Mallory von Sky- ================================================================================ Kapitel 14: Flucht durch den Park --------------------------------- Wie lange Mallory bei Ilias und Finnian geblieben war, wusste sie selbst nicht mehr. Sie hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren und war so in ihrem Schmerz und ihrer Trauer gefangen, dass sie für rein gar nichts mehr empfänglich war. Weder für wechselnde Tageszeiten, noch für kalten Wind. Alles in ihr fühlte sich so leer an und mit einem Male schien es ihr so, als wäre sie ganz alleine auf der Welt. Ihr Kopf war leer und sie wusste nicht, was sie noch tun sollte. Sollte sie weitersuchen nach den Antworten bezüglich ihrer Vergangenheit? Sollte sie in Dark Creek bleiben, oder besser nach Hause gehen? Sie wusste es nicht und konnte keine wirkliche Entscheidung treffen. Immer noch kniete sie neben den Leichen von Ilias und Finnian und spürte selbst rein gar nichts mehr außer der unendlichen Leere in ihrem Herzen. Sie hatte sowohl die beiden als auch Dean und Lewis nicht lange gekannt, aber ihr Tod nahm sie dennoch sehr mit. Denn sie alle waren herzensgute Menschen gewesen, die ihr während ihrer Suche immer zur Seite gestanden und ihr immer geholfen hatten, wenn sie nicht alleine weiterkam. Jeder von ihnen war ein wunderbarer Freund gewesen und dabei hatten sie alle eine unendlich traurige Vergangenheit geteilt und waren gestorben. In Dark Creek hatten sie aus irgendwelchen Gründen eine zweite Chance bekommen, noch eine Zeit lang glücklich zu sein und sich ihre Träume zu erfüllen und das zu tun, was ihnen Freude machte. Aber nach und nach ging dies alles zu Bruch. Lewis konnte trotz allem seine Liebe zu Zane nicht vergessen und erkannte als Erster, dass mit diesem Leben etwas nicht in Ordnung war. Er hatte daraufhin sein ganzes Leben hinterfragt und gemerkt, dass es einige Ungereimtheiten gab und letztendlich war es Mallory gewesen, die ihm den entsprechenden Anstoß gab. Indem sie ihn unbewusst mit Fragen auf seine verlorene Liebe stieß, hatte Lewis erkannt, dass man ihm seine Erinnerungen genommen hatte. Und daraufhin war er in den Vergnügungspark gegangen, um die Antworten zu finden. Es gelang ihm dort, seine eigene Vergangenheit und die der anderen aufzudecken. Aber er hatte es nicht übers Herz gebracht, seine Freunde mit der Wahrheit zu konfrontieren weil er wusste, dass es ihnen wirklich alles nehmen würde. Ihr Glück, ihre Hoffnung, einfach alles. Deshalb hatte er hartnäckig bis zuletzt geschwiegen und in seinem Abschiedsbrief erklärt, dass sie selbst die Wahrheit herausfinden mussten, wenn sie dazu bereit wären. Und deshalb hatte er auch nicht in seinem Abschiedsbrief ergänzt, dass er wusste, dass er an den Folgen der schweren Verletzungen durch das Zugunglück gestorben war. Er konnte es ihnen nicht sagen, deshalb hatte er alles mit sich allein ausgemacht. Und indem Mallory unbedingt herausfinden wollte, was das alles mit ihr selbst zu tun hatte, war sie in den Park gegangen und sowohl sie als auch Ilias und Finnian waren mit ihren schlimmsten Ängsten konfrontiert worden. Mit der Folge, dass sich Ilias und sein bester Freund wieder an alles erinnerten und daraufhin erneut starben. Und auch Dean war gestorben, als er sich erinnerte, dass er damals bei einem Amoklauf erschossen wurde. Mallory war mitverantwortlich dafür, dass sie sich alle wieder an ihre ganze Vergangenheit erinnert hatten und deshalb sterben mussten. Und nun stellte sie sich selbst die quälende Frage ob das, was sie getan hatte, das Richtige war. Hatte sie ihre Freunde erlöst, oder sie bloß ins Verderben gestürzt? Wäre es vielleicht besser gewesen, sie wäre niemals nach Dark Creek gekommen? Dann wären die anderen sicherlich noch glücklich und könnten unbeschwerte Tage miteinander verbringen. Aber andererseits wäre dieses Glück nicht von langer Dauer gewesen, wenn sie so darüber nachdachte. Lewis war anders gewesen, er empfand Dark Creek als