmen, wo im allerletzten Moment noch eine Tragödie abgewendet werden konnte. Und als sie sah, dass Ilias’ Blick nun gänzlich leer geworden und sein Gesicht völlig erstarrt war, wusste sie, dass es nun vorbei war. Ilias war tot… Vorsichtig legte sie sie ihn auf den Boden, damit nicht auch noch der Rest seines Körpers zerfiel, dann verbarg sie das Gesicht in den Händen und weinte bitterlich. Sie fühlte sich vollkommen allein gelassen und all ihr Schmerz und Kummer brach mit einem Male hervor. Nach und nach ging jeder von ihr und sie hatte es nicht aufhalten können. Weder Lewis, noch Dean und Ilias hatte sie retten können. Warum nur hatte auch noch Ilias auf solch eine schreckliche Art und Weise sterben müssen? Das war einfach nur grausam. Und während sie weinte, realisierte sie, dass sie ihn niemals wieder sehen würde. Er würde nicht mehr mit seinem Fahrrad durch die Stadt rasen und sie verlegen ansehen, weil er zu schüchtern war, um ihr seine Gefühle zu gestehen. Er würde sie nie wieder in den Arm nehmen und ihr das Gefühl geben, dass sie auch mal schwach sein durfte und sich von anderen beschützen und halten lassen konnte. Zwar war sie schon in der Vergangenheit verliebt gewesen, aber sie hatte nie das Gleiche gefühlt wie bei Ilias. Im Grunde war er tatsächlich ihre erste wahre Liebe. Doch nun war er nicht mehr da und sie hatte nichts tun können, um ihn vor diesem grausamen Tod zu bewahren. Sie war genauso machtlos wie damals, als sie nicht einmal ihre Familie beschützen konnte. Wirklich alles war schief gelaufen. Warum nur hatte sie unbedingt nach Dark Creek kommen müssen? Wäre sie niemals hierher gekommen, dann hätte das alles nicht passieren müssen. Ilias würde täglich seine Botengänge machen und mit seinem besten Freund Finnian Tennis oder mit dem kleinen Dean Fußball spielen. Dean könnte ausgelassen spielen und sein Leben als normaler kleiner Junge leben und wäre glücklich. Vielleicht wäre auch Lewis glücklich gewesen, wenn er sich nie erinnert hätte. Womöglich war alles tatsächlich allein ihre Schuld, weil sie sich unbedingt überall einmischen und alte Wunden wieder aufreißen musste. Ja, es war alles ihre Schuld gewesen. Sie hatte den Anfall von Finnian verschuldet, weil sie ihn an den Mord an seinen Bruder und die unzähligen Misshandlungen und Vergewaltigungen durch seinen Vater erinnern musste. Hätte sie nicht so viel gefragt, hätte Lewis nicht den Entschluss gefasst, in den Vergnügungspark zu gehen und dann wäre er vielleicht noch hier. Hätte sie nicht auf diese Statuen geschossen, wäre Dean vielleicht noch am Leben und hätte sie Ilias und Finnian nicht mitgeschleppt, dann hätte das alles auch nicht passieren müssen. Dann wäre Finnian diese Konfrontation mit seiner schlimmsten Angst erspart geblieben und Ilias hätte nicht zu einer Statue werden müssen. Allein ihretwegen mussten sie diese Hölle erneut durchleben. Was war sie doch bloß für ein rücksichtsloser und egoistischer Mensch, dass sie das Leben der anderen aufs Spiel gesetzt hatte, nur weil sie wissen wollte, was aus ihrer Familie wurde und wer sie wirklich war. „Mallory…“ Als sie diese schwache und gebrochene Stimme hörte, wandte sie sich um und sah Finnian, der immer noch in der Ecke kauerte, nun aber den Blick erhoben hatte und ins Leere starrte. Er weinte nicht, es gab keinerlei Gefühlsregungen bei ihm. Und Mallory wusste auch warum: Er hatte keine Tränen mehr, die er noch hätte vergießen können. In der Vergangenheit hatte er einfach zu oft geweint. Aber sie selbst konnte nicht aufhören und in dem Moment fühlte sie, als müsste sie auch für ihn weinen. „Finny… es tut mir so Leid… es ist alles meine Schuld.“ Apathisch starrte Finnian ins Leere, innerlich schien er gänzlich gebrochen zu sein. Aber dann schaute er sie an und es schien so, als würde er dieses Mal gezielt ihren Blick suchen. In diesem Moment wirkte er plötzlich wie ein ganz anderer Mensch und nicht wie der Finnian, den sie gekannt hatte. Er war nicht mehr der allzeit gut gelaunte, witzige und fröhliche Finny McKinley, den sie kennen gelernt hatte und der in einer Welt voller Selbstlügen lebte. Nun war er der Finnian, der er wirklich war: Ein hoffnungsloser und gebrochener Junge, der zu viel in der Vergangenheit ertragen musste und wirklich alles verloren hatte, was er besaß. Seine Unschuld, seine Hoffnung, seinen kleinen Bruder. „Nein“, sagte er mit tonloser Stimme und sah sie weiterhin an. Er war in diesem Moment einer Leiche ähnlicher als einem Menschen. „Du kannst nichts dafür, was passiert ist. Ich… ich habe es nun endlich verstanden. Was Lewis uns sagen wollte und wieso er Selbstmord beging. Und auch, warum Dean und Ilias gestorben sind. Wir alle haben es tief in unserem Herzen gewusst, aber solange wir es verdrängt hatten, konnten wir so unbeschwert weitermachen wie bisher. Die Wahrheit ist, dass uns so oder so nichts und niemand hätte retten können.“ Fassungslos starrte Mallory an und glaubte zunächst, es wäre die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die da aus ihm sprach. „Warum sagst du so etwas?“ Unter dem Verband, den er am Hals trug, begann sich ein dunkelroter Fleck zu bilden. Er presste eine Hand an die Stelle und sah, dass an seiner Hand Blut klebte, doch selbst das rührte ihn nicht mehr. „Die Wahrheit ist, dass wir schon verloren waren, als wir nach Dark Creek kamen. Und jetzt kann ich mich auch endlich wieder an alles erinnern. Auch an das, was damals passiert ist.“ „Was ist passiert?“ „Als Keenan geboren wurde, war ich gerade 13 Jahre alt. Unsere Mutter starb bei seiner Geburt und war schon mit mir völlig überfordert gewesen, weshalb sie nie wirklich eine Mutter für mich war. Nach ihrem Tod verlor Dad seinen Job und wurde Alkoholiker. Er hat sich nie um Dean oder mich gekümmert, weshalb ich meinen Bruder letztendlich selbst großgezogen habe. Schließlich wurde mein Alter gewalttätig, er schlug mich fast jeden Tag grün und blau und drückte seine Kippen auf meinem Arm aus. Wenn er richtig sauer war, hatte er mich mit dem Gürtel verdroschen. Und dann, als er von einer Kneipentour zurückkam, schleifte er mich zum Bett. Er sagte, er würde mich und meinen Bruder umbringen, wenn ich nicht tun würde, was er sagt. Also habe ich still gehalten und mir in die Hand gebissen, damit ich nicht schrie oder weinte. Manchmal war er dabei so brutal, dass ich zwei Tage nicht mehr stehen konnte und wenn ich es konnte, stand ich fast zwei Stunden unter der Dusche und hab mir die Seele aus dem Leib geheult. Ich hab mich so schmutzig und abstoßend gefühlt, aber ich hatte gleichzeitig entsetzliche Angst, dass er seine Drohung wahr macht und Keenan etwas antut. Als er schließlich auf den Trichter kam, sich auch an Keenan zu vergreifen, wurde mir klar, dass ich für uns beide stark sein musste und ertrug damit auch all dies, was er ihm antun wollte. Mein Alltag bestand aus Angst, Schmerzen, Selbsthass, Scham und Selbstmordgedanken. Allein die Sorge um meinen kleinen Bruder hielt mich davon ab, mir die Pulsadern aufzuschneiden, oder vor den nächsten Zug zu springen. Ich wusste, dass Keenan das Gleiche durchleben würde wie ich, wenn ich ihn im Stich lasse. Da ich wegen alledem kaum zur Schule ging, brach ich sie letztendlich ab und hielt mich mit Aushilfsjobs über Wasser. Alles, was ich an Geld entbehren konnte, sparte ich zusammen, damit ich mit meinem Bruder abhauen konnte. Mir war klar, dass wir unbedingt von zuhause weg mussten. Ich wollte, dass Keenan es besser haben wird als ich und dass er irgendwo aufwächst, wo er nicht diese schrecklichen Dinge miterleben muss. Tagsüber arbeitete ich im Kiosk und nachts an der Tankstelle. Wenn ich zuhause war, dann setzte es meist Prügel oder er verging sich an mir. Aber ich hielt durch, weil ich Keenan unbedingt aus dieser Hölle rausholen und selbst vor den Übergriffen meines Vaters flüchten wollte. Vor sechs Monaten war alles bereit und ich hatte genug zusammengespart. Ich musste nur ein paar Sachen besorgen gehen und dann konnten wir los. Als ich nach Hause kam und Keenan mitnehmen wollte, fand ich ihn in einer Blutlache liegend in seinem Zimmer. Dad stand mit einem Müllsack da und wollte seine Leiche entsorgen gehen. Er hatte einen Ausraster gehabt, nachdem seine Lieblingsmannschaft das Match verloren hatte und dabei hatte er zu heftig zugeschlagen und Keenan zu Tode geprügelt. Das war zu viel für mich in dem Moment. Ich habe nur noch rot gesehen und wollte diesen Bastard endlich büßen lassen für das, was er mir und letztlich auch Keenan angetan hat. Ich wollte ihn umbringen.“ Finnian begann nun schwerer zu atmen und presste wieder seine Hand gegen den Hals. Die Blutung wurde immer stärker und Mallory wollte schon hin und ihm helfen, doch er hielt sie zurück. Er war bereit, genauso wie Lewis bereit gewesen war und wollte vorher wenigstens noch Mallory die Wahrheit wissen lassen, auch wenn es für sie schrecklich sein würde. „Ich war in dem Moment so voller Wut, dass ich ihn einfach so angriff und versuchte, ihn genauso zu verprügeln, wie er mich immer verprügelt hatte. Aber er war einfach zu stark für mich. Als er genug auf mich eingeschlagen hatte, nutzte er meinen wehrlosen Zustand aus, um mich wie schon viele Male zuvor zu vergewaltigen. Als er fertig war, holte er das Taschenmesser aus seiner Hose und schnitt mir den Hals auf. Und dann bin ich gestorben.“ Stille trat ein, fassungslose Stille. Mallory starrte Finnian entsetzt an und konnte nicht glauben, was sie da hörte. Er war gestorben? Aber wie konnte es sein, dass er hier vor ihr war? War er etwa ein Geist? „Ilias, Dean und Lewis… sie alle sind auch gestorben, bevor sie nach Dark Creek gekommen sind. Ilias hatte eine seltene Erbkrankheit, genauso wie seine Schwester Sarah und seine Mutter. Sie wird Fibrodysplasia ossificans progresssiva genannt und ist eine Art Defekt. Der Körper beginnt nach und nach die Muskelzellen in Knochen umzuwandeln, wodurch sich eine Art zweites Skelett im Körper bildet. Das hat zur Folge, dass die Betroffenen zu lebenden Statuen werden. Ilias’ Mutter starb bereits an dieser Krankheit und als auch Sarah die Symptome bekam, wurde Ilias bewusst, dass auch er und seine Schwester genauso krank waren. Er wollte mit aller Macht dagegen ankämpfen und trieb exzessiv Sport, um zu verhindern, dass er genauso bewegungsunfähig und bettlägerig wird wie seine Mutter. Dank seiner sportlichen Leistungen kam er an ein Stipendium und begann in den USA Medizin zu studieren. Er wollte ein Heilmittel für diese Krankheit entwickeln, um sich selbst und seine Schwester zu retten. Aber es gibt kein Heilmittel für die Verknöcherung und egal wie sehr Ilias auch kämpfte, er kämpfte letzten Endes auf verlorenem Posten. Der Krankheitsverlauf und die damit verbundene Verknöcherung der Muskeln war äußerst schmerzhaft und Ilias kämpfte trotz der vielen Niederlagen weiter. Sarah, die das alles nicht ertragen konnte und nicht so elendig sterben wollte wie ihre Mutter, beging schließlich Selbstmord, indem sie eine Überdosis Schlaftabletten schluckte. Ilias versuchte noch, ihr Leben zu retten, spritzte aber in seiner Panik das falsche Mittel, sodass Sarah nicht mehr rechtzeitig gerettet werden konnte. Nach dem Selbstmord seiner Schwester war auch er mit seiner Kraft am Ende und brach schließlich während seines Trainings zusammen, wobei er sich ein Bein brach. Dies führte dazu, dass der Verknöcherungsprozess noch schneller voranschritt und Ilias schließlich genauso ans Bett gefesselt war wie seine Mutter. Er starb schließlich nach zwei Jahren unter starken Schmerzen, als seine Organe sich genauso verhärteten und sein Herz deshalb aufhörte zu schlagen.“ Mallorys Brust schnürte sich zusammen, als sie das hörte. Es tat ihr in der Seele weh, zu hören, was wirklich passiert war. Aber nun verstand sie auch, was es mit Ilias’ Verhalten auf sich hatte und wieso er solch eine panische Angst vor Statuen hatte. Sie erinnerten ihn an diese Erbkrankheit, die ihn dazu verurteilt hatte, genauso zu einer lebenden Statue zu werden wie seine Mutter. Zwar hatte er sich nicht mehr erinnern können, was mit ihm und seiner Familie passiert war, aber die Gefühle waren immer noch geblieben. Diese hatte man ihm nicht nehmen können, was auch dazu geführt hatte, dass in Dark Creek wieder einige Symptome aufgetreten waren. Ilias’ steife Gelenke waren der Beweis, dass man niemals diese Erinnerungen gänzlich entfernen konnte, weil diese damit verbundenen Emotionen unauslöschlich waren. Deshalb hatte auch Finnian all die Zeit in einer von ihm geschaffenen Illusion gelebt, in der sein kleiner Bruder noch am Leben war. Und nun wusste sie auch, wieso Ilias so furchtbare Angst gehabt hatte, als er seinem besten Freund die Injektion geben musste: Er hatte seiner Schwester in seiner Angst um ihr Leben ein falsches Mittel gegeben, weshalb sie letztendlich durch die Schlafmittelüberdosis starb. Hätte er nicht versagt, dann hätte er sie vielleicht retten können. Er musste sich bis zu seinem Tod schreckliche Vorwürfe gemacht haben, dass er seine Schwester nicht retten konnte und dass er nicht imstande war, ein Heilmittel für ihre Krankheit zu finden. Mallory wischte sich die Tränen aus den Augen und beobachtete, wie Finnians Blutverlust höher wurde. „Und was ist mit Lewis und Dean passiert?“ „Dean wurde von seiner älteren Schwester immer schikaniert, genauso wie von seinen Mitschülern. Seine Eltern hatten ihn immerzu unter Druck gesetzt, weil er nicht so gut in der Schule war und er war oft unglücklich deswegen. Drei Male lief er von zuhause weg, oder kam gar nicht erst von der Schule wieder. Stattdessen trieb er sich alleine auf dem Spielplatz herum und dabei lernte er schließlich Anna kennen, die auf ihre Weise genauso traurig und einsam war wie er. Sie wurden Freunde und Dean kam sie oft besuchen. Anna und Josephine waren die einzigen Freunde, die er hatte und bei ihnen fand er Halt und Trost. Aber dann kam es in der Schule zu einem Amoklauf. Ein Mann kam mit einem Sturmgewehr in die Schule und erschoss mehrere Kinder, darunter auch Lehrer. Dean hat mit ansehen müssen, wie seine Klassenkameraden und Lehrer vor seinen Augen erschossen wurden. Es brach schließlich Panik in der Schule aus und viele versuchten wegzulaufen, wobei sie erschossen oder verletzt wurden. Dean stürzte zu Boden und versteckte sich in einem Spind in der Hoffnung, dass man ihn nicht finden würde. Doch der Mann fand ihn, zerrte ihn heraus und brachte ihn mit anderen Geiseln in die Sporthalle. Dort fand eine regelrechte Exekution statt, bei der nach und nach jeder erschossen wurde, bis die Polizei die Halle stürmen und den Mann töten konnte. Für Dean kam diese Hilfe leider zu spät und er wurde direkt ins rechte Auge getroffen. Er war sofort tot, als der Schuss ihn traf. Lewis hat das Zugunglück, in welches er geraten war, nicht überlebt. Als der Tunnel einstürzte, wurden sie verschüttet und dabei brach sich Lewis beide Beine. Aber er ist als Einziger von uns bis zu seinem Tode stark geblieben und hat bis zuletzt nicht den Mut und nicht eine Sekunde lang seinen Willen verloren. Obwohl er sich kaum bewegen konnte, tat er alles, um den Verletzten zu helfen und die verängstigten Menschen aufzumuntern. Er versprach ihnen, bis zu ihrer Rettung durchzuhalten und alles zu tun, um sie zu retten. Aber er selbst wusste, dass er nicht lange durchhalten würde. Bei dem Unglück hatte er sich auch starke innere Blutungen zugezogen und hätte dringend ins Krankenhaus gemusst. Da er nicht wusste, ob er es überhaupt ins Krankenhaus schaffen würde, verfasste er eine Nachricht, in der er sich als Organspender bereit erklärte, falls er sterben sollte. Er versprach den anderen Verunglückten, dass er nichts unversucht lassen würde, um ihnen zu helfen und wenn eine Organspende die letzte Möglichkeit sein würde. Dies führte dazu, dass seine Nachricht für die Ärzte und Sanitäter zu einer Liste wurde. Fast alle, die ebenfalls im Zug feststeckten, waren so bewegt, dass sie sich ebenfalls als Organspender eintrugen, wenn sie es nicht schaffen sollten. Lewis schaffte es tatsächlich, den Verletzten Mut zu machen und die ganze Gruppe zusammenzuhalten. Und dank seinem Engagement konnte die Zahl der Toten deutlich niedrig gehalten werden und mit seiner Idee hatte er bewirkt, dass selbst nach seinem Tod Menschen gerettet werden konnten. Und er schaffte es tatsächlich, bis zu ihrer Rettung durchzuhalten, aber er starb dann, bevor er überhaupt den Rettungswagen erreichte. Trotzdem war er glücklich. Er ist genauso wie in Dark Creek mit einem glücklichen Lächeln gestorben, weil er letztendlich doch unter dem freien Himmel sterben durfte.“ Mallory hatte den Blick gesenkt und schwieg. Alles ergab nun endlich Sinn und sie verstand auch, was es mit diesen ganzen Ungereimtheiten auf sich gehabt hatte. Deans fehlendes Auge erklärte sich auf die gleiche Weise wie Ilias’ Gelenksteifheit in Dark Creek und deshalb war er auch im Spiegellabyrinth gestorben. Als die Beretta abgefeuert wurde und er die Schüsse hörte, hatte er sich wieder an den Amoklauf an seiner Schule erinnert und dass er dabei ums Leben gekommen war. Und nun klärte sich auch auf, wieso Lewis am Vorabend so starke Schmerzen hatte und wieso seine Beine gebrochen waren, als er herunterstürzte. Sie alle starben auf die gleiche Weise wie sie zuvor gestorben waren. Dean starb durch die Verletzung an seinem Auge, Ilias wurde zu einer lebenden Statue und Finnian verblutete durch die Schnittwunde, die sein Vater ihm zugefügt hatte. Und Lewis wäre an seinen inneren Blutungen gestorben, doch bevor das passieren konnte, hatte er seine letzten Kräfte mobilisiert und wollte vom Dach springen, bevor es dazu kam. Als seine Beine erneut brachen, stürzte er und hatte sich instinktiv festgehalten. Aber dann hatte er realisiert, dass er noch die Chance und die Freiheit besaß, seinen Tod selbst zu bestimmen und hatte daraufhin losgelassen. Und weil er wusste, dass er damals bei seinem Tod alles richtig gemacht und vielen Menschen geholfen hatte, konnte er ohne Reue und ohne Angst dem Tod ins Auge sehen. Mallory erinnerte sich an die Fotos in dem abgeschlossenen Zimmer seines Hauses. „Die Personen auf den Fotos… sind das die Menschen, die er gerettet hat?“ „Ja. Indem er sich schriftlich als Organspender gemeldet hat, konnte er einigen Menschen ein neues Leben schenken. Und ohne sein Engagement nach dem Zugunglück hätten einige vielleicht nicht überlebt. Ich habe mich geirrt… Lewis war wirklich ein unglaublicher Kämpfer. Bis zu seinem Tode hat er gekämpft und war immer stark für andere gewesen, selbst in Dark Creek. Im Grunde war er trotz seines Selbstmordes der Glücklichste von uns gewesen, denn er hat den Mut besessen, seinen Tod selbst zu bestimmen und sein Schicksal zu akzeptieren, ohne etwas bereuen zu müssen. Auch wenn er den Menschen, den er über alles liebt, niemals wiedersehen wird.