Chihiro und Kohaku von abgemeldet
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Kapitel 1: Einleitung
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Einleitung
Es gibt ein Lied zu dem Film, natürlich auf Japanisch. Es wurde von Kristin
Olsson ins Englische übersetzt: http://sekaiseifuku.net/shiroiryuu.html
Diese englische Version habe ich ins Deutsche übersetzt, wobei ich an einigen
Stellen, die mir merkwürdig vorkamen, die japanischen Vokabeln nachgeschlagen
habe. Z.B. Aoi heißt Blau, kann aber auch Grün bedeuten. So kommen einige
Unterschiede zur englischen Übersetzung zustande.
Weisser Drache
Heimlich fliegst über die See im Mondschein
Mein bezaubernder weisser Drache
Schnell, schnell, noch schneller
Zu meiner Seite
Silbrige Schuppen blutverschmiert
Suchst deinen gestolenen Namen
Ziellos umherirrend
Schöner weisser Drache
Geliebter weisser Drache
Trink Sens Nächte
Versink in Chihiros Wassern
Rostfarbener Wind bläst von der Erde
Mein Pochen in der weissen Brust
Schnell, schnell, noch schneller
Fließ reichlich über
Grüne Mähne brennend wie Feuer
Suchst deinen verschütteten Fluss
Ziellos umherirrend
Schöner weisser Drache
Geliebter weisser Drache
Komm zu dem quellenden Strom
Der in mir verborgen war
Trink Sens Nächte
Versink in Chihiros Wassern
Text: Miyazaki Hayao
Musik: Hisaishi Joe
Kapitel 2: Nach dem Versprechen
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Vorwort:
"Chihiros Reise ins Zauberland", sowie alle darin vorkommenden Charaktere sind
geistiges Eigentum von Studio Ghibli und Hayao Miyazaki. Kein Teil dieser
Geschichte erhebt irgendeinen Anspruch auf Wahrheit, sondern dient nur der
Unterhaltung.
Naja, ich hoffe, die Geschichte gefällt Euch und vielleicht fällt mir ja noch
ein besserer Titel dafür ein, wenn ich weiß, wie es endet. Es ist immerhin
meine allererste Geschichte, also seid nicht allzu streng. Ich hatte übrigens
noch ein Paar kleine Änderungen gegenüber der allerersten Version.
Nach dem Versprechen
Haku blickte noch lange Chihiro hinterher, wie sie zuerst über die Wiese lief
und dann am Abhang vor dem Tunnel verschwand. Er hörte noch einmal kurz die
Stimmen ihrer Eltern und dann auch Chihiros Stimme, bevor auch diese endgültig
verstummte. Die Sonne schien ihm warm in das Gesicht und es würde ein
wunderschöner Tag werden, nach all dem Regen zuletzt, jedoch das einzige, was
er empfinden konnte, war eine tiefe Traurigkeit.
Traurigkeit darüber, dass er Chihiro vielleicht für immer verloren hatte und
Traurigkeit darüber, dass er sie belogen hatte, über seine eigene Situation
und über das Versprechen, welches er ihr gegeben hatte und wahrscheinlich
niemals würde halten können.
Er hatte es nur getan, um Chihiro zu beruhigen und ihr die Sorge um ihn zu
nehmen, denn er fühlte, das sie dicht davor gewesen war, die Welt der Menschen
für immer aufzugeben und Teil der Geisterwelt zu werden, um bei ihm zu bleiben.
Einzig und allein die Sorge um ihre Eltern hatten sie noch davon abgehalten.
Das aber konnte er nicht zulassen, denn es war einfach zu Gefährlich für ein
kleines Menschenkind hier zu bleiben und sein Drang, sie zu beschützen, war
nach all den Ereignissen über die sie ihm auf dem Rückflug von Zenibas Haus
berichtet hatte, noch stärker geworden. Sie hatte doch tatsächlich ihr Leben
riskiert, um seins zu retten!
Aber er wusste, dass sie, sobald sie den Tunnel verlassen und auf der anderen
wieder die Welt der Menschen betrat, alles vergessen würde, was sie hier erlebt
hatte, wie einen Traum, der am Morgen langsam verblasst. Das war sein einziger
Trost. Sie würde sich nicht an das Versprechen erinnern können und auch nicht
an ihn.
Er gab sich einen Ruck und zwang sich, sich umzudrehen und zum Badehaus
zurückzukehren. Zumindest musste er versuchen, den Vertrag mit Yubaba zu lösen
und das Versprechen zu halten, denn das war er Chihiro und seiner Ehre schuldig.
Es würde schwierig werden, denn wie er Yubaba kannte, würde sie ihn nicht ohne
weiteres gehen lassen, auch wenn er seinen eigenen Namen jetzt wieder kannte. Da
gab es ja immer noch den Vertrag zwischen ihm und Yubaba über seine Zauberlehre
und er würde ebenso wie Chihiro eine Aufgabe lösen müssen, um die Magie des
Vertrages zu brechen, oder eben warten, bis seine Lehrzeit abgelaufen war.
Das würde dann erst in drei Jahren der Fall sein, in seinem sechzehnten
Lebensjahr. Wenn er die Sache im nachhinein betrachtete, wunderte er sich
sowieso, dass Chihiro es so einfach geschafft hatte, das Rätsel zu lösen, es
sei denn, Yubaba hätte sie tatsächlich loswerden wollen.
Auf jeden Fall würde sie unheimlich wütend sein auf ihn und Chihiro wegen der
Sache mit Boh. Sie brauchte ja nur Eins und Eins zusammenzählen, dass es nicht
Zeniba gewesen war, die Boh entführt hatte, sondern dass Chihiro ihn auf ihrer
Fahrt zu Zeniba in Gestalt einer Maus mitgenommen und damit in Gefahr gebracht
hatte.
Chihiro war jetzt fort und in Sicherheit, also würde sie ihre Wut an ihm
auslassen. Aber sein Herz war ruhig und er hatte keine Angst mehr vor Yubaba,
auch wenn sie gedroht hatte, ihn in Stücke zu reißen. Das einzige, was ihm
Sorge bereitete war, was geschehen sollte, falls es ihm tatsächlich gelänge,
aus dem Vertrag zu kommen. Was konnte er dann tun?
Seine einstige Heimat, der Kohakugawa war zugeschüttet worden und jetzt hatte
er keinen Ort mehr an den er zurückkehren konnte und er eine physische Gestalt
annehmen konnte, um dann sein Versprechen halten zu können und Chihiro wieder
zu sehen. In der Welt der Menschen währe er so nur ein gestaltloses Gespenst,
ohne die Fähigkeit irgendeine Form von Magie auszuüben und sich Chihiro
irgendwie bemerkbar zu machen, selbst wenn er es schaffen würde, sie in dem
Chaos der Menschenstädte irgendwie zu finden.
Er würde jemanden um Hilfe bitten müssen, irgend einen mächtigen alten Gott
oder jemanden anderen, der mehr Ahnung von diesen Dingen besitzt, als er selber.
Aufgrund seines schlechten Rufes, den er sich nach Jahren des Stehlens für
Yubaba erworben hatte, würde es nicht leicht sein, jemanden zu finden, der ihm
hilft.
Überall in der Geisterwelt kannten die Götter und Geister den weißen Drachen,
der herumflog und schreckliche Dinge tat, scheinbar wahllos Leute überfiel und
beraubte. Sie wussten nur nicht, wo er sich versteckte und kannten sein
menschliches Erscheinungsbild nicht.
Es waren Dinge an die er sich nur dunkel und wie aus einem Albtraum erinnern
konnte, denn er tat sie ja nicht aus eigenem Antrieb, sondern wurde von Yubaba
wider seine Natur dazu gezwungen. Haku war sich ziemlich sicher, dass er auf
diesen Raubzügen auch mehrfach gemordet hatte, erfüllt und kontrolliert von
dem habgierigen und mörderischen Selbst Yubabas.
Er hatte sehr darunter gelitten und sein Herz war nahezu versteinert, bis
Chihiro plötzlich aufgetaucht war und ihm wieder Hoffnung gegeben hatte. Im
Moment jedenfalls fiel ihm eigentlich nur Zeniba ein, die er fragen konnte, aber
er war sich nicht Sicher, ob sie ihm helfen würde oder könnte.
Zielstrebig ging Haku durch den jetzt wieder verlassen erscheinenden
Restaurantbezirk, die Treppe hinauf zu der großen Laterne und dann nach rechts
über die Brücke zum Eingang des Badehauses. Dort hatte man inzwischen die
Spuren von dem Test beseitigt und alle Angestellten und Gäste waren wohl
mittlerweile schon schlafen gegangen. Es war ja auch schon spät genug.
Lediglich Lin und Aniyaku warteten noch im Schatten des Eingangs auf seine
Rückkehr.
"Ah, Meister Haku, gut dass sie wieder zurück sind.", sagte Aniyaku
geschäftsmäßig, "Die Herrin Yubaba erwartet sie zu einer kleinen Unterredung,
wie sie sagte. Sie mögen sich bitte beeilen.".
Er trat einen Schritt zurück, um den Weg für Haku freizugeben und verbeugte
sich. Haku nickte zur Bestätigung in seiner üblichen kühlen Art, wandte sich
dem Eingang mit dem Blauen Vorhang und dem Schriftzug "Badehaus" zu und ging
hindurch. Lin folgte ihm und marschierte ebenfalls an Aniyaku vorbei, der ihr
daraufhin einen finsteren Blick hinterherschickte, aber nichts zu dieser
Unbootmäßigkeit sagte.
Lin hatte sich bisher noch nie viel aus Haku gemacht und war aus verschiedenen
Erfahrungen die sie gemacht hatte, ihm gegenüber vorsichtig und reserviert.
Dass Haku Chihiro offensichtlich auch zu mögen schien hatte sie völlig
überrascht und machte ihr Hoffnung. Schließlich hatte er sich zuvor nie
irgendjemandem sonst im Badehaus freundlich gegenüber gezeigt und war bei allen
als ausführendes Organ und Zuträger Yubabas gefürchtet.
"Haku. Äh, Meister Haku.", sprach sie ihn an, als sie ihn fast eingeholt hatte,
"Wie...Ist alles gut gegangen? Ich meine, geht es Sen... Äh Chihiro gut?".
Sie hatte jetzt Haku eingeholt und ging neben ihm her, wobei sie ihn fast um
Haupteslänge überragte. Er blickte sie eindringlich und traurig-ernst aus
seinen flaschengrünen Augen an, während er weiterhin auf den Aufzug an der
gegenüberliegenden Seite der Halle zuhielt, der ihn direkt zu Yubaba in das
oberste Stockwerk bringen würde.
"Ja, Chihiro ist wohlbehalten mit ihren Eltern in der Welt der Menschen
angekommen.", sagte Haku mit leiser und doch fester Stimme, "Du hast sie auch
gerne gehabt, nicht wahr?". Er wandte seinen Blick wieder nach vorne, zum Aufzug
hin, und fügte dann nach einer kurzen Pause hinzu: "Ich glaube, zum Schluss hat
sie fast jeder hier gerne gehabt. Ich danke dir, dass du dich so gut um Chihiro
gekümmert hast. Wenn wir alleine sind, darfst du mich Haku nennen!"