ein Gefängnis und war unglücklich damit. Sich die Freiheit zu nehmen, selbst über seinen Tod zu bestimmen war das einzige Glück, was er sich noch erhofft hatte. Er hatte erkannt, dass es kein Zurück mehr gab, für niemanden. Keiner von ihnen konnte die Zeit zurückdrehen und die Dinge, die geschehen waren, wieder ungeschehen machen. Finnian konnte seinen Bruder nicht zurückholen, ebenso wenig wie Ilias seine Schwester und seine Mutter. Und sowohl Dean als auch Lewis konnten nicht nach Hause zurück, egal wie sehr sie es sich auch gewünscht hätten. Sie waren tot und damit konnten sie nur noch ihr Schicksal akzeptieren. Früher oder später wäre es so oder so für sie alle so gekommen, dass sie mit ihren schlimmsten Erinnerungen konfrontiert wurden. Aber da wären sie ganz alleine gewesen und hätten wahrscheinlich noch mehr gelitten als ohnehin schon. Es war ein leichter Trost, dass sie hier jemanden gehabt hatten, der in ihren letzten Momenten bei ihnen war. Anna war bei Dean gewesen, als er tot zusammenbrach. Ilias und Finnian hatten Mallory, die bis zuletzt an ihrer Seite geblieben war und ihnen beigestanden hatte. Wenigstens das war ein kleiner Trost gewesen und so hatten sie wenigstens glücklicher sterben können als das letzte Mal. Und was war mit ihr? Sie war die Einzige in Dark Creek, die nicht gestorben war und sie hatte die Stadt nicht verlassen können, weil sie unterbewusst vor ihrer eigenen Vergangenheit davonlief, genauso wie die anderen. Ihr Blick wanderte zu Finnian, der mit aufgeschlitztem Hals da lag, blutüberströmt und totenblass. Und trotzdem sah er dabei so friedlich aus, als würde er bloß schlafen. Sie hatte ihm kurz vor seinem Tod versprochen, dass sie nicht mehr länger vor ihren Ängsten davonlaufen und sich ihrer Vergangenheit stellen würde. Und sie hatte ihm versprochen, dass sie nach Hause gehen, ihrer Familie verzeihen und ihr Leben wirklich leben würde, solange sie es noch hatte. Ja, sie sollte endlich aufhören, vor ihrer Angst davonzulaufen und sich den Tatsachen zu stellen. Ganz egal, was sie am Ende erwarten würde. Sonst wäre sie völlig umsonst hergekommen. Langsam kam sie wieder auf die Beine und nahm die Brechstange an sich, die sie zuvor benutzt hatte, um Finnian davor zu bewahren, von seinen eigenen Ängsten gepeinigt und in den Wahnsinn getrieben zu werden. Es klebte immer noch pechschwarzes Blut daran, aber sie störte sich nicht sonderlich daran. In ihren Augen war das nicht einmal Blut, sondern so etwas wie die Essenz der Angst. Dieser Ort war das Zentrum der Angst und wer sie nicht beherrschen konnte, wurde von ihr verfolgt und zerstört. Lewis hatte es ganz alleine geschafft, weil er seine Angst überwinden konnte. Ausgerechnet er war stärker gewesen als sie alle zusammen, obwohl er selbst von großen Selbstzweifeln geplagt worden war und sich selbst nie wirklich lieben konnte. Wie hatte er es nur geschafft, die Tatsache zu akzeptieren, dass er nicht mehr lebte und es für ihn nichts anderes mehr gab als den Tod? Insgeheim wünschte sie sich, sie wäre annähernd so stark wie er. Sie atmete tief durch und versuchte, sich zu sammeln und nicht zurückzusehen, wo die Leichen ihrer Freunde lagen. Daran durfte sie jetzt nicht denken, sonst würde sie es nicht schaffen, das wusste sie jetzt schon. „Ilias, Finny… ich bin bald wieder zurück.“ Mit der Brechstange in der Hand machte sich die 24-jährige auf den Weg, unsicher, wohin sie eigentlich gehen sollte. Der Vergnügungspark war unfassbar riesig, viel größer, als er von außen eigentlich wirkte. Entweder bildete sie sich das nur ein, oder Josephine hatte auch hier ihre Finger im Spiel. Oder es konnte daran liegen, dass langsam es allmählich dunkler wurde. Auch das noch, dachte sie und sah auf die Uhr. Bald würde die Sonne untergehen und obwohl sie eine Taschenlampe dabei hatte, würde das ihre Situation auch nicht bessern. Wenn sie richtig lag, würde es nicht mehr lange dauern, bis sie erneut von Monstern angegriffen wurde, die