Denn die Prophezeiung sagt von Skeru_Seven ================================================================================ Lavanya war müde, mit deutlichem Abstand lief sie ihren Kollegen Vasin und Kaan auf dem unebenen Weg hinterher. Die Sonne stach hinterhältig auf ihren Nacken, nirgends gab es Schatten, das Gepäck drückte sich unangenehm in ihren Rücken und die Wasserkannen wurden mit der Zeit auch nicht leichter. „Können wir eine Pause einlegen?“, rief sie ihre Kollegen zu und stolperte beinahe über einen der vielen Steine auf dem Boden, den sie übersehen hatte. Lange würde sie mit dem Tempo der beiden nicht mehr mithalten können. „Nein!“, kam zeitgleich dieselbe Antwort zurück; es passierte selten, dass sie einer Meinung waren, und das meistens nur, um vor dem anderen keine Schwäche zu offenbaren, die er später ausnutzen konnte. Lavanya seufzte tief. Sie hatte gedacht, dieses kindische Benehmen verflüchtigte sich mit der Zeit und die zwei nahmen eine gewisse Reife an, die man in diesem Alter von ihnen erwarten durfte. Im Gegenteil; es hatte sich im Laufe der Ausbildung eine handfeste Rivalität zwischen Vasin und Kaan entwickelt, die nicht einmal die ernsten Gespräche und Drohungen ihres Lehrmeisters hatten beenden können. Und meistens war sie die Leidtragende dieser sinnlosen Auseinandersetzungen, genauso wie im Augenblick. Nur wegen ihrer Kollegen liefen sie durch diese abgelegene, unfreundliche Gegend, die nur aus Sand und Felsen bestand, und mussten zu Fuß Besorgungen für ihren Lehrmeister erledigen, die dieser auch per Flugfuchs in Auftrag hätte geben können. Stattdessen schickte er sie durch die Gegend wie Laufboten. Dadurch sparte er Liefergebühren und schonte seine Nerven, da sie mindestens zwei Wochen unterwegs wären. Hätten Vasin und Kaan nicht wieder gestritten, wer der Bessere in der Kunst der Sandfischbeschwörung war, während sie eigentlich den Geräteschuppen neu streichen sollten. Und vor allem nicht ohne Erlaubnis die Formeln für die Beschwörung aufgesagt, obwohl noch keiner von beiden die volle Kontrolle darüber besaß. Es hatte mit einer Flut an Sandfischen, die singend und klingend den ganzen Schuppen einnahmen, und einem wütenden Lehrmeister geendet, der ihnen allen eine Lektion erteilte. Auch Lavanya, weil sie sich seiner Meinung nach als älteste immer noch nicht gegen ihre Kollegen durchsetzen und sie zur Ordnung rufen konnte. Und leider hatte er vollkommen recht, sie kam einfach nicht gegen die zwei an, was sich nun wieder zeigte. Man hörte ihr nicht zu und überging sie aus Prinzip. Keine halbe Stunde später rächte sich dieses Verhalten ihrer Kollegen, denn Lavanya blieb erneut mit ihrer Sandale an einem Stein hängen und konnte dieses Mal nicht das Gleichgewicht halten. Mit einem unterdrückten Schrei stolperte sie nach vorne und schlug schmerzhaft auf dem mit Kieseln übersäten Weg auf. „Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragte Kaan gereizt, der erst an einen Trick dachte, um die allgemeine Aufmerksamkeit zu erlangen. Er drehte sich um und sah Lavanya auf der Erde liegen. Der Inhalt ihres Rucksacks hatte sich teilweise selbstständig gemacht und lag nun verstreut um sie herum. „Nicht dein Ernst, oder?“ „Helft mir bitte hoch!“ Weder auf den Handflächen noch auf den Knien konnte sie sich nach oben drücken. Kleine Steine hatten sich in die Haut gebohrt und nun brannte und blutete es bei der kleinsten Bewegung. „Wir sollten dich liegen lassen, denn Dummheit muss bestraft werden“, befand Kaan und drehte ihr den Rücken zu. „Ich bin nicht deine Kinderschwester.“ Er zeigte Anstalten, ungerührt weiterzumaschieren. Vasin hielt ihn jedoch am Ärmel fest, bevor er es in die Tat umsetzen konnte. „Du bist unmöglich.“ Er sammelte die umherliegenden Wasserkannen, Rosentomaten und Efeukartoffeln zusammen, übergab Lavanyas Rucksack an Kaan ohne dessen Zustimmung und lud sich seine verletzte Kollegin umständlich auf den Rücken. Das wäre nicht zwingend notwendig gewesen, ihr nur auf die Beine zu helfen hätte für den Anfang gereicht, aber so erhoffte er sich ein noch größeres Lob am Ende des Tages. „Und wie geht es weiter? Willst du sie die ganze Reise über tragen?“, fragte Kaan herausfordernd. „Damit du der große Held sein kannst?“ „Wir sollten uns für eine Nacht eine Unterkunft suchen.“ „Das kostet Geld, falls du es vergessen hast.“ „Sie ist verletzt, falls du das übersehen hast“, entgegnete Vasin ärgerlich. „Nur mit Energie kann man sie nicht heilen, das weißt du.“ „Ja, nur zu, spiel dich weiter auf und bestimme, was wir zu tun haben. Sei du heute der Anführer, dann erklärst du unserem Lehrmeister, wofür unser Geld verschwendet wurde. Wir haben Zelte dabei, falls du dich erinnerst.“ Lavanya beobachtete kopfschüttelnd diesen Schlagabtausch. Wenn es wenigstens tatsächlich um sie, ihre Verletzungen und um ihr Nachtlager gegangen wäre, aber Vasin und Kaan verfolgten nur das Ziel, sich gegen den anderen durchzusetzen. Die Meinungsverschiedenheit zog sich noch eine ganze Weile in die Länge, keiner wollte nachgeben, jeder fand seine Position am sinnigsten und die des anderen aus Gewohnheit unnütz. Irgendwann reichte es Lavanya. Sie war immer noch durstig, hatte Schmerzen und hing unbeachtet wie ein Sack Sand auf Vasins Schultern in der prallen Sonne. Es war an der Zeit, mit ihrer Stimme die Diskussion zu entscheiden. „Ich bin für eine Unterkunft.“ „Haben wir dich gefragt?“ „Gut, dann ist es entschieden, wir werden eine suchen“, überging Vasin Kaans Einwand. Dieser knurrte wütend, fügte sich aber widerwillig, damit sie nicht noch mehr Zeit verloren als ohnehin schon. Sie waren noch über zwei Stunden unterwegs, bis sie die Umrisse einer Siedlung in der Ferne erkannten. In der ganzen Zeit hatte die Umgebung sich kaum verändert und Lavanya, die immer noch getragen wurde und sich dadurch auf die Aussicht statt auf den Weg konzentriert hatte, wäre beinahe eingeschlafen. Überall nur Sand, Kiesel, vertrocknete Felder und noch mehr Kiesel. Bäume schien es genauso wenig zu geben wie bei ihnen. „Warum werden wir durch die Wüste geschickt? Findet unser Lehrmeister das unterhaltsam?“, beschwerte sich Vasin halblaut und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wir hätten auch in Richtung Norden gehen können, da gibt es Seen, kühleres Wetter und angeblich sogar Blumen. Echte, keine aus Metall nachgefertigten.“ „Kannst du mal deinen Mund halten? Wir sind auf einer Läuterungswanderung, nicht auf einer Erkundungsreise. Also sei leise.“ Kaans Laune war inzwischen noch schlechter geworden, da er von den dreien am meisten die starke Sonneneinstrahlung zu spüren bekam und heute Nacht mit einem schmerzhaften Sonnenbrand zu kämpfen hatte. Vielleicht wäre er dann sogar insgeheim dankbar, nicht auch noch in einem Stoffzelt, direkt auf sandigem Untergrund übernachten zu müssen. Die Siedlung kam näher, im selben Maße stieg bei allen die Vorfreude auf Schatten und etwas Anständiges zum Essen anstelle des behelfsmäßigen Proviants. Ihre Reise war alles, unnötig beschwerlich und langandauernd, nur nicht gut durchdacht und ausgeführt, was daran lag, dass sie heute Morgen ohne große Vorbereitung losgeschickt worden waren. Eine typische Laune ihres Lehrmeisters. Eine Steintafel mit den eingeritzten Worten „Großsteinstadt“ ließ Kaan herablassend seufzend. „Wenn das eine Stadt ist, bin ich ein ausgebildeter Energieverwalter. Beschönigungen sind immer noch Lügen.“ „Und dass sie aus Steinen besteht, hätte ich bei den Felsen hier niemals erwartet“, schloss Vasin sich an. Ausnahmsweise waren sie einer Meinung: Der Siedlungsname gefiel ihnen beiden nicht. Trotz ihres Missfallens übertraten sie die Ortsgrenze, die neben dem Schild unübersehbar in den Weg gegraben worden war, und begaben sich auf die Suche nach einer Herberge, die sie sich von dem wenigen Geld, das sie mit sich trugen, bezahlen konnten. Da ihr Lehrmeister gerne geizte, waren solche Zwischenfälle nicht mit einberechnet worden; so etwas passierte einfach nicht. „Entschuldigung, können Sie uns eine Herberge empfehlen?“, fragte Lavanya nach einer halben Stunde erfolgloser Suche eine Frau, die vor einem kleinen Laden die Auslage zurechtrückte. Ihre zwei Begleiter wollten auf keinen Fall ihr Unvermögen eingestehen und irgendwen um Hilfe fragen, also musste sich Lavanya einschalten. Die Frau musterte das kleine Trüppchen erst skeptisch, schilderte ihnen aber gut verständlich den Weg und wünschte ihnen viel Erfolg. „So macht man das.