Völlig baff und mit offenem Mund blieb Lin abrupt stehen und sah Haku
hinterher, wie der den Aufzug betrat und nach oben entschwand. Wenn sie sich
nicht vollkommen täuschte, war das eben ein offenes Freundschaftsangebot
seinerseits gewesen, und das war das Letzte was sie erwartet hatte.
Kurze Zeit später betrat Haku Yubabas Büro. Sie saß geschäftig hinter ihrem
Schreibtisch über irgendwelchen Papieren und beachtete ihn zunächst nicht,
während sie von Zeit zu Zeit an einer Zigarette zog. Er wusste, dass sie es
nicht mochte, wenn man sie jetzt ansprach und damit störte, weshalb er geduldig
warten würde, bis sie ihn schließlich von sich anspräche, wie es schon so
häufig vorgekommen war. Letztendlich hatte sie ihn ja herbeordert, um mit ihm
zu sprechen.
"Ah, Haku, da bist du ja endlich!". Sie blickte von ihren Papieren auf und
steckte sich theatralisch eine neue Zigarette an. " Ist die kleine Göre mit
ihren verfressenen Eltern endlich fort? Eigentlich müsste ich ihr ja fast
dankbar sein, dass sie mir die Augen über Boh geöffnet hat. Dass der Junge
schon stehen kann."
"Ja. Sie sind nicht mehr böse auf Chihiro?", fragte Haku verwundert über ihre
ausgeglichene Stimmung.
"Böse auf dieses kleine dumme Menschenkind? Warum sollte ich böse darauf sein?
Sie hat mir zwar eine Menge Ärger bereitet, aber eigentlich kann ich sie dafür
nicht verantwortlich machen. Was wusste sie schon über unsere Welt. Und Boh hat
es ja offensichtlich auch gut getan, auch wenn ich mir schreckliche Sorgen
gemacht habe. Deshalb habe ich sie ja auch letztendlich gehen lassen, oder
glaubst du vielleicht, Chihiro hätte das Rätsel von ganz alleine gelöst?
Nein, ich habe ihr die Antwort in ihren ungezogenen kleinen Kopf gezaubert. Das
ganze war doch eine prima Show vor all den Gästen, glaubst du nicht? Und eine
super Reklame für das Badehaus. Die Götter und insbesondere dieser fette
Rettichgott werden herumtratschen, dass ein süßes kleines Mädchen die alte
Schreckschraube Yubaba ausgetrickst hat, und umso lieber hierher kommen.
Außerdem war ich damit diese kleine Göre endlich los, die mit ihrer
zunehmenden Beliebtheit und ihrer Uneigennützigkeit tatsächlich so etwas wie
Solidarität unter meinen Arbeitern entstehen ließ. So etwas kann ich nun
wirklich nicht gebrauchen.", antwortete Yubaba ungewohnt ausführlich, "Aber
weißt du, auf wen ich tatsächlich böse bin und wen ich verantwortlich
mache?"
Haku blickte sie starr an, sagte jedoch nichts, denn er ahnte die Antwort
bereits.
"Dich! Ich mache dich dafür verantwortlich.", fuhr Yubaba nach kurzer Pause
fort, jetzt mit offensichtlichem Zorn in ihrer Stimme, "Du hast ihr geholfen, zu
mir zu gelangen, obwohl ich dich losgeschickt hatte, sie einzufangen und
einzusperren, und sie instruiert, mich nach Arbeit zu fragen, wohl wissend, dass
ich aufgrund meines Schwurs keine andere Wahl hätte, als ihr welche zu geben,
was ihr dann ermöglichen würde, hier zu bleiben."
"Sie wussten es!?!", rief Haku überrasch aus und fuhr dann resignierend fort:
"Der Aufzug. Sie haben uns beobachtet."
"Du hast völlig recht. Ich habe Chihiro beobachtet, um herauszufinden, wer ihr
geholfen hat.", räumte Yubaba ein, "So wie sie dich vertraulich mit deinem
Namen angeredet hatte, den sie eigentlich noch gar nicht wissen konnte, war mir
sofort alles klar."
"Ich hatte das damals befürchtet, aber als zunächst nichts passierte dachte
ich .... Und dann haben sie mich losgeschickt, Zenibas mit einem Fluch belegtes
Siegel zu stehlen. Nicht etwa um es selber zu besitzen, denn was hätten sie mit
dem verfluchten Ding schon anfangen können, sondern um unseren Vertrag zu
umgehen und mich so zu töten.", fiel es Haku wie Schuppen von den Augen.
Und dann schlussfolgerte er eiskalt: "Schließlich hatte ich gegen keine der
Vertragsklauseln verstoßen und sie konnten deshalb nicht direkt gegen mich
vorgehen. Deshalb wählten sie diese Methode, mit der sie mich zwangen, mich
gewissermaßen selbst zu töten. So konnten sie auch allem Ärger aus dem Weg
gehen, der auf sie zugekommen wäre, wenn sie einen Gott getötet hätten und
vorgeben, nichts mit der Sache zu tun gehabt zu haben. Das währe ja auch
schlecht für den Umsatz gewesen."
"He He He... und ich konnte meiner Schwester ein Schnippchen schlagen.", lachte
Yubaba höhnisch, "So langsam beginnst du zu begreifen, wie die Dinge hier
laufen. Du hast zwar nicht direkt gegen deinen Vertrag verstoßen, aber was
denkst du dir eigentlich, was ich mit einem Lehrling anfangen soll, der mir
gegenüber illoyal ist und sich mit Menschen abgibt? So etwas kann und werde ich
nicht dulden! Ich verstehe nur immer noch nicht, wie es dir gelungen ist, den
Fluch des Siegels zu überleben. Wie auch immer, ich bin jetzt müde und werde
mich morgen eingehend mit dir befassen. Aber eines kannst du dir jetzt bereits
abschminken, mein Junge: Deine Anrede als Meister Haku! Du bist entlassen."
Sie steckte sich eine weitere Zigarette an und wandte sich wieder ihren Papieren
zu, ohne ihn weiter zu beachten.
Haku blieb jedoch stehen und blickte Yubaba weiterhin unverwandt und ärgerlich
an.
"Du bist ja immer noch da.", meinte sie schließlich nach einer Weile, als sie
letztendlich alles sortiert hatte, "Was willst du noch?"
"Ich will meinen Vertrag bei ihnen kündigen.", antwortete Haku entschlossen,
"Ich will nicht länger ihr Zauberlehrling sein!"
"Ha, du bist wohl wahnsinnig geworden?", schnauzte Yubaba überrascht, "Glaubst
du ich würde dich nach all dem einfach so gehen lassen?"
"Ja, das glaube ich.", sagte Haku einfach.
"Ha, dann sag mir doch, wessen Vertrag ich kündigen soll?", spöttelte Yubaba,
ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.
"Nigihayami Kohaku Nushi!", antwortete Haku ruhig.
Jetzt war Yubaba zunächst einmal sprachlos und keuchte dann verblüfft: "Woher
weißt du deinen Namen? Wer hat ihn dir verraten?"
Um sie noch weiter aus dem Konzept bringen und weil er keine Gefahr mehr darin
sah, die Wahrheit zu sagen, antwortete er nur: "Chihiro!". Yubaba schaute ihn
überrascht an.
"Chihiro, soso." , meinte Yubaba dann, nachdem sie sich schnell wieder gefasst
hatte, "Ich glaube, ich habe sie doch etwas voreilig gehen lassen."
"Aber du wirst deinen Vertrag trotzdem nicht kündigen, sondern jetzt in deine
Kammer gehen und dort bis morgen warten!", fügte sie bestimmt hinzu, schloss
die Augen, berührte mit ihrer linken Hand die Brosche mit dem Rubin auf ihrer
Brust, der daraufhin zu leuchten begann und konzentrierte sich, um ihm ihren
Willen aufzuzwingen. Jedoch nichts geschah.
"Waaah?!?", brüllte Yubaba los, indem sie ihre Augen weit aufriss und
aufsprang, "Was geht hier vor? ... Der Wurm, der Wurm ist weg!?! Was hast du mit
meinem Wurm gemacht?"
Haku antwortete leise und wahrheitsgemäß: "Chihiro hat ihn zertreten. Und
wissen sie was? Chihiro hat auch den Fluch des Siegels gebrochen und das Siegel
dann wieder unversehrt zu ihrer Schwester zurückgebracht!".
"Chihiro, schon wieder Chihiro. Immer nur Chihiro!". Yubaba wurde jetzt richtig
zornig. "So langsam beginnt mir dieses Mädchen erheblich auf die Nerven zu
gehen. Also gut, du willst deine Lehrzeit beenden?".
Sie machte energisch eine winkende Geste, woraufhin sich eine Schublade in ihrem
Schreibtisch öffnete und der Vertrag in ihre Hand flog. "Hier ist dein Vertrag,
er läuft noch drei Jahre, also müssen wir die Auflösungsklausel beachten.
Diese besagt, dass du eine beliebige, von mir zu stellende Aufgabe zu erfüllen
hast, um den Vertrag vorzeitig zu beenden."
"Ich kenne meinen Vertrag genau. Er besagt auch, dass sie mir an einem Tag in
der Woche Unterricht geben müssen und das haben sie auch nicht immer
eingehalten. Was ich hier bisher gelernt von ihnen habe, ist kaum der Rede
wert!", sagte Haku mit leicht gepresster Stimme.
"Was wagst du mich hier des Vertragsbruches zu bezichtigen! Ich habe mich immer
ganz genau an die Vertragsklauseln gehalten. In dem Vertrag steht nämlich
nicht, wie lange ich dich unterrichten muss und was ich dich unterrichte,
sondern nur dass ich es tun muss.", entgegnete Yubaba, jetzt gefährlich ruhig,
wobei sie sich schwer auf den Schreibtisch stützte, "Aber wie du willst. Hier
ist nun deine Aufgabe: Nenn mir einfach die Namen aller weiteren Personen, die
Chihiro geholfen haben, zu mir zu gelangen. Wenn du die Wahrheit sagst, auch
wenn es tatsächlich niemand außer dir war, wird sich der Vertrag von alleine
auflösen und du kannst gehen. Ich bin mir jedoch ziemlich sicher, dass du ihr
nicht alleine geholfen hast, sondern zumindest einen Helfer hattest!"
Jetzt war es Haku, der fassungslos ob ihrer Hinterhältigkeit mit offenem Mund
dastand. Er konnte ihr auf gar keinen Fall von Lin und Kamaji erzählen, denn
das währe auch deren Ende gewesen.
"Was ist? Du bist ja auf einmal sprachlos.", lästerte Yubaba, jetzt grinsend,
und kam hinter ihrem Schreibtisch hervor, "Findest du die Aufgabe unfair? Die
Regeln besagen nur, dass die Aufgabe prinzipiell lösbar sein muss, ob sie
schwer ist oder nicht, fair oder unfair, das ist ganz und gar meine
Entscheidung. Und schwer ist die Aufgabe ja nun wirklich nicht, hehehe."
Sie baute sich vor ihm auf, blickte direkt in seine Augen, zog an ihrer
Zigarette und blies im dann den Rauch direkt ins Gesicht. Haku konnte ein Husten
und Blinzeln nur mühsam unterdrücken.