“ Finnian klang sehr unglücklich, als er das sagte und er senkte traurig den Blick. Er hatte immer zu Lewis aufgesehen und jetzt, da er seine ganze Geschichte kannte, umso mehr. Und selbst kam er sich schwach vor, weil er es nicht geschafft hatte, seinen kleinen Bruder zu retten. Mallory ging zu ihm hin und umarmte ihn, um ihm im Augenblick seines Todes beizustehen und ihm nicht das Gefühl zu geben, er wäre genauso alleine wie vor sechs Monaten, als sein Vater ihn umgebracht hatte. Wenn er schon sterben musste, dann sollte er wenigstens das Gefühl haben, dass es auch mal okay war, schwach zu sein. Genauso wie sie sich immer gefühlt hatte, wenn Ilias sie in den Arm genommen hatte. Diese Umarmung war zwar rein freundschaftlicher Natur, aber sie hatte dennoch etwas sehr Emotionales und Inniges. Und sie spürte, wie Finnian innerlich bebte und am liebsten geweint hätte. Aber er konnte es nicht mehr. Stattdessen begann er nach Luft zu schnappen und hustete, als der Schnitt so tief wurde, dass Blut in seine Luftröhre floss und er dadurch kaum noch atmen konnte. Und obwohl der Blutverlust bereits lebensbedrohlich war und er fast zu ersticken drohte, kehrte doch etwas Leben in ihn zurück und er drückte sie zum Abschied fest an sich. „Danke für alles, Mallory. Die Zeit mit dir und den anderen war die schönste, die ich in meinem Leben jemals hatte. Dank euch hatte ich zum ersten Mal richtige Freunde. Und gib dir bitte nicht die Schuld dafür, dass es mit uns so endet, okay? Eigentlich müssten wir dir sogar dankbar sein. Wir sind endlich frei und sowohl Ilias als auch ich konnten einen angenehmeren Tod sterben, als das letzte Mal. Lewis ist genauso glücklich gestorben wie zuvor und auch Dean war nicht alleine. Und wir hatten die Chance, auch mal so etwas wie Glück zu erfahren, nachdem es das Leben schon nicht gut mit uns meinte. Ilias war zum ersten Mal verliebt und ich hatte endlich so etwas wie eine richtige Familie. Aber wirf du dein Leben bitte nicht weg, ja? Du hast es noch vor dir, du bist die Einzige von uns, die noch ein richtiges Leben zu leben hat und damit die Chance, das Beste daraus zu machen. Du kannst Dark Creek verlassen, aber du musst dafür selbst mit dir ins Reine kommen. Lauf nicht länger vor deiner Angst davon, sondern akzeptiere sie als einen Teil deiner Vergangenheit. Und was war, das ist Vergangenheit und du kannst dein Leben selbst bestimmen, dazu musst du nur die Angst in dir selbst bekämpfen. Versöhne dich mit deiner Familie und lebe dein Leben, dass du nichts zu bereuen hast! Versprichst du mir das?“ „Ich verspreche es!“ Es fiel ihr unsagbar schwer, überhaupt noch ein Wort zu sprechen, denn sie spürte, dass sie selbst dazu kaum noch die Kraft aufbringen konnte. Aber sie wollte es Finnian noch vorher versprechen, denn wenn er schon sterben sollte, dann auch glücklich. Er sollte nicht so einsam und würdelos sterben müssen wie damals, als sein Vater ihn getötet hatte. Was auch immer in ihrer Macht stand, sie wollte, dass sein Ende so angenehm wie möglich gemacht wurde. „Ich werde alles tun was nötig ist, um nach Hause zu meiner Familie zurückzukehren. Und dieses Mal werde ich nicht wieder alles verdrängen, sondern mich an die Zeit mit euch allen erinnern, das verspreche ich. Aber… kann ich noch etwas für dich tun, irgendetwas?“ „Könntest du mich bitte noch so im Arm halten? Weißt du, es ist das allererste Mal in meinem Leben, dass mich jemand so gehalten hat, ohne dass es gleichzeitig mit irgendwelchen Schmerzen verbunden war.“ Und Mallory erfüllte ihm diesen letzten bescheidenen Wunsch. Sie spürte, wie sie selbst am ganzen Körper zitterte und wie alles in ihrem Inneren bebte. Aber sie blieb stark und fühlte, wie Finnian selbst immer schwächer wurde. Und als seine Kräfte ganz gewichen waren und sein Kopf nach hinten fiel, legte sie den Toten vorsichtig zu Boden, so als würde sie einen Schlafenden zu Bett legen. Und tatsächlich sah Finnian so aus, als schliefe er bloß. Seine Augen waren geschlossen und obwohl er nicht so lächelte wie Lewis oder Ilias, so wirkte er dennoch glücklich. Denn im Augenblick seines Todes war er nicht alleine gewesen und hatte stattdessen Wärme und Nächstenliebe erfahren, was ihm damals immer fremd gewesen war. Er hatte einen würdevollen Tod finden können und dieses Mal ohne Angst gehen können. Denn im Augenblick seines Todes hatte er es geschafft, seine trostlose und traurige Vergangenheit zu akzeptieren und damit auch die Tatsache, dass sein jetziges Leben in Dark Creek nur geliehen war. Nun war Mallory die Letzte, die noch übrig war. All ihre Freunde hier waren tot und sie lebte noch. Sie hatte als Einzige noch eine Zukunft außerhalb von Dark Creek… Kapitel 14: Flucht durch den Park --------------------------------- Wie lange Mallory bei Ilias und Finnian geblieben war, wusste sie selbst nicht mehr. Sie hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren und war so in ihrem Schmerz und ihrer Trauer gefangen, dass sie für rein gar nichts mehr empfänglich war. Weder für wechselnde Tageszeiten, noch für kalten Wind. Alles in ihr fühlte sich so leer an und mit einem Male schien es ihr so, als wäre sie ganz alleine auf der Welt. Ihr Kopf war leer und sie wusste nicht, was sie noch tun sollte. Sollte sie weitersuchen nach den Antworten bezüglich ihrer Vergangenheit? Sollte sie in Dark Creek bleiben, oder besser nach Hause gehen? Sie wusste es nicht und konnte keine wirkliche Entscheidung treffen. Immer noch kniete sie neben den Leichen von Ilias und Finnian und spürte selbst rein gar nichts mehr außer der unendlichen Leere in ihrem Herzen. Sie hatte sowohl die beiden als auch Dean und Lewis nicht lange gekannt, aber ihr Tod nahm sie dennoch sehr mit. Denn sie alle waren herzensgute Menschen gewesen, die ihr während ihrer Suche immer zur Seite gestanden und ihr immer geholfen hatten, wenn sie nicht alleine weiterkam. Jeder von ihnen war ein wunderbarer Freund gewesen und dabei hatten sie alle eine unendlich traurige Vergangenheit geteilt und waren gestorben. In Dark Creek hatten sie aus irgendwelchen Gründen eine zweite Chance bekommen, noch eine Zeit lang glücklich zu sein und sich ihre Träume zu erfüllen und das zu tun, was ihnen Freude machte. Aber nach und nach ging dies alles zu Bruch. Lewis konnte trotz allem seine Liebe zu Zane nicht vergessen und erkannte als Erster, dass mit diesem Leben etwas nicht in Ordnung war. Er hatte daraufhin sein ganzes Leben hinterfragt und gemerkt, dass es einige Ungereimtheiten gab und letztendlich war es Mallory gewesen, die ihm den entsprechenden Anstoß gab. Indem sie ihn unbewusst mit Fragen auf seine verlorene Liebe stieß, hatte Lewis erkannt, dass man ihm seine Erinnerungen genommen hatte. Und daraufhin war er in den Vergnügungspark gegangen, um die Antworten zu finden. Es gelang ihm dort, seine eigene Vergangenheit und die der anderen aufzudecken. Aber er hatte es nicht übers Herz gebracht, seine Freunde mit der Wahrheit zu konfrontieren weil er wusste, dass es ihnen wirklich alles nehmen würde. Ihr Glück, ihre Hoffnung, einfach alles. Deshalb hatte er hartnäckig bis zuletzt geschwiegen und in seinem Abschiedsbrief erklärt, dass sie selbst die Wahrheit herausfinden mussten, wenn sie dazu bereit wären. Und deshalb hatte er auch nicht in seinem Abschiedsbrief ergänzt, dass er wusste, dass er an den Folgen der schweren Verletzungen durch das Zugunglück gestorben war. Er konnte es ihnen nicht sagen, deshalb hatte er alles mit sich allein ausgemacht. Und indem Mallory unbedingt herausfinden wollte, was das alles mit ihr selbst zu tun hatte, war sie in den Park gegangen und sowohl sie als auch Ilias und Finnian waren mit ihren schlimmsten Ängsten konfrontiert worden. Mit der Folge, dass sich Ilias und sein bester Freund wieder an alles erinnerten und daraufhin erneut starben. Und auch Dean war gestorben, als er sich erinnerte, dass er damals bei einem Amoklauf erschossen wurde. Mallory war mitverantwortlich dafür, dass sie sich alle wieder an ihre ganze Vergangenheit erinnert hatten und deshalb sterben mussten. Und nun stellte sie sich selbst die quälende Frage ob das, was sie getan hatte, das Richtige war. Hatte sie ihre Freunde erlöst, oder sie bloß ins Verderben gestürzt? Wäre es vielleicht besser gewesen, sie wäre niemals nach Dark Creek gekommen? Dann wären die anderen sicherlich noch glücklich und könnten unbeschwerte Tage miteinander verbringen. Aber andererseits wäre dieses Glück nicht von langer Dauer gewesen, wenn sie so darüber nachdachte. Lewis war anders gewesen, er empfand Dark Creek als ein Gefängnis und war unglücklich damit. Sich die Freiheit zu nehmen, selbst über seinen Tod zu bestimmen war das einzige Glück, was er sich noch erhofft hatte. Er hatte erkannt, dass es kein Zurück mehr gab, für niemanden. Keiner von ihnen konnte die Zeit zurückdrehen und die Dinge, die geschehen waren, wieder ungeschehen machen. Finnian konnte seinen Bruder nicht zurückholen, ebenso wenig wie Ilias seine Schwester und seine Mutter. Und sowohl Dean als auch Lewis konnten nicht nach Hause zurück, egal wie sehr sie es sich auch gewünscht hätten. Sie waren tot und damit konnten sie nur noch ihr Schicksal akzeptieren. Früher oder später wäre es so oder so für sie alle so gekommen, dass sie mit ihren schlimmsten Erinnerungen konfrontiert wurden. Aber da wären sie ganz alleine gewesen und hätten wahrscheinlich noch mehr gelitten als ohnehin schon. Es war ein leichter Trost, dass sie hier jemanden gehabt hatten, der in ihren letzten Momenten bei ihnen war. Anna war bei Dean gewesen, als er tot zusammenbrach. Ilias und Finnian hatten Mallory, die bis zuletzt an ihrer Seite geblieben war und ihnen beigestanden hatte. Wenigstens das war ein kleiner Trost gewesen und so hatten sie wenigstens glücklicher sterben können als das letzte Mal. Und was war mit ihr? Sie war die Einzige in Dark Creek, die nicht gestorben war und sie hatte die Stadt nicht verlassen können, weil sie unterbewusst vor ihrer eigenen Vergangenheit davonlief, genauso wie die anderen. Ihr Blick wanderte zu Finnian, der mit aufgeschlitztem Hals da lag, blutüberströmt und totenblass. Und trotzdem sah er dabei so friedlich aus, als würde er bloß schlafen. Sie hatte ihm kurz vor seinem Tod versprochen, dass sie nicht mehr länger vor ihren Ängsten davonlaufen und sich ihrer Vergangenheit stellen würde. Und sie hatte ihm versprochen, dass sie nach Hause gehen, ihrer Familie verzeihen und ihr Leben wirklich leben würde, solange sie es noch hatte. Ja, sie sollte endlich aufhören, vor ihrer Angst davonzulaufen und sich den Tatsachen zu stellen. Ganz egal, was sie am Ende erwarten würde. Sonst wäre sie völlig umsonst hergekommen. Langsam kam sie wieder auf die Beine und nahm die Brechstange an sich, die sie zuvor benutzt hatte, um Finnian davor zu bewahren, von seinen eigenen Ängsten gepeinigt und in den Wahnsinn getrieben zu werden. Es klebte immer noch pechschwarzes Blut daran, aber sie störte sich nicht sonderlich daran. In ihren Augen war das nicht einmal Blut, sondern so etwas wie die Essenz der Angst. Dieser Ort war das Zentrum der Angst und wer sie nicht beherrschen konnte, wurde von ihr verfolgt und zerstört. Lewis hatte es ganz alleine geschafft, weil er seine Angst überwinden konnte. Ausgerechnet er war stärker gewesen als sie alle zusammen, obwohl er selbst von großen Selbstzweifeln geplagt worden war und sich selbst nie wirklich lieben konnte. Wie hatte er es nur geschafft, die Tatsache zu akzeptieren, dass er nicht mehr lebte und es für ihn nichts anderes mehr gab als den Tod? Insgeheim wünschte sie sich, sie wäre annähernd so stark wie er. Sie atmete tief durch und versuchte, sich zu sammeln und nicht zurückzusehen, wo die Leichen ihrer Freunde lagen. Daran durfte sie jetzt nicht denken, sonst würde sie es nicht schaffen, das wusste sie jetzt schon. „Ilias, Finny… ich bin bald wieder zurück.“ Mit der Brechstange in der Hand machte sich die 24-jährige auf den Weg, unsicher, wohin sie eigentlich gehen sollte. Der Vergnügungspark war unfassbar riesig, viel größer, als er von außen eigentlich wirkte. Entweder bildete sie sich das nur ein, oder Josephine hatte auch hier ihre Finger im Spiel. Oder es konnte daran liegen, dass langsam es allmählich dunkler wurde. Auch das noch, dachte sie und sah auf die Uhr. Bald würde die Sonne untergehen und obwohl sie eine Taschenlampe dabei hatte, würde das ihre Situation auch nicht bessern. Wenn sie richtig lag, würde es nicht mehr lange dauern, bis sie erneut von Monstern angegriffen wurde, die ihre schlimmsten Ängste verkörperten. Und dann waren da auch noch Anna und Josephine, von denen sie immer noch nicht so wirklich wusste, was ihr Ziel war. Eine unheimliche Stille breitete sich über den ganzen Park aus und Mallory wurde sichtlich unruhiger. Zwar hatte sie keine Angst im Dunkeln, doch sie fürchtete sich vor der gesichtslosen Frau, die sie in der Spiegelkammer beinahe umgebracht hätte. Sie wusste nicht, wer diese Frau war und sie hatte auch nicht wirklich Lust, sich das Gesicht abreißen zu lassen und dann hinterher genauso auszusehen. Allein der Gedanke daran, wie sich das wohl anfühlte und wie sie danach aussehen würde, ließ sie erschaudern. Schön und gut, dass Finnian ihr gesagt hatte, dass sie sich ihren Ängsten stellen muss, aber das war leichter gesagt als getan. Und insgeheim bezweifelte sie, dass sie es wirklich schaffen konnte. Aber eines beschäftigte sie schon: Wenn Anna wirklich die Wahrheit gesagt hatte und sie vor 17 Jahren mit den beiden befreundet war, wieso griffen die beiden sie an und drohten ihr sogar? Und warum verhielt sich Anna immer so abweisend ihr gegenüber? Aus diesen beiden Mädchen wurde sie echt nicht schlau, besonders nicht aus Josephine. Zuerst jagten sie ihr Angst ein und wollten sie mit allen Mitteln aus der Stadt haben und dann retteten sie sie vor der gesichtslosen Frau. Außerdem verhielt sich insbesondere Josephine ihr gegenüber vollkommen feindselig und aggressiv, als würde sie einen Hass auf sie haben. Warum? Vielleicht, weil ihre Eltern vor 17 Jahren Anna getötet hatten? War das die Antwort? Wenn dem so war, würde es zumindest erklären, wieso Josephine in der Spiegelkammer so mit ihr geredet hatte. Aber was war mit Laura gewesen? Anna sagte, es sei ein schrecklicher Unfall gewesen. Sollte es vielleicht heißen, dass Josephine sie versehentlich getötet hatte? Fakt war, dass das Mädchen mit diesen monströsen Augen verantwortlich war für die Ermordung ihrer Familie und die der anderen Bewohner von Dark Creek. Mallory erreichte nach einer Weile das Riesenrad, welches im Licht der Abendsonne irgendwie noch unheimlicher aussah als zuvor schon. Unruhig sah sie sich um und schaltete ihre Taschenlampe ein. Warum nur musste es ausgerechnet jetzt dunkel werden, wo sie jetzt ganz alleine in diesem gottverdammten Park war? Solange es noch hell war, hatte sie wenigstens noch frühzeitig herannahende Gefahr erkennen können, aber in der Dunkelheit konnte von allen Seiten her etwas kommen und sie anfallen. Hoffentlich nicht von hinten, so wie in der Spiegelkammer. Ein blecherner Knall ertönte und mit einem unheilvollen Knarren setzte sich das Riesenrad in Gang, doch die Lichter, mit denen es ausgestattet war, blieben aus. Dafür aber begann wieder diese vertraute Melodie zu spielen. Es war die Melodie von Lauras Spieluhr und dieses vertraute Lied nahm ihr ein klein wenig die Angst. Dabei begann sie sich wieder an die Abende zu erinnern, wo sie und Laura zusammen vor ihren Betten auf dem Boden gesessen und dem Lied der Spieluhr gelauscht hatten. Und dabei begann sie leise zu singen. „In the dark blue sky you keep, And often through my curtains peep, For you never shut your eye, 'Till the sun is in the sky. As your bright and tiny spark, Lights the traveller in the dark. Though I know not what you are, Twinkle, twinkle, little star. Twinkle, twinkle, little star. How I wonder what you are. Up above the world so high, Like a diamond in the sky. Twinkle, twinkle, little star. How I wonder what you are. How I wonder what you are.” Irgendwie schien es so, als würde dieses Lied aus einem bestimmten Grund gespielt werden. Seit sie sich wieder an Laura erinnerte, kamen immer mehr Fragmente ihrer Vergangenheit zutage, in denen sie so viel Zeit mit ihr verbracht hatte. Laura und sie hatten wie Pech und Schwefel zusammengehalten und sich immer ohne Worte verstanden. Mallory wusste, dass zwischen Zwillingen eine ganz besondere Verbindung bestand, weil sie dieselbe DNA teilten und in den ersten Tagen ihrer Entwicklung ein gemeinsames Individuum gewesen waren. Obwohl sie damals erst sieben Jahre alt waren, wussten sie immer, was die andere gerade dachte und fühlte. Mallory hatte sogar ein Gespür dafür gehabt, wann Laura in Schwierigkeiten steckte. Als hätten sie beide eine Art sechsten Sinn besessen. Unfassbar, dass Laura damals gestorben war. Und ebenso unfassbar, dass sie beide mit Josephine und Anna befreundet gewesen waren. Warum hatten die beiden denn so getan, als würden sie sie nicht kennen? Irgendwie verstand sie das alles nicht. Im Hintergrund spielte immer noch die Melodie und ein paar Straßenlaternen leuchteten schwach flackernd. Leider half es auch nichts, der Park war trotzdem unheimlich. Da sie nicht länger als nötig hier bleiben wollte, ging sie weiter und hielt sich einfach geradeaus, wo der Weg halbwegs beleuchtet war. Nicht mal die Lichter funktionierten hier noch richtig. Allmählich begann sich Mallory zu fragen, wohin sie denn eigentlich gehen sollte. Der Park war riesig und irgendwo mussten die Zwillinge doch wohnen. Die konnten doch wohl kaum in einem der Fahrgeschäfte leben. Das Haus, schoss es Mallory durch den Kopf und sie erinnerte sich wieder. Ja richtig, der Vergnügungspark stand auf dem Gelände, wo nicht nur der Teich gewesen war, sondern auch das alte Herrenhaus, in welchem Anna und Josephine gelebt hatten. Es musste sicher noch irgendwo stehen! Und wenn sie sich vielleicht erinnerte, wo genau es damals gestanden hatte, konnte sie dann endlich diese Zwillinge finden und sie zur Rede stellen. Instinktiv ging sie die beleuchtete Straße entlang, auch wenn es ihr seltsam erschien, wieso ausgerechnet nur in dieser die Laternen funktionierten. Dies konnte eine Falle sein, aber es war ihr lieber, dort angegriffen zu werden, als in der Finsternis. Leider funktionierten die meisten Straßenlaternen nicht gut. Das Licht, was sie abgaben, war ein schwaches und ungesundes gelb, außerdem flackerten sie stark, sodass Mallory trotz allem die Taschenlampe zur Hilfe nehmen musste. Eine Gänsehaut überkam sie, als sie realisierte, dass es nun fast vollkommen dunkel geworden war. Und obwohl sie in der Ferne immer noch die Melodie hörte, kehrte die Angst wieder zurück, denn sie spürte den Blick ihres Verfolgers im Nacken. Sie hielt die Brechstange schlagbereit und drehte sich um, wobei sie mit der Taschenlampe leuchtete. Innerlich hatte sie sich darauf vorbereitet, aber als sie wieder die gesichtslose Frau sah, blieb ihr fast das Herz stehen. Im Lichte der untergehenden Abendsonne sah sie noch schlimmer aus als zuvor. Ein wenig taumelnd kam sie näher und blutete immer noch aus den Schusswunden. Selbst die Verletzung durch Josephines Machete war noch da. „Mallory…“, brachte sie mit Mühe hervor, wobei es eigentlich ein Rätsel war, wie sie überhaupt sprechen konnte, wenn der einzig intakte Teil ihres Gesichts der Unterkiefer war und sie nicht mal eine Zunge hatte. Der Anblick von Fleisch, Hirnmasse und Knochen war einfach abstoßend und obwohl Mallory wusste, dass es nichts brachte, immer nur wegzulaufen, konnte sie einfach nicht hinsehen, ohne dabei in Panik zu geraten. Wer war nur diese Frau und warum sah sie so aus? „Wer… wer bist du?“ brachte sie mit zitternder Stimme hervor und umklammerte die Brechstange nun fester. Freiwillig würde sie sich jedenfalls nicht das Gesicht abreißen lassen. So viel stand fest. „Warum verfolgst du mich und wieso willst du mein Gesicht haben?“ „Du Diebin…“, brachte die Frau mit röchelnder Stimme hervor und kam näher. Blut tropfte auf den Boden und sie streckte ihre Hände nach der 24-jährigen aus, was ihr fast etwas Zombiehaftes verlieh. „Du elende Diebin…“ „Ich habe dir dein verdammtes Gesicht nicht geklaut, also lass mich in Ruhe!“ „Lügnerin“, schrie die Frau und griff nun an. In diesem Moment schlug Mallory mit der Brechstange zu und traf sie am Kopf. Doch die gesichtslose Frau taumelte nur kurz zurück, dann packte sie ihre Angreiferin am Arm. Ihre Hände fühlten sich so entsetzlich kalt an, als wären sie aus Eis… oder als wäre sie eine eiskalte Leiche. „Du wirst mir nicht noch mal davonlaufen…“ „Wieso willst du mein Gesicht und warum behauptest du, dass ich es dir genommen habe?“ „Weil du es mir genommen hast. Du hast mir alles weggenommen und dafür wirst du büßen, du Dreckstück.