“ „Halt dich lieber fest, sonst fällst du runter und brichst dir vielleicht den Arm“, entgegnete Kaan, der solche Aussagen gar nicht gerne hörte. „Denn dann können wir dir gar nicht mehr helfen. Und Heiler sind teuer.“ Eine Danke wäre auch sehr ungewöhnlich gewesen. „Das ist doch dreist! Nur weil diese Leute hier im letzten Winkel wohnen, müssen wir fast den doppelten Preis zahlen.“ Kaan warf den Rucksack etwas grober als nötig zu Boden und zuckte zusammen, als ein Klirren ertönte. „Verhexte Steinechse, mir reicht es.“ Vasin musste sich ein Lachen verkneifen; Lavanya hob erst gar nicht den Kopf von ihrem Schlafstein, um das neue Unheil zu bewundern. Einerseits hatte Kaan recht, es war ärgerlich, dass sie nicht einfach ein Zimmer für alle hatten nehmen können, sondern nun auf den Kosten von zwei saßen. Leider herrschten in diesem Dorf noch etwas andere Sitten und es war nicht gerne gesehen, wenn die Zimmer gemischtgeschlechtlich bezogen wurden. Andererseits durfte Kaan nicht zu laut fluchen, immerhin pflege er auch noch alte Verhaltensmuster und behandelte Lavanya nicht wie einen gleichwertigen Kollegen. Sie war eine Frau, da begann das Problem. „Ist der Stein wenigstens bequem? Ich kann mir das nicht vorstellen. Wobei, unsere Betten aus Metall unterscheiden sich wahrscheinlich nicht so sehr davon.“ Um nicht noch mehr Zerstörung zu hinterlassen, räumte Kaan den durchweichten Rucksack aus und hängte ihn über einen Steinklotz, der als Stuhl diente. „Es geht.“ Es war nur ziemlich gewöhnungsbedürftig, hier wurden nicht so viele Lagen Stoff über den Sockel gelegt wie bei ihnen daheim. Vielleicht hatten sie auch nicht ganz so dickes Material oder es mangelte daran, weshalb man sich nicht viel davon leisten konnte. „Könntet ihr nun die Steine entfernen?“ „Oh.“ Peinlich berührt, weil sie Lavanyas Verletzungen im Laufe des Tages ganz vergessen hatten, fasst Vasin nach ihrer Hand. „Du hast gar nichts mehr deswegen gesagt…“ Selbst wenn, sie hätten es sowieso bis zu dem Zeitpunkt, bis sie die Herberge erreichten, verschoben, weil in der prallen Sonne arbeiten fast doppelt so viel Konzentration kostete wie im Schatten. Sie besaßen nämlich keine Utensilien, um die Steine auf herkömmliche Weise zu entfernen. „Wir kümmern uns jetzt darum.“ Kaan stellte sich auf die andere Seite des Steins und betrachtete prüfend Lavanyas Handflächen; ihre Knie wurden teilweise von den Überresten ihrer Stoffhose bedeckt. „Könntest du…“ Er machte eine auffordernde Handbewegung und vorsichtig zog sie die Hosenbeine bis zu den Oberschenkeln hoch. „Danke.“ Man sah ihm an, dass er zwar meisterlich unfreundliche Kommentare verteilen konnte, aber solche Situationen ihm mehr als unangenehm waren. Dabei stand Lavanya weit davon entfernt, sich nackt vor ihnen auszuziehen. „Ich glaub, darum solltest du dich kümmern.“ Ein seltener Satz aus Vasins Mund, aber manchmal sah er ein, dass Kaan das größere Talent hatte, wenn es um Präzisionsarbeit mit Energie ging. Was kein Wunder war, immerhin befand er sich ein halbes Lehrjahr vor ihm. Dieses Mal verzichtete Kaan sogar auf eine spitze Bemerkung. Stattdessen nahm er eine kniende Haltung an, sammelte seine Energie, formte damit kleine Haken und zog damit die Steinchen aus Lavanyas Haut, einen nach dem anderen. Für gewöhnliche Steine hatten sich einige sehr tief in ihre Haut gegraben; entweder hatte sie großes Pech gehabt oder sie waren auf eine besondere Sorte Stein getroffen. Tapfer biss sich Lavanya auf die Unterlippe, um nicht durch einen Schmerzenslaut Kaan aus seinem Zustand der völligen Konzentration zu reißen. Das hätte nur unnötigen Energieverlust bedeutet und die Angelegenheit ungemein verkompliziert. Sie konnte froh sein, dass er das Herausziehen übernahm, Vasin hätte ihr noch dutzende Hautfetzen dabei rausgerissen. „Verhext, das tat weh.“ Vorsichtig wischte sie sich mit dem Finger eine Träne aus dem Augenwinkel. Aber wenigstens war sie nun die Fremdkörper los; ohne Energiezunahme hätten sie das tatsächlich nur mit Hilfsmitteln geschafft, die sie nicht besaßen. „Wir sollten ihr trotzdem noch eine Salbe kaufen. Die haben hier bestimmt eine Apotheke. Und vielleicht auch was für deinen Sonnenbrand…“ „Weißt du, wo eine ist?“ „Fragt die Frau an der Theke, die muss es wissen, wenn sie hier arbeitet“, kürzte Lavanya das Thema ab. „Und haltet Ausschau nach einer neuen Wasserkanne. Vielleicht verkaufen die hier so etwas.“ Ohne größere Proteste machten Kaan und Vasin sich auf den Weg, während Lavanya seufzend ihre zerrissene Hose betrachtete. Es war kein Lieblingsstück gewesen, alle ihre Kleidungsstücke hatten rein funktionellen Zweck, aber es bedeutete, sie entweder zu flicken oder Geld in eine neue zu investieren. Leider konnte man mit der Energie keine neue erschaffen. Es gab Grenzen für den Gebrauch von Energie: Man konnte keine Krankheiten heilen, keine Dinge aus dem nichts erschaffen und nur eine bestimmte Menge davon benutzen, bevor man völlig erschöpft war und Ruhe brauchte. Das unterschied Energie von der gefürchteten Magie, die es angeblich irgendwo im Südosten geben sollte. Lavanya hielt es für Unsinn, immerhin widersprach Magie völlig den Naturgesetzen; Energie dagegen schloss sie nicht aus. Man konnte Gegenstände bewegen, ohne sie zu berühren, man konnte durch Erhitzen der Energie Kerzen entzünden oder durch Kälte Insekten einfrieren, wenn man sie lagern wollte. Und man konnte zerstören, wenn man zu viel Energie anwandte. Aber nichts Neues schaffen, nichts ohne Nadel und Faden wieder zusammenflicken und erst recht keine Wunderheilungen durchführen. Ein Grund, warum es immer von nützen war, eine Apotheke zur Hand zu haben. Aber eine Verwendung war noch möglich, wenn es auch schwierig zu erlernen war und nicht jeder die Veranlagung dafür besaß. Lavanya packte eine Tonscherbe aus, die zum Glück in einem der anderen Rucksäcke untergekommen war, sonst wäre sie bei ihrem Aufprall zerbrochen. Aus ihrer Hosentasche nahm sie ein kleines Gefäß mit Glasstaub und rieb eine geringe Menge davon auf die Scherbe. Nun musste sie sich nur noch konzentrieren und schon konnte sie den Tonscherbenreflektor zum Einsatz bringen. Durch seine geringe Größe und ihr noch nicht ausgereifter Umgang damit bedeuteten Abstriche bei Farbgebung und keinen Ton, aber es genügte, um zu sehen, was draußen vor sich ging. Der Reflektor konnte ihr zeigen, wie Vasin und Kaan durch eine enge Gasse gingen und sich über irgendetwas uneinig waren. Ihr Lehrmeister hatte ihr Talent dafür entdeckt und ihr aufgetragen, es auszuweiten. Mit dieser Fähigkeit als Schwerpunkt als Schüler der Energieverwaltung konnte man hohes Ansehen erreichen, selbst als Frau. Und daher übte sie oft genug, damit umzugehen. Meistens beobachtete sie ihre Kollegen, um sicherzugehen, dass sie nicht ihre Pflichten über ihr Rivalitätsgehabe vernachlässigten. Davon wussten beiden natürlich nichts und sie würde sich hüten, es ihnen zu erzählen. Sie wussten von ihrer Fähigkeit, interessierten sich aber nicht weiter dafür, da sie selbst beide beim Versuch, mit dem Tonscherbenreflektor Bilder einzufangen, kläglich gescheitert waren. Natürlich verwendete Lavanya ihren Reflektor nur dann, wenn sie wusste, dass Vasin oder Kaan irgendeiner Arbeit nachging; sie wollte keinen der beiden bei irgendetwas erwischen, was sie nicht sehen wollte. Dann hätte sie gar nicht mehr mit ihnen reden können. Im Moment bestand eine solche Gefahr nicht; sie standen vor einer niedrigen Hütte mit einem Zeichen, dass man hier Medizin jeder Art erwerben konnte, die zum Glück noch geöffnet war, und diskutierten wieder auffällig. Doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit von zwei Personen abgelenkt, die sie ohne ersichtlichen Grund ansprachen. Das sah nicht als, als wollten sie nur höflich sein. Lavanya wartete nervös, was das zu bedeuten hatte. *** „Ihr seid nicht von hier, oder?“, fragte eine der zwei jungen Frauen, die sich knapp als Felipa vorgestellt hatte. „Hier kennt fast jeder jeden, deshalb unsere Neugier.“ „Nein, sind wir nicht“, ging Vasin sofort auf das Gespräch ein, während Kaan abwartend neben ihm stand und nicht recht wusste, was er davon halten sollte. Im Gegensatz zu seinem Kollegen befürchtete er hinter der freundlichen Art eine Masche, sie um ihr Geld zu erleichtern. Dem sollte besser Abhilfe geschaffen werden. „Ich besorge die Salbe für Lavanya, du wartest hier.“ Vasin würde sich sowieso in nächster Zeit nicht von den zwei Frauen losreißen können, dafür kam es zu selten vor, dass ihm eine aus heiterem Himmel Beachtung schenkte. „Und warum seid ihr hier? Bestimmt nicht freiwillig, das hier ist eine abgelegene Stadt, die meisten kennen sie nicht einmal.