"Deinem Schweigen entnehme ich, dass ich recht hatte, mit meiner Vermutung. Gut
denn, du wirst morgen eine neue Tätigkeit aufnehmen. Wie man mir Mitteilte,
haben wir wieder zu wenige Arbeiter in unserer Kohlegrube.", sagte Yubaba,
selbstzufrieden über ihren Sieg, und bohrte ihren Fingernagel direkt in seine
Magengrube, "Du wirst dort ab morgen anfangen und bist zum Ablauf deiner
Lehrzeit dort Loren mit Kohle ziehen. Das ist genau die richtige Aufgabe für
einen Jungdrachen wie dich. Einmal pro Woche wirst du dich zum Unterricht bei
mir einfinden, denn Vertrag ist ja Vertrag. Ach ja, wenn es dir dort unten nicht
gefällt, dann denk daran, dass du bei dieser Gelegenheit einfach nur die
Aufgabe lösen und die Frage beantworten musst und du wirst sofort gehen
können!"
Sie drehte sich um und ging in Richtung der Kinderzimmertür. "Ich werde noch
mal nach Boh sehen, bevor ich schlafen gehe, und du gehst jetzt besser. Hach,
der Ausflug zu meiner garstigen Schwester muss ja so anstrengend für den
kleinen Süßen gewesen sein. Er schläft schon wie ein Stein."
Haku musste sich die Niederlage eingestehen. Er hatte Yubaba unterschätzt. Mit
gefasster Mine machte er sich auf den Weg zu seiner Kammer, ein Stockwerk
tiefer, wo er immer auf Abruf für Yubaba bereit war, wenn er nicht anderweitig
zu tun hatte. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er versuchen sollte zu
fliehen. Aber das verwarf er schnell wieder, denn Yubabas Verträge beinhalteten
auch immer einen Bannfluch, so dass jeder Versuch zu fliehen Yubaba Macht über
Leben und Tod des Deserteurs verleihen würde. Sie konnte ihn dann einfach
wieder herbeizaubern oder sein Leben auspusten, wie eine Kerze. Chihiro war
überhaupt nur in der Lage gewesen, zu Zeniba zu fahren, weil sie nie auch nur
die leiseste Absicht hatte wegzulaufen, was dann den Bannfluch zu aktiviert
hätte. Er seufzte.
Die Kohlegrube würde es also sein. Er selbst war noch nie dort gewesen, obwohl
er bereits fast fünf Jahre lang Yubabas Lehrling war. In den meisten Dingen war
das Badehaus autark.
Es wurden nahezu alle Lebensmittel bis auf einige Gewürze selbst produziert, es
gab Handwerker, die alles mögliche herstellen konnten und wo das nicht reichte,
half Yubabas dann Magie weiter. Auch für die Energieversorgung des Badehauses
mussten keine externen Lieferanten hinzugezogen werden, denn die enormen Mengen
der für die Heißwasserzubereitung benötigten Kohlen wurden aus einem eigenen
Bergwerk tief unter den Fundamenten der Anlage in einem weit verzweigten System
aus Flözen gefördert.
Der für die Beleuchtung des Badehauses und der Restaurants benötigte Strom
wurde nebenbei durch einen mit dem Kessel verbundene Turbine und einen damit
verbundenen Generator erzeugt.
Die Arbeitsbedingungen in der Grube waren fürchterlich, es gab ständig schwere
Unfälle und wer nicht durch einen Unfall umkam, der starb in der Regel
innerhalb eines Jahres an Erschöpfung und Auszehrung. Haku wusste das nur, weil
er ein paar mal den Berichten des Grubenaufsehers heimlich gelauscht hatte,
einem fürchterlich hässlichen und gewalttätigen Trollgeist, den Yubaba
irgendwie unter Kontrolle hielt.
Dass dort wieder Arbeiter fehlten, bedeutete nur, dass wieder jemand gestorben
war. Yubaba pflegte die fehlenden Leute dann durch Arbeiter aus dem Badehaus zu
ersetzen, die entweder nicht gut genug arbeiteten, oder deren Nasen ihr nicht
passten. So hielt sie einen ständigen Druck auf die Belegschaft aufrecht.
Dass trotzdem ständig neue Leute bei ihr anheuerten lag einfach daran, dass
diese Dinge außerhalb des Badehauses nicht bekannt waren und es selbst
innerhalb des Badehauses unter den Angestellten nur Gerüchte darüber gab, was
dort unten vorging, denn niemand war bisher von dort zurückgekehrt, um zu
berichten. Drei Jahre würde sein Vertrag noch laufen und das bedeutete
letztendlich sein Todesurteil, wenn er die ganze Zeit dort unten schuften
musste.
Dann muss es wohl so enden, dachte er ohne bedauern bei sich, über kurz oder
lang hätte Yubaba ihn ohnehin zugrunde gerichtet. Letztendlich verdankte er
seinen Namen, die Freihit sich zu entscheiden und sein Leben ohnehin nur
Chihiro. Diejenigen an Yubaba zu verraten, die Chihiro geholfen hatten, währe
Verrat an sich selbst und was viel schlimmer war, auch an ihr. Also würde er
bald sterben und Yubaba würde gewinnen.
Haku setzte sich in seiner Kammer an das Fenster, betrachtete stundenlang die
vorbeiziehenden Wolken und spürte die frische Briese des Windes und die Wärme
der untergehenden Sonne in seinem Gesicht.
Kapitel 3: Ein neues Zuhause
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Hallo zusammen.
Das ist das zweite Kapitel und es ist noch nicht ganz fertig, denn ich muss noch
ein paar Sachen nachschauen. Aber so im großen und ganzen wird es wohl so
bleiben.
Ich habe die Daten ändern müssen, denn offenbar beginnt in Japan das Schuljahr
Anfang September und geht bis Ende Juni. Chihiro kommt übrigens am 18. (nur
welchen Monats? Auf jeden Fall aber im Sommer!) ins Badehaus. Steht übrigens
auf dem Kalender von Kamaji.
Ein neues Heim
Akio Ogino, Chihiros Vater, fuhr auf dem Rückweg etwas vorsichtiger, denn die
fast Vollbremsung vor dem Stein am Tunnel hatte ihm zu denken gegeben, aber nur
etwas. Schließlich erreichten sie den asphaltierten Teil der Straße, bis sie
dann nach zweimaligem Linksabbiegen in die richtige Straße zu ihrem neuen Heim
einbogen. Nach weiteren gut 200 Metern parkten sie dann direkt vor ihrem
schmucken, neuen und hellblau angestrichenen Einfamilienhaus mit Vorgarten.
"Komm, Chihiro, steig aus.", sagte Yuuko Ogino, ihre Mutter, bevor sie selbst
die Beifahrertür öffnete. Chihiros Vater war natürlich als erster aus dem
Audi gesprungen und wunderte sich jetzt über den bereits überquellenden
Briefkasten: "Schau mal, wie viel Post wir bereits bekommen haben. Dabei habe
ich doch erst gestern den Nachsendeantrag gestellt."
"Ja, wirklich komisch. Genau wie vorhin die ganzen Blätter auf dem Auto und der
Staub im inneren.", meinte Yuuko Ogino, indem sie zuerst auf den Briefkasten
schaute und sich dann nach Chihiro umschaute, die jetzt neben dem Auto stand und
Gedankenversunken ihren völlig vertrockneten Blumenstrauß in der Hand hielt,
"Chihiro, was ist denn mit deinen Blumen passiert?"
Chihiro zuckte leicht zusammen, als ob sie jemand aus einem Tagtraum geweckt
hätte. Sie hatte das intensive Gefühl, als ob sie irgendetwas ganz
entscheidendes vergessen hätte und versuchte sich daran zu erinnern. Aber da
war einfach nichts. Langsam blickte sie nach unten auf ihren Blumenstrauß,
konnte sich aber über seinen Zustand gar nicht wundern. Irgendwie schien mit
den Blumen doch eigentlich alles in bester Ordnung zu sein. Sie konnte nur nicht
sagen, wieso. Aber Chihiro war sich ziemlich sicher, dass es mit dem zu tun
hatte, woran sie sich zu erinnern versuchte.
"Sie sind verwelkt.", sprach sie deshalb einfach das Offensichtliche aus, ging
zur Mülltonne hinüber und warf den Strauß ohne großes Bedauern weg. Das
wichtigste, die Abschiedskarte, hatte sie ja noch. Zur Sicherheit tastete sie
noch einmal in ihrer Hosentasche danach, aber sie war immer noch da.
Danach ging sie einer plötzlichen Eingebung folgend entschlossen zum Auto
zurück und holte so viele Taschen vom Rücksitz, wie sie tragen konnte, die sie
dann in Richtung der Haustür schleppte.
Vater Akio hatte mittlerweile die richtigen Schlüssel ausfindig gemacht, die
Haustür geöffnet und anschließend auch noch den Briefkasten. Fassungslos ging
er nun die Post durch, wobei er immer hektischer wurde.
"Schau mal, Yuuko, das kann doch gar nicht sein.", sagte er konsterniert, wobei
er seiner Frau einen Brief vor die Nase hielt, "Dieser hier hat einen
Poststempel von übernächster Woche!?! Ich glaube, da will uns jemand übel
mitspielen. Erst die Sache mit dem Auto und dann dies!"
Yuuko Ogino betrachtete den Brief eingehend und schüttelte leicht zweifelnd mit
dem Kopf.
"Ich glaube, du hast Recht, Schatz, aber wir sollten uns jetzt erst einmal um
unser Gepäck kümmern und nachsehen, ob die Umzugsfirma auch alle Möbel in die
richtigen Räume gebracht hat. Ich hatte sie zwar eingehend instruiert, aber man
weiß ja nie ... . Und dann müssen wir ja auch noch die ganzen Kleinteile
einräumen.", meinte sie, praktisch wie immer. Sich nach Chihiro umdrehend, um
sie aufzufordern mitzuhelfen, stellte sie verwundert fest, dass ihre Tochter
bereits direkt hinter ihr in der offenen Eingangstür stand, voll bepackt mit
Taschen. Normalerweise dachte Chihiro nicht besonders gut mit und tat auch sonst
nur wenig von alleine.
"Wo soll ich die hinbringen, Mama?", wollte sie wissen.
"Das ist ja lieb von dir.", lobte Yuuko Ogino ihre Tochter, "Stell die Taschen
einfach erstmal neben die Umzugskartons in den Flur."
Chihiro marschierte an ihr vorbei und stellte die Taschen ordentlich vor den in
der Mitte des Hausflurs sauber aufgereihten Kartons ab. Dabei fiel ihrer Mutter
ein violettes Glitzern in Chihiros Haaren auf.
"Chihiro, komm doch mal her.", sagte sie, neugierig geworden, und fragte dann,
als sie das Haarband entdeckte, welches ihren Pferdeschwanz zusammenhielt: "Das
ist aber hübsch, hmm. Wo hast du das denn her? Heute Morgen hattest du es doch
noch nicht, oder?".
"Ach das!", antwortete Chihiro fröhlich, "Das habe ich geschenkt bekommen, von
... von ... ?". Sie blickte ihre Mutter fragend aus großen Augen an und stellte
dann erstaunt fest: "Ich weiß es nicht mehr!".
Yuuko Ogino sah ihre Tochter kurz zweifelnd an, zuckte dann aber mit den
Achseln. Ihr Mann kam jetzt mit zwei schweren Koffern aus dem Auto herein und
sie machte sich daran, ihm zu helfen.