“ Damit erhob sie ihre freie Hand, um ihre Fingernägel in Mallorys Gesicht zu schlagen, doch diese schlug erneut mit der Brechstange zu und riss sich los, woraufhin sie davonlief. Verdammt, warum nur war es so schwer, sich seiner größten Angst zu stellen? Aber warum nur war es eine Frau, die kein Gesicht mehr besaß und wieso behauptete sie, Mallory hätte ihr das Gesicht gestohlen? Das ergab doch keinen Sinn. Selbst wenn sie diese Frau damals gekannt hatte, sie war da gerade erst sieben Jahre alt gewesen. Da hatte sie genug andere Sachen im Kopf, als anderen Leuten das Gesicht zu klauen. Wie sollte das überhaupt möglich sein? Es musste irgendwie eine symbolische Bedeutung haben. Was war nur damals passiert, als das Massaker geschah? Gab sie sich vielleicht irgendwie die Schuld am Tod von irgendjemandem, der vor ihren Augen gestorben war? Konnte diese gesichtslose Frau womöglich ihre Mutter sein? Aber wieso sollte sie sich für ihren Tod verantwortlich fühlen? Es war immerhin Josephine gewesen, die sie umgebracht hatte, genauso wie all die anderen in ihrer Familie. War es vielleicht eine andere nahe Verwandte, oder eine gute Freundin? Wenn sie sich doch nur erinnern könnte, was in dieser einen Nacht passiert war, die für immer ihr Leben verändert hatte. Alles was sie wusste war, dass sie blutüberströmt auf die Straße gerannt war und nach jemandem gesucht hatte. Sie hatte heftig geweint und geschrieen, aber niemand war gekommen, um ihr zu helfen. Und kurz darauf war in der Stadt Panik ausgebrochen, als Josephine Jagd auf die Menschen machte und sie nach und nach tötete. Moment mal… Sie war schon blutüberströmt gewesen, bevor das Massaker begonnen hatte? Aber das würde ja bedeuten, dass schon vorher etwas Schreckliches passiert sein musste, was sie völlig traumatisiert hatte. Vielleicht waren ihre Eltern schon vorher getötet worden und sie hatte nach Laura gesucht, weil sie Angst um ihre Schwester hatte. Und dann war auf den Straßen das Chaos ausgebrochen. Was war, wenn diese gesichtslose Frau mit ihrem eigentlichen Trauma zu tun hatte, nämlich das, was sie vor dem Massaker von Dark Creek erlebt hatte? Womöglich war diese Frau vor ihren Augen von irgendjemandem getötet worden, den sie kannte. Und nun glaubte diese, Mallory sei dafür verantwortlich. Ach die ganze Sache war so verwirrend, dass sie gar nicht mehr durchblicken konnte. Sie fürchtete aber, dass sie noch länger gegen diese Frau kämpfen musste, bis sie endlich wusste, was vor dem Massaker passiert war. Mallory beschleunigte ihre Schritte und eilte um die Ecke, wo die Lichter der Straßenlaternen schwach leuchteten, als wollten sie ihr den Weg weisen. Hinter sich hörte sie die gesichtslose Frau wütend schreien, während sie ihr hinterher lief. Verdammt, warum musste diese Hexe nur so gruselig aussehen? Und egal wie oft sie auf sie eindrosch oder auf sie schoss, die stand immer wieder auf wie ein Stehaufmännchen. Nicht mal die Zombies in den Horrorspielen hielten so lange durch. Die gaben irgendwann den Geist auf, aber diese Frau war ja noch viel hartnäckiger, die brachte rein gar nichts um. Was sollte sie nur tun? Wenn sie da blieb und sich dieser Hexe stellte, würde das ihr sicherer Tod sein. Wirklich alles schien gegen sie zu sein. Ilias und Finnian waren fort, von Anna und Josephine war keine Spur zu sehen und es wurde um sie herum immer dunkler. Während sie weiter vor der gesichtslosen Frau davonlief, versuchte sie die stechenden Kopfschmerzen zu ignorieren und sich aufs Laufen zu konzentrieren, damit sie nicht wieder eine Panikattacke bekam. Die Angst in ihr drohte nun endgültig die Oberhand zu nehmen und sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte. „Bitte… hilf mir doch irgendjemand…“ Da ihre Verfolgerin nur schleppend vorankam, konnte sie sie abschütteln, aber sie wusste auch, dass es nicht für lange sein würde. Dieses Monster würde sie immer wieder finden, egal wohin sie auch ging. Warum nur wollte diese Frau sie überhaupt töten? Wenn sie allein zu dem Zweck erschaffen wurde, um unerwünschte Besucher zu verjagen, hätte sie doch nicht vor, Mallory das Gesicht zu rauben und sie im Anschluss umzubringen. Josephine hatte sie mit der Machete attackiert, um sie genau davon abzuhalten, aber wieso erschuf das Mädchen diese Frau überhaupt, wenn sie nicht wollte, dass ihre alte Freundin starb? Vielleicht war sie es ja gar nicht gewesen. Was, wenn dieser ganze Ort hier von irgendeiner fremden Macht erfüllt war, die selbst Anna und Josephine nicht vollständig beherrschen konnten und diese auf die schlimmsten Ängste seiner Besucher reagierte und daraufhin zum Leben erweckte? Und wieso versuchten diese dann, ihre „Besitzer“ zu töten? Nun, zumindest hatte Finnians Vater nicht versucht gehabt, ihn zu töten. Er wollte ihn bloß seelisch brechen. Aber die Statuen und die gesichtslose Frau wollten Blut sehen. Das musste doch einen bestimmten Grund haben. Vom Laufen bekam Mallory Seitenstiche und sie musste kurz stehen bleiben, um Luft zu holen. Seit sie Dean und Anna hinterhergelaufen war, hatte sie entweder nur gekämpft, oder war die ganze Zeit gerannt. Und da sie nicht gerade zu den Sportlichsten zählte, wurde das allmählich anstrengend für sie. Eines war klar: Auf die Dauer würde sie das nicht durchhalten und wenn es erst mal dazu kam, dass sie nicht mehr rennen konnte, war sie für diese Frau eine leichte Beute. Es wurde deutlich kühler und Mallory begann zu frösteln. In der Ferne hörte sie eine Krähe und bekam eine Gänsehaut. Mit jeder Sekunde wurde ihr der Park immer unheimlicher und sie fühlte sich wie in einer Horrorfilmkulisse. Ein metallisches Knacken ertönte und nicht weit entfernt gingen Lichter an, als sich ein weiteres Karussell in Gang setzte und vor Schreck hätte ihr Herz fast ausgesetzt. Die Melodie, die dieses Mal gespielt wurde, war eine andere und klang sich ein wenig wie „Pop goes the weasel“. Aber sie spielte sehr langsam und klang etwas verzerrt, wodurch sie sich anhörte, als entstamme sie einem Horrorfilm. Das trug nicht gerade dazu bei, dass Mallory sich ein klein wenig sicherer fühlte. Viel mehr unterstrich diese verzerrte Melodie das Gefühl einer Horrorkulisse. Unruhig sah sie sich um, denn sie glaubte, irgendwo eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Instinktiv schaute sie zum Karussell herüber, welches sich immer noch sehr langsam bewegte. Und im Lichte des Karussells stand die gesichtslose Frau und starrte zu ihr herüber. Mallory durchfuhr ein eisiger Schreck, als sie sah, dass sie bereits aufgeholt hatte. Schnell verschwand sie um die Ecke und schob sich durch eine Gasse in der Hoffnung, so ihre Verfolgerin wieder loszuwerden. Doch da packte sie etwas an den Haaren und am Hals und diese eiskalten Hände ließen sie nichts Gutes erahnen. „Mallory…“ Verdammt, wie war sie so schnell hergekommen? Gab es etwa mehr als eine von der Sorte? „Lass mich los!“ rief sie und schlug mit der Brechstange zu, um ihre Angreiferin abzuschütteln, doch dieses Mal ließ die gesichtslose Frau nicht locker, sondern packte ihr Opfer und schleuderte sie gegen eine Häuserwand. Schließlich ergriff sie die am Boden Liegende und riss sie von den Füßen, wobei sie sie zu würgen begann. Ihr Griff war unfassbar stark und Mallory bekam keine Luft mehr. Hinzu kam noch, dass ihre Hände so kalt waren wie Eis. Die Brechstange lag auf dem Boden und sie konnte nichts anderes tun, als zu versuchen, sich aus dem Griff dieser Frau zu befreien. Aber sie wusste, dass sie nicht stark genug war, um es zu schaffen. Allmählich bekam sie keine Luft mehr und wenn nicht schnell etwas geschah, würde sie noch erwürgt werden. „Du hättest damals sterben sollen…“ brachte die Frau mit krächzender Stimme hervor. „Du verdienst es nicht, zu leben…“ Mallory hätte am liebsten um Hilfe gerufen, aber sie wusste, dass niemand zur Hilfe kommen würde. Wer denn auch? Ilias und Finnian waren tot und sie konnte von Anna und Josephine nicht wirklich Hilfe erwarten. Langsam begann ihr schwarz vor Augen zu werden und ihre Lunge schmerzte. Sie musste dringend Luft holen, sonst würde sie gleich noch ohnmächtig werden. Mit einem Male überkam Mallory am ganzen Körper eine Gänsehaut und sie spürte, dass sich etwas im Park regte. Eine Art unheimliche Energie, die sich bislang in einem tiefen Winterschlaf befunden hatte und die nun langsam erwachte. Sie hörte ein lautes Kreischen und in dem Moment schoss ein kleiner schwarzer Schatten auf sie zu. Es griff sofort die gesichtslose Frau an und versenkte seine scharfen Krallen in ihre Arme. Mallory fiel zu Boden und schnappte nach Luft, dann griff sie hastig nach der Brechstange. Als sie aufsah, erkannte sie, dass sich Amducias auf ihre Angreiferin gestürzt hatte und sie biss und kratzte. Unfassbar, der Kater hatte ihr gerade das Leben gerettet. Wütend fauchte er, während er ihr blutige Kratzwunden zufügte und für einen Moment überlegte Mallory, ob sie selbst angreifen, oder lieber erst mal weglaufen wollte. Da sie wusste, dass es sowieso unmöglich war, diese Frau zu töten, entschied sie sich lieber für Option zwei und rannte davon. Sie lief die schwach beleuchtete Straße weiter und hörte in der Ferne das wütende Miauen des Katers, der immer noch am Kämpfen war. Wie lange er das wohl durchhalten würde? Ach was, es war nicht der richtige Augenblick, um sich über ein Tier Sorgen zu machen, wenn man selbst gerade eben dem Tod von der Schippe gesprungen war. Sie konnte von Glück reden, dass Amducias genau im richtigen Augenblick gekommen war, bevor sie noch gestorben wäre. Mit Sicherheit war das kein Zufall gewesen. Josephine musste ihn geschickt haben, um sie zu retten. Offenbar wollte sie ihre alte Freundin unbedingt loswerden, schien sie aber dennoch zu beschützen. Aber wieso diese feindseligen Attitüden? Irgendwie durchschaute Mallory sie immer noch nicht. Auf der einen Seite beschützten die beiden sie vor der gesichtslosen Frau und andererseits bedrohten sie sie und behandelten sie eine Fremde. Außerdem wollten sie mit aller Macht verhindern, dass ihre alte Freundin die ganze Wahrheit erfuhr und mit Sicherheit waren sie auch diejenigen, die die gesichtslose Frau erschaffen hatten. Woher sollte sie denn sonst kommen? Mallory konnte sie doch unmöglich selbst erschaffen haben, immerhin verfügte sie über keine besonderen Kräfte im Gegensatz zu Anna und Josephine. Nun war es gänzlich dunkel geworden und schließlich erreichte Mallory eine weitläufige leere Fläche, in der es nichts gab, außer einem Teich, ein paar Bäumen und die Umrisse eines Herrenhauses. Sie blieb stehen und leuchtete mit ihrer Taschenlampe, wobei sie erst mal wieder versuchen musste, zu Atem zu kommen. Nach der ganzen Rennerei und der Attacke war sie völlig aus der Puste. Neugierig sah sie sich um und entdeckte einen großen Teich. Moment mal, das war doch der Teich, an dem sie mit Laura damals immer gespielt hatte. Und weiter hinten war das Haus von Anna und Josephine. Sie hatte es endlich gefunden. In dem Haus brannte sogar Licht, was wohl hieß, dass die Zwillinge sich dort drin aufhalten mussten. Als der Lichtstrahl das Haus traf, erfasste Mallory ein stechender Kopfschmerz und kurz wurde ihr schwarz vor Augen. Da war doch etwas gewesen vor 17 Jahren. Laura und sie waren doch irgendwann mal zu dem Haus gegangen, weil sie dort jemanden besuchen wollten. Nein, es war nicht ein Mal, sondern fast jeden Tag dort gewesen. Großer Gott, Josephine hatte die Wahrheit gesagt. Sie und Laura waren damals tatsächlich mit den Zwillingen befreundet gewesen und hatten sie immer besucht. Und an dem Abend, bevor das Massaker begann, war Mallory ebenfalls zum Herrenhaus gegangen. Aber dieses Mal ganz alleine und ohne Laura. Sie hatte heftig geweint und verzweifelt nach jemandem gerufen. Aber wen hatte sie gerufen und was war dann geschehen? Als sie sich angestrengt zu erinnern versuchte, begann ihr Herz wieder zu rasen und ihr wurde schwindelig. Beim besten Willen bekam sie einfach keine vollständigen Erinnerungen zusammen, sondern nur Fragmente. Sie wusste nur, dass sie entsetzliche Angst bekommen hatte, als sie in dieses Haus gebracht wurde und daraufhin gab es ein fürchterliches Chaos. Dann hatte sie sich auf der Straße wiedergefunden und mit angesehen, wie um sie herum all die Menschen starben. Was um Gottes Willen war nur in diesem Haus vorgefallen, dass sie solch eine Angst bekommen hatte, dass sie eine Amnesie davongetragen hatte? Josephine und Anna wussten die Antwort. Mallory ging zum Herrenhaus und bemerkte, dass der Garten in einem tadellosen Zustand war, im Gegensatz zum Vergnügungspark. Die Hecken waren perfekt gestutzt, es gab einen beleuchteten Springbrunnen und ein richtiges Rosentor. Überall hatte man wunderschöne Blumenbeete angelegt und alles wirkte wie aus einem verzauberten Garten. Nicht weit entfernt entdeckte sie einen großen Baum, auf welchem sich ein Baumhaus befand. Von diesem hatte Dean erzählt. Dort hatte er immer mit Anna gespielt, wenn sie sich getroffen hatten. Aber etwas anderes erweckte ihr Aufmerksamkeit, nämlich ein kleiner Pfad, der durch vereinzelte Steinplatten markiert war. Sie folgte ihm und erreichte eine dichte Hecke, in der es einen etwas versteckt liegenden Durchgang gab. Er war so unauffällig, dass man ihn gar nicht bemerken würde, wenn man nicht gezielt danach suchte. Irgendwie erinnerte sie das an den verborgenen Zugang zu einer Märchenwelt. Die Neugier überkam sie und obwohl eigentlich alles dafür sprach, ins Haus zu gehen und die Schwestern zu sprechen, wollte sie unbedingt sehen, was sich jenseits dieser Hecke befand. Irgendein Gefühl in ihrem Inneren sagte ihr, dass sie dorthin gehen musste, weil sie dahinter die Antwort finden würde, nach der sie gesucht hatte. Es war, als würde eine unwiderstehliche Macht sie dorthin ziehen. Also ließ sie sich von dieser Anziehungskraft leiten und ging zu dem Spalt in der Hecke, der so schmal war, dass sie sich seitwärts hindurchschieben musste, um hindurch zu kommen. Was sie erwartete, war ein weiterer Blumengarten und dieses Mal erkannte sie die Blumen wieder, da diese das Blumenbeet ihrer Pflegemutter zierten und auf die sie besonders stolz war. Es waren Chrysanthemen. Sie waren rings um eine Art großen würfelförmigen dunklen Marmorstein gepflanzt worden, der wohl so etwas wie ein Gedenkstein war. Auf diesen Gedenkstein hatte jemand ein paar Lindenblütenzweige gelegt. Seltsam, warum stand im Zentrum dieses Gartens ein Gedenkstein? Langsam ging sie näher und hielt die Taschenlampe fest auf den marmornen Stein gerichtet. Es war totenstill um sie herum und irgendetwas Seltsames lag in der Luft, etwas Erwartungsvolles. Und wieder befiel Mallory Angst. Es war wieder diese aufkeimende Panik, sie jedes Mal befiel, wenn sie sich an ihre Vergangenheit zu erinnern begann. Und verbunden mit der Panik kamen die Kopfschmerzen wieder, als versuche sich ihr Gehirn mit aller Macht dagegen zu wehren. Tief in ihrem Inneren wollte sie die Inschrift des Gedenksteins nicht sehen, aber sie musste es tun. Sie atmete tief durch und trat näher, um endlich Gewissheit zu bekommen. Der Schein der Taschenlampe traf auf die goldenen Lettern auf der oberen Fläche des Epitaphs, wo die Lindenblüten lagen. Das Blut gefror ihr in den Adern, als sie den Namen las, an den sie sich lange Zeit nicht erinnern konnte und doch wieder sofort wieder so präsent war, als wäre er ihr niemals entfallen. Auf dem Gedenkstein stand „Mallory Collins“. Es war ihr eigener Name… Kapitel 15: Die schreckliche Erkenntnis --------------------------------------- Mallory verstand die Welt nicht mehr, als sie auf dem Gedenkstein ihren eigenen Namen las. Sie konnte es nicht glauben und wollte es nicht wahrhaben. Wieso nur stand ihr Name auf einem Gedenkstein? Fassungslos wich sie zurück und ließ dabei die Taschenlampe und die Brechstange fallen. Das machte doch alles keinen Sinn, sie konnte unmöglich tot sein. Sie hatte doch damals das Massaker überlebt und war bei ihrer Pflegefamilie aufgewachsen. Das alles konnte doch unmöglich geträumt sein, das alles war wirklich passiert, das wusste sie genau! Oder war sie genauso wie alle Bewohner von Dark Creek nur eine verlorene Seele, deren Erinnerungen man gefälscht hatte? War ihr ganzes Leben bloß eine Lüge gewesen und lediglich eine von Josephine erschaffene Illusion? Das konnte doch nicht sein, sie lebte und dessen war sie der festen Überzeugung! All die Jahre mit den Whitmores waren real gewesen, es musste so sein. Sie erinnerte sich an so viele Dinge und sie alle fühlten sich so echt an. Ihre Einschulung, die Middle School und die High School, ihr erstes Mal, die typischen Teenagerprobleme und die damit verbundenen Streitereien mit ihren Pflegeeltern. Die ständigen Auseinandersetzungen mit Edna, die immer wieder an ihre persönlichen Sachen ging oder einfach den Wagen nahm, weil sie selbst keinen besaß. Nicht zu vergessen, wie sie ständig die Hausverbote umgangen war, indem sie einfach aus dem Fenster geklettert war und besonders Ellen immerzu an der Nase herumführen konnte. Auch die Erinnerung, wie sie sich das erste Mal in einen Jungen verliebte und später Liebeskummer hatte, war so stark, dass sie unmöglich falsch sein konnte. Mallory erinnerte sich auch an den heftigen Streit mit ihrem Ex-Freund, der sie als Mannweib bezeichnet hatte und als Trennungsgrund ihren seiner Meinung nach viel zu selbstbewussten und emanzipierten Charakter nannte. Und sie erinnerte sich auch an den ebenso heftigen Streit mit ihrem zweiten Freund, der sie mehrmals betrogen hatte und wie sie ihm darauf zur Rache mit einem wasserfesten Stift das Wort „Bitch“ auf die Stirn geschrieben hatte. All ihre Streiche, alle Jugendsünden waren wirklich passiert, das wusste sie ganz genau. Diese ganzen Gefühle, die schönen und traurigen Erinnerungen und all diese positiven und negativen Erfahrungen waren ein Teil von ihr. Und nun sollte das alles gar nicht so sein, weil auf einem Grabstein ihr Name stand? Aber hatte Josephine nicht gesagt, sie hätte damals überlebt? Und sagte Finnian nicht kurz vor seinem Tod, dass sie als Einzige in Dark Creek noch am Leben wäre und die Chance hätte, ihr Leben zu leben, so wie sie es wollte? Wenn dem wirklich so war und sie lebte noch, warum nur stand dann ihr eigener Name auf dem Grabstein? War es vielleicht eine Art makabrer Scherz der Zwillinge, um ihr wieder Angst einzujagen? Nein, ganz sicherlich nicht. Sie wusste tief in ihrem Inneren, dass dieser Grabstein aus einem ganz bestimmten Grund dort stand. Es war kein Witz oder eine weitere Einschüchterungstaktik. Nach und nach ging sie noch mal die Puzzleteile durch, die sie während ihrer Ankunft in Dark Creek gesammelt hatte und versuchte sie zu einem Bild zusammenzusetzen. Irgendwo musste es eine Umgereimtheit geben. Etwas, das sie übersehen hatte und was diesen Grabstein mit ihrem Namen erklärte. Doch als sie das versuchte, überkam sie eine Welle der Übelkeit und ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Sie bekam Schweißausbrüche und Herzrasen und der Boden unter ihr begann zu wanken. Es fiel ihr schwer, sich auf den Beinen zu halten und sie fürchtete, dass sie nicht mehr lange stehen würde, wenn sie sich nirgendwo festhielt. Aber außer dem Grabstein gab es sonst nichts und diesem Ding wollte sie nicht noch näher kommen. Um bloß keine Panikattacke zu bekommen, versuchte sie sich auf ihre Atmung zu konzentrieren, doch es brachte dieses Mal nichts. Ihr Atem wurde immer schneller und das Herz schlug ihr bis zum Hals und dann stand sie plötzlich einer Atemnot nahe. Die Welt um sie herum drehte sich wie ein Karussell und sie fiel auf die Knie. Ihr Verstand schaltete sich komplett aus und der Angstschweiß lief ihr über die Stirn. Nun hatte sie doch eine Panikattacke und dabei hatte sie nicht einmal Blut gesehen. Aber sie bekam niemals solche Attacken, wenn sie nicht mit Blut oder mit Toten konfrontiert wurde. Warum also ausgerechnet jetzt? Ihr Körper fing unkontrolliert an zu zittern und immer noch versuchte sie, Luft zu holen, was ihr durch ihr wie wild schlagendes Herz kaum noch möglich war. Der Puls war auf 180 und wenn sie ihre Panik nicht in den Griff bekam, würde sie im schlimmsten Falle hier auf der Stelle kollabieren und das durfte nicht passieren. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so eine heftige Panikattacke gehabt, alle waren immer relativ harmlos im Vergleich zu dieser verlaufen. Etwas Herzrasen, Kreislaufprobleme und Übelkeit aber niemals solche Atemschwierigkeiten wie jetzt. Mallory bekam tatsächlich in diesem Augenblick Angst, dass diese Panikattacke sie vielleicht umbringen könnte. Wieso nur war ausgerechnet diese so heftig und was war die Ursache dafür? Etwa die Tatsache, dass im Garten der Zwillinge ihr eigenes Grab stand? Nein, es war eine Erinnerung, tief in ihrem Unterbewusstsein, vor der sie immer noch zu fliehen versuchte. Ihr Unterbewusstsein wehrte sich so heftig dagegen, dass ihre Panikattacken immer schlimmer wurden. Ihr Körper begann genauso zu reagieren wie Finnian, wenn er an seine traumatische Vergangenheit erinnert worden war. Aber was war mit ihr passiert, weshalb sie sich unter gar keinen Umständen daran erinnern wollte? Etwas packte sie an den Haaren und zerrte sie nach hinten. Mallory schrie auf und versuchte, sich irgendwo festzuhalten oder die Brechstange zu ertasten, doch die Kraft, die sie am Schopf festhielt, war unglaublich stark. Ihr Kopf wurde gewaltsam in den Nacken gedrückt und Blut tropfte ihr ins Gesicht. Über sie gebeugt stand die gesichtslose schwarzhaarige Frau, die sie nun eingeholt hatte und sie nun töten würde. In ihrer Hand hielt sie ein Skalpell. „Hab ich dich endlich, Mallory.“ Der pulsierende Kopfschmerz breitete sich von ihrer Schläfe über ihren gesamten Kopf aus und wurde unerträglich. Ihr war, als würde er ihr explodieren und dabei verschwamm auch ihre Sicht. Sie tastete fast blind umher und bekam die Taschenlampe zu fassen. Diese stieß sie ihrer Angreifern mit aller Kraft auf den Handrücken, damit sich ihr Griff lockerte und rechtzeitig konnte sie sich unter dem Skalpellhieb hinwegducken. Sie wollte aufstehen, aber ihre Beine waren einfach zu schwach dazu und fühlten sich wie Gummi an. Ausgerechnet jetzt musste dieses Monster angreifen, wo sie gerade mit ihrer Panikattacke zu kämpfen hatte. Mallory versuchte Luft zu holen, doch es fiel ihr immer schwerer und sie wusste, was gleich passieren würde: Sie würde hyperventilieren und dann vollkommen wehrlos sein. Und bevor das passierte, musste sie irgendwie dieses Monster loswerden. Aber wie? „Du musst die Wahrheit akzeptieren. Im Grunde deines Herzens weißt du doch die Antwort, nicht wahr?“ Das würde Lewis sicher jetzt sagen, wenn er noch da wäre. Doch wie lautete die Antwort und wer war sie denn wirklich? War sie vielleicht eine Art Klon, der von Josephine und Anna erschaffen wurde, um die echte Mallory zu ersetzen? Das alles war so unglaublich bizarr und verwirrend und immer wieder stellte sie sich die gleiche Frage, auf die sie einfach keine Antwort wusste. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er ihr gleich auf der Stelle explodieren und vor ihren Augen begann es leicht zu flimmern. Wer bin ich, fragte sie sich, während sie hilflos versuchte, die gesichtslose Frau abzuwehren, die immer wieder mit dem Skalpell nach ihr schlug. Wer war sie, wenn sie nicht Mallory Collins war? Unkontrolliert schossen ihr wieder diese entsetzlichen Bilder durch den Kopf. Die Erinnerung an diese Horrornacht ließen ihre Angst nur noch größer werden und die Panik in ihr wuchs. Sie wollte nur noch raus, am besten so weit wie möglich weg von hier und sie wollte sich nicht erinnern. Sie hatte Angst vor der Wahrheit. Aber egal wohin sie auch lief, es würde nichts bringen. Ewig konnte sie doch nicht davonlaufen. Im letzten Moment gelang es ihr, dem Skalpell auszuweichen und schlug ihrer Angreiferin die Brechstange gegen die Schienbeine. Erneut versuchte sie, aufzustehen, aber sogleich stürzte sie wieder und bekam keine Luft mehr. Verdammt, wenn das so weiterging, dann würde dieses Monster sie umbringen! „Dafür wirst du bezahlen, du Miststück.“ Wieder sauste das Skalpell auf sie herab und gerade noch rechtzeitig hob Mallory den Arm, um ihr Gesicht zu schützen. Die Klinge erwischte sie am Unterarm und die 24-jährige spürte, wie Blut aus der Wunde tropfte. Wieder schlug ihre Angreiferin zu und so wich sie zur Seite aus, dann schlug sie ihr die Brechstange gegen den Arm, damit sie das Skalpell fallen ließ. Der Schlag war so kräftig, dass sie deutlich spürte, wie ihrer Kontrahentin der Arm gebrochen wurde. Das Skalpell fiel zu Boden und sogleich nahm Mallory es an sich und versuchte wegzulaufen, doch da wurde sie wieder an den Haaren nach hinten gerissen und fiel nach hinten. Sie sah wieder dieses monströse Gemisch aus Fleisch, Blut und Knochen, welches im blassen Mondlicht nur noch abstoßender aussah. Doch das Schlimmste war, dass Mallory in ihrem derzeitigen Zustand kaum fähig war, vernünftig zu kämpfen. Ihr Körper gehorchte ihr kaum noch und ihr Verstand war wie gelähmt. Noch immer wehrte sich ihr Verstand mit aller Macht gegen die tief verborgenen Erinnerungen, die sie damals verdrängt hatte. „Du hättest damals sterben sollen…“, krächzte die gesichtslose Frau und hielt sie immer noch fest. Ihr anderer Arm war verdreht und der Knochen drückte gegen ihre Haut, doch sie konnte ihn immer noch bewegen und machte sich bereit zum Schlag, damit sie Mallory ihre langen und spitzen Fingernägel ins Gesicht schlagen konnte. Diese schrie vor Angst und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. „Und jetzt werde ich mir dein Gesicht holen, du…“ Etwas blitzte hinter der Frau auf und Blut spritzte, als die Klinge einer Machete ihr den Arm abschlug. Mit einem dumpfen Aufprall fiel er neben Mallory zu Boden und aus dem Schatten trat Josephine hervor, die ihre Bandagen abgelegt hatte und die gesichtslose Frau mit einem mordlustigen Blick ansah. Ihre dämonischen Augen leuchteten in der Dunkelheit wie die einer Katze und das Blut an ihrer Waffe sah pechschwarz aus. Die gesichtslose Frau schrie auf, setzte dann zum Angriff an und stürzte sich auf das Mädchen. Doch Josephine wich leichtfüßig zur Seite aus und stieß ihrer Angreiferin die Machete in den Rücken und trat sie weg. Sie sagte kein Wort und sah Mallory auch kein einziges Mal an. Und obwohl sie durch diese unmenschlichen Augen beinahe monströs wirkte, lag da noch etwas anderes in ihrem Blick. Diese arrogante und verächtliche Ausstrahlung war gewichen und plötzlich kam sie Mallory viel menschlicher vor als sonst. Ein Rascheln war zu hören und sie sah, wie Anna und der Butler Roth herbeieilten. Was passierte jetzt? Wieso waren sie jetzt hier und was hatten sie mit ihr vor? Mallory konnte nicht mehr klar denken, geschweige denn, sich auf das eigentliche Geschehen konzentrieren. Nicht einmal das Sprechen wollte ihr gelingen, sonst hätte sie längst gefragt, was das alles zu bedeuten habe. Sie sah nur, wie Josephine mit der Machete wieder zuschlug und der Gesichtslosen schwere Verletzungen zufügte. Das kleine Mädchen war unglaublich stark und vor allem geschickt. Nun sah sie mehr als deutlich, dass das Mädchen tatsächlich kein Mensch war. In Wahrheit war sie viel älter, als man jemals hätte ahnen können. Aber wie hatten sie und Laura diese beiden Schwestern kennen gelernt und was war alles in dieser einen Nacht passiert, als sich dieses Massaker ereignete? Wen hatte Mallory gesucht, als sie blutüberströmt zum Herrenhaus gerannt war und was wollte sie überhaupt dort? Und was hatte sich in diesem Haus zugetragen, dass sie so entsetzliche Angst bekam, wenn sie sich zu erinnern versuchte? Und wieso stand dort ihr eigener Grabstein? Josephine rief ihrer Schwester etwas zu und zog sich selbst zurück, wobei ihre dämonischen Augen immer noch auf die Gesichtslose gerichtet waren und sie hielt sich bereit, sofort wieder zuzuschlagen. Anna kam auf das Monster zu, vollkommen unbewaffnet. In diesem schwachen Mondlicht sah sie noch unmenschlicher aus als Josephine. Ihre Haut wirkte genauso weiß wie ihr Kleid, sodass sie fast schon etwas Geisterhaftes an sich hatte. Und durch ihr vollkommen starres Gesicht sah sie auch wie eine Puppe aus, die zum Leben erwacht war. Langsam ging sie auf die Gesichtslose zu, die stöhnend am Boden lag, da Josephines Angriffe sie sehr mitgenommen haben mussten. Anna streckte ihre Hand nach ihr aus und dann, es mochte am Licht des Mondes liegen, wirkte das Gesicht der jüngeren Schwester irgendwie verändert. Ihre linke Gesichtshälfte schien transparent zu werden und einem kalkweißen Totenschädel zu gleichen und ihre ausgestreckte Hand wirkte in diesem Moment wie die eines Skeletts. Mallory wurde von blankem Entsetzen gepackt, als sie sah, wie Anna mit dieser Hand die Gesichtslose an der Kehle zu fassen bekam, woraufhin der ganze Körper dieser Kreatur binnen weniger Sekunden zu zerfallen begann wie welkes Herbstlaub. Ja, sie begann zu zerfallen! Die Gesichtslose schrie in Qualen auf und versuchte, sich mit ihrem verbliebenen Arm zu wehren, doch dieser zerbröselte ebenfalls und die letzten Fetzen der Überreste wurden vom Wind davongeweht. Erschreckend, wozu dieses kleine Mädchen überhaupt fähig war. Eine bloße Berührung war ausreichend, um dieses Monster zu töten, welches nicht einmal Mallory in die Knie zwingen konnte. Und Josephine hatte sicherlich auch bloß gespielt und war in Wahrheit zu viel mehr fähig. Mallory presste eine Hand gegen ihren Kopf und startete einen erneuten Versuch, aufzustehen. Der Boden unter ihr schien sich immer noch zu bewegen und es war ihr kaum möglich, das Gleichgewicht zu halten. Ihr psychischer Zustand war momentan wirklich miserabel und sie musste sich eigentlich hinlegen oder ein Beruhigungsmittel nehmen, damit diese Panik endlich nachließ. Immer noch zitterten ihre Hände unkontrolliert und ihr Herzrasen machte ihr zusätzlich zu schaffen. Alleine würde sie es kaum schaffen, sich wieder zu beruhigen und ihre Panikattacke zu bekämpfen. Immer, wenn sie eine erlitt, war jemand zur Stelle gewesen, meist jemand aus ihrer Pflegefamilie. Und das letzte Mal war auch schon fast viereinhalb Jahr her, da sie mit der Zeit gelernt hatte, alles zu vermeiden, was bei ihr Panik auslösen könnte. Und keine ihrer Attacken war so schlimm gewesen wie diese und sie war sich nicht sicher, ob sie es schaffen würde, sie wieder in den Griff zu bekommen. Als sie sah, dass die Gesichtslose vollständig verschwunden war und Anna sich nun ihr zuwandte und sie mit diesen eiskalten Augen anstarrte, ahnte sie nichts Gutes. Großer Gott, jetzt bin ich sicher die Nächste. Sie haben die ganze Zeit versucht, mich von diesem Ort hier fernzuhalten und mich loszuwerden. Die ganze Zeit hatten sie versucht, vor mir etwas geheim zu halten und nun habe ich es doch gesehen. Was würden sie nun mit ihr tun, wo sie nun diesen Gedenkstein mit ihrem eigenen Namen gesehen hatte? Nun kam auch Josephine näher und als Anna die Hand nach ihr ausstreckte, sah sich Mallory bestätigt, dass die beiden sie jetzt umbringen würden. Sie hatten die Gesichtslose bloß aus dem Grund vernichtet, weil sie Mallory selbst umbringen wollten. Was, wenn dieser Gedenkstein für sie angefertigt worden war, weil sie hier und jetzt gleich sterben würde? Nein, das wollte sie nicht! So einfach würde sie sich nicht umbringen lassen. Weder von Anna, noch von Josephine oder diesem Butler. Wie einen Schläger hielt sie die Brechstange bereit und abrupt blieben die Zwillinge stehen. „Kommt mir nicht zu nahe, oder ich werde davon Gebrauch machen. Mich bringt ihr nicht so leicht um!“ Anna schaute zu ihrer Schwester, die ihrerseits ihre Augen verband, um sie wieder zu verstecken. Das Mädchen mit den monströsen Augen ließ sich nicht sonderlich von dieser Drohung beeindrucken und sagte mit einem leisen Seufzer „Du kannst ja nicht einmal die Brechstange vernünftig halten, so wie du zitterst. Sei vernünftig Mallory und lass den Unsinn, das bringt doch nichts.“ Mallorys Panik verwandelte sich in Wut und sie begann nun langsam hysterisch zu werden, wobei sie immer lauter wurde. „Was treibt ihr zwei eigentlich für ein abartiges Spiel mit uns? Zuerst jagt ihr mir die ganze Zeit Angst ein und versucht, mich loszuwerden und dann hetzt ihr noch diese Monster auf uns und bringt uns alle in Lebensgefahr. Und als wäre das nicht schon genug, da erfahre ich, dass Ilias und die anderen schon bereits tot waren, als ich sie kennen gelernt habe. Ihr haltet uns alle zu eurem perversen Vergnügen in dieser Stadt gefangen und habt mit den Erinnerungen der anderen gespielt, nur weil es euch gerade gepasst hat und damit ihr sie kontrollieren konntet. Wie kann man nur derart kaltherzig sein und Menschen hier einsperren, die eigentlich längst gestorben sind und sie dann mit ihren schlimmsten Ängsten quälen? Finny hat genug gelitten durch seinen Vater und dann hetzt ihr diesen Mistkerl wieder auf ihn, nur um ihn aus dem Park zu vertreiben? Das ist einfach nur grausam und ich kann nicht verstehen, wie man so etwas machen kann. Und dann das Massaker vor 17 Jahren! Wie konntet ihr nur all diese Menschen umbringen und dazu noch meine Familie? Was hat meine Familie euch getan, dass sie sterben musste? Wieso musste Laura sterben? Sie war doch eure Freundin, genauso wie ich damals. Sagt schon, na los!“ Alles Blut wich aus Mallorys Kopf und wieder wurde ihr kurz schwarz vor Augen. Sie taumelte zurück und merkte, dass sie nicht mehr lange stehen konnte. Außerdem war ihr furchtbar schlecht. Vor ihr tauchten wieder diese Bilder auf, die sie nicht sehen wollte. Diese schrecklichen Erinnerungen an das Blutbad und den Anblick der sterbenden Menschen. Damals hatte Josephine das erste Mal vor ihr die Bandagen abgenommen und ihre Augen gezeigt. Wie ein Dämon war sie über die Stadt hergefallen und hatte grausame Rache genommen, weil die Bewohner von Dark Creek Anna getötet hatten. Aber… wieso hatten sie das getan? Was war vorgefallen, dass die Menschen ausgerechnet ihr nach dem Leben trachteten und nicht Josephine? Und was hatte das alles mit ihr selbst zu tun? Mallory war so durcheinander und in ihrem Kopf herrschte völliges Chaos, dass sie einfach nicht ordnen konnte. Weitere Erinnerungen kamen zurück und ließen sich zuerst nicht richtig zuordnen. Bilder von gemeinsamen Geburtstagen, ihre Einschulung und wie sie mit Laura durch das Loch einer Mauer gekrochen war, oder als sie gemeinsam mit ihr aufs Dach eines alten Schuppens kletterten, um von dort aus Papierflieger hinuntersegeln zu lassen. Sie erinnerte sich an diesen einen heißen Sommer, wo sie mit ihrer Schwester schwimmen gewesen war und wie Laura Angst bekommen hatte, als ein großer Fisch an ihr vorbei geschwommen war. Auch wie sie kleine gebastelte Papierboote schwimmen ließen und Steinchen warfen. Mallory erinnerte sich an den Sonnenhut mit der Schleife, den sie immer getragen hatte und der ihr absolutes Lieblingsstück war. Sie hatte ihn nur ein einziges Mal aus der Hand gegeben, nämlich als Laura einen Sonnenstich bekommen hatte. So viele Erinnerungen mit ihrer Schwester kamen wieder zurück, aber kaum welche an ihre Eltern. Wieso gab es denn so wenige von ihnen? Laura war so präsent für sie, aber bis jetzt konnte sie sich immer noch nicht an das Gesicht ihrer Eltern erinnern. Und dann sah sie noch weitere Dinge. Es war eine Erinnerung, die dieses Mal sehr klar und deutlich war, obwohl sie damals gerade mal fünf oder sechs Jahre alt gewesen war. Das war an ihrem Geburtstag, den sie gemeinsam mit Laura gefeiert hatte. Ihre Eltern waren nicht da gewesen und ihre Tante, die dann immer auf sie aufgepasst hatte, konnte an diesem einen Tag nicht kommen. Darum hatten sie im Herrenhaus gefeiert bei Anna und Josephine. Sie erinnerte sich nicht mehr so gut, was Laura geschenkt bekommen hatte, aber sie wusste, dass sie sich sehr gefreut hatte. Und dann hatte Mallory ihr Geschenk geöffnet. Es war eine kleine Box aus Kirschholz mit ihrem Namen in goldenen Lettern eingraviert. Sie hatte die kleine Holzbox geöffnet und in dem Moment kam ein kleines Miniaturpferdekarussell zum Vorschein, welches sich zu einer Melodie langsam drehte. Und diese Melodie war keine andere als „Twinkle, twinkle, little star“. Aber warum hatte sie die Spieluhr geschenkt bekommen? Das war doch Lauras Geschenk gewesen, das machte gar keinen Sinn. Hatte sie sich etwa geirrt und sie hatte damals die Spieluhr zu ihrem Geburtstag bekommen? Oder konnte es etwa sein, dass… Mallory kam ein schrecklicher Gedanke und allmählich begann sie zu begreifen, was das eigentlich bedeutete. Die ganze Zeit hatte sie sich gefragt, wer sie denn sonst sein könnte, wenn sie doch gar nicht Mallory war. Es war so offensichtlich gewesen, aber sie hatte es partout nicht wahrhaben wollen, da sie sich doch daran zu erinnern glaubte, sie wäre es all die Zeit gewesen. Sie hatte alles, was die Mallory von damals ausgemacht hatte. Ihr Selbstbewusstsein, ihren Mut und ihre manchmal etwas freche und direkte Art. Aber das alles war gar nicht wirklich sie, weil sie gar nicht Mallory Collins war. Die ganze Zeit über hatte sie sich bloß etwas vorgemacht und sich selbst belogen. Ihre ganze Existenz und sie selbst waren nichts Weiteres als eine Lüge. Genauso wie Finnian hatte sie all die Jahre in einer Selbstlüge gelebt, die sie selbst geglaubt hatte, weil sie die Wahrheit mit aller Macht verdrängt hatte und sie auch nicht akzeptieren wollte. Und sie wollte diese schreckliche Tragödie mit aller Macht vergessen, die sie damals vor dem Massaker erlebt hatte. Auch jetzt versuchte noch ein Teil von ihr, diese Erinnerung zurückzuhalten und sie davor zu schützen, aber Mallory wusste es bereits und diese Erkenntnis war zu viel für sie. Sie ließ die Brechstange fallen und ihre Brust schnürte sich schmerzhaft zusammen. Tränen sammelten sich in ihren Augen und in dem Moment fühlte, sie wie ihre ganze Welt in Trümmern lag und sich ein riesiger Abgrund unter ihren Füßen auftat. Es war bereits zu spät, um es wieder zu vergessen, denn nun wusste sie es mit absoluter Gewissheit. „Ich bin gar nicht Mallory, sondern Laura… Nicht Laura, sondern Mallory ist damals gestorben!“ Und dann tauchte das Bild auf, wovor sie sich am meisten gefürchtet und wovor sie sich selbst all die Jahre unterbewusst zu schützen versucht hatte. Dabei verstand sie nun endlich auch, wieso Anna und Josephine so feindselig ihr gegenüber waren und die ganze Zeit versucht hatten, sie aus der Stadt zu jagen. Sie hatten versucht, sie vor ihren eigenen Erinnerungen zu beschützen, weil sie wussten, was damals passiert war. Die ganze Zeit über hatten die beiden sie beschützt und wollten verhindern, dass sich Mallory, nein Laura wieder an diese schreckliche Tragödie erinnern konnte, die sie so schwer traumatisiert hatte. Nämlich die Tatsache, dass Mallory nicht einfach bloß gestorben war. Nein, sie wurde umgebracht. Das Bild vor ihren Augen wurde immer klarer und sie spürte, wie die Welt um sie herum langsam in eine tiefe und pechschwarze Finsternis versank. Doch bevor ihr Bewusstsein endgültig schwand, brachte sie mit fassungsloser Stimme hervor „Ich war es… ich habe sie…“ Kapitel 16: Lauras Erwachen --------------------------- Wie lange sie bewusstlos gewesen war, konnte Laura nicht sagen. Waren es ein paar Minuten, oder vielleicht sogar Stunden? Jedenfalls spürte sie sofort, dass sie nicht im Garten, sondern in einem Bett lag. Und von irgendwo her hörte sie, wie jemand auf einem Klavier eine wunderschöne und zugleich beruhigende Melodie spielte. Langsam öffnete sie die Augen und bemerkte, dass die Sonne bereits aufgegangen war. Laura blinzelte und drehte den Kopf zur Seite um zu sehen, wo sie eigentlich war. Sie befand sich in einem großen Zimmer, das mit zwei großen Bücherregalen und antiken Möbeln ausgestattet war. An einem Tisch nahe dem Erkerfenster saß Josephine und war gerade dabei, getrocknete Kräuter und Blüten mit einem Mörser zu einem Pulver zu zerstoßen. Nicht weit daneben befand sich ein Reagenzglas, das an einem Drahtgestell über einem Bunsenbrenner hing und in welchem eine klare Flüssigkeit kochte. In dieser schwammen einige Blüten und Kräuter. Josephine gab schließlich da zerstoßene Pulver ins Reagenzglas, woraufhin sich die Flüssigkeit eine orangerötliche Farbe annahm. Sie verrührte alles und goss das Gemisch vorsichtig durch ein Sieb in eine Tasse. Es duftete angenehm und schließlich kam Josephine mit der Tasse in der Hand zu Laura und reichte sie ihr. „Hier, das wird dir helfen, wieder zu Kräften zu kommen.