“ „Ja, das war eher Zufall. Meine Kollegin hat sich verletzt und wir müssen sie versorgen.“ Die zwei Frauen warfen sich vielsagende Blicke zu. „Seid ihr Mienenarbeiter auf der Durchreise?“, hakte die andere, Gasira, nach. „Nein, bei uns wird jeder Kollege genannt.“ In manchen Gebieten war das nur unter Mienenarbeiter üblich. „Wir sind Schüler der Energieverwaltung und sind… auf einer Bildungsreise.“ Strafreise klang nicht sehr vorbildlich und so genau würde man bestimmt nicht nachfragen, weshalb es sie hierher verschlagen hatte. „Seid ihr nicht die, die Wind heraufbeschwören und Häuser in Brand stecken können?“ „Naja.“ Da hatte jemand große Erwartungen. „Wenn mal viel übt, dann schon. Bestimmt.“ Nur durften sie das nicht, das verstieß gegen die Grundsätze eines Schülers. Nur denjenigen, die die Ausbildung abgeschlossen hatten, war so etwas gestattet. Die Hälfte seiner Antwort hatten die zwei gar nicht gehört, weil sie aufgeregt angefangen hatte, einander etwas zuzuflüstern, was Vasin nicht verstand. Etwas verwirrt stand er nun wartend neben ihnen und hoffte, dass man das Wort wieder an ihn richtete. Was schließlich auch geschah; ihre Blicke ruhten auf ihm. „Weißt du“, berichtete Felipa mit einem aufgeregten Unterton, „es gibt bei uns eine Art Legende. Unser Dorf hat Schwierigkeiten mit den Felsköpfen, schon seit sehr langer Zeit, und angeblich soll irgendwann jemand von außerhalb kommen, der uns von dieser Plage befreit. Du kennst Felsköpfe?“ „Noch nie gehört. Aber was ist mit dieser Legende?“ Das klang alles sehr mysteriös und ziemlich abenteuerlich. „Felsköpfe sind bösartige Lebewesen, wie der Name sagt aus Stein. Sie haben keine Körper, nur einen Kopf, teilweise viele Meter hoch und hunderte Steinladungen schwer. Jetzt beginnt wieder die Jahreszeit, in der sie unsere Felder zerstören, unsere Nutztiere fressen und aus Laust und Laune Menschen und Gebäude mit Steinen bewerfen. Jedes Jahr gibt es dadurch viele Tote und Verletzte.“ Vasin konnte nicht bestreiten, dass es zu einem gewissen Teil lächerlich klang; wie Geschichten seiner Großmutter über Flugechsen und Wandervampire. „Aber es gibt diese Legende; also eigentlich eher eine Prophezeiung. Laut ihr kommt ein junger Mann mit besonderen Kräften zufällig in unser Dorf, stellt sein Können unter Beweis und befreit uns von diesen Wesen.“ „Und ihr meint, dass ich…“ Vasin wusste gar nicht, was er sagen sollte. „Dass du was? Ein gutgläubiger Sandfischangler bist? Ja, das glauben sie dir sofort. Was erzählt ihr ihm für einen Unfug? Irgendwas mit einer Prophezeiung? Nicht ernsthaft.“ „Kaan, sei einfach still“, unterbrach ihn Vasin wütend. „Du hast doch keine Ahnung!“ „Und ob ich Ahnung habe, nämlich davon, dass sie dich reinlegen. Sie machen dir schöne Augen, nehmen dich mit und wenn du morgen früh aufwachst, hättest du kein Geld mehr, wenn du überhaupt welches dabei gehabt hättest. So sieht es aus. Hab ich recht?“ Mit verschränkten Armen sah Kann zu den beiden Frauen hinüber, die offensichtlich sehr erbost von den Anschuldigen waren. „Ihr glaubt uns nicht? Schön, dann kommt wenigstens mit und überzeugt euch, dass die Felsköpfe keine Erfindung von zwei Lügenschwestern sind.“ Sie nahmen Vasin in die Mitte, Kaan wurde vollkommen übersehen, und zogen ihn durch ein paar Straßen, bis sie das Ende der Siedlung erreichten. „Ich sehe, dass ich nichts sehe“, rief ihnen Kaan zu, der ihnen trotz der ablehnenden Haltung gefolgt war. Man konnte Vasin nicht mit den beiden allein lassen, ohne Schaden anzurichten. „Und jetzt schweig für eine Minute und sieh nach vorne“, befahl Gasira. Ausnahmsweise tat Kaan, wie ihm geheißen, und beinahe hätte er die Salbe fallen gelassen. In einiger Entfernung und trotz der aufkommenden Dämmerung zu erkennen bewegten sich die Berge. Zumindest sah es so aus; riesige Massen schoben sich von rechts nach links über die Ebene, mache schienen zu hüpfen wie zu lang gekochte Kaninchenaugen. „Das ich nicht wahr. Verhext und zugefroren, das kann nicht sein.“ Kaan fing an, an seinem Sehvermögen und seinem Verstand zu zweifeln; Vasin brachte kein Wort über die Lippen. „Seht ihr, keine Lüge.“ Triumpf schwang in Felipas Stimme mit. „Dann stimmt das auch mit der Prophezeiung?“ „Kannst du bitte aufhören, von diesem Unfug zu reden? Daran glaubt doch keiner. Jedes Kidn weiß, dass Prophezeiungen nur dazu da sind…“ „Ich bin der Auserwählte!“ „Bist du nicht, du bist nur ein untalentierter Energieschubser ohne einen Funken Selbstachtung, der alles dafür tut, um Anerkennung zu bekommen.“ „Und du bist ein widerlicher, selbstverliebter Teufel.“ „Entschuldigung, könnt ihr vielleicht aufhören, euch anzubrüllen? Wir sind uns sogar sehr sicher, dass einer von euch der Auserwählte ist. Wir wissen nur nicht, wer.“ Sofort beendeten die beiden ihren fliegenden Wechseln an Beleidigungen. „Falls das wirklich stimmen sollte, was ich nicht glaube, werde ich das sein. Ich bin besser im Umgang mit Energie, habe mehr Erfahrung und bin nicht so dumm und falle auf jeden Trick hinein.“ Wie so oft war Kaan von sich uneingerschänkt überzeugt und geizte nicht damit, es in aller Öffentlichkeit zu zeigen. „Nein, ich, denn mich haben sie zuerst angesprochen“, hielt Vasin verzweifelt dagegen. Leider hatte er keine besseren Argumente zur Hand. Zu seinem Glück werteten Felipa und Gasira nicht aufgrund von Kaans arroganter Ansprache. „Wir wäre es, wenn wir das herausfinden? Dabei können sich auch noch andere aus unserer Stadt ein Bild von euch und euren Fähigkeiten machen und unsere Theorie unterstützen. Sagen wir, in einer Stunde auf dem Marktplatz, er befindet sich nicht weit von der Apotheke entfernt. Findet ihr den Weg allein dorthin oder braucht ihr Unterstützung?“ „Sehen wir so aus? Natürlich nicht.“ Über eine solche Unterschätzung ihres Könnens konnte Kaan nur missbilligend den Kopf schütteln. „Komm, Verlierer, in einer Stunde zeig ich dir, wer hier von der Prophezeiung angekündigt worden ist.“ *** „Das ist nicht euer Ernst!“ Lavanya, die den ganzen Ablauf ohne das Wissen über die Gespräche verwirrt verfolgt hatte, fühlte sich wie in eine Teigmaschine geworfen. „Ihr nehmt denen das bitte nicht ab.“ „Ich nicht, aber der da.“ Kann wies abfällig auf Vasin, der seit ihrer Rückkehr vor Nervosität ziellos durch Lavanyas Zimmer irrte. Er schien nicht einmal wahrzunehmen, dass er sich sonderbar benahm. „Das ist ein Streich der Siedlungsbewohner. Niemand nimmt heutzutage Prophezeiungen noch für voll.“ Verzweifelt rang Lavanya um Gründe, sich diese Idee aus dem Kopf zu schlagen. „Bedenke, wo wir hier gelandet sind: Die sind noch nicht in der Neuzeit angekommen, beachte die Regeln in dieser Herberge. Und vor allem existieren diese Felsengehirne tatsächlich. Wenn bei mir solche tagein, tagaus Unruhe stiften und ich machtlos dagegen bin, würde ich irgendwann auch in alles meine Hoffnung setzen. „Felsenköpfe. Sie heißen Felsenköpfe“, murmelte Vasin mehr zu sich selbst als zu seinen Kollegen. Seine Finger spielten so aufgeregt mit dem Zipfel seines Überwurfs, als wollte er ihn abreißen. „Und der setzt seine Hoffnung auf Ruhm, Erfolg und Bewunderung durch die Gelegenheit, nachher gegen mich zu gewinnen. Was ein Spinner.“ „Ihr geht nicht. Das ist vielleicht sogar eine Falle. Bleibt hier, ruht euch aus, dann können wir bald weiter.“ Mit Nachdruck versuchte Lavanya, ihnen diese Flausen auszutreiben. Sie waren hier zur Durchreise, nicht zum tragischen Heldenspielen. „Wir sind Schüler der Energieverwaltung, was sollen die gegen uns unternehmen? Gar nichts. Was können wir einsetzen? Unsere Kraft. Also, wir sind klar im Vorteil. Ich wüsste nicht, warum ich mich hier verkriechen soll, damit die denken, ich hätte Angst vor einer Niederlage. Nein, wir gehen da hin und Ende.“ Keiner der beiden ließ mit sich reden. *** Es hatten sich so viele Leute auf dem Marktplatz versammelt, als handelte es sich bei Kaan und Vasin tatsächlich um Berühmtheiten und nicht nur um zwei zerstrittene Schüler. Diese Tatsache beunruhigte Kaan, während Vasin fasziniert um sich blickte und dabei ein paar Mal fast seinen Kollegen umrannte. „Das ist doch verhext“, murmelte Kaan immer wieder zu sich. „Verhexte Flugechseneier, wenn das ein Trick ist, dann haben sie sich sehr viel Mühe gegeben.“ So einen Aufwand zu betreiben, um zwei Fremde hinters Licht zu führen, stand in keiner Relation zum Ergebnis. „Das ist kein Trick, versteh es endlich. Die suchen wirklich nach jemanden, der ihre Prophezeiung erfüllt.