ihre schlimmsten Ängste verkörperten. Und dann waren da auch noch Anna und Josephine, von denen sie immer noch nicht so wirklich wusste, was ihr Ziel war. Eine unheimliche Stille breitete sich über den ganzen Park aus und Mallory wurde sichtlich unruhiger. Zwar hatte sie keine Angst im Dunkeln, doch sie fürchtete sich vor der gesichtslosen Frau, die sie in der Spiegelkammer beinahe umgebracht hätte. Sie wusste nicht, wer diese Frau war und sie hatte auch nicht wirklich Lust, sich das Gesicht abreißen zu lassen und dann hinterher genauso auszusehen. Allein der Gedanke daran, wie sich das wohl anfühlte und wie sie danach aussehen würde, ließ sie erschaudern. Schön und gut, dass Finnian ihr gesagt hatte, dass sie sich ihren Ängsten stellen muss, aber das war leichter gesagt als getan. Und insgeheim bezweifelte sie, dass sie es wirklich schaffen konnte. Aber eines beschäftigte sie schon: Wenn Anna wirklich die Wahrheit gesagt hatte und sie vor 17 Jahren mit den beiden befreundet war, wieso griffen die beiden sie an und drohten ihr sogar? Und warum verhielt sich Anna immer so abweisend ihr gegenüber? Aus diesen beiden Mädchen wurde sie echt nicht schlau, besonders nicht aus Josephine. Zuerst jagten sie ihr Angst ein und wollten sie mit allen Mitteln aus der Stadt haben und dann retteten sie sie vor der gesichtslosen Frau. Außerdem verhielt sich insbesondere Josephine ihr gegenüber vollkommen feindselig und aggressiv, als würde sie einen Hass auf sie haben. Warum? Vielleicht, weil ihre Eltern vor 17 Jahren Anna getötet hatten? War das die Antwort? Wenn dem so war, würde es zumindest erklären, wieso Josephine in der Spiegelkammer so mit ihr geredet hatte. Aber was war mit Laura gewesen? Anna sagte, es sei ein schrecklicher Unfall gewesen. Sollte es vielleicht heißen, dass Josephine sie versehentlich getötet hatte? Fakt war, dass das Mädchen mit diesen monströsen Augen verantwortlich war für die Ermordung ihrer Familie und die der anderen Bewohner von Dark Creek. Mallory erreichte nach einer Weile das Riesenrad, welches im Licht der Abendsonne irgendwie noch unheimlicher aussah als zuvor schon. Unruhig sah sie sich um und schaltete ihre Taschenlampe ein. Warum nur musste es ausgerechnet jetzt dunkel werden, wo sie jetzt ganz alleine in diesem gottverdammten Park war? Solange es noch hell war, hatte sie wenigstens noch frühzeitig herannahende Gefahr erkennen können, aber in der Dunkelheit konnte von allen Seiten her etwas kommen und sie anfallen. Hoffentlich nicht von hinten, so wie in der Spiegelkammer. Ein blecherner Knall ertönte und mit einem unheilvollen Knarren setzte sich das Riesenrad in Gang, doch die Lichter, mit denen es ausgestattet war, blieben aus. Dafür aber begann wieder diese vertraute Melodie zu spielen. Es war die Melodie von Lauras Spieluhr und dieses vertraute Lied nahm ihr ein klein wenig die Angst. Dabei begann sie sich wieder an die Abende zu erinnern, wo sie und Laura zusammen vor ihren Betten auf dem Boden gesessen und dem Lied der Spieluhr gelauscht hatten. Und dabei begann sie leise zu singen. „In the dark blue sky you keep, And often through my curtains peep, For you never shut your eye, 'Till the sun is in the sky. As your bright and tiny spark, Lights the traveller in the dark. Though I know not what you are, Twinkle, twinkle, little star. Twinkle, twinkle, little star. How I wonder what you are. Up above the world so high, Like a diamond in the sky. Twinkle, twinkle, little star. How I wonder what you are. How I wonder what you are.” Irgendwie schien es so, als würde dieses Lied aus einem bestimmten Grund gespielt werden. Seit sie sich wieder an Laura erinnerte, kamen immer mehr Fragmente ihrer Vergangenheit zutage, in denen sie so viel Zeit mit ihr verbracht hatte. Laura und sie hatten wie Pech und Schwefel zusammengehalten und sich immer ohne Worte verstanden. Mallory wusste, dass zwischen Zwillingen eine ganz besondere Verbindung bestand, weil sie dieselbe DNA