Nach einigen Stunden hatten sie in einer gemeinsamen Anstrengung die
wesentlichen Dinge erledigt, alle Kleidungsstücke, Bücher, das Geschirr und
auch Chihiros Spielsachen eingeräumt, die Bilder aufgehängt, die Betten
bezogen und sogar im ganzen Haus gesaugt und Staub gewischt, worüber sich Yuuko
Ogino furchtbar geärgert hatte, weil sie die Umzugsleute dafür verantwortlich
machte.
Wie konnte schließlich auf allen Möbeln Staub liegen, wenn diese erst am
Vormittag aufgestellt worden waren. Immerhin waren diese im wesentlichen in den
vorgesehenen Zimmern und mussten nur ein wenig zurecht gerückt werden. Sogar
der Fernseher war schon angeschlossen, funktionierte aber noch nicht, weil der
Kabelanschluss noch frei geschaltet werden musste.
Begeistert über die Größe des Hauses im Gegensatz zur Enge ihrer alten
Wohnung in Tokyo, tobte Chihiro barfuss durch die Räume und ihre Mutter ließ
sie entgegen ihrer sonstigen Einstellung gewähren, denn die Kleine hatte sich
wirklich Mühe gegeben und sich richtig Nützlich gemacht, insbesondere zum
Schluss beim Staubwischen.
Sie mochte ihre Tochter kaum wieder erkennen, so anders gab diese sich.
Besonders begeistert zeigte Chihiro sich über den Kabelanschluss in ihrem
eigenen Zimmer im ersten Stock, konnte sie dann doch irgendwann ihren eigenen
Fernseher haben, und über das zweite Badezimmer oben, dass sie dann morgens
ganz alleine nutzen würde können. Schließlich kehrte am frühen Abend etwas
Ruhe in die kleine Familie ein.
Vater Akio setze sich in das Wohnzimmer auf das neue Sofa, um endlich den Berg
an Post durchzusehen, und Mutter Yuuko ging in die Küche, um das Abendessen
vorzubereiten, denn inzwischen waren sie alle hungrig. Dort stellte sie mit
Erstaunen fest, dass alle frischen Lebensmittel, die sie aus Tokyo mitgebracht
hatte, schlecht oder verfault waren, und einfach nur Reis kochen wollte sie auch
nicht.
"Schatz, gibst du mir die Wagenschlüssel? Ich muss noch einmal einkaufen
gehen.", sagte sie zu ihrem Mann, der inzwischen mit krauser Stirn über den
Briefen brütete, "Ich glaube, ich hatte auf der Herfahrt in der Nähe einen
Konbini gesehen (-> www.japanlink.de/ll/ll_land_konbini.shtml)."
Dieser griff daraufhin ohne aufzusehen in seine Hosentasche, fingerte den
Schlüssel heraus und brummelte so etwas wie: "OK".
Nach gut einer halben Stunde kehrte sie dann zurück, bepackt mit Tüten voller
Lebensmittel, ging in die Küche und machte sich daran, das Abendessen zu
bereiten, freiwillig und voller Elan unterstützt von Chihiro, wie diese es
vorher noch nie getan hatte.
"Schatz!", rief sie, nachdem der Küchentisch gedeckt war, "Komm essen und hör
auf die Post zu wälzen. Es gibt Miso-Suppe und Sushi.".
Akio Ogino kam mit sorgenvoller Mine aus dem Wohnzimmer geschlichen und hielt
seiner Frau schweigend ein Schreiben hin. Sie nahm es ihm aus der Hand und las
es sorgfältig durch. Es stammte von seinem Arbeitgeber, einem großen
Architekturbüro, welches unter anderem die Planung für das Siedlungsprojekt
gemacht hatte, in dem sich auch ihr neues Haus befand, und enthielt eine
höfliche, aber unmissverständliche Aufforderung sich bis zum Freitag, den
01.09.2000 in seinem neuen Büro zu melden, da ansonsten mit fristloser
Entlassung zu rechnen sei, trotz der jahrelangen fruchtbaren Zusammenarbeit.
"Aber Akio, das kann doch alles nur ein böser Scherz sein.", versuchte Yuuko
ihn zu beruhigen, "Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir heute immer noch
Freitag, den 18. August haben. Komm wir gehen zu den Nachbarn rüber und fragen
diese, welches Datum wir heute haben. Vorhin im Konbini hatte ich leider nicht
daran gedacht. Dabei können wir uns ja auch gleich mit ihnen bekannt machen."
Chihiro konnte aus dem Küchenfenster sehen, wie ihre Eltern nach nebenan zu dem
gelb gestrichenen Haus gingen und anschellten. Nach einer kurzen Weile wurde die
Tür geöffnet, ihre Eltern verbeugten sich und unterhielten sich eine Weile mit
einer unsichtbaren Person.
Nach etwa zehn Minuten kehrten sie dann mit sichtlich bleichen Gesichtern
zurück und Chihiro sah kurz einen älteren Mann Mitte fünfzig aus der Tür
treten, der kopfschüttelnd ihren Eltern hinterher sah. Irgendetwas war nicht
in Ordnung, das konnte Chihiro spüren.
"Aber Herr Abe hat doch unmissverständlich gesagt, dass heute Samstag ist, der
zweite September!", hörte sie ihren Vater sagen, als ihre Eltern wieder zur
Tür herein kamen.
"Akio, wie soll das den sein?", entgegnete ihre Mutter, "Dann hätten wir für
die Herfahrt ja mehr als zwei Wochen gebraucht. Komm, wir essen jetzt erst
einmal und danach rufen wir meine Eltern mit dem Handy an. Es müsste ja
inzwischen wieder aufgeladen sein. Ich versteh sowieso nicht, wie der Akku so
schnell leer gehen konnte."
Schweigend aßen Chihiro und ihre Eltern, bevor diese sie dann mit dem Hinweis
auf ein ernstes Gespräch auf ihr Zimmer schickten. Sie hörte ihre Eltern
entgegen ihrer sonstigen Art noch eine Weile teilweise Laut miteinander
diskutieren, wobei sie sich äußerst unwohl fühlte, aufgrund der Spannung die
sie spürte, und weil sie nicht wusste, was nun eigentlich los war.
Heute sollte der zweite September sein, Samstag? Dann würde Montag ja bereits
das neue Schuljahr beginnen! Das wäre doch wirklich zu verrückt, dachte sie
bei sich, legte sich auf ihr Bett, betrachtete noch eine Weile ihr neues,
violett glitzerndes Haarband und versuchte sich zu erinnern, von wem sie es
bekommen hatte, bevor sie schließlich erschöpft in einen tiefen Schlaf mit
wirren Träumen über endlose Tunnel fiel.
Kapitel 4: Die Kohlengrube
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So, ihr Lieben, hier ist vorläufig schon mal das dritte Kapitel. Das muss ich
aber noch mal überarbeiten und für das vierte Kapitel muss ich mir noch ein
paar Charatere ausdenken, deshalb wird es wohl etwas ländger dauern. Viel Spass
beim lesen.
Die Kohlengrube
Haku wurde vom Läuten der Glocke in seiner Kammer aus seinen Gedanken gerissen.
Draußen war es jetzt mittlerweile fast ganz dunkel und er spürte die übliche
Betriebsamkeit, die sich nun im Badehaus erhob, hörte leise die Stimmen der
Frauen, wie sie an der Brücke die ersten Gäste willkommen hießen und roch den
Rauch aus dem Schornstein, den die kühle Abendbriese zu ihm herüber trug.
Diesmal ohne besondere Eile machte er sich auf den Weg in Yubabas Büro. Noch
einmal sah er zurück in seine kleine Kammer, die er nun schon seit nahezu fünf
Jahren bewohnte, die aber nichts persönliches von ihm enthielt. Wahrscheinlich
würde es das letzte mal sein, dass er diese Kammer sah, dachte er bei sich,
aber besonders wohl hatte er sich hier sowieso nie gefühlt, ständig unter
Abrufbereitschaft von Yubaba.
Er hatte noch überlegt, ob er sich bei Lin oder Kamaji verabschieden sollte,
aber wahrscheinlich war es das Beste, die Beiden nicht mit seinem Schicksal zu
belasten. Ohne jeden Besitz war er damals hierher gekommen und würde auch ohne
materiellen Besitz wieder von hier gehen, falls er irgendwann noch einmal gehen
konnte, denn das einzige, was er hier zu erwerben erhoffte, war zumindest eine
Einführung in die mächtige Magie, für die Yubaba in der Geisterwelt bekannt
und berüchtigt war.
Gold, Juwelen oder andere Reichtümer hatten ihn nie interessiert, denn als er
noch in seinem Fluss gelebt hatte, hatte er auch nichts besessen und etwas
Wertvolles hatte er darin auch nie gefunden. ... Außer Chihiro... Wie naiv und
töricht er gewesen war, Lehrling von Yubaba zu werden, denn sie hatte ihn und
seine Fähigkeiten als Drache nur ausgenutzt ohne jemals eine wirkliche
Gegenleistung dafür zu geben.
Kamaji hatte ihn damals gewarnt, aber in seinem kindlichen Ungestüm hatte er
nicht auf den alten Mann hören wollen, denn zu groß war noch der Schmerz über
den Verlust seiner Heimat gewesen und zu groß der Zorn auf die Menschen, die
dieses verursacht hatten und denen er es damals irgendwie heimzahlen wollte.
"Abärr wä soll ächn dänn mät dän beidä Jammärrgestaltän da dat Pänsum
schaffä?", hörte Haku eine tiefe, raue Stimme aus Yubabas Büro dröhnen, als
er sich der nur angelehnten Tür näherte. Große schwarze Fußabdrücke wahren
auf den prunkvollen Fliesen davor zu sehen, die ihm gehörten, Torooru, dem
Bergtroll.
"Mär fähläh mändästänz fönf Leutä, om dä Lohrä zo ziehä.", fuhr die
Stimme mit einem fordernden Unterton fort.
Haku hatte jetzt die Tür zu Yubabas Büro erreicht. Anstatt es jedoch zu
betreten, lauschte er noch eine Weile, um vielleicht etwas Nützliches zu
erfahren.
"Jetzt hör schon auf zu lamentieren!", hörte er Yubaba schimpfen, "Ich gebe
dir schon genug Leute, denn schließlich brauche ich ja die Kohlen für den
Heizkessel. Aber erst mal berichte mir, wieso dir schon wieder fünf Leute
fehlen. Außerdem habe ich dir schon tausendmal gesagt, dass du dir die Füße
waschen sollst, bevor du mein Büro betrittst. Hmpf, und ein Bad könnte auch
nicht schaden."
"Naja, also zwo sän vohn einär Lohrä zärquätscht wordän, einär wordä
vohn einäm Fälsän ärschlagän, einän hat 'nä Fälsanämonä gäschnapp,
wah kein schönä Anbläck, on einä äs einfach värräk. Hab ähn än dä
Grobä geschmässn.", hörte Haku den Troll Torooru mühsam seine Erklärung
krächzen, denn offensichtlich war Japanisch nicht seine Muttersprache, bevor er
dann brüllte: "On wänn säh wollä dat äch mär dä Füssä waschä, dann
sorggäh säh gäfällägs für gänug Wassa da unnäh".