“Die Vorfreude ließ Vasin nervös die Finger verschränken. „Aber das ist doch lächerlich!“ Kann war hin und her gerissen zwischen Abwertung dieses Prozesses und dem Gedanken, Vasin seine Grenzen aufzuzeigen. „Da seid ihr, wir warten alle auf euch.“ Felipa winkte sie in die Mitte, ohne Schwierigkeiten kamen sie durch die Menschenmasse. „Ich weiß, für euch muss das sehr seltsam sein, aber einer von euch wird uns helfen können.“ Das konnte sie laut sagen, Kaan war skeptisch wie in der ersten Minute. Die ganze Szene kam ihn merkwürdig vor; diese vielen Bewohner, die es sich trotz der vorangeschrittenen Stunde nicht nehmen ließen, sich das Kommende anzusehen. „Und was sollen wir tun?“ „Ihr werdet diesen Stein zerstören müssen.“ Felipa zeigte auf ein paar Siedlungsbewohner, die sich abmühten, einen hüfthohen Felsbrocken zwischen den anderen hindurchzuzerren. „Das ist natürlich nur die erste Probe. Aber für den Anfang sollte es genügen.“ „Das ist nicht gerecht“, zischte Kaan Vasin zu. „Ich habe heute schon Energie verbraucht und du nicht.“ Was besonders auffiel, wenn es sich um große, gebündelte Mengen Energie handelte. „Dann musst du dich doppelt anstrengen“, entgegnete Vasin nur. Ihn störte das nicht, im Gegenteil, dieser Umstand verschaffte ihm einen bedeutenden Vorteil. Ansonsten wäre es fraglich, ob er gegen Kaan ankam. Bevor Kaan ihn noch weiterhin wegen seines unfreiwilligen Nachteils angiften konnte, hatte der Fels seinen Zielort erreicht und alle Anwesenden richteten ihren Blick auf die zwei jungen Männer. Es war nicht die Zeit, vor aller Augen ihren Zwist weiter auszutragen. *** Lavanya sah aus der Ferne zu. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass sich die beiden auf so einen Unfug einließen, aber es war kein Wunder. Sobald der eine etwas tat, musste der andere nachziehen und ihn übertrumpfen. Und wobei eignete sich das besser als vor einem Publikum, das nicht nur aus Lavanya und ihrem Lehrmeister bestand. Und sie ahnte, dass es kein gutes Ende nehmen würde. Kaan war noch erschöpft und dadurch nicht in Hochform und Vasin dadurch im Vorteil. Sonst verhielt es sich anders und Kaan ging als Sieger hervor. Er benahm sich dann noch arroganter als ohnehin schon und Vasin verzog sich entmutigt für mehrere Stunden in irgendeine Ecke, aber nach spätestens zwei Tagen war die Lage wieder entspannt oder eher genauso wie zuvor. Aber diese Konstellation hatte es bisher noch nicht gegeben und das würde Kaan gar nicht gefallen, denn er verlor nicht, aus Prinzip nicht. Und es kam wie erwartet: Kaan sammelte zwar jeden verbliebenen Rest seiner Energie und feuerte ihn auf den Felsen, aber außer einigen Rissen erreichte er nicht viel. In den Mienen der Siedlungsbewohner erkannte Lavanya Enttäuschung und Unmut, was wiederum in Kaan große Wut entfachte. Das war eine offene Demütigung für ihn, die sein stolzes Wesen nicht ertrug. Ebenso wie die Tatsache, dass Vasin mit wenigen Energiestößen den Felsen durchbohrte und mehr als einem Umstehenden Steinsplitter ins Gesicht schleuderte. Lavanya schlug fassungslos die Hände vors Gesicht; diese Suche nach dem Auserwählten ließ bei den beiden jegliche Gedanken an die Regeln der Energieverwaltung in Vergessenheit geraten. Aber sie war machtlos dagegen; durch den Reflektor konnte sie nicht kommunizieren, mit ihren Verletzungen war das Laufen mühsam und dauerte viel länger als gewöhnlich und sich durch die Menge zu schlängeln gehörte schon in gesundem Zustand zu keinen ihrer Fertigkeiten. Ein Desaster; auf das verhexter Weise von den Bewohnern nicht mit Ärger reagiert wurde. Einige Sekunden brauchte Lavanya, um zu erkennen, was dort nun geschah. Die Menge ging nicht auf Vasin los, weil er Menschen verletzt und in Gefahr gebracht hatte; sie feierte ihn, als wäre er eine neugeborene Gottheit, der man Verehrung und Demut entgegenbringen musste. Die ganze Situation war für die Bewohner vollkommener Ernst, für sie war Vasin der Retter, der ihnen nach langer Zeit endlich zur Hilfe eilen würde. Und Kaan interessierte niemanden als glücklosen Zweitplatzierten. Vasin war über Nacht nicht zurück in ihre Herberge gekommen. Der Reflektor zeigte Lavanya, dass er von der Masse durch die Stadt gezogen wurde, immer wieder sein Können unter Beweis stellen musste und jedes Mal eine unglaubliche Begeisterung auslöste. Selbst als irgendwann seine Energie versiegte, seine Bewegungen erlahmten und er eingestehen musste, nicht einmal mehr einen Windhauch zustande zubekommen, wurde das Interesse an ihm nicht geringer. Alle setzten große Hoffnungen in ihn; genau das, was sich Vasin immer gewünscht hatte. Was er gebraucht wurde. Kaan dagegen hatte Lavanya noch nie in so einem Zustand erlebt. Aus seiner Haltung war jegliche Überheblichkeit verschwunden, sein Gesicht war verkniffen und seine Finger krallten sich ineinander, als wollten sie sich alle gegenseitig brechen. Aber in seinen Augen funkelte ein Zorn, der Lavanya erschreckte. Während sie ihn beobachtete, wie er sich in Richtung Herberge begab, hoffte sie, dass er in dieser Verfassung nicht in ihr Zimmer kam und seine Aggressionen an ihr ausließ. Sie wollte um diese Uhrzeit keine Auseinandersetzung. Zu ihrem Glück ging er geradewegs in das Zimmer, das er sich mit Vasin teilte. Normalerweise hätte Lavanya an diesem Punkt die Beobachtung abgebrochen und sich wieder auf Vasin konzentriert, aber gerade waren ihre Bedenken bezüglich ihres Kollegen zu groß. Wer wusste, was Kaan noch anstellte, also sah sie ihm weiterhin zu. Noch eine geschlagene halbe Stunde ging er im Kreis herum, fluchte so laut, dass sie es durch die Wände hörte, und trat gegen den Steinhocker, was nur zu einer erneuten Welle an bösen Aussprüchen führte. Irgendwann hatte er genug davon, hockte sich auf die Kante des Steinbetts, um das Nachtgebete an die Göttin zu sprechen, und versuchte schließlich, Ruhe zu finden. Lavanya bezweifelte, dass es ihm gelang, aber sie blies den Glasstaub von der Tonscherbe, um ihm einen Rest Privatsphäre zu gönnen. Vasin wollte sie ebenfalls nicht weiter beobachten. Es war ungewiss, wie lange er noch stolz von der Masse die Straßen entlanggeführt und übermäßig bejubelt wurde. Dafür beschloss Lavanya, dass es an der Zeit war, ihrem Lehrmeister von den neusten Entwicklungen Bericht zu erstatten. Wenn er es denn zuließ; er hatte ihnen verkündet, über keinen der gängigen Kommunikationswege zu reagieren, wenn sie sich an ihn wandten. Wahrscheinlich nahm er an, es handelte sich dabei sowieso nur um Beschwerden über die Ungerechtigkeit seiner Entscheidung oder Vasins Wunsch nach Beachtung. Dass sie ernsthafte Schwierigkeiten erleiden konnten, damit rechnete er anscheinend gar nicht. Trotzdem würde Lavanya es versuchen. Ein Brief per Flugfuchs funktionierte nicht, sie hatten keinen zur Hand, ebenso wie Rennschnecken oder Tunnelkrebse; jedes Tier ein Experte in seinem Zuständigkeitsbereich. Dann musste sie es notgedrungen mit Diktierbienen probieren. Diese speicherten das Gesagte und gaben es beim Empfänger wortgetreu wieder, allerdings benötigten sie im Gegensatz zu den anderen Tieren teilweise doppelt so lange für die Strecke, weil unbekannte Laute sie mehr interessierten, als es für einen Überbringer gut war. Lavanya besaß noch drei von ihnen; sie klopfte die Eischale auf, in denen die Bienen zum Schutz eingelagert wurden, wartete auf das Summen, das das Einsatzbereitsein signalisierte, und erklärte in kurzen Worten ihre abstruse Lage. Falls die Biene bis zu ihrem Lehrmeister durchkam, musste sie bei ihrer Rückkehr einiges erklären. Dadurch, dass die Bienen auf ihre Lehrmeister zugelassen waren, benötigten sie keinen Adressaten, Lavanya ließ die Biene ohne lästige Beschreibung des Wegs frei und fragte sich, ob ihr überhaupt geglaubt wurde. Sie erwachte am nächsten Morgen durch grelles Sonnenlicht, das in den Raum fiel, und ein monotones Murmeln von draußen. Noch leicht müde trat sie an die Fensteröffnung und sah eine geschäftige Menge Menschen durch die Straßen eilen, sich unterhalten, streiten und ihre Ware anbieten. An all diesen Anzeichen gemessen musste es längst später Vormittag sein, wenn nicht sogar Mittagsstunde. Aber keiner hatte es für nötig gehalten, sie zu wecken. Eine ungewöhnliche Begebenheit, sonst ließ Kaan es sich nicht nehmen, sie auf nicht sehr sanfte Weise aus dem Schlaf zu reißen. Vorsichtig ging Lavanya eine Runde durch das Zimmer; sie konnte laufen, aber angenehm fühlte es sich immer noch nicht an. Es