teilten und in den ersten Tagen ihrer Entwicklung ein gemeinsames Individuum gewesen waren. Obwohl sie damals erst sieben Jahre alt waren, wussten sie immer, was die andere gerade dachte und fühlte. Mallory hatte sogar ein Gespür dafür gehabt, wann Laura in Schwierigkeiten steckte. Als hätten sie beide eine Art sechsten Sinn besessen. Unfassbar, dass Laura damals gestorben war. Und ebenso unfassbar, dass sie beide mit Josephine und Anna befreundet gewesen waren. Warum hatten die beiden denn so getan, als würden sie sie nicht kennen? Irgendwie verstand sie das alles nicht. Im Hintergrund spielte immer noch die Melodie und ein paar Straßenlaternen leuchteten schwach flackernd. Leider half es auch nichts, der Park war trotzdem unheimlich. Da sie nicht länger als nötig hier bleiben wollte, ging sie weiter und hielt sich einfach geradeaus, wo der Weg halbwegs beleuchtet war. Nicht mal die Lichter funktionierten hier noch richtig. Allmählich begann sich Mallory zu fragen, wohin sie denn eigentlich gehen sollte. Der Park war riesig und irgendwo mussten die Zwillinge doch wohnen. Die konnten doch wohl kaum in einem der Fahrgeschäfte leben. Das Haus, schoss es Mallory durch den Kopf und sie erinnerte sich wieder. Ja richtig, der Vergnügungspark stand auf dem Gelände, wo nicht nur der Teich gewesen war, sondern auch das alte Herrenhaus, in welchem Anna und Josephine gelebt hatten. Es musste sicher noch irgendwo stehen! Und wenn sie sich vielleicht erinnerte, wo genau es damals gestanden hatte, konnte sie dann endlich diese Zwillinge finden und sie zur Rede stellen. Instinktiv ging sie die beleuchtete Straße entlang, auch wenn es ihr seltsam erschien, wieso ausgerechnet nur in dieser die Laternen funktionierten. Dies konnte eine Falle sein, aber es war ihr lieber, dort angegriffen zu werden, als in der Finsternis. Leider funktionierten die meisten Straßenlaternen nicht gut. Das Licht, was sie abgaben, war ein schwaches und ungesundes gelb, außerdem flackerten sie stark, sodass Mallory trotz allem die Taschenlampe zur Hilfe nehmen musste. Eine Gänsehaut überkam sie, als sie realisierte, dass es nun fast vollkommen dunkel geworden war. Und obwohl sie in der Ferne immer noch die Melodie hörte, kehrte die Angst wieder zurück, denn sie spürte den Blick ihres Verfolgers im Nacken. Sie hielt die Brechstange schlagbereit und drehte sich um, wobei sie mit der Taschenlampe leuchtete. Innerlich hatte sie sich darauf vorbereitet, aber als sie wieder die gesichtslose Frau sah, blieb ihr fast das Herz stehen. Im Lichte der untergehenden Abendsonne sah sie noch schlimmer aus als zuvor. Ein wenig taumelnd kam sie näher und blutete immer noch aus den Schusswunden. Selbst die Verletzung durch Josephines Machete war noch da. „Mallory…“, brachte sie mit Mühe hervor, wobei es eigentlich ein Rätsel war, wie sie überhaupt sprechen konnte, wenn der einzig intakte Teil ihres Gesichts der Unterkiefer war und sie nicht mal eine Zunge hatte. Der Anblick von Fleisch, Hirnmasse und Knochen war einfach abstoßend und obwohl Mallory wusste, dass es nichts brachte, immer nur wegzulaufen, konnte sie einfach nicht hinsehen, ohne dabei in Panik zu geraten. Wer war nur diese Frau und warum sah sie so aus? „Wer… wer bist du?“ brachte sie mit zitternder Stimme hervor und umklammerte die Brechstange nun fester. Freiwillig würde sie sich jedenfalls nicht das Gesicht abreißen lassen. So viel stand fest. „Warum verfolgst du mich und wieso willst du mein Gesicht haben?“ „Du Diebin…“, brachte die Frau mit röchelnder Stimme hervor und kam näher. Blut tropfte auf den Boden und sie streckte ihre Hände nach der 24-jährigen aus, was ihr fast etwas Zombiehaftes verlieh. „Du elende Diebin…“ „Ich habe dir dein verdammtes Gesicht nicht geklaut, also lass mich in Ruhe!