Mit Grauen dachte Haku an die Grube, jenen finsteren Teil des Badehauses, an dem
mit dem Bergbau ursprünglich begonnen worden war und der jetzt Yubaba zur
Endlagerung ihrer Opfer diente. Die Falltür in ihrem Büro führte direkt
dorthin und durch einen speziellen Bannzauber wurden die Seelen der Ermordeten
dort unten fest gehalten, damit diese sich niemals jemandem bemerkbar machen
konnten und so keiner jemals Yubaba auf die Schliche kommen würde. Beinahe
hätten er, Chihiro und Boh dort unten auch ihr Leben beschlossen.
"Jaja, ist ja schon gut.", versuchte Yubaba den Troll zu beschwichtigen, "Ich
habe hier oben ohnehin einen Überschuss an Arbeitskräften. Du bekommst also
erst mal die beiden da und eine ganz spezielle Arbeitskraft, um die Loren zu
ziehen. ...Wo der Junge nur bleibt?"
Haku entschied, dass es nun an der Zeit sei, in das Büro zu gehen. Um nicht
allzu auffällig sofort nach Yubabas Bemerkung über seinem Verbleib den Raum zu
betreten, wartete er noch einen Moment.
Schließlich trat Haku ein und blieb wie üblich direkt neben der Tür stehen,
nachdem er diese leise und sorgfältig geschlossen hatte. Die Spur schwarzer
Fußspuren führte quer über den prächtigen Teppich hin zu Yubabas
Schreibtisch, die selbst von der mächtigen Gestalt Toroorus verdeckt wurde, der
diese Spuren Verursacht hatte und sich jetzt schwer auf dessen Kante stützte,
so dass die Holzplatte leicht knarzte.
Rechts daneben knieten zwei Froscharbeiter auf dem Bode und machten Kotau vor
der Hexe. Sie schlotterten sichtlich am ganzen Körper.
Der Troll Torooru selbst bot einen unglaublichen Anblick. Er war gut zwei Meter
groß und fast ebenso breit, hatte dabei aber fast lächerlich kurze Arme und
Beine, die jedoch mit enormen Muskelpaketen versehen waren. Da er nur so etwas
wie einen Lendenschurz trug, konnte man die vielen Narben sehen, die seine
gespensthelle Haut am ganzen Körper bedeckten, ebenso wie den Kohlenstaub, der
seine großen Füße fast schwarz machte. Sein haarloser Kopf wirkte auf den
übertrieben breiten Schultern winzig klein und der Geruch den er verströmte,
war einer genaueren Beschreibung nicht zugänglich.
"Du hast dir ja ganz schön Zeit gelassen, Haku.", bemerkte Yubaba scharfzüngig
wie immer, die irgendwie sein Betreten des Raumes bemerkt hatte und jetzt an
Torooru mit einem Auge vorbeilinste, "Das, Torooru, ist dein neuer
Lorenzieher!".
Schwerfällig drehte sich der Troll nach ihm um und glotzte ihn verständnislos
aus dumpfen, blutunterlaufenen Augen an.
"Säh machä säch wohl Wätzäg übäh mäch? Där Hänfling da, kann ja noch
nächt ma einä Lohrä ziehä!", brüllte der Troll los, wobei er sich wieder
bedrohlich in Richtung von Yubaba drehte.
"Nein, ich mache mich keineswegs lustig über dich.", antwortete Yubaba
erstaunlich ruhig, wenn man bedachte, wie der Troll mit ihr redete, "Du musst
nämlich eines wissen, Torooru, der Junge da, Haku, ist ein Drache! Er sollte
durchaus genug Krafthaben , um zehn Loren auf einmal zu ziehen. Los Haku, zeig
Torooru deine wahre Gestalt. Aber wehe, du reißt mir mit deinen Krallen wieder
ein Loch in den Teppich."
Haku tat ihr den Gefallen, trat ein paar Schritte in den Raum herein, um
genügend Platz zu haben und verwandelte sich in seine andere Gestalt eines fast
acht Meter langen weißen Drachen mit grüner Mähne und grünen Augen, aus
denen er Yubaba unverwandt anstarrte, während er mit der rechten Vorderklaue
absichtlich ein Stück aus dem wertvollen Teppich riss. Vielleicht würde sie ja
die Contenance verlieren und der ganzen Sache sofort ein Ende bereiten.
"Ein Drachä!?! Säh sän wohl wahnsännäg gäwohdä.", brüllte Torooru
erneut, diesmal jedoch nicht aus Unmut, sondern aus Erschrecken, denn
schließlich sah er sich hier einem Wesen gegenüber, dass ihm an Kraft
zumindest ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen war. Also sah er in Haku
sofort eine ernste Bedrohung seiner mühsam erarbeiteten Stellung im Bergwerk an
und sein tief sitzendes Misstrauen Yubaba gegenüber tat ein übriges.
"Wänn är ein Drachä äst, dann äst är auch ein Gott. Säh könnäa doch
keinä Gott än däh Grubäh schäckäh.", versuchte Torooru erfolglos zu
argumentieren, denn Yubaba fuhr ihm jetzt unwirsch über das Maul: "Was glaubst
du, was ich nicht alles kann. Er wird dort unten die Loren ziehen und wenn er
Ärger macht, verstößt er gegen seinen Arbeitsvertrag und ich kann andere
Maßnahmen ergreifen! Haku, du kannst dich jetzt zurückverwandeln. Und lass das
Stück vom Teppich hier."
Yubaba klatschte in ihre Hände und als sie sie wieder auseinander zog, hielt
sie ein Bündel aus Lederriemen, die mit eisernen Ringen zusammengehalten wurden
in den Händen, das sie Torooru zuwarf.
"Das hier ist ein Zuggeschirr für Haku, mit dem du ihn vor die Loren spannen
kannst.", sagte sie, griff in eine der Schubladen ihres Schreibtisches und
holte eine Art elastisches Halsband heraus, welches grünlich funkelte, "Und
dieses Halsband wird Haku tragen. Es verhindert, dass er irgendwelche Magie
seinen Körper verlässt, seine Fähigkeiten sich in einen Drachen zu verwandeln
und zu fliegen behindert es allerdings nicht. Nur diejenige Person, die es ihm
angelegt hat, kann es ihm auch wieder abnehmen. Wenn er selbst oder irgendeine
andere Person es versucht, wird es ihn töten.".
Sie warf es ebenso Toororu zu, wie das Zuggeschirr zuvor, der es erstaunlich
behändig mit seinen kurzen Armen auffing.
Torooru grinste jetzt hässlich aus seinem flachen Gesicht und stampfte zu Haku
herüber, der sich aus Trotz immer noch nicht zurückverwandelt hat, um ihm das
Halsband anzulegen. Die letzten Schritte wurde er vorsichtiger, weil Haku jetzt
die Zähne fletschte und leise Knurrte, als Torooru die kurzen Arme ausstreckte
und das Halsband direkt hinter seinen Ohren um den Hals schloss. In dem Moment,
als er den Verschluss zuschnappen ließ, leuchtete das Halsband kurz auf und
seine Farbe wechselte von Grün zu Blau.
"Bravärr Drachä.", sagte der Troll erleichtert und deutete an, Haku an der
Stirn streicheln zu wollen, was dieser jedoch durch ein nachdrücklicheres
Knurren unterband.
"Haku, was soll das denn? Du benimmst dich ja wie ein Straßenköter.",
schimpfte Yubaba über sein Verhalten. Das sah Haku ein und wechselte wieder in
seine menschliche Gestalt zurück, denn wenn sie ihm auch alles nahm, seine
Würde und Achtung vor sich selber würde sie ihm niemals nehmen können.
"Baba, wenn der hässliche Kerl da Haku etwas tut, mag ich dich nicht mehr.",
ertönte urplötzlich die helle Stimme Bohs, der leise die Tür zwischen
Kinderzimmer und Büro geöffnet hatte und jetzt den Türrahmen ausfüllte. Die
beiden Froscharbeiter sahen erstaunt auf und vergaßen für kurze Zeit ihre
Angst, während sie den Weg für das Riesenbaby frei machten, dass jetzt
unbeholfen in den Raum hinein tapste.
"Aber Baby, niemand hier krümmt Haku auch nur ein Haar, nicht wahr Haku?",
versuchte Yubaba ihren Sohn zu beruhigen, "Komm, wir gehen jetzt wieder in dein
Zimmer und üben ein wenig laufen. Dutzidutzidutzidu...". Sie eilte um ihrem
Schreibtisch herum und nahm Boh bei der Hand, um ihn wieder nach Nebenan zu
befördern. Der jedoch ließ sich nicht beirren und blickte zu Haku, auf eine
Bestätigung von ihm wartend, während Yubaba versuchte ihn wegzuziehen.
Haku überlegte kurz, ob er die Situation ausnutzen und Boh gegen seine Mutter
ausspielen sollte, kam dann jedoch zu dem Schluss, dass er damit weder Boh noch
sich einen Gefallen tun würde, denn Yubabas Rache würde später bestimmt noch
fürchterlicher ausfallen, als das was ihn jetzt erwartete. Sie hatte da so ihre
Methoden, dass wusste er jetzt.
"Nein Boh, du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Mir passiert schon
nichts.", log er deshalb, nickte dem Baby aufmunternd zu und zwang sich zu
Lächeln.
Leicht zweifelnd ließ sich dieser daraufhin von seiner Mutter abführen und man
konnte hören, wie sie ihn nebenan hätschelte. "So ich denke, wir haben alles
soweit besprochen.", sagte sie kurz darauf, indem sie noch einmal ihren Kopf
durch die Tür steckte, "Ihr solltet jetzt gehen, während ich mich um mein Baby
kümmere." Damit verschwand ihr Kopf wieder und die Tür fiel hinter ihr ins
Schloss.
"Na los, ähr drei.", polterte der Troll daraufhin los, "Raos här. Los, los
los, bäeilt äuch.". Er begann Haku und die beiden Froschmänner vor sich her
zu schubsen, aus dem Büro heraus durch die Tür, den langen Flur entlang, der
auf der einen Seite von riesigen chinesischen Vasen gesäumt wurde, bis zu einer
Tür am anderen Ende, durch die Haku bisher noch nicht gegangen war.
Dahinter verbarg sich eine schmucklose Kammer, in der ein weiterer Aufzug
endete, der eher zur Lasten- als zur Personenbeförderung gedacht war und dessen
Boden von schwarzen Kohlenstaub bedeckt war. Dort hinein wurden sie von Torooru
getrieben, der dann den Aufzug ebenfalls betrat und den Hebel betätigte.
Mit ungeheurer Geschwindigkeit begann der Aufzug sich jetzt nach unten zu senken
und Haku spürte, wie durch die Ritzen warme Luft nach innen strömte. Trotzdem
dauerte es schier endlos lange, bis sie schließlich unten ankamen. Die Luft,
die ihnen dann entgegenschlug, als sich die Aufzugtüren dort öffneten, war
unglaublich heiß und stickig, so dass es ihnen fast den Atem raubte.
"Los, raus här! Äch habä näch äwäg Zeit.", schnauzte er sie an, nachdem er
als erster den Aufzug verlassen und einen Holzknüppel in die Hand genommen
hatte, der an der Wand gelehnt hatte. Dabei schwang er den Knüppel bedrohlich.
Sie befanden sich nun in einer Art Kaverne von vielleicht 20m Durchmesser und
zehn Metern Höhe.