“ „Was ist das?“ „Ein kleines Hausmittel. Keine Sorge, es ist nicht vergiftet.“ Nach einigem Zögern trank sie das Gebräu und musste feststellen, dass es wirklich fast wie Tee schmeckte, nur viel würziger, da auch einige Kräuter beigemischt waren. Auch glaubte sie, dass da Ingwer drin war. Und tatsächlich spürte sie schon bald die belebende Wirkung. Eine Zeit lang herrschte Stille und Laura plagte das schlechte Gewissen und sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte Josephine und Anna ziemlich schlimme Dinge an den Kopf geworfen und dabei die ganze Zeit nicht gemerkt, dass die beiden sie bloß beschützen wollten. Und obwohl sie die beiden bedroht hatte, halfen sie ihr. Schließlich aber fasste sie sich ein Herz und ergriff das Wort. „Josephine, es tut mir Leid, was ich gesagt habe. Die ganze Zeit habe ich gedacht, ihr treibt ein falsches Spiel mit mir und hättet meine Schwester umgebracht. Dabei war ich es gewesen, die sie getötet hat. Ich habe Mallory umgebracht und ihr habt nur versucht, mich zu beschützen.“ Josephine ließ sich auf einem kleinen Hocker nieder und faltete die Hände wie zum Gebet. „Schon gut, wir haben uns auch nicht ganz korrekt dir gegenüber verhalten. Eigentlich hätten wir dir von vornherein die Wahrheit sagen sollen, dann wäre einiges möglicherweise anders gelaufen. Aber wir dachten, dass es vielleicht besser wäre, wenn du dich nicht erinnerst. Es war uns egal, ob du uns hasst, aber wir wollten dir diesen Kummer und diese Schuldgefühle ersparen. Das, was damals passierte, war ein tragischer Unfall und du konntest nichts dafür.“ Nun, da sich Laura an das Meiste von früher wieder erinnern konnte, wusste sie auch, was mit ihrer Schwester passiert war. Sie waren wie so oft alleine zuhause gewesen, weil ihre Eltern sich kaum für sie interessierten. Beim Spielen hatte Laura den geladenen Revolver ihres Vaters auf der Kommode gefunden und ihn fälschlicherweise für eine Spielzeugpistole gehalten. Sie hatte damit gespielt und dann war Mallory dazugekommen. Diese hatte gewusst, dass der Revolver echt und zudem geladen war, weshalb sie Laura diesen wegnehmen wollte, damit sie keinen Unsinn damit anstellte, oder sich selbst dabei verletzte. Aber Laura hatte das Verhalten ihrer Schwester völlig falsch interpretiert und gedacht, sie wollte ihr lediglich ein Spielzeug wegnehmen, weil sie es selbst haben wollte. Dabei kam es zu einem Gerangel und Laura wollte ihr bloß einen Schrecken einjagen, weil sie dachte, dieses vermeintliche Spielzeug würde bloß Knallgeräusche von sich geben. Also hatte sie den Abzug gedrückt in dem Glauben, ihre große Schwester mit dem Knall erschrecken zu können, damit sie sie in Ruhe ließ. Aber stattdessen traf die Kugel sie direkt in den Kopf und Laura selbst wurde durch den Rückstoß nach hinten geschleudert. Zuerst hatte sie nicht verstanden, was das gewesen war und dachte sich erst mal noch nichts dabei. Aber als sie sie auf dem Boden liegen sah und wie sich überall Blut ausbreitete, begann Laura zu begreifen, dass sie etwas Furchtbares getan haben musste. Sie hatte verzweifelt versucht, ein Lebenszeichen von Mallory zu bekommen, wobei auch das ganze Blut an ihre Kleidung gekommen war. Und als sie dann merkte, dass sie kein Lebenszeichen von sich gab, war Laura völlig traumatisiert zum Herrenhaus gegangen, um Josephine und Anna um Hilfe zu bitten, weil sie hoffte, dass die beiden vielleicht einen Weg wussten, um Mallory zu retten. Aber dann war es zu einem weiteren Zwischenfall gekommen. Die Bewohner von Dark Creek hatten sich verschworen, weil sie die beiden Schwestern loswerden wollten. Als Anna nach draußen ging, um Kräuter aus dem Garten zu holen, fielen sie über das Mädchen her und schlugen mit Knüppeln auf sie ein, bis sie sich nicht mehr regte. Doch als wäre dies nicht genug gewesen, hatten sie das Haus angezündet, um auch die anderen Hausbewohner zu töten. Laura war zu dem Zeitpunkt ebenfalls drin gewesen, als es zu brennen begonnen hatte. Es gelang ihr dank Josephines Butler, unbeschadet das Haus zu verlassen, aber die Meute erwartete sie bereits und trachtete ihnen allen nach dem Leben. Als Josephine sah, dass sie Anna erschlagen hatten, war das einfach zu viel für sie und das war für sie der Punkt, an dem sie kein Mitleid mehr hatte und auch keine Rücksicht mehr nahm. In ihrer Wut tötete sie wirklich jeden, der ihr unter die Augen kam und in dem Chaos war Laura verschwunden, irrte ziellos durch die Stadt und wurde Zeugin dieses Massakers. Zwar erinnerte sie sich noch nicht an jedes Detail, aber das genügte ihr auch schon. Das Schlimmste aber war, dass sie ihre eigene Schwester erschossen hatte, obwohl diese sie noch gewarnt und versucht hatte, ihr den Revolver wegzunehmen. Mallory hatte sie beschützen wollen und sie hatte ihre große Schwester einfach umgebracht. „Diese Frau, die mich angegriffen und verletzt hat… das war doch Mallory, oder?“ „Ja. In diesem Vergnügungspark sind alle Erinnerungen gesammelt, die mit dem schrecklichen Trauma in Verbindung stehen, oder aber welche mit ihrem Ableben in Verbindung gebracht werden können. Damit konnten wir gewährleisten, dass sich die anderen nicht an ihren Tod erinnern und ein glückliches Leben führen konnten. Und auch Dinge aus deiner Vergangenheit waren dort, so auch verborgene Hinweise auf deine Schwester und deine wahre Identität. Dieser Ort ist mit einer Macht erfüllt, über die wir keine Macht haben. Er reagiert auf die verdrängten Traumata seiner Besucher und erweckt ihre schlimmsten Ängste zum Leben.“ „Dann habt ihr diese Frau, die Statuen und Finnys Vater gar nicht auf uns gehetzt.“ „Nein, wir wollten dich fernhalten, weil wir ahnten, dass so etwas passieren könnte. Der Vergnügungspark ist dazu da, die Erinnerungen der Bewohner von Dark Creek so lange unter Verschluss zu halten, bis sie bereit sind zu gehen. Aber du warst anders, weil du nicht gestorben bist. Und weil du dir die Schuld für Mallorys Tod gibst, wurde deine größte Angst immer gefährlicher. Dein innerstes Bedürfnis nach Bestrafung für den Mord an deiner Schwester führte dazu, dass die Gesichtslose dir nach dem Leben trachtete. Und solange du dich nicht erinnern und dir selbst verzeihen konntest, würde sie auch nicht verschwinden. Wir ließen dir daraufhin die Wahl, entweder zu gehen, oder dich dem dunklen Kapitel deiner Vergangenheit zu stellen. Also haben wir uns im Hintergrund gehalten und dafür gesorgt, dass dir nichts Ernsthaftes zustößt.“ Also waren die Zwillinge tatsächlich nicht verantwortlich dafür, dass diese Kreaturen sie angegriffen hatten und sie hatten Finnians Vater gar nicht auf ihn gehetzt. Sie hatten lediglich dafür gesorgt, dass ihrer alten Freundin nichts zustieß und waren immer dazwischen gegangen, wenn sie von der Gesichtslosen angegriffen und in eine lebensbedrohliche Situation gebracht wurde. Laura kam sich so mies vor, dass sie die Zwillinge die ganze Zeit als eiskalte Monster betrachtet hatte, die nicht den leisesten Funken Menschlichkeit besaßen und die Menschen in Dark Creek bloß als Spielzeug betrachteten. Sie hatte die beiden die ganze Zeit völlig falsch eingeschätzt und missverstanden. „Sag mal Josephine, warum macht ihr das alles für mich? Ich meine, wir haben uns vor 17 Jahren aus den Augen verloren und ich konnte mich an rein gar nichts erinnern, nicht mal an euch.“ „Weil du unsere Freundin bist, genauso wie Mallory. Ihr seid eigentlich unsere ersten richtigen Freunde gewesen. Weißt du, eigentlich habe ich die Menschen nie sonderlich leiden können und war schon immer ein Misanthrop gewesen, aber ihr beide ward anders. Du und deine Schwester habt uns irgendwie an uns selbst erinnert. Nicht nur, weil du und Mallory Zwillinge seid, sondern weil wir uns vom Charakter her so ähnlich waren. Mallory und ich haben jeweils immer auf unsere Schwestern aufgepasst und sie beschützt. Und dank euch haben wir endlich mal erfahren, was es heißt, ein Kind zu sein. Die Zeit mit euch war die schönste, die wir jemals erleben durften. Deshalb haben wir ein Stück weit auf dich aufgepasst, weil die Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit euch so wertvoll für uns war und wir diese mit aller Macht schützen wollten. Du hast sicherlich noch viele Fragen, nicht wahr? Wie wäre es, wenn wir uns in den Garten setzen? Anna wartet dort schon auf uns und sie wird sich sicherlich freuen, dich zu sehen.“ Damit stand Josephine auf und reichte Laura die Hand, um ihr zu helfen. Zwar hatte dieser Tee ihre Lebensgeister langsam wieder zurückgeholt, aber sie fühlte sich trotzdem noch ein klein wenig angeschlagen. Ihr Kreislauf machte ihr immer noch einige Probleme, was nach der heftigen Panikattacke eigentlich kaum verwunderlich war. Als sie Josephines Hand nahm, sah sie den Verband an ihrem Arm und erinnerte sich an den Angriff der Gesichtslosen. Dort war sie mit dem Skalpell verletzt worden. „Ich hab deine Verletzung verarztet, während du geschlafen hast. Keine Sorge, es wird keine Narbe zurückbleiben.“ „Ich hab tatsächlich geschlafen?“ „Nach der ganzen Aufregung war das auch wirklich nötig. Als wir dich in diesem Zustand vorgefunden hatten, waren wir ganz schön erschrocken, aber man konnte auch nicht vernünftig mit dir reden. Du warst völlig durcheinander und hysterisch. Nachdem du zusammengebrochen bist, hat Roth dich erst einmal ins Haus gebracht und dann hab ich mich um alles Weitere gekümmert.“ Josephine führte Laura durch den weitläufigen Flur, wo es weitere Antiquitäten zu bestaunen gab. Alte Rüstungen und Gemälde aus der Renaissance, auch mittelalterliche Speere und Schwerter. Das alles kam ihr so merkwürdig vertraut vor und Laura erinnerte sich, dass sie damals mit Mallory durch die Flure gerannt war, während sie Fangen gespielt hatten. Dabei war auch mal eine alte Vase zu Bruch gegangen, die aber kurz darauf heil wieder an ihrem Platz gestanden hatte. Und als sie verwundert danach fragten, hatte Josephine erklärt, dass sie zaubern könnte. „Sag mal Josephine, woher genau hast du diese Kräfte?“ Das Mädchen zuckte mit den Schultern und erklärte „Wir wurden so geboren. Wahrscheinlich besaßen unsere Eltern sie auch, aber wir haben sie nie kennen gelernt. Unsere Mutter starb bereits kurz nach Annas Geburt und zerfiel genauso wie die Gesichtslose gestern. Obwohl Anna die jüngere von uns beiden ist, besitzt sie ein viel größeres Potential als ich, aber sie kann ihre Kraft nicht unterdrücken. Alles, was sie anfasst, zerfällt und stirbt auf der Stelle. Inzwischen ist sie in der Lage, Tiere, Pflanzen und Gegenstände problemlos anzufassen, aber leider gilt das nicht für Menschen. Deshalb muss ich immer in ihrer Nähe bleiben, damit ich ihre Kraft unterdrücken kann.“ So war das also, dachte Laura und verstand nun Annas heftige Reaktion bei ihren Begegnungen, wenn sie die Kleine anfassen wollte. Anna hatte sie deshalb auf Abstand gehalten, weil Josephine nicht in der Nähe war und Laura somit gestorben wäre, wenn sie die Kleine berührt hätte. „Früher war es wirklich schlimm. Anna konnte rein gar nichts tun, ohne dass alles, was sie anfasste, starb oder kaputt ging. Es war genauso wie in der Legende von Midas, der alles, was er anfasste, in Gold verwandelte. Ich war die Einzige gewesen, die sie anfassen konnte, weil ich mal ein Teil von ihr war. Sie war gezwungen, vollständig isoliert von der Außenwelt aufzuwachsen und niemals einen anderen Menschen nahe zu kommen. Selbst durchs Gras konnte sie nicht laufen, ohne dass es auf der Stelle unter ihren Füßen verdorrte.“ Das musste wirklich ein Fluch für sie sein, dachte Laura und versuchte sich vorzustellen, wie das wohl sein mochte, nichts und niemanden anfassen zu können. Ohne Josephine wäre sie sicherlich früher oder später gestorben. „Kann man nichts dagegen tun?“ „Nein, unsere Kräfte sind ein fester Teil von uns, also müssen wir damit leben. Das Einzige, was wir tun können ist, sie kontrollieren zu lernen. Eine Zeit lang haben wir bei einem Alchemisten gelebt, der uns auf die Idee brachte, es mit Okkultismus und schwarzer Magie zu versuchen. Der Alchemist selbst hatte einen Pakt geschlossen, um sich alles Wissen der Welt anzueignen und er hat mehr Dinge erfahren, als je ein Mensch hätte lernen können. Und da ich Anna ein besseres Leben bieten und sie beschützen wollte, schlug ich denselben Weg ein und begann mich intensiv mit schwarzer Magie und den Lehren der Ars Goetia zu beschäftigen. Dadurch war es mir möglich, mehr über unsere Kräfte zu lernen und sie zu beherrschen. Wir haben eine sehr lange Zeit bei dem Alchemisten gelebt, bis er leider einen Fehler machte, der ihn das Leben gekostet hat.“ „Und was war sein Fehler?“ „Er hat eine Wette verloren. Überhaupt sollte man mit einem Dämon niemals Wetten abschließen, die kann man sowieso nicht gewinnen. Jedenfalls nutzte ich mein Wissen, um nicht nur unsere Kräfte besser zu verstehen, sondern auch mehr über die Dämonen zu lernen und was sie antreibt. Ich war der Ansicht, dass sie einfach missverstanden wurden und man vielleicht vorschnell über sie urteilt. Im Grunde sind sie weder gut noch böse, sie folgen nur ihrer eigenen Natur, die für uns nicht nachzuvollziehen ist.“ Laura blieb stehen, als sie begriff, was Josephine da gerade gesagt hatte. „Du… du hast einen Pakt mit dem Teufel geschlossen?“ „Nicht mit dem Teufel selbst, sondern mit einem Dämon.“ „Dann bist du tatsächlich eine Hexe?“ „Als Hexen wurden damals fast alle Frauen bezeichnet. Ich finde diesen Begriff ziemlich diskriminierend und er ist auch überhaupt nicht zutreffend für das, was ich tue. Streng genommen bin ich eher eine Fachkundige oder Gelehrte für Okkultismus. Mit Dingen, die man mit Satanismus in Verbindung bringen würde, hab ich eigentlich nicht sonderlich viel zu tun. Mit Blutorgien und Menschenopferungen hab ich nichts am Hut.“ „Und dieser Dämon… ist er hier?“ „Beide sind hier. Amducias ist mein Vertragspartner, Freund und Lehrmeister. Roth habe ich in der Vergangenheit geholfen, weshalb er auf meinen Wunsch hin als Butler in meine Dienste getreten ist. Er kümmert sich in meiner Abwesenheit um Anna, wenn Amducias mich begleitet. Aber keine Sorge, die beiden werden dir nichts tun. Sie mögen zwar sehr mächtig und auch gefährlich sein, aber sie würden niemals meine Freunde angreifen.“ Trotzdem war sich Laura nicht sicher, wie sie diese neuen Erkenntnisse einordnen sollte. Josephine beherrschte schwarze Magie und beherbergte Dämonen in ihrem Haus, mit denen sicherlich nicht zu spaßen war, wenn sie Ernst machten. In der Vergangenheit hatte sie genug Horrorfilme gesehen um zu wissen, dass man sich mit solchen Kreaturen lieber nicht anlegen sollte. Sie erreichten schließlich die Eingangshalle und Laura hörte, wie das Klavierspiel verstummte. Dafür setzte Streichmusik ein, als würde irgendwo im Verborgenen ein Orchester spielen. Josephine führte sie nach draußen und sogleich spürte Laura die angenehmen warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sogleich merkte sie, wie ihre Energie wieder zurückkehrte und sich ihr Kreislauf stabilisierte. Als hätten die Sonnenstrahlen eine belebende Wirkung auf sie. Oder vielleicht war es auch dieser Tee, den sie getrunken hatte. Der Weg führte sie zu einem etwas abgelegenen Teil des Grundstücks, der nicht weit neben dem durch Hecken abgegrenzten Garten lag, wo sich das Grab von Mallory befand. Es war ein seltsames Gefühl für Laura, dort vorbeizugehen und zu wissen, was dahinter lag. Und wieder überkamen sie schwere Schuldgefühle, als sie sich erinnerte, warum Mallory dort begraben lag. Erneut tauchte die Szene vor ihren Augen auf, als sie mit dem Revolver auf ihre Schwester geschossen und sie somit getötet hatte. Aber dieses Mal hatte sie seltsamerweise keine Panikattacke, als sie sich an das viele Blut erinnerte. Vielleicht, weil ein Teil von ihr die Wahrheit akzeptiert hatte oder weil es auf Josephines Tee zurückzuführen war. Aus dem kleinen Durchgang kam schließlich Anna, die in ihrer Begleitung den Butler hatte. Ihre Augen ruhten auf Laura, es waren keine Emotionen erkennbar, auch ihr Gesicht war starr und zeigte keinerlei Regungen. Dieses Mädchen war wirklich rätselhaft und schwer zu durchschauen. Vor 17 Jahren jedoch war sie nicht so verschlossen und introvertiert gewesen, weil sie damals glücklich gewesen war. Und sicherlich war sie jetzt unsicher, wie sie auf Laura reagieren sollte. Sie blieb stehen und starrte sie schweigend an. Laura blieb ebenfalls stehen, als sich ihre Blicke trafen. „Anna, ich… ich wollte mich entschuldigen für das, was ich gesagt habe. Und ich möchte mich auch bedanken, dass ihr mich beschützt habt.“ Zögernd ging Anna auf sie zu, blieb schließlich vor ihrer alten Freundin stehen und schien noch mit sich selbst zu hadern. Aber dann legte sie ihre Arme um Lauras Taille und umarmte sie. „Schön, dass du wieder da bist“, sagte sie ein wenig tonlos, aber dennoch spürte Laura, dass Anna mit den Emotionen rang. Innerlich war sie ebenso von ihren Gefühlen überwältigt und war wahnsinnig froh, dass ihre alte Freundin endlich wieder zurück war. Laura legte einen Arm um das kleine Mädchen und wandte sich Josephine zu, nahm ihre Hand und schloss sie ebenfalls in die Arme. Es war schon seltsam, die beiden als Erwachsene zu umarmen. Beim letzten Mal war sie noch klein gewesen und da waren Anna und Josephine größer gewesen als sie. Und nun fühlte es sich so an, als würde sie ihre kleinen Cousinen umarmen, die sie nach längerer Zeit wieder sah. Hinzu kam noch die Ironie, dass die beiden zwar äußerlich kleine Mädchen waren, aber in Wirklichkeit waren sie viel älter, als ein Mensch jemals werden konnte. Aber zugleich löste es in ihr auch ein Gefühl von Vertrautheit aus und in diesem Moment fühlte sie sich wieder wie ein Kind. 17 Jahre waren vergangen und Laura hatte alles vergessen, sogar wer sie selbst eigentlich war. Und sie hatte auch die beiden Mädchen vergessen, die sie immer beschützt und ihr mehrmals das Leben gerettet hatten. All die Jahre wurde sie beschützt. Zuerst von ihrer Schwester, dann von ihrer Pflegefamilie, von Lewis und den anderen und schließlich von Anna und Josephine. So viele Menschen hatten sie die ganze Zeit beschützt und deshalb war sie am Leben. Gemeinsam mit den beiden Schwestern ging sie durch den kleinen Durchgang in der Hecke und sah, dass es nun einen weiteren Gedenkstein gab, in welchem die Namen ihrer verstorbenen Freunde eingraviert waren. Um ihn herum waren weiße Lilien und wunderschöne Zinnien gepflanzt und dahinter ein junger Lindenbaum. Laura wurde von ihren Gefühlen überwältigt, als sie das sah und wischte sich die Tränen weg. „Das habt ihr gemacht?“ „Sie haben sowohl dir als auch mir viel als Freunde bedeutet. Und außerdem wäre Mallorys Grab nicht so schön hergerichtet, wenn Lewis nicht gewesen wäre.“ Laura sah Anna erstaunt an und glaubte zuerst, nicht recht zu hören. „Lewis war hier gewesen?