“ „Lügnerin“, schrie die Frau und griff nun an. In diesem Moment schlug Mallory mit der Brechstange zu und traf sie am Kopf. Doch die gesichtslose Frau taumelte nur kurz zurück, dann packte sie ihre Angreiferin am Arm. Ihre Hände fühlten sich so entsetzlich kalt an, als wären sie aus Eis… oder als wäre sie eine eiskalte Leiche. „Du wirst mir nicht noch mal davonlaufen…“ „Wieso willst du mein Gesicht und warum behauptest du, dass ich es dir genommen habe?“ „Weil du es mir genommen hast. Du hast mir alles weggenommen und dafür wirst du büßen, du Dreckstück.“ Damit erhob sie ihre freie Hand, um ihre Fingernägel in Mallorys Gesicht zu schlagen, doch diese schlug erneut mit der Brechstange zu und riss sich los, woraufhin sie davonlief. Verdammt, warum nur war es so schwer, sich seiner größten Angst zu stellen? Aber warum nur war es eine Frau, die kein Gesicht mehr besaß und wieso behauptete sie, Mallory hätte ihr das Gesicht gestohlen? Das ergab doch keinen Sinn. Selbst wenn sie diese Frau damals gekannt hatte, sie war da gerade erst sieben Jahre alt gewesen. Da hatte sie genug andere Sachen im Kopf, als anderen Leuten das Gesicht zu klauen. Wie sollte das überhaupt möglich sein? Es musste irgendwie eine symbolische Bedeutung haben. Was war nur damals passiert, als das Massaker geschah? Gab sie sich vielleicht irgendwie die Schuld am Tod von irgendjemandem, der vor ihren Augen gestorben war? Konnte diese gesichtslose Frau womöglich ihre Mutter sein? Aber wieso sollte sie sich für ihren Tod verantwortlich fühlen? Es war immerhin Josephine gewesen, die sie umgebracht hatte, genauso wie all die anderen in ihrer Familie. War es vielleicht eine andere nahe Verwandte, oder eine gute Freundin? Wenn sie sich doch nur erinnern könnte, was in dieser einen Nacht passiert war, die für immer ihr Leben verändert hatte. Alles was sie wusste war, dass sie blutüberströmt auf die Straße gerannt war und nach jemandem gesucht hatte. Sie hatte heftig geweint und geschrieen, aber niemand war gekommen, um ihr zu helfen. Und kurz darauf war in der Stadt Panik ausgebrochen, als Josephine Jagd auf die Menschen machte und sie nach und nach tötete. Moment mal… Sie war schon blutüberströmt gewesen, bevor das Massaker begonnen hatte? Aber das würde ja bedeuten, dass schon vorher etwas Schreckliches passiert sein musste, was sie völlig traumatisiert hatte. Vielleicht waren ihre Eltern schon vorher getötet worden und sie hatte nach Laura gesucht, weil sie Angst um ihre Schwester hatte. Und dann war auf den Straßen das Chaos ausgebrochen. Was war, wenn diese gesichtslose Frau mit ihrem eigentlichen Trauma zu tun hatte, nämlich das, was sie vor dem Massaker von Dark Creek erlebt hatte? Womöglich war diese Frau vor ihren Augen von irgendjemandem getötet worden, den sie kannte. Und nun glaubte diese, Mallory sei dafür verantwortlich. Ach die ganze Sache war so verwirrend, dass sie gar nicht mehr durchblicken konnte. Sie fürchtete aber, dass sie noch länger gegen diese Frau kämpfen musste, bis sie endlich wusste, was vor dem Massaker passiert war. Mallory beschleunigte ihre Schritte und eilte um die Ecke, wo die Lichter der Straßenlaternen schwach leuchteten, als wollten sie ihr den Weg weisen. Hinter sich hörte sie die gesichtslose Frau wütend schreien, während sie ihr hinterher lief. Verdammt, warum musste diese Hexe nur so gruselig aussehen? Und egal wie oft sie auf sie eindrosch oder auf sie schoss, die stand immer wieder auf wie ein Stehaufmännchen. Nicht mal die Zombies in den Horrorspielen hielten so lange durch. Die gaben irgendwann den Geist auf, aber diese Frau war ja noch viel hartnäckiger, die brachte rein gar nichts um. Was sollte sie nur tun? Wenn sie da blieb und sich dieser Hexe stellte, würde das ihr sicherer Tod sein. Wirklich alles schien gegen sie zu sein. Ilias und Finnian waren fort, von Anna und Josephine war keine Spur zu sehen und es wurde um sie herum immer dunkler. Während sie weiter vor der gesichtslosen Frau davonlief, versuchte sie die stechenden Kopfschmerzen zu ignorieren und sich aufs Laufen zu konzentrieren, damit sie nicht wieder eine Panikattacke bekam. Die Angst in ihr drohte