An der einen Seite endete der Aufzug, dem gegenüber ein Durchgang in eine
weitere Höhle zu sein schien und rechts führten Schienen, auf denen ein kurzer
Zug aus fünf Loren stand, leicht bergab in einen mit Holzbalken abgestützten
Tunnel. Diese Schienen führten direkt bis vor den Aufzug, so dass die Loren
direkt dort hinein entleert werden konnten.
Erleuchtet wurde die Kaverne von einem dutzend Glühbirnen, deren Licht jedoch
vom allgegenwärtigen Kohlenstaub so weit verschluckt wurde, dass man alles nur
schemenhaft erkennen konnte. An der Decke der Kaverne waren mehrere Öffnungen
mit Ventilatoren, die für die Lüftung sorgten.
Haku und die beiden Froscharbeiter mussten nun in den drei vorderen Loren platz
nehmen, während Torooru zwei Kanister in die vierte Lore hob, danach den Zug
anschob, sich in den letzten Wagen wuchtete und den Bremshebel in die Hand nahm.
In rasender Fahrt schossen sie dann durch den nur sporadisch von Lampen
erhellten Tunnel, vorbei an vielen Abzweigungen mit Weichen, wobei sie ständig
aufpassen mussten, dass ihre Köpfe an keinen der Balken der Abstützung
stießen..
Die Luft wurde immer noch heißer, je tiefer sie kamen, bis sie am Schluss nach
Hakus Schätzung um die 50°C liegen musste.
Die Schienenstrecke endete in einer Aufweitung des Tunnels, wo sie sich noch
einmal verzweigte und in zwei Strängen parallel führten, die kurz darauf mit
jeweils einem Endpuffer abschlossen. Ihr kurzer Zug rollte mit quietschenden
Bremsen auf den einen Strang, während auf dem anderen weitere fünf Loren
gefüllt bereitstanden, um zum Aufzug hinauf geschleppt zu werden.
Zu jeder der fünf Loren hatte man ein Brett gelegt, so dass eine kleine Armee
von Rußmännchen die Kohlenbrocken hinaufschleppen und hineinwerfen konnten.
Irgendwo in der Nähe hörte man, wie mehrere Leute wahrscheinlich mit
Spitzhacken die Kohle aus dem Berg schlugen, während sie sich dabei laut
unterhielten.
"Los, aossteigä!", befahl der Troll, der bereits aus seiner Lore gesprungen war
und jetzt die Kanister aus der einen Lore heraushievte. Haku und die
Froschmänner, die von der holperigen Fahrt noch ganz wackelig auf den Beinen
waren, taten wie geheißen.
"Ähr da häntän, komm ma einä rübä.", brüllte Torooru in Richtung einer
kaum zu erkennenden Öffnung in der Tunnelwand, wo das Kohlenflöz offenbar
schräg nach oben abzweigte, "Äch habä Wassä mätgäbracht!"
Kurz darauf sah Haku, wie ein Licht die Öffnung erhellte und zwei ziemlich
erschöpfte und schmutzige Froschmänner mit jeweils einer Grubenlampe
heraustraten.
Sie blieben erstaunt stehen und glotzten Haku ungläubig an. "Meister Haku, was
machen sie den hier unten?", wollte einer von ihnen spontan wissen, aber Torooru
fuhr dazwischen: "Meistä Hako, dat äch näch lachä. Där wärd jätz här dä
Lorä zähä! Gäbt dän beidä här Spätzhackä on Lampä on zeigt ähnä wat
säh ton sollä. Om Hako kümmäh äch mäch selbä. On nähmt dä Kanistä
mät!"
Die beiden blickten sich kurz fragend an und winkten dann ihre neunen
Leidensgenossen zu sich, die jeweils einen der Wasserkanister mühsam
schleppten, die der Troll zuvor spielerisch aus der Lore gehoben hatte.
"So, on jätz zo där. Värwandlä däch än einä Drachä, damät äch där dat
Gäschärr anlägä kann.", kommandierte Torooru, wobei er seinen Knüppel
sorgfältig an die Tunnelwand lehnte und zur Sicherheit eine Spitzhacke ergriff,
die dort bereit stand. Haku blieb letztendlich keine andere Wahl und nachdem er
sich verwandelt hatte, begann der Troll ihm etwas ungeschickt und ziemlich grob
das Geschirr anzulegen, wobei er die Riemen fester als notwendig zuzog.
Danach hakte er zwei Seile an dem Zuggeschirr fest und die anderen Enden an der
ersten Lore, bevor er den Schienen entlang voraus den Tunnel bergauf stapfte.
"Dann zeig ma wat do kanns. On wänn do Ärgäh machs, dann ...", sagte er und
fuchtelte zur Unterstreichung seiner Drohung mit der Spitzhacke hin und her, die
in seinen riesigen Pranken wie ein Spielzeug aussah. Haku erhob sich in die Luft
und begann zu ziehen.
Zu seiner Erleichterung setzte sich der Zug aus fünf voll beladenen Loren
problemlos in Bewegung, aber nach einigen Metern begann es bergauf zu gehen und
von da an rührte sich nichts mehr.
"Hähähä, dat wah ja wohl nächts.", machte sich der Troll über ihn lustig,
"Da mostä däch wohl 'n bässchä mäh ansträngä. Wä wärs wänn do dä
Beinä bänotzä tätäst, hähähä."
Haku stemmte daraufhin seine Klauen auf den Boden, fand Halt an den
Gleisschwellen und die Loren setzten sich abermals mühsam in Bewegung. Langsam,
Schritt für Schritt unter Aufbietung all seiner Kraft zog er den Zug den Tunnel
hinauf, immer einige Meter hinter dem Troll her, der ihn weiterhin abwechselnd
verhöhnte und mit der Spitzhacke bedrohte.
Als sie schließlich nach fast einer Stunde oben am Aufzug angelangt waren, war
Haku kurz vor dem Zusammenbrechen aufgrund der Anstrengung in der großen Hitze
und des enormen Durstes, den er mittlerweile hatte. Dann eröffnete ihm der
Troll hämisch, dass dies erst die erste von fünf Fuhren gewesen war, die für
den heutigen Tag vorgesehen waren und Haku verfluchte ihn und Yubaba im Geiste.
Kapitel 5: Eine neue Schule
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So, hier habe ich das neue Kapitel. Ich hoffe es war schnell genug und gefällt
euch ebenfalls.
Eine neue Schule
"Chihiro, Chihiro, jetzt wach doch endlich auf.", drang undeutlich die Stimme
ihrer Mutter in ihr Bewusstsein und dann spürte sie, wie jemand sie vorsichtig
rüttelte. Mühsam öffnete sie erst ein Auge und dann das andere, bevor sie
dann langsam die Füße ihrer Mutter fokussierte.
Sie hing irgendwie mit dem Kopf von der Bettkante und ein vertrautes Ziehen im
Nacken verhieß nichts Gutes für den neuen Tag. Schließlich versuchte sie sich
umzudrehen, was ihr aber erst im zweiten Versuch gelang, da beim ersten mal ihre
Nackenmuskulatur rebellierte und sie ihren Kopf mit der Hand stützen musste.
Unwillkürlich beschlich sie der Gedanke, dass sie lieber in einem Futon auf dem
Boden schlafen würde, als in einem Bett westlicher Art, denn da konnte ihr so
etwas nicht passieren.
"Uuuuh. Guten Morgen, Mama.", begrüßte sie ihre Mutter, die nachdenklich zu
ihr herabsah.
"Guten Morgen, hm? Kleines, wir haben schon nach 11 Uhr und außerdem hast du in
deinen Kleidern geschlafen. Na komm, geh dich jetzt waschen und zieh dir etwas
neues an. Ich habe unten noch Frühstück für dich.", meinte diese, drehte sich
um und ging aus dem Zimmer.
Ächzend richtete sie sich auf und bemerkte erst jetzt, wie zerschlagen sie sich
tatsächlich fühlte und wie trocken ihr Mund war. Als sie dann endlich
aufstand, fühlte sie sich ganz schwach und elend, bis ihr endlich bewusst
wurde, warum sie sich abgesehen von ihren Nackenschmerzen so mies fühlte.
Sie hatte Hunger, einfach nur enormen Hunger, als ob sie gestern Abend nichts
gegessen hätte, nein als ob sie den ganzen letzten Tag nichts gegessen hätte.
Und Durst hatte sie auch, aber hauptsächlich Hunger.
Schnell stand sie deshalb auf, machte im Badezimmer gegenüber ihres Zimmers
eine Art Katzenwäsche, entledigte sich ihrer Sachen und schlüpfte rasch in die
neuen, die ihre Mutter ihr schon bereit gelegt hatte. Danach stürmte sie die
Treppe hinab in die Küche und machte sich eifrig über den Teller Müsli her,
der dort bereitstand.
In Windeseile hatte sie den Inhalt des Tellers in sich hinein geschaufelt und
das Glas Orangensaft auf ex geleert. Fassungslos beobachte Yuuko Ogino, die
bereits das Mittagessen vorbereitete, wie ihre kleine dünne Tochter dann noch
zwei weitere Teller leerte, ein paar Reisbälle verschlang, noch ein Glas
Orangensaft und ein Glas mit Milch herunterkippte, bevor sie schließlich
zufrieden eine Banane mampfte.
"Puh, Mama, da hab ich aber Hunger gehabt.", kommentierte Chihiro ihren Appetit,
jetzt pappsatt, und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.
"Das kann man wohl sagen, Kleines. Ich habe dich ja noch nie so viel auf einmal
essen sehen.", meinte ihre Mutter, "Komm, möchtest du mir bei Mittagessen
helfen? Gestern beim Abendessen hast du das ja prima gemacht!".
"Ok, Mama!", ging sie fröhlich auf das Angebot ihrer Mutter ein, "Was gibt es
denn?".
"Es gibt Curryreis.", antwortete diese lächelnd und erklärte dann weiter:
"Pass auf, wir müssen zuerst das Fleisch klein schneiden, mit Zwiebeln anbraten
und dann Wasser und die Möhren hinzugeben. Du kannst ja die Möhren schon mal
klein schneiden, während ich das Fleisch klein schneide.". (Rezept hier:
http://www.japanlink.de/ll/ll_kost_karee.shtml)
Geduldig und leicht verwundert über die ungewohnte Wissbegier Chihiros, zeigte
Yuuko Ogino bereitwillig , was alles getan werden musste, um das Essen
zuzubereiten.
Als dann nach einer Stunde endlich das Mittagessen auf dem Tisch stand, hatte
Chihiro schon wieder richtigen Hunger, so dass sie zwei Portionen verdrückte
und eine Schale mit Miso Suppe, wo sie ansonsten Probleme hatte, auch nur einmal
den Teller zu leeren. Zusätzlich aß sie auch noch zwei weitere Bananen als
Nachtisch. Dabei war sie so sehr mit dem Essen beschäftigt, dass ihr völlig
entging, wie ihr sonst so essfreudiger Vater mit sorgenvoller Mine in seinem
Curryreis nur lustlos herumstocherte.
Hinterher half sie ihrer Mutter noch beim Abwasch, worüber diese sich sehr
freute, bevor sie auf ihr Zimmer ging, um das Buch weiter zu lesen, mit dem sie
vor dem Umzug begonnen hatte: Harry Potter und die Kammer des Schreckens.