“ „Er kam zwei Male in den Park. Das erste Mal fand er das Haus, wo seine Erinnerungen gesammelt waren und begann sich langsam wieder an sein altes Leben zu erinnern. Er schrieb daraufhin den Abschiedsbrief und bereitete sich auf sein Ende vor, weil er bereits spürte, dass er nicht mehr lange leben würde. Aber es gab noch etwas, das er wissen musste. Nämlich den Grund, warum Dark Creek und der Vergnügungspark existieren und wieso in dieser Stadt Menschen leben, die eigentlich tot sind. Er kam zu uns mit der Bitte, vor seinem Tod wenigstens die Hintergründe zu erfahren. Wir haben ihm diesen letzten Wunsch erfüllt und ihm dann Mallorys Grab gezeigt. Daraufhin legte er einige Lindenblüten auf den Gedenkstein und pflanzte die Chrysanthemen. Er sagte, dass er sich auf diese Weise bedanken wollte für die Zeit, die er hier verbringen durfte.“ „Wie meinte er das?“ „Die Blumensprache. Lewis kannte sich mit Blumen bestens aus und wusste um ihre Bedeutung. Lindenblüten bedeuten Träum schön und denk an mich und Chrysanthemen Mein Herz ist frei. Es war seine Art, Danke zu sagen.“ Einen Gedenkstein mit dem Namen ihrer Freunde zu sehen, erfüllte Laura erneut mit tiefer Traurigkeit und sie musste wieder daran denken, wie sie Finnian und Ilias im Arm gehalten hatte, als sie starben oder wie glücklich Lewis ausgesehen hatte, nachdem er Selbstmord begangen hatte. „Hätte ich das gewusst, dann hätte ich sie niemals dazu gebracht, mit mir zu kommen.“ „Es war ihre eigene Entscheidung und sie sind wenigstens nicht alleine gestorben. Finny, Ilias und Dean hatten eine glückliche Zeit erleben dürfen und Lewis war letzten Endes auch glücklich. Er war der Einzige, der nicht gegen seine schlimmste Angst ankämpfen musste. Sein Herz war letzten Endes frei und das war für ihn das schönste Glück im Augenblick seines Todes. Du hast einen Teil dazu beigetragen, dass sie nicht wieder so würdelos sterben mussten. Und hättest du schon von vornherein gewusst, dass sie eigentlich bereits tot sind, dann hättest du sie nicht als deine Freunde kennen lernen können.“ Ja, da hatte Anna wohl Recht. Wenigstens hatte sie noch die Erinnerungen an diese herzensguten Menschen, die sie richtig ins Herz geschlossen hatte. „Und mit diesen Blumen wollen wir uns auch für die schöne Zeit bedanken, die wir mit ihnen verbringen durften“, erklärte Anna schließlich und kniete sich hin, um die Blumen näher zu betrachten. „Lewis hat mir viel über Blumen beigebracht. Von ihm weiß ich, dass Zinnien symbolisch zum Gedenken für abwesende Freunde sind. Lewis hätte sich sicher gefreut darüber.“ Laura ging zum Gedenkstein ihrer Freunde hin und legte ihre Hand auf die kalte aber glatte Marmoroberfläche. In diesem Moment fühlte sie sich mit einem Male vollkommen einsam. „Sind sie für immer fort?“ „Ja“, sagte Josephine nach einer Weile und auch sie klang ein wenig bedrückt. Vielleicht war es auch ihr schlechtes Gewissen gegenüber Laura. „Zwar könnten wir sie erneut zurückholen, aber es würde kaum Sinn machen. Die Erinnerung an den Tod verbindet sie alle, deshalb würden sie sich nach kürzester Zeit wieder erinnern, wenn sie sich sehen und damit würden wir ihnen auch keinen Gefallen tun. Deswegen ist es das Beste, wenn wir die Toten ruhen lassen.“ Da hatte sie wahrscheinlich Recht. Ja, es würde ein Alptraum für die anderen sein, wenn sie sich wieder an alles erinnerten und dann würde es zu einem furchtbaren Teufelskreis werden. In dem Fall war es wirklich das Beste, wenn sie endlich die ewige Ruhe fanden und in einem anderen Leben glücklich wurden. Dann würde Lewis sich seinen größten Herzenswunsch erfüllen an der Seite des Menschen, den er lieben würde, Ilias würde ohne diese Krankheit zur Welt kommen und Finnian konnte dann endlich in einer liebevollen Familie aufwachsen. Und Dean könnte ein langes Leben führen und unbeschwert aufwachsen. Wenigstens das sollte ihnen vergönnt sein. „Ich würde gerne wissen, wieso sie alle gestorben sind, nachdem sie sich wieder erinnert haben und was es mit diesem Dark Creek oder dem Vergnügungspark auf sich hat. Und außerdem würde mich interessieren, ob Mallory auch zurückgeholt wurde.“ Ein angenehm warmer Sommerwind wehte und rauschte durch die Äste des Lindenbaumes und für einen Moment herrschte Stille. Nur in der Ferne klang immer noch leise die Musik aus dem Haus. Es war eine schöne, aber auch traurige Melodie, als würde sie einzig und allein für die Verstorbenen gespielt werden. Josephine wandte sich um, da sie nun gehen wollte. „Das erklären wir dir in aller Ruhe. Komm, dann werden wir dir alles erzählen.“ Sie verließen die kleine mit Blumen bepflanzte Gedenkstätte ihrer Freunde und gingen zu einem Pavillon, der ebenfalls mit roten Rosen bewachsen war. Wirklich alles hier wirkte wie aus einem Märchen. Während sie Platz nahmen, machte sich der Butler sofort an die Arbeit, um ihnen Snacks und Getränke zu servieren. Wie aus dem Nichts kam plötzlich Amducias zu ihnen und huschte an Laura vorbei, die erst einmal einen Schreck bekam. Dann sprang der Kater auf Josephines Schoß und machte es sich bequem. Das Mädchen mit der Augenbinde begann ihm daraufhin den Hals zu kraulen, woraufhin der Kater ein zufriedenes Schnurren von sich gab. Irgendwie fiel es Laura schwer sich vorzustellen, dass das kein Kater, sondern ein Dämon war. Und ihre alte Freundin war eine Hexe, die schwarze Magie beherrschte und sich bestens in Sachen Okkultismus auskannte. Was bedeutete das eigentlich? Wenn Laura darüber nachdachte, fielen ihr spontan folgende Dinge ein: Toten- und Dämonenbeschwörung und satanische Blutrituale. Insgeheim erschauderte sie bei diesem Gedanken und obwohl Josephine beteuert hatte, dass sie mit Satanismus rein gar nichts am Hut habe und sie sich nicht mit solchen Ritualen befasste, war sie sich nicht sicher, wie sie sich dann diese monströsen Augen erklären sollte. Josephine hatte doch gesagt, dass diese Augen so dämonisch aussahen, weil sie ihre Seele widerspiegelten. Nach einer Weile des Schweigens sagte Josephine schließlich „Ich denke, es ist nun an der Zeit, dir die ganze Geschichte zu erzählen. Warum Dark Creek so geworden ist, wie es jetzt ist und wieso hier Menschen leben, die eigentlich schon lange tot sind.“ Kapitel 17: Die Wahrheit über Dark Creek ---------------------------------------- Bevor sie mit ihrer Erzählung begann, trank Josephine noch ihren Tee aus. Anna sah ein wenig abwesend und verloren aus und obwohl keinerlei Emotionen in ihrem Gesicht zu sehen waren, wirkte sie irgendwie unglücklich. Dies schien auch Amducias zu spüren und sprang von Josephines Schoß herunter, um es sich bei der jüngeren Schwester bequem zu machen und ihr Gesellschaft zu leisten. Schließlich begann Josephine, ihre Geschichte zu erzählen. Und es war keine sonderlich schöne Geschichte, wie sich herausstellen sollte. „Anna und ich waren schon immer anders gewesen und haben uns nur schwer in die menschliche Gesellschaft integrieren können. Wir leben schon eine sehr lange Zeit und in der haben wir viel durchgemacht. Außerdem hatten wir nie jemanden gehabt, der uns liebte. Aber obwohl ich nicht viel von den Menschen hielt, tat ich mein Bestes, um mit ihnen zusammen zu leben. Ich nutzte mein Wissen in der Heilkunde und Magie, um Heilmittel herzustellen und die Kranken zu pflegen. Amducias zeigte mir alles, was ich darüber wissen musste und es gelang mir, vielen Menschen zu helfen und so ihr Vertrauen zu gewinnen. Aber in den Augen der katholischen Kirche war ich eine Hexe und Anna die Brut des Teufels. Nirgendwo konnten wir lange leben, ohne ausgestoßen oder verfolgt zu werden. Und da ich Angst davor hatte, dass sie während meiner Abwesenheit meine Schwester holen könnten, beschwor ich mit Amducias’ Hilfe einen weiteren Dämon, der sich bereit erklärte, in meine Dienste zu treten. Als Austausch erhielt er seine Stimme zurück, die man ihm geraubt hatte und er bekam einen menschlichen Körper. Roth hatte den Auftrag, Anna zu beschützen, wenn Amducias und ich nicht bei ihr waren. Wir konnten uns eine Weile gut verbergen, mussten aber immerzu umherreisen und in der Zeit hat man mir einige zweifelhafte Namen gegeben. Ich war die Kinderfresserin vom Schwarzwald, die Hexe von Grenoble oder die Teufelsbraut aus Flandern. Ich wurde einige Male als Hexe verbrannt, ertränkt, von der Klippe gestoßen oder zu Tode gefoltert. Und in der Zeit wurde mein Hass auf die Menschen immer größer. Schließlich aber erhielt ich die Chance, legal als „Hexe“ zu leben, indem ich als persönliche Heilerin für einen Grafen arbeitete. Es gelang mir, die Sympathien der Leute zu gewinnen und ein unbehelligtes Leben zu führen. Doch als seine Frau ein totes Kind zur Welt brachte, weil sie trotz meiner Warnung nicht zu trinken aufhörte, wurde ich dafür bestraft, weil ich das Kind getötet hätte. Der Inquisitor brannte mir mit einem glühenden Eisen die Augen aus und ließ mich auspeitschen und foltern, bevor ich im Keller des örtlichen Klosters eingemauert wurde. Da dies ein heiliger Ort war, konnten weder Roth noch Amducias hinein, um mir zu helfen. Ich wäre gestorben, wenn ich meine gesamte Kraft nicht freigesetzt hätte. Danach tötete ich jeden im Kloster und ich wollte nur noch eines: Rache. Als ich das Kloster verließ, erhielt ich von Roth neue Augen, aber da ich meine Kraft freigesetzt hatte, um Menschen zu töten und zu quälen, ist wohl etwas Dämonisches in mir erwacht, weshalb meine Augen auch wie die eines Dämons aussehen. Nachdem ich den Grafen und seine ganze Sippe getötet und danach die ganze Stadt ausgelöscht hatte, floh ich mit Anna, Amducias und Roth und verließ Europa schließlich, indem ich mich unter die Pilger mischte, die loszogen, um die neue Welt zu entdecken. Da mich sowieso jeder für blind hielt, fiel es mir umso leichter, sie zu täuschen. Wir ließen uns hier nieder und lebten ungestört und zurückgezogen. Mein Vertrauen zu den Menschen war zerstört und ich hatte auch kein Interesse daran, mehr als nötig mit ihnen zu tun haben. Aber Anna zuliebe versuchte ich schon, friedlich mit ihnen auszukommen. Die erneuten Hexenverfolgungen und die Bürgerkriege konnten wir irgendwie überstehen und ich war einverstanden, dass sich die Menschen in unserer Nähe ansiedelten, wenn sie uns dafür in Ruhe ließen. Das heißt also, wir waren bereits vor der Gründung von Dark Creek hier. Manchmal war das Leben friedlich und ruhig und es gab einige Menschen, zu denen ich ein gewisses Maß an Sympathie hatte. Ich nutzte mein Wissen, um ein wenig Geld zu verdienen, indem ich verschiedene Mittel herstellte und verkaufte. Natürlich waren wir oft Feindseligkeiten ausgesetzt und es gab immer wieder Menschen, die uns betrogen oder meine Fertigkeiten zu ihren selbstsüchtigen Zwecken ausnutzen wollten. Ich habe mich benutzen lassen, solange Anna sicher leben konnte. Aber wirklich zuhause haben wir uns unter den Menschen nie gefühlt und im Grunde waren wir immer einsam. Zumindest bis zu dem Tag, an dem wir dich und Mallory getroffen haben. Es war im Hochsommer, da warst du mit deiner Schwester im Wald unterwegs und auch Anna war zu dem Zeitpunkt dort, um nach Pilzen zu suchen. Dabei ist sie abgerutscht und in eine Grube gefallen. Du warst damals erst vier Jahre alt gewesen und bist ebenfalls hineingefallen. Mallory, die ja selbst noch klein war, lief daraufhin los, um Hilfe zu holen und kam schließlich zum Herrenhaus, wo ich bereits nach meiner Schwester gesucht hatte. Gemeinsam mit Mallory, Roth und Amducias ging ich los, um euch da rauszuholen. Zu meiner Erleichterung ging es Anna gut und sie hatte es geschafft, dich davon abzuhalten, sie anzufassen. Als wir erfuhren, dass sich eure Eltern nicht sehr gut um euch kümmerten und ihr deshalb oft alleine ward, haben wir euch erst mal zu unserem Haus gebracht. Bei deinem Sturz hattest du dir auch ziemlich schlimm das Knie aufgeschlagen. Wir haben euch schließlich erklärt, dass wir keine Menschen sind und die Leute deshalb Angst vor uns haben, aber ihr wolltet trotzdem wieder herkommen. Und da Mallory mich irgendwie an mich selbst erinnerte und du Ähnlichkeiten mit Anna hattest, habe ich zum ersten Mal wirklich Nächstenliebe für einen Menschen empfunden. In eurer Nähe konnten wir auch endlich mal Kinder sein und obwohl ihr noch so klein ward, seid ihr unsere ersten richtigen Freunde gewesen. Fast jeden Tag haben wir daraufhin miteinander verbracht und Anna und ich waren wirklich glücklich mit euch als Freundinnen. Auch die Feiertage hatten wir zusammen verbracht und drei Jahre waren wir vier unzertrennlich gewesen. Aber dann kam es leider zu einer Tragödie und damit meine ich eine, die sich vor der Nacht des Massakers zugetragen hatte: Anna war zusammen mit Amducias alleine spazieren, während ich mit einer Grippe im Bett lag. Deshalb erfuhr ich erst später, dass eine Gruppe von Jugendlichen versucht hatte, Anna anzugreifen. Amducias hatte natürlich in seiner Gestalt alles getan, um sie zu beschützen, aber dann gelang es einem der Jugendlichen, Anna an den Haaren zu fassen zu bekommen und sie zu Boden zu stoßen. Da es somit zu einem direkten Körperkontakt kam, starb er auf der Stelle und sein Körper zerfiel. Da die Bewohner von Dark Creek wussten, dass ich über besondere Kräfte verfügte und zudem in schwarzer Magie sehr bewandt war und Amducias zu mir gehörte, verwechselten sie Anna irrtümlich mit mir. Und da Anna an diesem Tag eine Sonnenbrille trug, dachten sie, dass ich es gewesen wäre, die den Jungen getötet hatte. Daraufhin fassten die Leute den Plan, uns zu töten, weil wir ihnen zu gefährlich wurden. Ich habe ihnen mit meinem Wissen geholfen, wenn sie krank waren und wir lebten schon hier, bevor diese Stadt gegründet wurde, aber das interessierte sie gar nicht mehr. Sie wollten die Hexe aus der Stadt haben und ihre teuflische Sippschaft gleich mit dazu. Unter den Leuten, die zu unserem Haus kamen und Anna erschlugen, waren auch eure Eltern dabei. Das war aber nicht das einzige Unglück, das sich noch ereignen sollte in dieser einen Nacht. Du kamst blutüberströmt und völlig verstört zu uns und ich erfuhr, dass Mallory schwer verletzt oder vielleicht sogar tot sein könnte, nachdem sich aus dem Revolver eures Vaters ein Schuss gelöst hat. Diesen hatte er an den Tag vergessen und einfach auf der Kommode liegen lassen. Eigentlich hatte er ihn mitnehmen wollen, um mich zu erschießen. Die tragische Ironie war jedoch, dass stattdessen sein eigenes Kind dadurch zu Tode kam. Für mich war in dieser Nacht wirklich alles zusammengebrochen. Mein Zuhause war auf die Grundmauern niedergebrannt, Anna war seitdem völlig verschlossen und wir hatten zwei gute Freundinnen verloren als wir auch noch erkennen mussten, dass du durch den Schock eine Amnesie hattest. Wie schon all die Jahrzehnte und Jahrhunderte zuvor waren wir alleine, obwohl wir unser Bestes gegeben hatten, friedlich mit den Menschen zusammen zu leben. Aber dieses Mal war es schlimmer, weil wir vorher nichts hatten, was wir verlieren konnten und es war mir nicht gelungen, Anna zu beschützen. Ich war so wütend und verletzt in dem Moment, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte, als die ganze Welt dafür in Schutt und Asche zu legen. Mir war alles egal geworden und ich hatte auch kein Mitleid mehr mit den Menschen. Aber was hätte es denn gebracht, die ganze Menschheit auszulöschen? Wir wären immer noch alleine und hätten dann niemanden mehr außer uns selbst. Und wir könnten auch nie wieder Freunde wie dich und Mallory finden. Schließlich aber erinnerte ich mich an diese eine Geschichte, die ich euch vorgelesen hatte, als ihr bei uns übernachtet habt. Die Geschichte von Alice im Wunderland. Mallory hatte sie geliebt und so dachte ich mir, dass es vielleicht das Beste wäre, sich eine eigene kleine Welt zu erschaffen, anstatt diese hier in Schutt und Asche zu legen. So fassten wir den Plan, uns ein neues Zuhause zu schaffen, wo wir allein bestimmen, wer dort leben darf und wer nicht. Es sollte ein Ort sein, wo wir noch einmal mit euch so eine glückliche Zeit haben konnten. Aber bevor wir diesen Plan umsetzten, brachten wir dich aus Dark Creek raus. Wir wollten, dass du normal aufwächst und nachdem wir sichergegangen waren, dass du bei einer liebevollen Familie untergekommen bist, erschuf Anna ein neues Dark Creek, in welchem sie die vollständige Kontrolle hatte. Gemeinsam holten wir Mallory zurück und übertrugen ihr einen Teil unserer Kraft, damit sie ihr neues Zuhause mitgestalten konnte. So erschuf sie den Vergnügungspark, weil es ihr größter Wunsch gewesen war, in einen zu gehen. Wir lebten eine unbeschwerte und glückliche Zeit und solange sich Mallory nicht an ihren Tod erinnerte, konnte sie bei uns bleiben. Aber jede Form von Magie, Fluch oder Hexerei hat ihre Grenzen und ist an Bedingungen geknüpft. Nichts davon hält ewig an oder ist unvergänglich. Eine Seele kann zurückgeholt und in einen neuen Körper gepflanzt werden, solange sich derjenige nicht erinnert, dass er eigentlich gestorben ist. Wenn es so kommt, löst sich die Seele wieder und der Betroffene erleidet denselben Tod erneut. Deshalb mussten wir Mallorys Erinnerungen manipulieren, damit das nicht passierte. Aber dieser Vorgang hat einen entsprechenden Haken: Die mit den Erinnerungen verbundenen Emotionen bleiben immer noch vorhanden, weshalb Finny in seiner eigenen Welt gefangen war und Lewis als Einziger aus eigener Kraft erkannte, dass etwas nicht stimmte. Wir hätten natürlich auch ihre Emotionen löschen können, aber damit würden wir einen wichtigen Teil von ihnen nehmen und dadurch ihre Persönlichkeit zerstören. Sie wären nicht mehr dieselben gewesen und das wollten wir nicht. Deshalb gingen wir das Risiko ein, damit sie nicht zu lebenden Puppen wurden, die innerlich leer waren. Natürlich war uns klar, dass Mallory eines Tages wieder ihre Erinnerungen zurückerlangen würde, dass sie eine jüngere Zwillingsschwester hatte und dass sie gestorben war. Aber wir wollten wenigstens ein bisschen Zeit mit ihr verbringen, bevor es so weit kommen würde.“ Josephine hörte zu reden auf und eine traurige Stille trat ein. Anna hatte den Blick gesenkt und Amducias an sich gedrückt. In ihren Augenwinkeln glitzerten Tränen und Laura ahnte schon, was die Ursache für diese bedrückte Stimmung war. Mallory war genau das Gleiche passiert wie mit Ilias und den anderen. Sie hatte sich wieder erinnert und war daraufhin gestorben. „Wann ist sie gestorben?“ „Fünf Jahre später, da war sie 12 Jahre alt. Sie fragte nach dir und als wir ihr sagten, dass du in einer neuen Familie lebst, war sie überglücklich und hat geweint, weil sie froh war, dass es dir gut ging. Bevor sie starb, bat sie uns, dass wir die Menschen nicht aufgeben sollten. Sie wollte, dass auch andere Menschen die Chance bekamen, hier in Dark Creek ein glückliches Leben zu führen, wenn sie schon zu Lebzeiten keines hatten. Wir wollten ihr diesen letzten Wunsch erfüllen und als Mallory starb, verfiel auch nach und nach der Vergnügungspark. Stattdessen wurde er zu einem Ort, wo wir alle negativen Erinnerungen verschlossen hielten. Eine Weile hatten wir versucht, den Vergnügungspark wieder aufleben zu lassen, aber da Mallory fort war, konnten wir keinen Einfluss darauf nehmen.“ „Aber… als wir dorthin gekommen sind, hat sich das Karussell von meiner Spieluhr wieder in Gang gesetzt und auch die Straßenlaternen hatten wieder funktioniert. Auch das Riesenrad hat sich wieder gedreht. Wie ist das denn möglich, wenn ihr es nicht gewesen sein könnt?“ „Weil ein Teil von Mallory immer noch existiert“, erklärte Anna schließlich, die die ganze Zeit über geschwiegen hatte. Nun kehrte in ihr puppenhaftes Gesicht wieder ein wenig Leben zurück, als würde sie nach all der Zeit ihr Herz wieder öffnen, nachdem sie es seit der Nacht des Massakers von Dark Creek verschlossen hatte. „In diesem Park steckt nicht nur Mallorys Kraft, sondern auch all ihre Hoffnung und ihre Träume. Obwohl sie nicht mehr existiert, ist doch noch ein Teil von ihr vorhanden und hat sich in diesem Park festgesetzt. Er hat seit Mallorys Tod geschlafen und nun ist etwas wieder erwacht. Ihre starken Gefühle dir gegenüber haben einen Teil ihres Bewusstseins zurückgeholt. Sie wollte dir den Weg weisen und dir helfen, deshalb haben dich die Lichter zu unserem Haus geführt, deswegen hatte sich das Karussell wieder in Gang gesetzt und aus diesem Grund hat auch die Melodie deiner Spieluhr wieder gespielt.