nun endgültig die Oberhand zu nehmen und sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte. „Bitte… hilf mir doch irgendjemand…“ Da ihre Verfolgerin nur schleppend vorankam, konnte sie sie abschütteln, aber sie wusste auch, dass es nicht für lange sein würde. Dieses Monster würde sie immer wieder finden, egal wohin sie auch ging. Warum nur wollte diese Frau sie überhaupt töten? Wenn sie allein zu dem Zweck erschaffen wurde, um unerwünschte Besucher zu verjagen, hätte sie doch nicht vor, Mallory das Gesicht zu rauben und sie im Anschluss umzubringen. Josephine hatte sie mit der Machete attackiert, um sie genau davon abzuhalten, aber wieso erschuf das Mädchen diese Frau überhaupt, wenn sie nicht wollte, dass ihre alte Freundin starb? Vielleicht war sie es ja gar nicht gewesen. Was, wenn dieser ganze Ort hier von irgendeiner fremden Macht erfüllt war, die selbst Anna und Josephine nicht vollständig beherrschen konnten und diese auf die schlimmsten Ängste seiner Besucher reagierte und daraufhin zum Leben erweckte? Und wieso versuchten diese dann, ihre „Besitzer“ zu töten? Nun, zumindest hatte Finnians Vater nicht versucht gehabt, ihn zu töten. Er wollte ihn bloß seelisch brechen. Aber die Statuen und die gesichtslose Frau wollten Blut sehen. Das musste doch einen bestimmten Grund haben. Vom Laufen bekam Mallory Seitenstiche und sie musste kurz stehen bleiben, um Luft zu holen. Seit sie Dean und Anna hinterhergelaufen war, hatte sie entweder nur gekämpft, oder war die ganze Zeit gerannt. Und da sie nicht gerade zu den Sportlichsten zählte, wurde das allmählich anstrengend für sie. Eines war klar: Auf die Dauer würde sie das nicht durchhalten und wenn es erst mal dazu kam, dass sie nicht mehr rennen konnte, war sie für diese Frau eine leichte Beute. Es wurde deutlich kühler und Mallory begann zu frösteln. In der Ferne hörte sie eine Krähe und bekam eine Gänsehaut. Mit jeder Sekunde wurde ihr der Park immer unheimlicher und sie fühlte sich wie in einer Horrorfilmkulisse. Ein metallisches Knacken ertönte und nicht weit entfernt gingen Lichter an, als sich ein weiteres Karussell in Gang setzte und vor Schreck hätte ihr Herz fast ausgesetzt. Die Melodie, die dieses Mal gespielt wurde, war eine andere und klang sich ein wenig wie „Pop goes the weasel“. Aber sie spielte sehr langsam und klang etwas verzerrt, wodurch sie sich anhörte, als entstamme sie einem Horrorfilm. Das trug nicht gerade dazu bei, dass Mallory sich ein klein wenig sicherer fühlte. Viel mehr unterstrich diese verzerrte Melodie das Gefühl einer Horrorkulisse. Unruhig sah sie sich um, denn sie glaubte, irgendwo eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Instinktiv schaute sie zum Karussell herüber, welches sich immer noch sehr langsam bewegte. Und im Lichte des Karussells stand die gesichtslose Frau und starrte zu ihr herüber. Mallory durchfuhr ein eisiger Schreck, als sie sah, dass sie bereits aufgeholt hatte. Schnell verschwand sie um die Ecke und schob sich durch eine Gasse in der Hoffnung, so ihre Verfolgerin wieder loszuwerden. Doch da packte sie etwas an den Haaren und am Hals und diese eiskalten Hände ließen sie nichts Gutes erahnen. „Mallory…“ Verdammt, wie war sie so schnell hergekommen? Gab es etwa mehr als eine von der Sorte? „Lass mich los!“ rief sie und schlug mit der Brechstange zu, um ihre Angreiferin abzuschütteln, doch dieses Mal ließ die gesichtslose Frau nicht locker, sondern packte ihr Opfer und schleuderte sie gegen eine Häuserwand. Schließlich ergriff sie die am Boden Liegende und riss sie von den Füßen, wobei sie sie zu würgen begann. Ihr Griff war unfassbar stark und Mallory bekam keine Luft mehr. Hinzu kam noch, dass ihre Hände so kalt waren wie Eis. Die Brechstange lag auf dem Boden und sie konnte nichts anderes tun, als zu versuchen, sich aus dem Griff dieser Frau zu befreien. Aber sie wusste, dass sie nicht stark genug war, um es zu schaffen. Allmählich bekam sie keine Luft mehr und wenn