Sie platzierte sie ihren großen Plüsch-Totoro am Kopfende ihres Bettes, um
sich beim Lesen dagegen zu lehnen. Als sie sich dann auf das Bett setzte, das
Buch in ihrer Hand, fand sie dann das violette Haarband, an dessen Herkunft sie
sich partout nicht erinnern konnte. Sie hatte jedoch das Gefühl, dass es
wichtig währe, es zu tragen, weshalb sie sofort das Haarband ersetzte, mit
welchem sie vorhin im Badezimmer ihren Pferdeschwanz gebunden hatte, und begann
zu lesen.
Es war sehr still im Haus, so dass sie leise den Gesang der Vögel draußen
durch das geschlossene Fenster ihres Zimmers hören konnte. Ab und zu fuhr auch
einmal ein Auto vorbei und mehrfach drangen die hellen Stimmen von Kindern
herein, die im Freien herumtollten und spielten. Das Licht der Sonne zeichnete
ein helles Viereck auf den Boden, welches langsam, Zentimeter für Zentimeter in
Richtung ihres Bettes kroch, den Bettkasten hinauf wanderte, über die Bettdecke
schlich, bis es schließlich Chihiro und ihr Buch erreichte.
Harry, Ron und Hermine waren gerade dabei den Vielsaft Trank auf der Toilette
der Maulenden Myrte fertig zu brauen, als es Chihiro nun doch entschieden zu
warm wurde, da sie zusätzlich zu der stickigen Luft in ihrem Zimmer auch noch
direkt von der Sonne beschienen wurde.
Deshalb stand sie auf, um ein wenig frische Luft herein zu lassen, und die
Vorhänge zuziehen, damit die Sonne nicht mehr auf das Bett schien, so dass sie
ungestört weiter lesen konnte, denn sie wollte jetzt unbedingt wissen, ob
Malfoy nun etwas mit der Sache zu tun hatte, oder nicht.
Als sie nun am Fenster stand und hinausblickte, war das Buch jedoch schnell
vergessen, zu schön war einfach der Tag. Die Wiese auf dem Hang vor ihrem Haus
lag hell im Sonnenlicht und der Wald, der rechts an ihr Haus grenzte, warf
bereits längere Schatten.
Chihiro riss das Fenster auf, lehnte sich hinaus, blickte in alle Richtungen hin
und her und sog die würzige Luft des nahen Waldes in ihre Lungen. Unten am
Forstweg, auf dem sie sich gestern verfahren hatten und in den Wald gefahren
waren, erblickte sie den knorrigen alten Baum, an dessen Wurzeln die kleinen
Steinhäuser der Kami standen, wie ihre Mutter ihr knapp erklärt hatte.
War es wirklich erst gestern gewesen, dachte sie bei sich, denn es kam ihr
eigentlich viel länger vor. Aber egal, sie wollte sich die Sache einmal genauer
ansehen. Und danach würde sie ein wenig die Gegend erkunden, denn sie hatte
jetzt auf einmal richtig Lust nach draußen zu gehen, was ihr nie passiert war,
als sie noch in Tokyo gewohnt hatten. Dort war es immer laut und hektisch
gewesen und sie war froh gewesen, wenn sie ihre Ruhe hatte, oder mit Risa
spielen konnte.
"Mama, ich gehe mal ein bisschen nach draußen.", meldete sie sich bei ihrer
Mutter ab, die im Wohnzimmer saß, ebenfalls ein Buch lesend, und fragte dann
noch, weil sie schon wieder etwas Hunger verspürte: "Darf ich mir noch eine
Banane nehmen?".
"Ist OK, Kleines.", antwortete diese ohne aufzusehen, "Und komm bitte nach
Hause, wenn es dunkel wird, wir haben schon kurz nach 4 Uhr. Denk daran, morgen
beginnt die Schule.".
"Danke, Mama.", sagte Chihiro, rannte in die Küche, um sich die Banane zu
holen, bevor sie dann ihre gelben Schuhe anzog, zur Haustür hinaus stürmte,
den Abhang hinab lief und dann erschöpft vor den kleinen Steinhäusern
unterhalb des alten Shinto-Tores zu stehen kam.
Während sie ihre Banane aß, betrachtete sie nachdenklich die Steinhäuschen
und stellte sich vor, was das wohl für Wesen sein mochten, die darin wohnten.
In eines der Häuschen hatte jemand einen Teller mit Essen und eine Schale mit
Sake gestellt, wohl als Opfer für die Kami, aber offensichtlich hatten sich
irgendwelche Kleintiere bereits daran Gütlich getan, Vogel oder Mäuse oder so
etwas.
Als sie mit der Banane fertig war, wandte sie sich nach links und sah in den
Wald hinein, den Weg entlang, den sie Gestern gefahren waren. Der wirkte schon
etwas dämmerig, denn die Sonne stand nicht mehr sehr hoch am Himmel. Trotzdem
war die Stimmung ruhig und heiter, so dass sie neugierig begann, den Weg ein
wenig in den Wald zu folgen.
Gut hundert Meter weiter hörten die Büsche auf, die links den Weg säumten und
gaben den Blick weiter den Abhang hinunter frei, bis auf die Talsohle, wo munter
ein kleiner Bach plätscherte. An einer Biegung des Baches konnte sie in einiger
Entfernung eine Gestalt bewegungslos hocken sehen, die offensichtlich
interessiert etwas im Wasser beobachtete.
Vorsichtig machte sich Chihiro den Abhang hinunter zu der Gestalt, um
herauszufinden, was es dort so interessantes zusehen gab. Näher kommend
erkannte sie schließlich, dass es sich um ein Mädchen mit Zöpfen handelte,
welches das Trikot der japanischen Fußball-Nationalmannschaft trug und dazu
passende Puma Fußballschuhe.
Vorsichtig kam Chihiro näher, jedoch konnte sie nicht vermeiden, dass das Laub
raschelte und sie auf einen darunter verborgenen Zweig trat, der laut krachend
zerbrach. Überrascht drehte das Mädchen sich um, legte ihren rechten
Zeigefinger über die Lippen und machte mit ernster Mine: "Schschscht.", bevor
sie sich wieder dem Geschehen im Bach zuwandte.
So leise, wie es eben ging, hockte sich Chihiro neben das Mädchen an das Ufer
des Baches und beobachtete ebenfalls. Das Wasser war kristallklar, so dass man
problemlos bis zum Grund des kleinen Gewässer sehen konnte.
Kurz hinter der Biegung hatte sich in der flotten Strömung des kleinen
Gewässers eine ruhige Zone gebildet, in der diese fast ganz zum Stillstand kam.
Wasserläufer huschten dort geschäftig auf der Oberfläche des Baches hin und
her, kleine Insekten, die so leicht waren, dass die Oberflächenspannkraft des
Wassers sie trug.
Auf dem Grund konnte man kleine und größere Steine liegen sehen und einige
Wasserpflanzen hatten dort ihre Wurzeln geschlagen und wiegten sich leicht in
der Strömung. Mehrere Minuten lang geschah gar nichts und Chihiro blickte
mehrmals fragend zu dem anderen Mädchen, welches sich jedoch nicht beirren
ließ und konzentriert einen Punkt im Wasser fixierte.
Dann plötzlich tauchte unter einem der Steine ein Fisch auf, der sich langsam
und vorsichtig in Richtung der Oberfläche des Wassers manövrierte, wo er dann
regungslos verharrte, rhythmisch Wasser durch seine Kiemen pumpend. Als dann
irgendwann einer der Wasserläufer in seine Nähe kam, schnappte er urplötzlich
zu und verschlang das Insekt.
"Da, hast du das gesehen?", fragte das Mädchen, zeigte auf die Stelle des
Geschehens und blickte Chihiro forsch an.
Der Fisch machte ein pass schnelle Schläge mit seinen Flossen und verschwand
als er die Bewegung wahrnahm und die laute Stimme des Mädchens hörte,
schwuppdiwupp, wieder unter seinem Stein.
Chihiro nickte. "Weißt du, als du vorhin auf den Ast getreten bist, war es
schon fast soweit gewesen, aber dann hat's geknackt und der Fisch ist
verschwunden. Ach übrigens, mein Name ist Ayaka.", sagte das Mädchen.
"Mein Name ist Chihiro. Entschuldige bitte, wenn ich dich gestört habe. Wenn du
willst, geh ich wieder.", sage diese und stand auf.
"Nein, Nein. Bleib nur.", entgegnete Ayaka hastig, "Ich hatte mich sowieso
gelangweilt. Sag mal, warum trägst du denn die Bananenschale mit dir herum?".
"Na, wo soll ich die denn hintun?", meinte Chihiro und blickte auf die Schale,
die sie in ihrer rechten Hand hielt, "Hier gibt es doch keinen Abfalleimer.".
"Ach Unsinn. Wirf sie doch einfach in den Bach, der spült sie dann weg.",
schlug Ayaka vor und stand ebenfalls auf, "Die verrottet doch sowieso.".
"Nein, das kann ich nicht tun!", verneinte Chihiro energisch, schüttelte den
Kopf und begründete dies im Brustton der Überzeugung: "Wenn das jeder macht,
dann wird der Geist des Baches bald ganz traurig und stinkt!"
Daraufhin stutzte sie und glotzte verdutzt noch einmal auf die Bananeschale, als
ihr bewusst wurde, was sie da gerade gesagt hatte. Huch, wo war das denn
hergekommen, dachte sie verwundert.
"Na, wenn du meinst.", zweifelte Ayaka leicht, "Dann müssen wir sie eben in die
Mülltonne werfen. Dann kommt sie auf eine Mülldeponie und verfault eben da!
Komm ich weiß, wo eine ist.".
Sie machte sich daran den Abhang zum Weg hinauf zu stapfen und drehte sich auf
halbem Wege nach oben nach der konsternierten Chihiro um: "Na komm, äh,
Chihiro.".
Da es ohnehin langsam immer düsterer wurde im Wald und Chihiro neugierig auf
das größere Mädchen war, folgte sie ihr. Gemeinsam gingen sie dann langsam
den Weg aus dem Wald zurück.
"Wohnst du schon lange hier?", wollte Chihiro wissen.
"Nein, wir sind erst letzte Woche hierher gezogen.", antwortete Ayaka, "Außer
dir, hab ich noch niemand kennen gelernt. Und du?".
"Wir sind erst gestern eingezogen.", sagte Chihiro, "Sag mal, fängt morgen
wirklich die Schule an?".
"Na du machst mir ja vielleicht Scherze.", entfuhr es Ayaka, "Natürlich fängt
morgen die Schule wieder an. Was hast du denn gedacht?".
"Naja ... , ach ist ja auch egal.", erwiderte Chihiro und schämte sich wegen
der dummen Frage ein wenig, "In welche Klasse kommst du?".
"In die fünfte.", sagte Ayaka, "Und du?".
"Ich auch.", bestätigte Chihiro.
"Was du auch? Ich hätte dich für jünger gehalten.", entgegnete Ayaka
überrascht, "So klein wie du bist. Oh, entschuldige, ich wollte dich nicht
beleidigen.".
"Macht ja nichts. Ich bin immer schon die kleinste gewesen, auch auf meiner
alten Schule.", beruhigte sie das andere Mädchen und sah diese aufmunternd an,
"Vielleicht kommen wir ja in die gleiche Klasse.".
"Ja, ich glaube das währe toll.", stimmte Ayaka ihr zu.