würde noch etwas Zeit zum Verheilen benötigen, die Steine waren tückisch gewesen, aber wenn die Dinge sich so weiterentwickelten, würde sie die unfreiwillig bekommen. Ohne ihre Kollegen ging sie nicht von hier weg, ihr Lehrmeister wäre davon ohnehin nicht angetan. Eile war nicht geboten, weshalb Lavanya zuerst die Salbe auf die verletzten Stellen strich und verrieb und wartete, bis sie eingezogen war. In der Zwischenzeit hätte sie den Reflektor benutzen können, wollte aber erst auf die herkömmliche Weise erfahren, ob ihre Kollegen ebenfalls länger als gewöhnlich in ihren Betten geruht hatten. Danach tauschte sie ihr Nachthemd gegen eine neue, unversehrte Hose, die Bluse vom Vortag und ihre Sandalen ein und klopfte am Nachbarzimmer. Niemand öffnete, niemand rief ihr zu, draußen zu bleiben. Entweder schliefen Kaan und Vasin ebenfalls noch oder keiner der beiden Bewohner befand sich darin. Letzteres war der Fall, als Lavanya leise die Tür aufschob und hineinspähte. Vasins Steinbett war unberührt, Kaans vollkommen zerrupft und ungeordnet. Ihr Verdacht hatte sich bewahrheitet, die Nacht war nicht angenehm für ihn gewesen. Bevor sie sich aufmachte und den Aufenthaltsort der beiden auskundschaftete, aß Lavanya den Teil des Proviants, der nicht mehr so lange haltbar war, reinigte ihre Zähne und das Gesicht und band ihr Haar zu dem altbewährten Zopf zusammen. Inzwischen reichten ihr die längsten Strähnen bis an die Taille, weshalb sie sich oft Kommentare über diese unvorteilhafte Länge anhören musste. Allerdings gab es keine Richtlinien, an die sie sich halten musste, weshalb sie die Variante anwandte, die alle anderen auch gerne praktizierten: Völliges Ignorieren. Vasin war offensichtlich in seinem Element. Endlich konnte er beweisen, zu was er in der Lage war, und egal was er tat, die Menschen um ihn herum zeigten sich begeistert und erstaunt. Dabei zertrümmerte er immer wieder ähnlich große Felsblöcke, schleuderte sie teilweise unabsichtlich gegen umstehende Gebäude und riss manchmal kleine Löcher in den Stein. Niemand schien es ihm übel zu oder davon Kenntnis zu nehmen. Der Marktplatz sah aus wie ein Trümmerfeld, es stand nur noch knapp ein Viertel der Schaulustigen von gestern Abend um ihn herum und Lavanya vermutete, dass es nicht unbedingt dieselben waren. Egal wie euphorisch sie alle waren, niemand wollte sich über einen halben Tag am Stück zersplitternde Steine in unterschiedlicher Größe ansehen. Außerdem befand sie ein Großteil des Platzes in der prallen Sonne und selbst Einheimische vertrugen diese permanente Sonneneinstrahlung nicht ohne Beeinträchtigungen. Aus dem Grund hatte sie sich in den Schatten einige Häuser entfernt gestellt und betrachtete Vasins Tun über den Reflektor. Die Strecke zu meistern war etwas beschwerlich gewesen, aber sie musste sich daran gewöhnen, bald würden sie wieder stundenlang Wege und Straßen entlang marschieren müssen. Es sei denn, sie ließ sich wieder wie einen Sack tragen. Als Vasin eine Pause einlegte, nutzte sie den Moment, in dem sich die Aufmerksamkeit der Umstehenden ein wenig auf Anderes verlagerte, und ging zu ihm, um herauszufinden, ob sich etwas Neues ergeben hatte, während sie anscheinend als einzige geschlafen hatte. „Morgen, Vasin“, begrüßte sie ihn. „Oh, Lavanya, hab gar nicht mit dir gerechnet.“ Seine Bewegungen wirkten ein wenig hektischer und fahriger als sonst, was wohl am Schlafmangel lag, während sein Gesicht vor Tatendrang und einem beginnenden Sonnenbrand glühte. „Hast du die ganze Nacht geübt?“ Dann war es nämlich nur noch eine Frage der Zeit, bis er nicht einmal ein winziges Fünkchen Energie aus sich herauspressen konnte. „Nein, natürlich nicht.“ Wie viel es aber im Endeffekt war, erwähnte er nicht, stattdessen wechselte er unvermittelt das Thema. „Es ist unglaublich! Sie übernehmen die Kosten für unsere Unterkunft und die Verpflegung. Alles, für uns alle drei. Wir müssten also unserem Lehrmeister nicht erklären, wo wir das Geld gelassen haben.“ Über diese Wendung war Vasin fast genauso begeistert wie über die Tatsache, als großer Volksheld von Großsteinstadt in deren Chroniken einzugehen. Falls sie so etwas führten. Vielleicht legten sie in diesem Fall ihm zu Ehren eine solche Tradition an, immerhin würde er ihre Prophezeiung erfüllen. Wenn sie sich nicht als nutzloses Stück Pergament entpuppte. „Das ist schön.“ Noch schöner wäre es, wenn sie ihr diesen Gefallen bei der Salbe taten, aber danach hatte Vasin sicher nicht gefragt. Aus dem Augenwinkel sah Lavanya Kaan in einer Ecke des Marktplatzes lehnen und Vasin die bösesten Blicke zuwerfen, zu denen er imstand war. Unauffällig sah sie zu ihm hinüber; seinen verletzten Stolz verbarg er wieder gekonnt hinter einer Wand aus Ablehnung und bodenlosem Zorn. Es durfte niemand wissen, dass sogar Kaan nicht gegen alle Übel des Lebens gewappnet war. Felipa brachte Vasin einen Tonbecher mit Wasser, den er dankend annahm. Das stundenlange Üben hatte ihn ziemlich ausgelaugt und er wusste, dass es bald wieder von vorne beginnen würde. Aber es wurde von den Siedlungsbewohnern erwartet und war auch sein eigener Anspruch an sich. Zwar war offensichtlich, dass er seine Defizite nicht innerhalb von zwei, drei Tagen vollkommen beseitigen konnte, was ihn aber nicht daran hinderte, sich zu verbesserte. Lavanya nahm an, dass die Anwesenheit von Felipa für ihn einen zusätzlichen Ansporn bedeutete; möglicherweise ein von den Bewohnern beabsichtigtes Mittel. Es war kein Geheimnis, wie man junge Männer motivierte. Sogar in dieser etwas konservativen Gemeinschaft musste sich das schon gezeigt haben, was man nicht scheuen musste, einzusetzen. Dieser Gedanke machte sie deutlicher als zuvor darauf aufmerksam, dass keiner der hier Anwesenden wirklich Notiz von Lavanya nahm. Vasin war, sobald die Unterbrechung endete, mit den Steinen und seiner Energie beschäftigt und die übrigen blickten nur fasziniert zu ihm. Nur Felipa wechselte ein paar Worte mit ihr und erkundigte sich nach dem Zustand ihrer Verletzungen. Dann endete aber ebenfalls das Interesse und sie wandte sich Vasin zu. Natürlich musste Lavanya bedenken, dass Kaan ebenfalls mit Nichtbeachtung bestraft wurde; allerdings hatte das gestern Abend anders ausgesehen. Bei ihm lag der Grund an seiner nicht überzeugenden Darbietung. Bei ihr war die Tatsache schlicht und einfach, dass sie eine Frau war und damit nicht die Prophezeiung erfüllen konnte. Dadurch war sie ein geduldeter Gast, weil sie ein Anhängsel von Vasin war, aber sie als Person hätte sich auch in Luft auflösen können und keiner hätte sie vermisst oder gesucht. Diese Überlegung begann wie sie so oft zu deprimieren, weshalb sie diese von sich schob und sich ebenfalls einen Becher mit durch die Sonne erwärmten Wasser gönnte, das sie sich mit Energie etwas herunterkühlte. Steinbröckchen flogen ihr um die Ohren und in ihr Getränk und seufzend suchte sie sich einen neuen, geschützteren Platz, bevor sie die Fremdkörper mit ihrer Energie aus dem Wasser auf den Boden schleuderte. Vasin war ungestüm und unkontrolliert wie immer. Falls es wirklich zu einem Kampf mit diesen Felsenköpfen kam, sollte man die Siedlungsbewohner nicht in seine Nähe lassen. Ähnliches musste eigentlich auch für Kaan gelten. Der versuchte immer noch, durch seine Gedanken Vasin zu erstechen. Zum ersten Mal war sie ganz froh, diese nicht lesen zu können. Sie mussten um eines schlimmer sein als seine Miene verriet. Es war trotzdem erstaunlich, dass er bisher eher beherrscht gehandelt und keinen offenen Kampf provoziert hatte, das hätte am Ende noch etliche Verletzte gefordert und den endgültigen Bruch zwischen den beiden. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann dieser eintrat. Der Tag verging ohne auffällige Besonderheiten; nach einer Stunde taten Lavanya wieder die Knie weh und die Handflächen kribbelten unangenehm, weshalb sie von ihrem Zimmer aus Vasins Übungsstunden weiterverfolgte. Er nahm immer noch keine Rücksicht auf seine Erschöpfungsgrenze und das beunruhigte sie. Wie sollte er gegen riesige, lebende Felsen siegen, wenn er seine Energie komplett aufbrauchte und ihr keine Zeit ließ, sich zu regenerieren. Die Siedlungsbewohner kannten die Gesetzmäßigkeiten der Energie natürlich nicht und würden ihn nicht darauf aufmerksam machen. Kaan erst recht nicht. Schon unter normalen Umständen ließ er seine Kollegen gerne ins Verberben rennen, wenn er ihnen hätte helfen können. Jeder für sich, so lautete seine Lebensphilosophie, im Augenblick umso mehr. Lavanya verstand es bis heute nicht und fragte sich immer wieder, was wohl vorgefallen war, damit Kaan sich so entwickelt hatte. Zu fragen getraut hatte sich natürlich bisher niemand. Sie biss in eins der Brote, die sie sich vom Übungsplatz mitgenommen hatte. Es schmeckte bitterer als daheim, sättigte dafür schneller. Hier in diesem Teil des Landes war Vieles grundlegend anders als in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war sowie in der Stadt, in der ihre Ausbildungsstätte lag. Statt mit Metall baute man hier hauptsächlich mit Ton und Stein, weil davon viel zur Verfügung stand, das Wetter war deutlich wärmer und trockener und die Ansichten der Bevölkerung ein wenig antiquiert. Besonders die Sache mit der Prophezeiung kam ihr immer wieder merkwürdig vor, weil solche Schriften bei ihnen seit Jahrzehnten in Bibliotheken ungelesen verstaubten. Keiner in ihrem Alter glaubte mehr daran, deswegen die anhaltende Skepsis. Ein Stück Pergament konnte doch nicht die Zukunft voraussagen, das vermochten nicht einmal die hochrangigen Energienutzer. Sie würde es erst dann nicht mehr bezweifeln, wenn sie es mit eigenen Augen sah. *** Mit einem Poltern kam Kaan mitten in der Nacht in Lavanyas Zimmer gestürmt und weckte sie auf. Noch im Halbschlaf befürchtete sie, dass er nun endgültig seine Aggressionen auf sie richtete, da er an Vasin nicht herankam. Nichts in dieser Richtung geschah; er warf den Überwurf seines Steinbetts, das er hinter sich hergezogen hatte, in eine Ecke und setzte sich darauf. „Was willst du?“ Irgendetwas war ihr in den vergangenen Stunden entgangen. Sie durfte sich nicht mehr den Luxus gönnen und schlafen gehen, wenn sie auf dem neusten Stand sein wollte. „Ich ertrage ihn nicht mehr, das ist los. Wenn ich noch länger da drüben sein muss, nehme ich seinen Kopf und schlage ihn so oft gegen die Tür, bis er endlich still ist. Die ganze Zeit dasselbe Gefasel. Prophezeiung hier, Retter der Nation da. Hoffentlich fressen ihn die Felsen, das hat er verdient. Und fang bitte nicht an, mit mir zu diskutieren, ob ich hier sein darf, ich bin es leid, über jeden Dreck zu diskutieren. Es kann uns egal sein, welche Regeln diese Leute ohne Grund aufstellen, heute Nacht werde ich hier schlafen. Verhexte Flugechse, ich möchte einfach nur schlafen.“ Ob sie damit einverstanden war, stand für Kaan gar nicht zur Diskussion. Zumindest bedeutete Kaans Anwesenheit, dass sich Vasin diese Nacht im Nachbarzimmer Schlaf gönnte. Wenn er denn die Ruhe dazu fand. Kaan gelang das jedenfalls nicht. Immer wieder hörte sie ihn sich von einer auf die andere Seite rollen, leise seufzen und irgendwann hockte er in der Fensteröffnung und starrte stur nach draußen. Was er danach noch anstellte, um seinen Frieden zu finden, bekam sie nicht mehr mit. … Am Himmel flog ein Schemen. Es dauerte einige Zeit, bis man ihn genauer erkennen konnte. Es war ein Vogel, eine Taube. Groß, blau, träge und in seltsamen Bahnen flog sie über der Sandlandschaft, obwohl sie hier nicht beheimatet war. Sie beging den Fehler, zu tief zu fliegen, und ein Stein von der Größe einer Wasserkanne traf sie und beendete den Flug der Taube. Am Boden standen Vasin und Kaan und freuten sich, auf diese unkonventionelle Art tatsächlich an ein Mittagessen gelangt zu sein. Essen war schließlich wichtig, Da interessierte es keinen, dass das Gefieder des Vogels strahlend Geld leuchtete, als es vor ihnen auf der Erde aufschlug. Lavanya wollte zu ihnen eilen, um sie davon abzubringen, dieses Tier zu braten und zu verspeisen, aber sie kam nicht von der Stelle, schien auf dem Teil des Weges festgewachsen zu sein. Als sie sich umsah, erkannte sie, dass sie ein Kiesel unter vielen war. Sie konnte sich nicht bewegen und Gespräche führen war ihr ebenfalls nicht möglich. Also musste sie tatenlos zusehen, wie das Tier auseinander genommen wurde, das Blut lief über Vasins Hände und verschmutzte Kaans Kleidung. Aber damit musste man rechnen, weshalb sie sich nicht daran störten. In trauter Zweisamkeit genossen sie ihr Henkersmahl. Kaan war schon nicht mehr in ihrem Zimmer, als sie erwachte. Entweder zog er wieder ruhelos durch die Gegend oder er hielt es doch nicht für sehr klug, sich gegen die speziellen Regeln der Siedlungsbewohner zu stellen. Lavanya war es einerlei, so konnte sie sich in Ruhe umziehen und bereitmachen, ohne ihn erst aus ihrem Zimmer zu dirigieren, was wieder unverhältnismäßig lange gedauert hätte. Während sie sich die Arme und den Hals mit einem Lappen abrieb, erinnerte sie sich an wenige Fetzen des Traums von letzter Nacht; irgendeine Taube, die gegessen wurde. Sie träumte selten und wenn, dann immer nur solches undurchsichtiges Zeug. Vielleicht war es einfach ein Zeichen gewesen, dass sie bald wieder Fleisch essen wollte, sie wusste es nicht. Das Unterbewusstsein würfelte gerne unsinnige Symboliken und wahre Aussagen zusammen und präsentierte es auf abgedrehte Weise. Sie sollte sich lieber auf das Hier und Jetzt konzentrieren und wieder eine Diktierbiene losschicken, immer noch in der Hoffnung, dass sie bei ihrem Lehrmeister eintraf und auch abgehört wurde. Ansonsten erwies sich der Vormittag nur wie eine Wiederholung des vorangegangenen Tages. Vasin war unverantwortlich fleißig und wurde dafür gefeiert und von Felipa umsorgt, Kaan stillschweigend geduldet und Lavanya so gut wie nicht wahrgenommen, wenn sie sich denn auf dem Platz aufhielt. Allerdings blieb das Wetter ebenfalls unverändert und schien die gesamte Siedlung braten zu wollen, weshalb Lavanya ihr kühles Zimmer der heißen Stadt vorzog. Dort hatte sie sich mit Essen und Wasser eingedeckt und betrachtete durch den Reflektor die Felsenköpfe. Vielleicht ergab sich dadurch eine Strategie, die sie Vasin mitteilen konnte, damit er sich auf seine große Aufgabe besser vorbereiten konnte anstatt nur seine Energie und Karrenladungen an Steinen zu verpulvern. Stundenlang starrte sie auf die modifizierte Tonscherbe, sah zu, wie die Felsen über die Ebene glitten und zeitweise hüpften, versuchte dahinter ein Muster zu erkennen und ärgerte sich, ohne Ton auskommen zu müssen. Es bestand die Möglichkeit, dass sie auf irgendeine Weise miteinander kommunizierten, dies aber nur taten, wenn sie sich ungestört fühlten. Irgendwann gab sie erschöpft auf; sie hatte nichts Brauchbares erreicht. *** Kaan randalierte nicht wahllos, aber er nahm es in Kauf, dass die umstehenden Gebäude in Mitleidenschaft gezogen wurden. Bei Vasin beschwerte sich deswegen niemand, warum sollte er also ein schlechtes Gewissen haben? Da es hier außer Felsen und Sand kaum andere Materialien gab, nutze er sie. Er ließ selbsterschaffene Windböen den Sand aufnehmen und wie einen Sturm durch die engen Gassen fegen. Falls sich jemand dort befand, würde er nichts mehr sehen. Vielleicht auch nicht mehr atmen können. Aber er musste einsehen, dass Vasin außer Steine zerstören nichts geleistet hatte. Keine Sandsturmbeschwörung, kein Schweben lassen von Felsen; nichts, wofür man auch nur einen Hauch Feingefühl benötigte. Weil er das einfach nicht konnte und keiner auf den Gedanken kam, dass nicht nur reine Gewalt die Felsen beseitigen konnte. Diese Gedanken beflügelten Kaan zu noch extremeren Experimenten; er überhörte jegliche Warnungen, die sie jemals in den Unterrichtsstunden zu hören bekommen hatten, und packte alle seine negativen Empfindungen in die Energieströme, die aus seinen Fingern schossen. Er war hier der Überlegene, er war derjenige, der hier etwas ausrichten konnte, nicht sein unfähiger Kollege. Wenn er nur genug auf sich aufmerksam machte, erkannte das vielleicht einer dieser ahnungslosen Bewohner und wies den Rest auf ihren fatalen Fehler hin. Dann hatte er endlich wieder einen Grund, ehrlich und aufrichtig über Vasin zu lachen. *** Vasin sah aus der Nähe noch furchtbarer aus als durch den Reflektor. Schlafmangel und Sonnenbrand zeichneten sein Gesicht, der enorme Energieverlust ließ seine Bewegungen schlaff und taumelnd wirken und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er sich selbst völlig zugrunde gerichtet hatte. Lavanya war entsetzt, was er aus sich gemacht hatte, um diesen Menschen zu zeigen, dass sie nicht falsch lagen. Es war ihre Aufgabe, ihn zur Vernunft zu bringen. Als er wieder eine Pause einlegte, ohne die er längst besinnungslos zusammengebrochen wäre, nahm sie ihn kurzerhand am Arm und führte ihn in eine Seitenstraße, um ein ernstes Wörtchen zu wechseln. Die strafenden Blicke Felipas hinderte sie nicht an daran. „Vasin, du musst aufhören.