nicht schnell etwas geschah, würde sie noch erwürgt werden. „Du hättest damals sterben sollen…“ brachte die Frau mit krächzender Stimme hervor. „Du verdienst es nicht, zu leben…“ Mallory hätte am liebsten um Hilfe gerufen, aber sie wusste, dass niemand zur Hilfe kommen würde. Wer denn auch? Ilias und Finnian waren tot und sie konnte von Anna und Josephine nicht wirklich Hilfe erwarten. Langsam begann ihr schwarz vor Augen zu werden und ihre Lunge schmerzte. Sie musste dringend Luft holen, sonst würde sie gleich noch ohnmächtig werden. Mit einem Male überkam Mallory am ganzen Körper eine Gänsehaut und sie spürte, dass sich etwas im Park regte. Eine Art unheimliche Energie, die sich bislang in einem tiefen Winterschlaf befunden hatte und die nun langsam erwachte. Sie hörte ein lautes Kreischen und in dem Moment schoss ein kleiner schwarzer Schatten auf sie zu. Es griff sofort die gesichtslose Frau an und versenkte seine scharfen Krallen in ihre Arme. Mallory fiel zu Boden und schnappte nach Luft, dann griff sie hastig nach der Brechstange. Als sie aufsah, erkannte sie, dass sich Amducias auf ihre Angreiferin gestürzt hatte und sie biss und kratzte. Unfassbar, der Kater hatte ihr gerade das Leben gerettet. Wütend fauchte er, während er ihr blutige Kratzwunden zufügte und für einen Moment überlegte Mallory, ob sie selbst angreifen, oder lieber erst mal weglaufen wollte. Da sie wusste, dass es sowieso unmöglich war, diese Frau zu töten, entschied sie sich lieber für Option zwei und rannte davon. Sie lief die schwach beleuchtete Straße weiter und hörte in der Ferne das wütende Miauen des Katers, der immer noch am Kämpfen war. Wie lange er das wohl durchhalten würde? Ach was, es war nicht der richtige Augenblick, um sich über ein Tier Sorgen zu machen, wenn man selbst gerade eben dem Tod von der Schippe gesprungen war. Sie konnte von Glück reden, dass Amducias genau im richtigen Augenblick gekommen war, bevor sie noch gestorben wäre. Mit Sicherheit war das kein Zufall gewesen. Josephine musste ihn geschickt haben, um sie zu retten. Offenbar wollte sie ihre alte Freundin unbedingt loswerden, schien sie aber dennoch zu beschützen. Aber wieso diese feindseligen Attitüden? Irgendwie durchschaute Mallory sie immer noch nicht. Auf der einen Seite beschützten die beiden sie vor der gesichtslosen Frau und andererseits bedrohten sie sie und behandelten sie eine Fremde. Außerdem wollten sie mit aller Macht verhindern, dass ihre alte Freundin die ganze Wahrheit erfuhr und mit Sicherheit waren sie auch diejenigen, die die gesichtslose Frau erschaffen hatten. Woher sollte sie denn sonst kommen? Mallory konnte sie doch unmöglich selbst erschaffen haben, immerhin verfügte sie über keine besonderen Kräfte im Gegensatz zu Anna und Josephine. Nun war es gänzlich dunkel geworden und schließlich erreichte Mallory eine weitläufige leere Fläche, in der es nichts gab, außer einem Teich, ein paar Bäumen und die Umrisse eines Herrenhauses. Sie blieb stehen und leuchtete mit ihrer Taschenlampe, wobei sie erst mal wieder versuchen musste, zu Atem zu kommen. Nach der ganzen Rennerei und der Attacke war sie völlig aus der Puste. Neugierig sah sie sich um und entdeckte einen großen Teich. Moment mal, das war doch der Teich, an dem sie mit Laura damals immer gespielt hatte. Und weiter hinten war das Haus von Anna und Josephine. Sie hatte es endlich gefunden. In dem Haus brannte sogar Licht, was wohl hieß, dass die Zwillinge sich dort drin aufhalten mussten. Als der Lichtstrahl das Haus traf, erfasste Mallory ein stechender Kopfschmerz und kurz wurde ihr schwarz vor Augen. Da war doch etwas gewesen vor 17 Jahren. Laura und sie waren doch irgendwann mal zu dem Haus gegangen, weil sie dort jemanden besuchen wollten. Nein, es war nicht ein Mal, sondern fast jeden Tag dort gewesen. Großer Gott, Josephine hatte die Wahrheit gesagt. Sie und Laura waren damals tatsächlich mit den Zwillingen befreundet gewesen und hatten sie immer