“ So war das also, dachte Laura und spürte, wie sich ihre Brust zusammenschnürte und ihr dabei die Tränen kamen. Das alles war gar keine Einschüchterungstaktik der Zwillinge gewesen, wie sie zuerst gedacht hatte. Das war Mallory, die ihr helfen wollte und weil ein Teil von ihr wieder erwacht war, begann auch der Vergnügungspark wieder aufzuleben. Sie hatte sich in allen Dingen geirrt. Dark Creek war kein Gefängnis, in welchem Menschen zum sadistischen Vergnügen zweier übersinnlich begabter Mädchen festgehalten wurden. Nein, es war ein Geschenk für jene, die nach ihrem Tod die Chance auf ein glücklicheres Leben erhalten sollten. Und das musste Lewis bei seinem zweiten Besuch im Vergnügungspark herausgefunden haben. Anna und Josephine hatten ihm alles erzählt und daraufhin hatte er verstanden, wieso er und die anderen in Dark Creek lebten. Sie sollten eine zweite Chance bekommen und zugleich wollten die Zwillinge neue Freunde finden, damit sie nicht mehr alleine waren. Und deshalb war Lewis auch so glücklich gewesen, als er hinunterstürzte. „Aber warum konnten sie denn nicht aus Dark Creek raus? Und wieso auch ich nicht?“ „Wenn sie die Stadt verlassen hätten, dann hätten sie früher oder später erfahren, dass sie tot sind und dann wären wir immer noch allein gewesen. Also hat Anna dafür gesorgt, dass niemand Dark Creek verlassen konnte, solange sie sich nicht an ihre traumatischen Erlebnisse erinnerten. Und gleichzeitig haben wir dafür gesorgt, dass jeder hatte, was er braucht, damit sie nicht in Betracht ziehen, von hier fortzugehen. Solange sie glücklich waren, wären sie niemals auf den Gedanken gekommen, von hier wegzugehen und so hätten wir alle etwas davon gehabt. Da du ein verdrängtes Trauma hattest, konntest du ebenfalls nicht weg. Das hatten wir zuerst nicht bedacht, weil wir glaubten, dass die Barriere nur die Bewohner von Dark Creek an ihrem Platz hält. Dass es aber auch für Menschen galt, die noch leben, wussten wir selbst nicht. Wir hätten dich rausbringen können, aber stattdessen bist du hier geblieben, sodass uns keine andere Wahl blieb, als dich auf deinem Weg unauffällig zu begleiten und dafür zu sorgen, dass dir nichts Ernsthaftes passiert. Wir wollten dich nicht mit Gewalt zwingen und wir dachten, dass du auch die Chance auf die Wahrheit haben solltest, wenn du sie unbedingt wissen willst.“ „Und… sind wirklich alle Menschen in diesem Dark Creek tot?“ „Nein. Die einzigen Personen, die wir wirklich zurückgeholt haben, waren deine Schwester Mallory, Ilias Stein, Finnian McKinley, Dean Asbury und Lewis Greenleaves. Dass dir die anderen Bewohner kaum im Gedächtnis geblieben sind und warum sie nach unserer Pfeife tanzen liegt daran, dass es keine richtigen Menschen sind. Es sind Attrappen oder wie es die Generation von heute nennen würde „NPCs“. Sie sind Teil der Illusion von einer ganz normalen Stadt, denn es würde sofort auffallen, wenn nur so wenige in Dark Creek leben würden und sie hätten uns viel zu schnell durchschaut.“ Es fiel Laura nicht gerade leicht, sich vorzustellen, dass außer ihren Freunden sonst niemand in der Stadt wirklich existierte. Sie alle waren gar nicht real, sondern irgendwelche von Josephine und Anna erschaffenen Puppen, die nur dazu da waren, um die anderen glauben zu lassen, dass sie in einer normalen Stadt lebten. „Aber wie kommt es, dass kaum jemand hierher kommt?“ „Auch das hat seinen Grund: Niemand, den wir nicht in Dark Creek haben wollen, kann es betreten. Der Effekt ist ähnlich wie innerhalb der Stadt: Wenn sie den Wald erreichen, überspringen sie quasi die Stadt, sodass sie auf der anderen Seite des Waldrings rauskommen, ohne etwas zu merken. Es kommt ihnen dann einfach so vor, als wären sie den Wald ganz normal durchgefahren und hätten nichts anderes gesehen.“ „Und wieso konnte ich hierher?“ Hier mussten Anna und Josephine nun selbst überlegen, da sie offenbar auch erstaunt gewesen waren, wieso Laura es geschafft hatte, durch die Barriere zu kommen, die Dark Creek von der Außenwelt trennte. „Vermutlich, weil du mal zu diesem Ort gehörtest und dort geboren wurdest. Es kann aber auch daher kommen, weil du mit Mallory verbunden bist, da ihr ursprünglich ein gemeinsames Individuum ward, bevor ihr euch auseinander entwickelt habt. Vielleicht ist es aber auch auf Mallorys Einfluss zurückzuführen, weil sie sich tief in ihrem Innersten gewünscht hat, dich nach all der Zeit wiederzusehen.“ Ja, das war wahrscheinlich die beste Erklärung dafür, warum Laura herkommen konnte. Mallory wollte sie wieder sehen. Obwohl sie bereits nicht mehr da war, existierte immer noch ein Fragment ihres Bewusstseins, das mit Dark Creek quasi verschmolzen war. Ihrer älteren Schwester war es zu verdanken, dass sie ihre alten Freundinnen und auch neue Freunde gefunden hatte und sie nun endlich die Wahrheit kannte, wer sie wirklich war und was damals passiert ist. Und dank Mallory hatte sie bis zum Schluss durchgehalten und mit Annas und Josephines Hilfe konnte sie ihre schlimmste Angst bekämpfen. Laura wurde von ihren Gefühlen übermannt und musste weinen. Sie machte sich schreckliche Vorwürfe für all die Fehler, die sie begangen hatte. Mallory hatte allein ihretwegen sterben müssen und sie hatte Anna und Josephine im Stich gelassen, obwohl sie ihnen damals versprochen hatte, dass sie für immer zusammen bleiben würden. Die beiden waren so furchtbar einsam gewesen und hatten dann, als sie endlich zum ersten Mal Freunde gefunden hatten, alles wieder verloren. Für die beiden musste es unfassbar schwer gewesen sein. Und sie selbst hatte ein glückliches und zufriedenes Leben führen dürfen. Das war einfach nicht gerecht. Wie sollte sie den anderen noch in die Augen sehen? Eine Hand wurde schließlich auf die ihrige gelegt, sie gehörte Josephine. Zögernd nahm sie ihre Augenbinde ab und sah Laura mit ihren dämonischen Augen an. Aber nun wirkten diese nicht mehr so furchteinflößend und monströs wie sonst, sondern viel menschlicher. „Laura, du musst dir keine Vorwürfe machen für das, was passiert ist. Du trägst keine Schuld daran, dass Mallory tot ist. Dein Vater war unverantwortlich, als er einen geladenen Revolver auf der Kommode liegen ließ und du warst erst sieben Jahre alt! Mallorys Tod war ein Unfall und du konntest nicht wissen, dass das eine geladene Waffe und kein Spielzeug war. Niemand hat dir jemals Vorwürfe gemacht. Weder wir, noch Mallory selbst.“ „Josie hat Recht“, sagte Anna, die nun ebenfalls etwas näher gerückt war. „Mallory war froh, dass es dir gut ging und sie war dir auch überhaupt nicht böse oder hat dir die Schuld an ihrem Tod gegeben. Dass du lebst und dass es dir gut geht, ist das Wichtigste und mehr wollten wir auch nicht.“ „Aber was ist mit euch? Wegen mir sind Dean, Ilias, Finny und Lewis fort und ihr seid wieder alleine. Was wird denn aus euch und was wird aus Dark Creek?“ Die beiden haben so viel für mich getan und ich habe ihnen einfach so ihren Traum zerstört, dachte Laura niedergeschlagen und fragte sich, ob sie sich das jemals verzeihen konnte, was sie ihrer Schwester und ihren Freundinnen angetan hatte. Wie konnte sie denn einfach so nach Hause zurückkehren, wo sie doch wusste, was sie ihren Freunden angetan hatte? Wie könnte sie überhaupt noch ein normales Leben führen nach alledem, was sie erfahren hatte? Mallory war ihretwegen tot, Lewis, Ilias und die anderen waren auch nicht mehr da und sie würde so schnell nicht mehr vergessen, was sie für eine traurige Lebensgeschichte hatten. Obwohl sie die ganze Sache überlebt hatte, so hinterließ es doch Spuren bei ihr und sie fragte sich, ob sie das alles wirklich verarbeiten konnte. Josephine sah besorgt, wie es ihrer Freundin ging und drückte ihre Hand fester. „Mach dir um uns keine Sorgen, Laura. Dein Leben ist nicht so lang wie unseres, deshalb darfst du dich auch nicht mit der Vergangenheit aufhalten. Was vor 17 Jahren passiert ist, war tragisch und von niemandem wirklich gewollt. Man kann es nicht ändern und wir müssen alle lernen, damit zu leben. Wir haben uns unser eigenes Heim geschaffen und auch wenn Dean und die anderen nicht mehr da sind, heißt das noch lange nicht, dass unser Traum gänzlich zerstört ist. Und wenn du nach Hause zu deiner Familie zurückkehrst, bedeutet es nicht, dass wir uns niemals wieder sehen werden. Dank Mallory kannst du jederzeit wieder nach Dark Creek kommen, um uns zu besuchen und du wirst auch immer Willkommen sein. Was wir uns für dich wünschen ist, dass du für dich eine Möglichkeit findest, diese schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten und ein glückliches Leben zu führen. Vielleicht findest du dann auch eine Möglichkeit, deine Angst zu bekämpfen.“ Wortlos umarmte Laura ihre beiden Freundinnen und schluchzte leise. Sie war in dem Moment so von ihren Gefühlen überwältigt, dass sie kein Wort zustande brachte. Sie war unendlich traurig, dass Mallory fort war und sie nicht mehr die Chance hatte, sich selbst bei ihrer Schwester zu entschuldigen. Und sie war traurig, weil Lewis und ihre anderen Freunde nicht mehr da waren. Aber gleichzeitig war sie auch unendlich dankbar, dass sie all die Jahre beschützt wurde und dank Josephine und Anna ein normales und glückliches Leben führen durfte. Und vor allem war sie froh, dass sie lebte. Dank der Zwillinge, ihrer Schwester und ihrer Freunde war sie am Leben und das war das Wichtigste. Kapitel 18: Lauras Abschied --------------------------- Laura blieb noch einige Tage bei den Zwillingen, um wenigstens ein bisschen von der verlorenen Zeit nachzuholen. Es tat ihr auch persönlich gut, sich wieder ihren Freundinnen anzunähern, die auch so etwas wie Schutzengel für sie waren. Und auch die Zwillinge waren froh, dass sie noch etwas Zeit mit ihr verbringen konnten, bevor sie nach Hause zu ihrer Pflegefamilie zurückkehrte. Nach und nach kehrten Lauras restliche Erinnerungen zurück, wobei auch Josephine ihr half. Sie erinnerte sich wieder an die gemeinsame Zeit, die sie zusammen verbracht hatten. Seien es die Feiertage, die Wochenenden oder die Ferien. Und auch Anna begann sich immer mehr zu öffnen und fand zur Erleichterung ihrer großen Schwester sogar ihr Lachen wieder. Sogar Josephine hatte ihre menschenfeindlichen Attitüden vollständig abgelegt und wirkte teilweise gar nicht mehr wie eine Erwachsene, sondern wie ein reifes Kind. Sie saßen oft im Garten, gingen im Wald spazieren oder Laura erzählte aus ihrem Leben in ihrer Pflegefamilie. Seit sie sich ausgesprochen und alle Missverständnisse und Geheimnisse aufgeklärt hatten, trug Josephine auch nicht mehr ihre Augenbinde. Dies war vor allem ein Zeichen dafür, dass sie ihrer Freundin vertraute. Zwar war der Anblick trotz allem noch unheimlich und für viele Menschen auch verstörend, aber Laura hatte sich an diese Augen gewöhnt und musste immer daran denken, dass Josephine trotz ihrer dämonischen Augen ein gutes Herz hatte. Sie wurde nur oft missverstanden und war in der Vergangenheit zu oft das Opfer von Vorurteilen gewesen. Und vielleicht bestand ja auch die Hoffnung, dass sich ihre Augen wieder normalisierten, wenn sie irgendwann ihren Hass auf die Menschen begraben konnte. Sie sprachen viel über ihre Vergangenheit und ihr schweres Leben, aber Josephine zeigte Laura auch etwas von ihrem Können, um auch ein klein wenig mit ihrem großen Wissen prahlen zu können. Eine Charakterschwäche, die man ihr natürlich verzeihen konnte. In den folgenden Tagen zeigte sie ihr, wie man Mittel gegen Schmerzen, Nervosität oder Krankheiten herstellte. Wie sie Salben und kleinere Schönheitsmittelchen anfertigte und wie sie aus Tarotkarten, Sternen und mittels Handlinien die Zukunft lesen konnte. Auch erklärte sie ihr, wie sie Geister und Dämonen beschwören, beherrschen oder auch vertreiben konnte. Sie zeigte ihr verschiedene Amulette und gab sowohl ihr als auch ihrer Familie einige mit, die sie selbst angefertigt hatte. Hin und wieder assistierte Laura ihr bei der Arbeit und erkannte recht schnell, dass die Kleine mit der Augenbinde eigentlich Recht hatte. Hexen hatten mit Satanismus rein gar nichts am Hut. Im Grunde war es eine Mischung aus Esoterik, Parapsychologie und Naturheilkunde. Natürlich konnte Josephine auch weitaus mehr, denn dank ihres Vertrages mit Amducias beherrschte sie schwarze Magie und konnte auch ganz anders, wie zum Beispiel Tote unter gewissen Bedingungen zurückholen. Sie war auch in der Lage, Flüche auszusprechen und mit ihren Kräften eine ganze Stadt in Schutt und Asche zu legen. Diese zerstörerischen Kräfte waren auch der Grund, warum die Menschen sich vor ihr und Anna fürchteten, weshalb sich die beiden immer verstecken mussten. Dabei wollten sie diese im Grunde gar nicht einsetzen, sondern nur ein ruhiges und friedliches Leben führen. Und da es in der Welt keinen Platz für sie gab, mussten sie sich ein eigenes Heim erschaffen und das war Dark Creek. Hier konnten allein sie entscheiden, wer hierher kommen durfte und wer nicht. Und da die Menschen, die hergebracht wurden, längst tot waren, konnte Anna auch in ihrer Nähe bleiben, ohne Angst haben zu müssen, dass sie diese durch eine Berührung töten könnte. Es war die beste Möglichkeit, die sie für sich zum leben gefunden hatten. Trotzdem war es irgendwie traurig. Anna und Josephine wussten nicht, wer sie waren und wo sie herkamen. Auch wussten sie nicht, ob es noch andere wie sie gab und deshalb würden sie nirgendwo wirklich zuhause sein. Sie hatten nur sich selbst und mussten ein Leben in Isolation führen. Für Josephine war dies kein Problem, da sie sowieso kein großer Menschenfreund war. Aber Anna war anders, denn tief in ihrem Herzen sehnte sie sich nach menschlicher Nähe und nach Freunden. Doch traurigerweise konnte sie es nicht, solange sie ihre Fähigkeiten nicht vollständig unterdrücken konnte. Sie beide würden noch sehr lange junge Mädchen bleiben und immer Kummer haben, weil sie all ihre Freunde überleben würden. Ein normales Leben unter Menschen blieb ihnen immer verwehrt. Laura hatte ihnen schon angeboten, dass sie bei ihr und ihrer Familie bleiben könnten, aber Josephine lehnte dies ab und erklärte, dass es nicht gut gehen würde. Zwei Mädchen, die nicht alterten, würden nur für Ärger sorgen und sie wollten nicht riskieren, dass Laura und die Whitmores irgendwelche Schwierigkeiten bekommen könnten. Also schlug Laura stattdessen vor, bei ihrem nächsten Besuch ihre Familie mitzubringen und dagegen hatten die Mädchen nichts einzuwenden. Die Abende saßen sie meist im Pavillon, wo Josephine unter freiem Himmel Pulver anfertigte und Kräuter trocknete. Die Tage bei den Zwillingen waren wirklich schön und auch ein Trost nach all dem Kummer, den sie zuvor erlebt hatte. Schließlich aber rückte der Tag der Abreise näher, denn Laura wollte auch irgendwann wieder zu ihrer Familie zurück. Da dank Anna ihr Handy wieder richtig funktionierte, hatte sie endlich mit ihrer Mutter telefonieren können, die schon ganz krank vor Sorge gewesen war. Es war fühlte sich schon seltsam an, dass sie mit „Mallory“ angesprochen wurde, obwohl sie sich ja 17 Jahre lang so hatte nennen lassen. Aber nun, da sie die Wahrheit kannte, fühlte es sich irgendwie falsch an, beim Namen ihrer toten Schwester genannt zu werden. Wenn sie zurück war, wollte sie auf jeden Fall mit ihrer Familie reden und auch ihren eingetragenen Namen ändern lassen. Sie wollte wieder Laura sein und Mallory als ihre Schwester in Erinnerung behalten. Aber darüber wollte sie nicht am Telefon sprechen. Nein, sie ließ ihre Familie erst mal nur wissen, dass es ihr gut ging und sie endlich ihre Antworten gefunden hatte. Diese ganzen Dinge, die sie in Dark Creek erlebt hatte, wollte sie zuhause erklären, aber insgeheim wusste sie schon, dass sie ihr wahrscheinlich kaum glauben würden. Zumindest nicht die Tatsache, dass Josephine eine Hexe war und ihre Freunde in Dark Creek eigentlich bereits tot waren, als sie sie kennen lernte. Sie würde es ihnen erklären, wenn sie ihre Familie nach Dark Creek brachte, damit sie Josephine und Anna kennen lernen konnten. Dann würde es ihnen leichter fallen, ihr zu glauben. Und es würde eine ziemliche Umgewöhnung für sie alle werden, Laura wieder bei ihrem richtigen Namen zu rufen. Für sie selbst war es auch nicht gerade einfach, aber sie konnte sich nicht mehr Mallory nennen lassen. Das wäre einfach nicht richtig. Sie musste wieder ihr Leben als Laura führen, das war sie ihrer Schwester und ihren Freunden schuldig. Doch bevor sie nach Hause zurückkehrte, gab es noch eine wichtige Sache, die sie unbedingt noch vor ihrer Abreise erledigen musste. Sie musste ihrer Angst ins Gesicht sehen und endlich mit Mallorys Tod abschließen, sonst würde sie sich noch ewig Vorwürfe machen und das hätte ihre Schwester sicherlich nicht gewollt. Als sie Josephine ihren Entschluss mitteilte, war diese noch ein wenig skeptisch. „Glaubst du wirklich, dass du dazu schon bereit bist und dass du das schaffst?“ „Ich denk schon. Außerdem muss ich das für mich tun, sonst wird mich die ganze Sache noch ewig lange verfolgen. Ich muss endlich mit ihrem Tod abschließen und darf nicht mehr weglaufen. Lewis und die anderen haben mir das auch gesagt und ich will auch als Laura Collins stark sein und nicht als Mallory.“ Da Josephine sie wohl nicht aufhalten konnte, war sie einverstanden. „Wir bleiben aber in der Nähe, falls es aus dem Ruder läuft. Sollte sie dich angreifen, werden wir dazwischen gehen und dich da rausholen.“ Das beruhigte Laura, denn obwohl sie glaubte, dass sie es durchaus schaffen konnte, plagte sie trotzdem ein kleiner Restzweifel. Aber wenn Josephine und Anna in der Nähe blieben und auf sie aufpassten, brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Den beiden konnte sie vertrauen, dass sie sie beschützen würden. Immerhin hatten sie dies in der Vergangenheit schon oft genug bewiesen. Bevor sie aber losging, bereitete sie sich innerlich vor und versuchte, ruhig zu bleiben. Sie wusste, dass ihre Angst vor Blut immer noch stark ausgeprägt war und sie vielleicht eine erneute Panikattacke erleiden könnte. Im schlimmsten Fall könnte es dazu kommen, dass sie wieder völlig durchdrehte wie im Garten bei Mallorys Grab und dann würde die Gesichtslose erneut versuchen, sie anzugreifen und zu töten. Sie musste sich bewusst machen, dass diese Frau gar kein Monster, sondern niemand anderes als eine Art Abbild von Mallory und ihre personifizierten Schuldgefühle war, die sie für ihren Tod empfand. Und solange sie noch von ihren Schuldgefühlen geplagt wurde, würde diese gesichtslose Frau nicht verschwinden und sie weiterhin verfolgen. Eine Waffe nahm Laura nicht mit, sie wollte auch nicht auf diese Weise kämpfen, weil es sowieso nichts bringen würde. Statt Waffen wollte sie Worte gebrauchen, um ihr Problem zu lösen. Sie ging zum Riesenrad hin, wo es einen großen Platz gab und man sie darum nicht aus dem Hinterhalt angreifen konnte. Anna und Josephine hielten sich wie versprochen im Hintergrund, dafür hatte Laura Amducias in Begleitung. Der Kater lief neben ihr her und dabei klingelte leise das kleine Glöckchen um seinen Hals. Zwar wusste sie, dass er eigentlich kein Kater, sondern ein Dämon war, aber trotzdem schien ihn jeder wie eine Katze zu behandeln. Er hatte auch nie ein Wort gesprochen und soweit sie richtig verstanden hatte, konnten auch nur Vertragspartner Dämonen in Tiergestalt verstehen. Diese hingegen konnten alle Menschen in allen verschiedenen Sprachen gut verstehen, das zumindest hatte Josephine gesagt. „Ich hoffe, du passt auch gut auf mich auf, Amducias. Josephine meinte jedenfalls, ich könnte dir vertrauen. Zumindest darin, dass du mich beschützen wirst.