“ Auffordernd fasste Lavanya ihn an der Schulter, um ihrem gesagten Nachdruck zu verleihen. „Wenn du so weitermachst, wirst du dich umbringen.“ Und das wäre wohl kaum das Ziel der Siedlungsbewohner. Es dauerte kurz, bis ihre Worte zu ihm durchdrangen, aber dann schlug er wütend ihre Hand weg. Sehr kraftvoll fühlte es sich nicht an. „Ich muss gar nichts, nur üben. Morgen ist es soweit, haben sie mir gesagt.“ Sein Blick irrte ruhelos zwischen ihrem Gesicht und dem Weg zurück zum Marktplatz hin und her. „Morgen ist der Tag.“ Das war das letzte, was sie gerade gebrauchen konnte. „Aber das schaffst du nicht!“ Nicht so, nicht in diesem Zustand. Das musste er doch einsehen, das konnte ihm nicht entgehen. „Sei still“, fuhr er sie gereizt an; so aufgebracht benahm er sich sonst nur gegen Kaan. „Du hast doch keine Ahnung. Ich zeigs dir. Und Kaan. Ich werds euch allen zeigen.“ Er verstand nicht, was sie ihm sagen wollte, er verwechselte ihre Sorge um seine Gesundheit mit den Zweifeln an seinen Fähigkeiten. Die hatte sie auch, das konnte sie nicht bestreiten, aber um die ging es hier nicht. Bevor sie ein weiteres Mal versuchen konnte, an seine Vernunft zu appellieren, ließ er sie einfach stehen. „Vergiss es. Du schaffst das nicht. Du gehst morgen drauf und das wars dann mit deiner Heldentat.“ „Sagt der richtige. Ich hab wenigstens die Möglichkeit, ein Held zu sein. Wer hat die Anforderung nicht geschafft? „Nur, weil ich Lavanya geholfen hab. Du hättest sie nämlich dabei in Stück gerissen. Aber das kannst du nicht zugeben, weil du ja der Retter von dieser dämlichen, zurückgebliebenen Dorfsiedlungstadt bist, die außer uns kein Mensch kennt. Du wirst sie befreien. Von Felsengehirnen. Lächerlich!“ „Ja, das werde ich, glaub es mir.“ „Ich glaub dir gar nichts. Hör dir mal selbst zu, du bist vollkommen irre.“ „Und du bist verhext neidisch und zu stolz, um es zuzugeben!“ Das Gebrüll schien kein Ende zu nehmen; während Kaan und Vasin gestern Abend noch verhältnismäßig ruhig gewesen waren, schien heute die ganze Sache zu eskalieren. Schlafmangel bei beiden Parteien förderte Gereiztheit, die sich nun vor dem großen Tag endgültig entlud. Die Gefahr bestand, dass es nicht bei verbalen Anfeindungen blieb, die sich immer nur im Kreis drehten und immer den Punkt aufgriffen, dass Vasin aufgrund eines ungerechten Vorteils Kaan geschlagen hatte. Ein Blick auf den Reflektor verriet Lavanya, dass es inzwischen auf der anderen Seite der Wand tatsächlich zu Handgreiflichkeiten kam. Eine Tatsache, die sie nicht ignorieren konnte, normalerweise wussten ihre Kollegen, wo die Grenzen verliefen. Heute hielt sich keiner daran. Eilig lief Lavanya ins Nachbarzimmer, wo Kaan Vasin zu Boden gerungen hatte, ihn niederdrückte und ihm einen heftigen Schlag ins Gesicht verpasste. „Du wirst morgen gar nichts tun, verstanden?“, zischte er ihm zu und wehrte eine Hand ab, die ihm die Schmerzen heimzahlen wollte. Allerdings war Kaan momentan eindeutig in der überlegenen Position, sein ganzes Gewicht lag auf Vasins Brustkorb und drückte ihm die Luft aus den Lungen, dass er kaum atmen konnte. Lavanya handelte ohne lange nachzudenken und packte Kaan am Kragen, um ihn von seinem Rivalen herunterzuziehen, doch das ließ er sich nicht gefallen. Er packte sie am Arm und riss sie nach vorne, sodass sie über seinen Fuß stolperte und schmerzhaft auf dem Steinboden landete, natürlich mit den immer noch nicht verheilten Knien zuerst. Ihr Schmerzensaufschrei übertonte für einen kurzen Moment die Szene, ließ aber keinen der beiden in seinem Handeln stocken. Kaan hämmerte mit seinen Fäusten auf Vasin ein, der versuchte, ihn davon abzuhalten und selbst auszuteilen. „Hört endlich auf!“, schrie sie aufgebracht und hilflos die zwei an, während sie einen Weg suchte, am schmerzfreisten auf die Beine zu kommen. Keiner nahm von ihrem kläglichen Schlichtungsversuch Notiz, stattdessen verlor Kaan völlig den Sinn für die Realität, legte seine Hände um Vasins Hals und drückte zu. Was er damit bezwecken wollte, wusste nur er allein, dass es nicht gut enden konnte, war Lavanya sofort klar. Bevor sie ihn erneut von Vasin zerren konnte, brach dieser in Panik aus. Er bekam aus zwei Gründen kaum noch Luft, konnte sich kaum wehren, kein Bitten und Betteln hätte ihn noch erlösen können. Und doch musste er Kaan loswerden, um nicht Gefahr zu laufen, ohnmächtig zu werden oder Schlimmeres zu erleiden. Ohne sich seines Handels klar zu werden, tat er das, was er in den letzten Tagen andauernd getan hatte: Er sammelt seine Energie und ließ sie durch seine Hände frei. Sie durchschlug Kaans Brust, hinterließ ein fürchterliches Loch und riss eine handgroße Lücke in die Zimmerdecke. Steine und Kaans Blut flogen Vasin entgegen, ohne dass er zu realisieren schien, was er getan hatte. Stattdessen wirkte er wie erstarrt, als Kaan zusammenbrach und ihn endgültig unter sich vergrub. Nun befiel Lavanya das Gefühl, von einem unsichtbaren Wesen die Luft abgeschnürt zu bekommen; das Bild vor ihren Augen ergab keinen Sinn und trotzdem verstand irgendein schrecklich rationaler Teil ihres Verstandes, was vorgefallen war. Kaan war tot und Vasin daran in einem gewissen Maß Schuld. Nach viel zu langer Zeit begann sie, wie wahnsinnig zu schreien, ohne etwas dagegen tun zu können. Sie verstand nicht einmal, weshalb sie das tat, das drehte die Zeit nicht wieder zurück. Dafür riss es Vasin aus seinem verwirrten Zustand; er schob Kaans Leiche von sich hinunter, schaute hektisch zwischen ihr und der schreienden Lavanya hin und her, betrachtete eingängig sein vollgeblutetes Hemd und lief schließlich aus dem Zimmer. Er ließ sie in ihrem Schock einfach allein und machte sich davon. Die vergangene Nacht war der reinste Albtraum gewesen, sie hatte keine Sekunde die Augen zugemacht und trotzdem fühlte sich Lavanya nicht müde, als sie der Menge der Menschen folgte. Nur geblendet von dem hellen Sonnenlicht, das ihren übernächtigen Geist und ihre Augen quälte, und immer noch völlig überrumpelt von den schockierenden Ereignissen der letzten Nacht. Sie wollte sie in den Hintergrund drängen, um sich auf Vasin zu konzentrieren, der bald den Beweis für die Prophezeiung ablegen würde. Aber es gelang nicht, immer wieder flackerten sie unvermittelt auf. Blut auf dem Boden. Man hatte sich endschieden, den Kampf gegen die Felsenköpfe am Mittag stattfinden zu lassen. Der denkbar schlechteste Zeitpunkt wegen der direkten Sonneneinstrahlung und der Hitze, die die Konzentration schwächte, aber Vasin hatte nicht protestiert. Wenn er diesen Fehler nicht korrigierte, würde man nicht auf Lavanyas Urteil hören, mit dem Gedanken hatte sie längst abgeschlossen. Unverständlicherweise erschien dieser von allen Siedlungsbewohnern herbeigewünschte Moment wie ein langerwartetes Ereignis, eine Art makaberes Volksfest, bei dem jeder in der ersten Reihe stehen wollte, obwohl man dort potentiell gefährdet war, teilweise saßen Menschen schon seit dem Morgen wartend auf dem Boden und es schwebte eine abwegige Heiterkeit in der Luft. Für Lavanya war das momentan unverständlich, allerdings hatte auch kaum jemand von dem tragischen Todesfall erfahren; ihr Held lebte noch, daher musste man sich nicht mit anderen Dingen beschäftigen. Kaans stumpfer Gesichtsausdruck, als die Energie in ihn eindrang. Im Nachhinein wusste sie nicht mehr, ob sie jemanden geholt hatte oder irgendwer durch den Lärm auf sie aufmerksam geworden war; irgendwann hatten ein paar Menschen teils verwirrt, teils angeekelt im Zimmer gestanden, sich das Ausmaß des Chaos‘ angesehen und sowohl Lavanya als auch Kaan mitgenommen. Sie hatte sich nicht gewehrt, das war ihr gar nicht in den Sinn gekommen und wäre ihr kaum möglich gewesen. Ihre Anspannung wuchs ins Unermessliche, als sich eine bekannte Person zwischen den Umstehenden hindurchzwängte. Vasin trug nicht mehr die Kleider von gestern Abend, mit denen er wie ein fleißiger Schlachter ausgesehen hatte, allerdings auch nicht seine eigenen. Das hätte sie auch gewundert, wenn er tatsächlich noch einmal in die Herberge zurückgekehrt war, um sich neu einzukleiden. Vielleicht hatte Felipa sie für ihn bereitgestellt. Wo er in den vergangenen Stunden gewesen war und was er dort getan hatte, hatte Lavanya nicht verfolgt, es hatte anderes im Vordergrund gestanden. Aber selbst ohne das blutbefleckte Hemd konnte sie nicht behaupten, dass sich viel an seinem Äußeren geändert hatte, die schlaflosen Nächte sah man ihm unverkennbar an. Ob er den Schrecken der Nacht überwunden hatte, würde sich