besucht. Und an dem Abend, bevor das Massaker begann, war Mallory ebenfalls zum Herrenhaus gegangen. Aber dieses Mal ganz alleine und ohne Laura. Sie hatte heftig geweint und verzweifelt nach jemandem gerufen. Aber wen hatte sie gerufen und was war dann geschehen? Als sie sich angestrengt zu erinnern versuchte, begann ihr Herz wieder zu rasen und ihr wurde schwindelig. Beim besten Willen bekam sie einfach keine vollständigen Erinnerungen zusammen, sondern nur Fragmente. Sie wusste nur, dass sie entsetzliche Angst bekommen hatte, als sie in dieses Haus gebracht wurde und daraufhin gab es ein fürchterliches Chaos. Dann hatte sie sich auf der Straße wiedergefunden und mit angesehen, wie um sie herum all die Menschen starben. Was um Gottes Willen war nur in diesem Haus vorgefallen, dass sie solch eine Angst bekommen hatte, dass sie eine Amnesie davongetragen hatte? Josephine und Anna wussten die Antwort. Mallory ging zum Herrenhaus und bemerkte, dass der Garten in einem tadellosen Zustand war, im Gegensatz zum Vergnügungspark. Die Hecken waren perfekt gestutzt, es gab einen beleuchteten Springbrunnen und ein richtiges Rosentor. Überall hatte man wunderschöne Blumenbeete angelegt und alles wirkte wie aus einem verzauberten Garten. Nicht weit entfernt entdeckte sie einen großen Baum, auf welchem sich ein Baumhaus befand. Von diesem hatte Dean erzählt. Dort hatte er immer mit Anna gespielt, wenn sie sich getroffen hatten. Aber etwas anderes erweckte ihr Aufmerksamkeit, nämlich ein kleiner Pfad, der durch vereinzelte Steinplatten markiert war. Sie folgte ihm und erreichte eine dichte Hecke, in der es einen etwas versteckt liegenden Durchgang gab. Er war so unauffällig, dass man ihn gar nicht bemerken würde, wenn man nicht gezielt danach suchte. Irgendwie erinnerte sie das an den verborgenen Zugang zu einer Märchenwelt. Die Neugier überkam sie und obwohl eigentlich alles dafür sprach, ins Haus zu gehen und die Schwestern zu sprechen, wollte sie unbedingt sehen, was sich jenseits dieser Hecke befand. Irgendein Gefühl in ihrem Inneren sagte ihr, dass sie dorthin gehen musste, weil sie dahinter die Antwort finden würde, nach der sie gesucht hatte. Es war, als würde eine unwiderstehliche Macht sie dorthin ziehen. Also ließ sie sich von dieser Anziehungskraft leiten und ging zu dem Spalt in der Hecke, der so schmal war, dass sie sich seitwärts hindurchschieben musste, um hindurch zu kommen. Was sie erwartete, war ein weiterer Blumengarten und dieses Mal erkannte sie die Blumen wieder, da diese das Blumenbeet ihrer Pflegemutter zierten und auf die sie besonders stolz war. Es waren Chrysanthemen. Sie waren rings um eine Art großen würfelförmigen dunklen Marmorstein gepflanzt worden, der wohl so etwas wie ein Gedenkstein war. Auf diesen Gedenkstein hatte jemand ein paar Lindenblütenzweige gelegt. Seltsam, warum stand im Zentrum dieses Gartens ein Gedenkstein? Langsam ging sie näher und hielt die Taschenlampe fest auf den marmornen Stein gerichtet. Es war totenstill um sie herum und irgendetwas Seltsames lag in der Luft, etwas Erwartungsvolles. Und wieder befiel Mallory Angst. Es war wieder diese aufkeimende Panik, sie jedes Mal befiel, wenn sie sich an ihre Vergangenheit zu erinnern begann. Und verbunden mit der Panik kamen die Kopfschmerzen wieder, als versuche sich ihr Gehirn mit aller Macht dagegen zu wehren. Tief in ihrem Inneren wollte sie die Inschrift des Gedenksteins nicht sehen, aber sie musste es tun. Sie atmete tief durch und trat näher, um endlich Gewissheit zu bekommen. Der Schein der Taschenlampe traf auf die goldenen Lettern auf der oberen Fläche des Epitaphs, wo die Lindenblüten lagen. Das Blut gefror ihr in den Adern, als sie den Namen las, an den sie sich lange Zeit nicht erinnern konnte und doch wieder sofort wieder so präsent war, als wäre er ihr niemals entfallen. Auf dem Gedenkstein stand „Mallory Collins“. Es war ihr eigener Name… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)