“ Der Kater gab nur ein Miauen von sich und Laura interpretierte das als Antwort, dass er Josephines Wunsch Folge leisten würde. Schließlich blieben sie stehen und warteten. Amducias wanderte ein bisschen umher, schaute sich um und blieb manchmal kurz stehen, um zu horchen. Seine Sinne waren bei weitem schärfer als Lauras, wodurch er eine bevorstehende Gefahr viel schneller orten konnte als sie. Auch sie sah sich nach allen Seiten um, entdeckte aber nirgendwo die Gesichtslose. Aber sie würde schon noch kommen, da war sie sich sicher. Die Minuten verstrichen, ohne dass etwas passierte, dann kam Amducias zu ihr gelaufen und gab ein lautes Miauen von sich. Tatsächlich entdeckte Laura die Gesichtslose in der Nähe einer Achterbahn, die langsam auf sie zukam. Sie bekam einen gewaltigen Schreck, als sie sie sah und beinahe wäre sie wieder in Panik verfallen, als sie das viele Blut und den fürchterlich zugerichteten Kopf sah. Aber dann umschloss ihre Hand das Amulett, welches sie von Josephine geschenkt bekommen hatte und das sie seitdem immer als Glücksbringer um den Hals trug. Bleib ruhig, ermahnte sie sich und atmete tief durch. Es kann dir rein gar nichts passieren. Die anderen passen auf dich auf und du musst endlich deine Angst bekämpfen, wenn du stärker werden willst. Und tatsächlich konnte sie dieses Mal ruhig bleiben und ihre Angst unter Kontrolle halten. „Mallory…“, brachte die Frau hervor und streckte ihre Hände nach ihr aus, was ein wenig Zombiehaft an ihr wirkte. „Nein“, rief Laura und machte einen Schritt auf sie zu. „Ich bin nicht mehr Mallory, sondern Laura. Es gibt nur eine Mallory und das ist meine Schwester.“ „Du elende Diebin“, krächzte sie hasserfüllt und kam noch näher, aber Laura blieb stehen. „Du hast mir mein Gesicht genommen und mich umgebracht. Dafür wirst du bezahlen, du Dreckstück!!!“ Laura schloss für einen kurzen Moment die Augen, um sich innerlich zu sammeln. Dieses Ding da war Mallory, das musste sie sich bewusst machen. Es waren ihre Schuldgefühle, weil sie sich Vorwürfe für ihren Tod machte. Dass ihr Gesicht fehlte kam daher, dass sie ihr in den Kopf geschossen hatte. Sie musste die Dinge richtig stellen und endlich aufrichtig mit sich selbst sein. Sonst würde diese Frau niemals verschwinden. „Ich weiß, dass das, was ich getan habe, furchtbar war. Aber ich habe niemals gewollt, dass du stirbst, Mallory. Ich habe dich sehr geliebt und du warst immer mein großes Vorbild. Weißt du, als ich klein war, da habe ich mir immer gewünscht, irgendwann mal so stark wie du zu sein. Ich habe dein Gesicht nicht aus böser Absicht gestohlen. Tief im Innersten wollte ich dich bei mir haben, wahrscheinlich habe ich deshalb alles von dir angenommen. Deinen Namen, deine Identität und deine Persönlichkeit. Obwohl ich alles vergessen habe, wollte ich, dass wir immer noch das alte Team sind und du mich wie damals immer beschützt.“ „Lügnerin“, schrie die Gesichtslose wütend und wollte zuschlagen, doch Laura wich einen Schritt zurück. „Du hast mir alles genommen. Du hast mich umgebracht!“ „Und es tut mir furchtbar Leid“, entgegnete Laura und wurde dabei ebenfalls laut. „Ich mache mir schreckliche Vorwürfe und hätte ich damals auf dich gehört, dann hätte das nicht passieren müssen. Du wolltest mich beschützen, weil du wusstest, dass der Revolver geladen war. Aber ich dachte, es wäre ein Spielzeug und du wolltest es mir wegnehmen, weil du selbst damit spielen wolltest. Ich hatte geglaubt, es wäre eine dieser dämlichen Kindercowboy-Spielzeugpistolen, die nur einen lauten Knall abgeben und damit wollte ich dich erschrecken. Glaub mir, das war für mich ein einziger Alptraum, als das passiert ist und wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, dann hätte ich diese Scheißwaffe nicht angerührt. Aber leider kann man die Dinge nicht ungeschehen machen.“ Nun blieb die Frau stehen und griff sie nicht mehr an. Es schien, als wolle sie ihr aufmerksam zuhören. Also durfte Laura nicht aufhören, sondern musste weiterreden und ihre Angst weiterhin bekämpfen. „Glaub mir, es tut mir unendlich Leid, dass ich dich einfach vergessen habe, genauso wie Anna und Josephine. Und ich wünschte, ich hätte dich in deiner wahren Gestalt noch einmal sehen und mich tausend Male entschuldigen können. Das Ganze ist 17 Jahre her und wir beide waren damals Kinder gewesen. Das alles war ein schrecklicher Unfall und ich bin wütend auf mich, weil ich dieses eine Mal so dumm war und nicht auf dich gehört habe. Aber ich bin auch wütend auf Vater, weil er so verantwortungslos gewesen war und diesen verdammten Revolver einfach so liegen ließ. Wenn du nicht gewusst hättest, dass es kein Spielzeug war, dann hätte ich vielleicht sterben können. Du hast mich beschützt, so wie du es immer getan hast und dafür bin ich dir unendlich dankbar. Du warst immer für mich da, wenn uns unsere Eltern allein gelassen haben, oder wenn unsere kinderhassende Tante auf uns aufgepasst hat. Ich war nie mutig und habe mich immer nur beschützen lassen. Immerzu war ich Laura die ängstliche Heulsuse und du warst immer so mutig und stark. Wahrscheinlich habe ich mir deshalb all die Jahre eingeredet, ich sei du: weil ich auch mal jemanden beschützen und auch stark genug sein wollte, um auf mich selbst aufzupassen. Ich wollte so stark und mutig sein wie du und habe deshalb alles von dir angenommen. Deinen Namen, deinen Charakter, einfach alles. Die ganze Zeit habe ich mich selbst und auch andere belogen und es schließlich selbst geglaubt. Selbst von meinen Erinnerungen habe ich mich täuschen lassen, weil wir Zwillinge waren. Weißt du Mallory, wir haben schon immer alles geteilt. Das Aussehen, die DNA, unsere Kleider und sogar unser Spielzeug. Deshalb habe ich geglaubt, du wärst Laura und ich Mallory. Weil wir, wenn wir den Charakter ausklammern, eigentlich gleich sind wie zwei identische Figuren. Doch obwohl ich mich all die Jahre nicht erinnert habe, waren die Gefühle immer noch da und ich habe mir so sehr gewünscht, genauso stark zu sein wie du. Was ich getan habe, war falsch, das habe ich verstanden. Weiterhin zu tun, als wäre ich du, wird mich selbst nicht weiterbringen. Ich muss lernen, als Laura stark zu sein und auf mich selbst aufzupassen, jetzt wo du nicht mehr da bist. Dazu muss ich auch lernen, mir selbst meine Fehler zu verzeihen.“ Nun ging Laura noch einen Schritt auf die Gesichtslose zu, sodass sie sich nun in greifbarer Nähe befanden. Doch kein Angriff folgte. Laura spürte, wie sich ihre Brust zusammenschnürte, als diese Trauer wieder in ihr hochkam und Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Mallory, ich danke dir für alles. Dafür, dass du mich immer beschützt und für mich da gewesen bist. Ich liebe dich sehr, große Schwester.“ Und damit schloss Laura die Gesichtslose in den Arm. Sie rechnete damit, dass ihr Körper kalt wie Eis sein würde. Aber zu ihrer Überraschung fühlte er sich warm an und dann legten sich zwei Arme um sie. Die Gesichtslose erwiderte ihre Umarmung und drückte sie fest an sich. Laura begann zu weinen und vergrub das Gesicht dabei in ihre Schulter. Es war so wie damals vor 17 Jahren. Da hatte Mallory sie auch immer so im Arm gehalten, während sie sich bei ihr ausgeweint hatte. Es war ein wunderbar vertrautes Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit, ähnlich wie sie es bei Ilias gefühlt hatte, wenn er sie in den Arm genommen hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich deswegen immer an Mallory erinnert, wenn sie in seinen Armen lag. Die Erinnerung wurde immer deutlicher und mit einem Male kam sie sich so vor, als würde die Zeit in diesem Moment zurückgedreht werden. Als wäre sie wieder 7 Jahre alt und würde in Mallorys Armen liegen. Eine Hand strich sanft über ihren Kopf und Laura begann noch heftiger zu weinen. „Es tut mir so Leid“, schluchzte sie und spürte, wie ihr ganzer Körper bebte. „Es tut mir so unendlich Leid, Mallory. Ich wünsche mir so sehr für dich, dass du ein glückliches Leben führen kannst. In einem anderen Dark Creek, wo du mit Lewis, Ilias, Finny und Dean zusammenlebst und sie genauso als Freunde kennen lernen kannst wie ich. Und irgendwann werden wir alle wieder zusammen sein. Wir werden wieder zusammen am Teich spielen können so wie früher und in der Pension Greenleaves leben. Finny und sein kleiner Bruder Keenan werden uns dann immer wieder besuchen kommen und Ilias wird uns ständig auf dem Fahrrad abhängen, weil er partout nicht langsam fahren kann. Und Lewis wird uns alle im Sommer auf die Dachterrasse zum Frühstück einladen, wo wir dann alle zusammen eine unbeschwerte Zeit verbringen können. Und irgendwann werden auch Anna und Josephine dazukommen und wir sind alle für immer zusammen. Ich verspreche dir dann, dass wir gemeinsam in den Vergnügungspark gehen und Karussell fahren werden. Das wäre mein größter Wunsch für dich, dass du glücklich wirst mit den anderen. Aber… ich kann dir leider noch nicht folgen. Ich habe eine Familie, die auf mich wartet und die sich große Sorgen um mich macht. Und ich habe noch ein ganzes Leben noch vor mir, welches ich ohne dich und die anderen jetzt nicht hätte. Dieses Leben darf ich nicht so einfach aufgeben. Das verstehst du doch, oder?“ Sie spürte, dass nun auch die Gesichtslose zu zittern begann und so schaute sie ihr fragend ins Gesicht, obwohl sie wusste, dass da eigentlich keins war. Doch nun sah sie, dass da eines war. Als hätte es sich langsam wieder rekonstruiert und es war das Gleiche wie Lauras. Dieselben schwarzen Haare, die jedoch viel länger waren als ihre, aber die gleiche Nase und dieselben strahlend blauen Augen. Als würde sie in einen Spiegel schauen, doch sie erkannte es dennoch eindeutig als Mallorys Gesicht wieder. So würde sie also aussehen, wenn sie noch leben würde, dachte Laura traurig und sah, dass auch Mallory weinte. Nun war sie es, die Mallory tröstete. „Ich… ich vermisse dich auch, Schwesterherz.“ Jetzt endlich war sie wieder ganz die Alte. Die rachsüchtige Gesichtslose war verschwunden und nun gab es nur noch ihre verlorene Schwester Mallory. Sie hatte es geschafft… sie hatte sich selbst verzeihen können, weil sie auch aufrichtig zu sich selbst war. Laura schloss die Augen und spürte die Wärme und den Herzschlag ihrer Schwester. Es war, als würde sie tatsächlich direkt vor ihr stehen und mit ihr sprechen. Und vielleicht war sie es ja auch. Wer weiß, wie weit der Einfluss ihrer verstorbenen Schwester innerhalb dieses Parks reichte. All die Erinnerungen ihrer Freunde waren immer noch da, obwohl sie tot waren. Lewis’ Haus und das der anderen stand immer noch unverändert da und zuerst hatte sich Laura keine Gedanken gemacht, warum es so war. Aber dann hatte sie langsam begriffen, wieso die Erinnerungen ihrer Freunde immer noch innerhalb des Vergnügungsparks existierten: Mallory war die ganze Zeit da gewesen. Sie war immer an der Seite der anderen gewesen, auch wenn niemand es gemerkt hatte. Als Lewis Selbstmord beging, war sie bei ihm, genauso als die anderen starben und sie hatte es selbst miterlebt, wenn sie Freude oder Trauer geteilt hatten. Mallory war nicht nur mit dem Vergnügungspark, sondern mit ganz Dark Creek eins geworden und war deshalb immer bei ihnen gewesen. Als sie alle starben, wollte sie sie genauso wie Anna und Josephine in Erinnerung behalten und erhielt einen Teil von ihnen immer noch in diesem Park. Mallory hatte die negativen Erinnerungen der anderen in sich aufgenommen, damit sie glücklich sein konnten und hatte sich damit mit ihnen verbunden und durch sie gelebt. Dessen war sich Laura sicher. Sie war nicht gänzlich fort, denn ein Teil von ihr wollte noch da bleiben. Ja, sie wollte bei ihren Freundinnen bleiben und hatte die ganze Zeit gewartet, bis ihre kleine Schwester hierher kommen würde. Irgendetwas in ihr musste gewusst haben, dass es früher oder später so geschehen würde. Denn sie waren Zwillinge und Mallory hatte schon damals immer gespürt, wenn Laura in Schwierigkeiten steckte. Eineiige Zwillinge waren nun mal viel enger miteinander verbunden, als andere Menschen es jemals sein konnten. Denn sie teilten so vieles. Denselben Geburtstag, die gleiche DNA und dasselbe Aussehen. Es konnte ein Segen, aber auch ein Fluch sein. Und für Laura und sie war es nie etwas anderes, als ein Geschenk gewesen. „Ich hab dich auch sehr lieb, Laura“, sagte Mallory und löste sich ein wenig von ihr. Dann gab sie ihr einen Kuss auf die Stirn, was sie auch früher getan hatte, wenn sie ihre kleine Schwester trösten wollte. „Endlich kann ich dich nach all der Zeit wieder in den Armen halten. Und ich bin wirklich froh, dass ich dich noch ein Mal sehen konnte.“ Als Laura das hörte, löste sie sich von ihr und sah sie verwirrt an. Hatte sie da gerade richtig gehört? Mallorys Bewusstsein war tatsächlich in die Gesichtslose gefahren? Das konnte doch nicht wahr sein… sie musste sich irren. Aber wenn sie so darüber nachdachte, welchen Einfluss Mallory trotz ihres Todes immer noch ausüben konnte, bestand ja tatsächlich die Möglichkeit, dass sie von Angesicht zu Angesicht mit ihr gerade sprach. „Mallory…“, brachte Laura hervor als sie diesen vertrauten Blick in den Augen sah, den sie von ihrer Schwester kannte. Und in dem Moment wusste sie es mit Gewissheit. Sie war es! Sie war es, ohne jeden Zweifel. „Du bist es wirklich… Und ich dachte schon, ich würde dich nie wieder sehen.“ „Ich kann doch nicht gehen, ohne mich von dir zu verabschieden, kleine Schwester.“ Verabschieden? Warum nur sagte sie so etwas? Sie hatten sich doch gerade erst nach 17 Jahren wiedergefunden und jetzt wollte sich Mallory wieder von ihr verabschieden? „Nein, bitte du darfst nicht gehen. Wir haben uns doch gerade erst wieder gefunden, das kannst du doch nicht tun.“ „Tut mir Leid, aber es ist unvermeidlich. Ich bin tot und dieser Teil meines Bewusstseins wird sehr bald wieder mit Dark Creek und dem Vergnügungspark eins werden. Aber ich wollte dich selbst noch ein letztes Mal mit meinen eigenen Augen sehen und dich in den Arm nehmen, so wie damals. Ich bin wirklich froh, dass es dir gut geht und du eine wunderbare Familie gefunden hast, die dich liebt. Und ich bin froh, dass du mich nicht mehr brauchst, weil du inzwischen stark genug bist.“ „Sag so etwas doch nicht“, rief Laura und drückte sie fester aus Angst, dass Mallory jeden Moment für immer verschwinden könnte. „Ich werde dich immer als meine Schwester brauchen, egal wie mutig ich bin. Du und die Zwillinge, ihr seid auch meine Familie und ich will dich nicht schon wieder verlieren.“ „Das wirst du doch gar nicht“, erklärte Mallory mit sanfter Stimme und strich ihr tröstend durchs Haar. „Wir sind Zwillinge und waren ursprünglich ein Ganzes, schon vergessen? Wir teilen so vieles, deshalb werde ich nie ganz fort sein, solange du lebst. Ein Teil von mir wird immer in dir weiterleben, selbst wenn du mich vergisst.“ Laura ließ ihren Tränen freien Lauf und weinte hemmungslos. Sie wollte nicht, dass Mallory sie schon wieder verließ, aber sie wusste, dass es unvermeidlich war. Genauso wie es unvermeidlich war, als Ilias und die anderen sie verlassen hatten. „Weißt du Laura, ich war wirklich erleichtert, als du dir endlich selbst verzeihen konntest. Ich war dir nie in irgendeiner Weise böse, wegen dem, was passiert ist. Ehrlich gesagt, war ich sogar froh, dass wenigstens dir nichts zugestoßen ist. Und ich hatte eine wirklich schöne Zeit in Dark Creek zusammen mit Josephine und Anna gehabt, deshalb konnte ich auch ohne Bedauern gehen. Nun ja, zumindest fast nicht. Laura, trauere nicht den Dingen nach, die du verloren hast, sondern sei dankbar für das, was dir geblieben ist und was du hinzugewonnen hast. Das Leben ist das wertvollste Geschenk, was du hast. Deshalb darfst du es nicht verwerfen, oder es damit verschwenden, den Dingen nachzutrauern, die niemand von uns hätte ändern können.“ Nun löste sich Mallory von ihr, hielt aber noch immer ihre Hände und mit Entsetzen sah Laura, dass sich Mallory langsam aufzulösen begann. Sie zerfiel ähnlich wie die Gesichtslose zuvor, als Anna sie berührt hatte. Und da wurde ihr schmerzlich bewusst, dass Mallory verschwinden würde, genauso wie ihre Freunde. Und sie konnte nichts dagegen tun. Am liebsten hätte sie ihre große Schwester angefleht, doch bei ihr zu bleiben, aber es würde nichts ändern. Es war, wie sie schon sagte, unvermeidlich. Trotzdem lächelte Mallory glücklich und in diesem Moment erinnerte sie Laura an Lewis, als sie ihn tot vor der Pension gefunden hatte. Es war das gleiche Lächeln. Ihr Herz war frei… „Ich bin wirklich stolz auf dich. Du bist so selbstbewusst und mutig geworden und brauchst dich nicht mehr hinter jemandem zu verstecken. Du bist wirklich groß geworden.“ Traurig lächelte Laura und nickte. „Das habe ich alles dir zu verdanken, große Schwester. Vielen Dank für alles.“ Und damit umarmte Mallory sie noch ein letztes Mal zum Abschied, bevor sie endgültig verschwand. Laura schloss die Augen und hielt sie fest, bis ihr Körper gänzlich zerfallen war wie Herbstlaub und vom Wind davongeweht wurde. Als Laura die Augen wieder öffnete, war Mallory verschwunden. Sie war einfach fort, als wäre sie nie da gewesen und als wäre dies alles bloß ein sehr realistischer Traum. Aber dafür erklang plötzlich eine vertraute Melodie und Laura sah, dass vor ihren Füßen eine Box aus Kirschholz stand, deren Deckel geöffnet war. Aus der Versenkung war ein kleines Pferdekarussell aufgetaucht, das sich zu der Melodie drehte. Sie glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können, als sie erkannte, was das war. Hinter ihr kamen Josephine und Anna herbeigelaufen, die das ganze Geschehen beobachtet hatten. Sie blieben bei ihr stehen und waren genauso verwundert, als sie die kleine Box sahen. „Das… das ist doch…“ „Meine alte Spieluhr. Mallory hatte sie die ganze Zeit für mich verwahrt, um sie mir eines Tages selbst zurückgeben zu können.“ Vorsichtig hob Laura die Spieluhr auf und betrachtete sie. Ja, es war ihre alte Spieluhr, die sie als Kind so sehr geliebt hatte. Das war Mallory letztes Geschenk an sie. Und an der Innenseite des Deckels klebte ein altes Foto, welches sie damals dort befestigt hatte. Es zeigte sie, Mallory und die Zwillinge, als sie noch klein waren. Ein altes Foto zur Erinnerung an ihre Schwester und ihre Freundinnen. Josephine ergriff nach einigem Zögern ihren Arm und murmelte „Laura, es tut mir Leid, dass wir…“ „Nein“, unterbrach sie und schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf. „Es ist gut so. Wenigstens hatte ich noch ein Mal die Chance, meine Schwester wiederzusehen und mit ihr zu sprechen. Ich sollte nicht traurig sein, dass sie fort ist sondern dankbar dafür sein, dass ich diese eine Chance hatte. Mallory ist noch nicht gänzlich verschwunden. Sie lebt in diesem Vergnügungspark weiter und auch in mir. Sie ist ein Teil von mir, genauso wie ich ein Teil von ihr bin. Das ist das Geschenk von Zwillingen.“ „Ja, da hast du wohl Recht“, stimmte Josephine zu und nahm nun ihrerseits Anna an die Hand. Schweigend lauschte Laura der Melodie der Spieluhr und gedachte all jener, die fortgegangen waren. Sie gedachte Lewis, dem verträumten und zur Melancholie neigenden Arzt und Schriftsteller, der für sie alle wie eine Art Vaterfigur gewesen war. Sie gedachte dem leidgeplagten Finnian und seinem verstorbenen Bruder Keenan, dem viel zu früh verstorbenen Dean und dem immer gut gelaunten und fürsorglichen Ilias, den sie geliebt hatte. Und zu guter Letzt gedachte sie ihrer Schwester Mallory, die so viel für sie getan und ihr immer helfend zur Seite gestanden hatte. Selbst dann, wenn sie es nicht gewusst hatte und sie eigentlich längst gestorben war. Vielen Dank, dachte sie und sah in den Himmel, als wolle sie ein stummes Gebet auf die Reise schicken. Bis zum nächsten Mal, wenn wir uns alle irgendwann auf der anderen Seite oder in einem anderen Leben wieder sehen. Bitte wartet bis dahin auf mich und passt gut auf meine Schwester auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)