zeigen. Sie an seiner Stelle hätte dieses Ereignis hier vertagt, vielleicht sogar völlig abgesagt. Traumatische Erlebnisse konnten die nötige Konzentration bei der Energiebündelung erheblich beeinträchtigen. Eigentlich hätte er nur noch am Boden kriechen dürfen, so wie er sich in den letzten Tagen selbst zugrunde gerichtet hatte; entweder war er stärker, als sie vermutete und der Prophezeiung tatsächlich würdig, oder nur noch eine leere Hülle, die in absehbarer Zeit ihr Inneres vor allen offenbarte und Enttäuschung hervorrief. Lavanya hoffte nicht, dass letzteres eintrat. Die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut fühlten sich an wie die Hitze des Feuers in dem Ofen, in den gestern Nacht Kaan in aller Eile verbrannt worden war. In diesem Gebiet war es zu heiß, um Tote längere Zeit liegen zu lassen, besonders wenn der Tod eindeutig feststand. Die Erinnerung daran ließ Lavanya erschauern, aber wenigstens hatten sie ihn nicht hier begraben, irgendwo in der Fremde, wo man nicht einmal seinen Namen kannte. Nun ruhten seine Überreste in eine der Wasserkannen, bis sie zurück in der Stadt waren. Verzweifelt versuchte sie sich auf Vasin zu konzentrieren, der seine Konzentration sammelte, um in wenigen Momenten seine Energie fließen zu lassen. Es gelang nicht, dauernd sah sie dieses Bild vor sich, wie genau diese Energie Kaan und die Decke mit einem Loch versah, gefolgt vom Feuer im Ofen der provisorischen Bestattungsstätte. Wie in einem übermächtigen Strudel vermischte sich der Austragungsort der Prophezeiung, der grausige Unfall und ihre wirren Gedanken zu einer neuen Realität zusammen, aus der sie nicht ausbrechen konnte. Tapfer kämpfte sie dagegen an und sah trotzdem Bilder, die nicht zueinander gehörten; Vasin, der die Felsenköpfe aus reichlicher Entfernung mit dem ersten Bündel Energieladung beschoss, umringt von einer dunklen Wolke aus Rauch, in der sich die Gesichtszüge Kaans abzeichneten. Lavanya schlug sich so fest selbst auf die Wange, um die falschen Bilder auszublenden, dass einige Umstehende sie kurz skeptisch musterten. Zum Glück lenkte ein Aufschrei weiter vorne die wenigen wieder ab und Lavanya konnte sich allein ihren Problemen widmen. Diese Siedlung hatte bisher keinem von ihnen gutgetan, einer war tot, einer Auge in Auge mit ihm und sie verlor wohl den Verstand. Sie kam sich erschreckend hilflos vor, dabei besaß sie nicht mehr Handlungsspielraum als ohnehin auch. Ein Energiestoß riss die Nase von einem der Felsengebilde ab, aber das empfand Lavanya nicht als Grund zum Feiern; wenn Vasin in der Geschwindigkeit fortfuhr, wie er momentan diese Riesen attackierte, hätten alle am späten Nachmittag immer noch lange auf einen Sieg zu warten. Er stellte sich nicht effektiv genug an. Vasin stand fünfzig Schritte von den Siedlungsbewohnern entfernt, der Abstand zu den Felsenköpfen betrug noch einmal knapp die Hälfte der Distanz, die er zögerlich weiter verringerte. Trotz dieser nicht gerade großen Entfernung kamen die Felsenköpfe nicht unerwartet auf das schaulustige Publikum zu und zermalmte es unter seinem unbegreiflichen Gewicht. Entweder wollten sie das nicht oder etwas hielt sie davon ab, was sicher nicht Vasins Verdienst war. Dafür hatten seine Energiestöße zu wenig Kraft. Die Felsenköpfe besaßen ihren Namen nicht ohne Grund; sie sahen tatsächlich aus wie in Stein gehauene Köpfe mit erkennbaren Gesichtern von Menschen, ab und zu entdeckte Lavanya einen Stier- oder einen Schafskopf unter ihnen. Wie eine makabere, übermäßig vergrößerte Widerspiegelung der Siedlungsbewohner, eine boshafte Karikatur in ihrem bevorzugten Element – Stein. Wie ein Zwerg erschien dagegen Vasin, der in einem Halbkreis von den Felsenköpfen umringt wurde; eine Zinnameise gegen ein Rudel Flugfüchse. Was war das für eine verhexte Prophezeiung, die behauptete, so etwas lebend zu überstehen? Lavanya stand kurz davor, in den Kampf einzugreifen und mit ihrer Energie ihren Kollegen zu unterstützen, ungeachtet der Meinung der Masse, er könnte es allein bewältigen, und seiner eigenen Vorstellung, alle in den Schatten zu stellen. Ihr Entschluss ließ zu lange auf sich warten, einer der Felsenköpfe, dem Vasin soeben eines der Steinaugen ausgestochen hatte, öffnete seinen haushohen Mund und verursachte einen Sog, der Vasin von den Füßen riss und in das dunkle Loch zog. Das Publikum schrie nicht vor Entsetzen, es trat eher eine gespannte Stille ein, die in Lavanya das ungute Gefühl erweckte, dass diese Besonderheit nicht unbekannt für sie war. Vasin allerdings schien man nicht eingeweiht zu haben. War das der Moment, in dem sich alles entschied? In dem sich offenbarte, dass er den Anforderungen gewachsen war? Lavanyas Herz schlug ihr bis zum Hals, weshalb sie die Augen schloss, die Hände aneinander legte und zur Göttin betete. Sonst tat sie das nie, Kaan war der Gläubige von ihnen gewesen, aber sie wusste sich nicht anders zu helfen. Vielleicht verlieh die Göttin Vasin dadurch die fehlende Kraft, die alles entscheidende Energiewelle zu wirken, die alle Felsenköpfe auf der Stelle zu Staub zerfallen ließ. Als sie ihre Augen wieder aufschlug, geschah wirklich etwas. Der Felsenkopf, der Vasin verschluckt hatte, öffnete seinen Mund erneut. Und spuckte einen Haufen Knochen aus. Ein kollektives Seufzen lief wie eine Welle durch die Ansammlung der Schaulustigen, als hätten sie vom ersten Moment an die Niederlage befürchtet, während Lavanya vor Fassungslosigkeit schreien wollte, doch heute kamen ihr die Tränen. Der Albtraum setzte sich fort und ließ sie nicht erwachen. „Weinen Sie nicht“, sprach eine ältere Frau sie an. „Er war nicht der erste, der gescheitert ist, und viele werden ihm noch folgen. Um jeden zu trauern, der stirbt, wäre Zeitverschwendung. Warten Sie lieber auf den, der erfolgreich ist.“ Nein, der Albtraum hatte sich fest um sie gewickelt und schnürte ihr die Luft ab, bis sie erstickte. Die Menge hatte sich schnell verlaufen und ging ihrem Tagewerk nach, als beträfe sie Vasins Tod nicht im Geringsten, nur ein leichter Hauch von Enttäuschung und Resignation auf allen Gesichtern verriet ihren Gemütszustand. Ebenso schnell hatten sich die Felsenköpfe wieder über die Ebene verteilt. Das leichte Beben, das sie dabei verursachten, wirkte wie ein höhnisches Lachen. In Lavanyas Kopf und Herzen herrschten Leere, die es ihr zumindest ermöglichte, ihr Gepäck und die Überbleibsel ihrer Kollegen zusammenzusammeln, ohne erneut in Tränen auszubrechen. Das war das mindeste, was sie für die Familien tun konnte. Ein letztes Mal betrat sie den Austragungsort des ungleichen Kampfs. Niemand hatte es für nötig befunden, Vasins sterbliche Überreste wegzutragen, was Lavanya ganz gelegen kam. Sie hätte nicht mehr die Kraftbesessen, die Bewohner höflich darum zu bitten. Während sie das einzige Totengebet sprach, das sie kannte, legte sie Vasins Knochen in die letzte verbliebene Wasserkanne. Einige von ihnen musste sie mithilfe ihrer Energie zerteilen, damit sie hineinpassten. Sie hoffte, dass er ihr das nicht übel nahm, falls seine Seele ihre provisorische Bestattung beobachtete. Aber sie wollte ihn nicht an diesem Ort lassen, keinen Teil, dem sie habhaft werden konnte. Das hatte keiner ihrer zwei Kollegen verdient, unbeachtet in der Fremde zu verrotten. Bevor sie sich auf den übereilten Heimweh begab, kaufte sie sich einen nötigen Wasservorrat, um nicht das Schicksal von Vasin und Kaan nachzueifern. Dann wäre nämlich niemand mehr am Leben, der ihrem Lehrmeister die traurige Botschaft samt den zwei Urnen überbrachte. Ihre Bienen waren ihr ausgegangen. Am Ortsausgang überlegte sie, ob sie als einen verzweifelten Racheakt das Ortsschild in seine Einzelteile zerspringen lassen sollte, aber selbst wenn sie das tat, man konnte es problemlos erneuern und im Endeffekt wies nichts mehr auf ihre Absicht hin. Ein kleines Grüppchen lenkte sie von ihrem Zwiespalt ab. Zwei jüngere Kinder standen um einen Mann herum, der verdächtig nach einem Reisenden aus dem Norden aussah. Er hielt einen hölzernen Wanderstab in der Hand. Allein die Wörter „Prophezeiung“ und „Hilfe“, die sie flüchtig aufschnappte, ließ Lavanya bis ins Innerste erschauern und einen Schritt zulegen. Davon wollte sie nie wieder etwas hören. Knapp, aber höflich grüßte der Mann sie, als sie an den Versammelten vorbeieilte, und sie reagierte gar nicht darauf, statt ihn zu warnen, dass diese Siedlung sein Verderben bedeutete. Sie bezweifelte, dass er auf sie gehört hätte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)