Sie hatten jetzt den Wald verlassen und an den Steinhäuschen vorbei den
asphaltierten Teil des Weges erreicht. Die Sonne stand jetzt schon sehr tief, so
dass die Schatten der Bäume des Waldes fast die ganze Länge der Strasse
bedeckten. Der wolkenlose Himmel hatte eine stahlblaue Färbung angenommen und
es wurde bereits deutlich kühler.
"Das da vorne ist mein Haus.". Ayaka zeigte auf das Gebäude, welches direkt
gegenüber der Einmündung ihrer Strasse auf der Querstrasse stand. Es war ein
dreigeschossiges Mehrfamilienhaus mit gelbem Anstrich und einem dunkelbraunem
Walmdach, wie ihr mal ihr Vater erklärt hatte, vielleicht noch hundert Meter
voraus.
"Mein Haus ist das da oben am Waldrand." Chihiro zeigte auf das entsprechende,
blau angestrichene Einfamilienhaus.
"Das ist ja großartig. Da wohnen wir ja nur ein paar hundert Meter
auseinander.", freute sich Ayaka, rannte die letzen paar Meter über die Strasse
und öffnete die Mülltonne, "Hier kannst du deine Bananenschale rein werfen!"
"So, und was machen wir jetzt?"; wollte Chihiro wissen, nachdem sie ihre
Bananenschale ordnungsgemäß entsorgt hatte.
"Hast du schon mal Fußball gespielt?", schlug Ayaka vor. Chihiro schüttelte
den Kopf.
"Ok, ich geh mal eben den Ball holen." Sie stürmte ins Haus und verschwand für
einige Momente, bis sie dann mit einem Ball mit der Aufdruck "WM Japan/Korea
2002" und einem Stück Kreide wieder auftauchte. Sie gingen gegenüber auf eines
der Terrassenartig angelegten aber noch unbebauten Grundstücke, die von
Betonumrandungen umgeben waren. Dort zeichnete Ayaka ein Rechteck an eine der
Betonwände, welches bis zum Boden reichte.
"So, pass auf. Das hier ist das Tor. Da muss der Ball hineingespielt werden.",
erklärte sie der gespannt zuhörenden Chihiro, "Den Ball darfst du mit dem
ganzen Körper berühren, außer mit den Händen, am besten aber mit den
Füßen. Deshalb heißt das Spiel ja auch Fußball. Das Ziel ist es, den Ball in
das Tor zu befördern. Also du bist jetzt der Angreifer und versuchst den Ball
in das Tor zu befördern. Und ich bin der Verteidiger und verhindere das."
Sie legte den Ball Chihiro vor die Füße und baute sich zwischen dieser und dem
Tor auf. Eine Weile lang versuchte Chihiro den Ball vergeblich an Ayaka vorbei
zu bekommen, aber diese war einfach viel größer, schneller und geschickter.
Danach versuchten sie es mit umgekehrten Rollen, Chihiro als Verteidigerin und
Ayaka als Angreiferin. Diesmal spielte Ayaka den Ball immer wieder um Chihiro
herum, als wäre diese gar nicht vorhanden und erzielte Tor um Tor.
"Ich glaube, so hat das keinen Zweck.", stellte Ayaka schließlich fest.
"Entschuldige, aber ich kann das einfach nicht besser.", meinte Chihiro, die
sich bereits völlig erschöpft und elend vor lauter Hunger fühlte, den sie
schon wieder hatte.
"Nein, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Weißt du, in meiner alten
Schule war ich Stürmerin in der Mädchen-Schulmannschaft. Da ist das nicht
allzu fair, wenn du das noch nie gespielt hast. Ich hoffe nur, dass die neue
Schule auch eine Fußballmannschaft hat.", erzählte Ayaka, "Pass auf, wir
machen noch einen letzten Versuch. Wir spielen Elfmeter. Ich bin der Torwart und
du musst versuchen, den Ball direkt ins Tor zu schießen.".
Sie legte den Ball etwa vier Meter vor das Tor auf den Boden und Chihiro
versuchte ihr bestes, den Ball an Ayaka vorbei hinein zu schießen. Aber auch
als sie den Abstand auf drei Meter verringerten, gelang es Chihiro nur einmal,
den Ball ins Tor zu schießen und das auch nur, weil Ayaka insgeheim den Ball
einfach durchgelassen hatte, um Chihiro ein Erfolgserlebnis zu geben.
"Puh, Ayaka. Es wird ja schon dunkel. Ich muss nach Hause gehen.", stellte
Chihiro schließlich fest, denn die Sonne war bereits hinter dem Wald
verschwunden und der Westhimmel war in ein fantastisches Abendrot getaucht.
Zusammen gingen sie zur Strasse zurück.
"Schade, dass du schon gehen musst. Vielleicht sehen wir uns ja morgen in der
Schule. Sayonara, Chihiro.", verabschiedete sich Ayaka.
"Sayonara, Ayaka. Es war schön, dich kennen zu lernen.", sagte Chihiro,
lächelte und wandte sich zum gehen.
Mit zittrigen Beinen schlich sie die Strasse hinauf, bis zu der Abzweigung, an
der es zu ihrem Haus ging, sah sich noch einmal nach Ayaka um, die aber bereits
verschwunden war und ging dann das letzte Stück bist nach Hause. Ihr war dabei
schon ganz schwindelig vor Hunger.
Beim Abendessen verschlang sie eine dreifache Portion, was diesmal sogar ihr
Vater bemerkte und vor dem zu Bett gehen verdrückte sie auch noch die letzten
drei Bananen, bis sie dann nach dem abendlichen Bad wie ein Stein einschlief.
Am nächsten Morgen gegen halb sechs, wachte Chihiro gepeinigt von bohrendem
Hunger wieder auf. Draußen hatte bereits die Dämmerung begonnen und die ersten
Vögel zwitscherten bereits. Leise schlich sie in ihrer Not in die Küche,
durchsuchte den Kühlschrank und fand schließlich eine Kilogramm-Packung rohen
Tofu, die sie gierig in sich hineinstopfte, bevor sie schuldbewusst wieder
zurück in ihr Bett ging.
Wie hatte sie bloß rohen Tofu essen können, der schmeckt doch eigentlich nach
gar nichts, dachte sie leicht angeekelt. Um sechs Uhr schellte der Wecker ihrer
Eltern und nach einer geraumen Weile Rumorens, hörte sie, wie ihr Vater mit dem
Audi wegfuhr.
Kurz nach Sieben öffnete sich die Tür ihres Zimmers und ihre Mutter schaute
herein. "Guten Morgen Kleines, du bist ja schon wach.", stellte sie fest, "Um
halb neun müssen wir an der Schule sein. Ich kann dich nicht mit dem Auto
hinbringen und wir müssen laufen, also beeil dich."
"Guten Morgen Mama, ich freu mich schon auf die neue Schule.", erwiderte Chihiro
und hoffte insgeheim, dass sie Ayaka wieder sehen würde.
"Auf einmal? Vorgestern wolltest du sie noch dem Erdboden gleich machen.",
bemerkte Yuuko Ogino erfreut und lächelte, "Na dann komm, unten habe ich
Frühstück für dich."
Schnell machte Chihiro sich fertig, wusch sich, putzte die Zähne, band sich
ihren Pony mit dem violetten Haarband zusammen, zog sich neue Sachen an, packte
ihren Schulranzen, so weit es ging, denn Bücher für die neue Schule hatte sie
noch keine, und kam dann in die Küche zum Frühstücken.
Ihr Appetit war diesmal nicht ganz so überwältigend wie am Vortag, denn das
Kilo Tofu, das sie gegessen hatte, dämpfte ihn leicht, aber trotzdem vertilgte
sie wieder zwei Teller Müsli und zwei Gläser Milch. Bananen gab es keine
mehr.
Sie machte sich dann gegen Acht Uhr auf den Weg zu Schule, die den Hang hinab an
der Route 21 gut einen Kilometer entfernt lag, wo sie dann gegen zwanzig nach
Acht angelangten.
Die Schule war ein rosafarbenes Gebäude, mit grossen Fenstern zur Strasse
hinaus, wirkte jedoch von der anderen Seite, vom Schulhof aus viel freundlicher.
Anhand des Stromes von Schülern und Eltern war die Schulaula, wo um halb Neun
die morgendliche Schulversammlung beginnen würde, leicht zu finden.
Chihiro suchte sich einen Platz unter den hunderten von Leuten und ihre Mutter
verabschiedete sich von ihr und ließ sie alleine, mit dem Hinweis, dass sie
alle Formalitäten ihrer Ummeldung bereits am Anfang der Freien erledigt hatte
und sie jetzt Einkaufen gehen wolle.
Ayaka konnte Chihiro zunächst nirgendwo ausmachen.
Pünktlich begann der Schuldirektor, Herr Sasaki, ein kleiner und grauhaariger
Mann ohne besondere Eigenarten, mit der Begrüßung der Schüler im zweiten
Trimester nach den großen Ferien und hieß insbesondere die vielen neuen
Schüler aus dem Neubauprojekt willkommen, die während der Ferien hierher
gezogen waren.
Da es so viele waren, hatte man am schwarzen Brett Listen ausgehängt, aus denen
die Verteilung der Schüler in ihre neuen Klassen hervorging. Nach einigen
Allgemeinplätzen und der Vorstellung zweier neuer Lehrer, wurden sie entlassen
und alle Schüler defilierten ordentlich aus der Aula heraus und gingen in ihre
Klassenräume, wo um 8 Uhr 45 der Unterricht beginnen würde. Chihiro ging zum
Schwarzen Brett, wo sie dann doch Ayaka traf, die sie herzlich begrüßte. Beide
waren sie in Klasse 5 b eingeteilt, in Raum 103, und Frau Chieko Watanabe würde
ihre Klassenlehrerin sein.
Sie trafen als einige der letzten in ihrem neuen Klassenzimmer ein und setzten
sich nebeneinander auf zwei noch freie Plätze in den Hinteren reihen. Frau
Watanabe erwies sich als freundliche junge Frau von Ende zwanzig, die als erstes
die Anwesenheit aller Schüler überprüfte, von denen auch alle bis auf zwei
anwesend waren, bevor sie sich dann vorstellte.
Danach ließ sie alle Schüler sich mit ihrem Namen und ein paar persönlichen
Informationen vorstellten. Ingesamt waren 37 Schüler in der Klasse 5b und fast
alle waren erst vor kurzem in das Neubaugebiet gezogen. Schließlich begann Frau
Watanabe den Rechenunterricht mit dem Austeilen der Mathebücher und einer
Rekapitulation des Stoffes des letzten Trimesters.
Die zwei fehlenden Schüler, Bunzo Abe und Ichiyo Matsumoto, tauchten dann noch
im Laufe der Stunde auf, sie hatten einfach nur nicht gewusst, wohin. Bunzo Abe
war ein etwas täppischer großer, massiver Junge mit einem leeren
Gesichtsausdruck, der tatsächlich der Sohn von Chihiros Nachbarn Herrn Abe war,
bei dem sich ihre Eltern vor zwei Tagen nach dem Datum erkundigt hatten.
Ichiyo Matsumoto war fast einen ganzen Kopf kleiner und eher schmächtig zu
nennen. Außerdem schien er ziemlich schüchtern zu sein und sein zu spät
kommen war ihm sehr Peinlich, ganz im Gegensatz zu Bunzo Abe, denn er
entschuldigte sich schon fast übertrieben bei Frau Watanabe und seinen
Mitschülern für die Störung des Unterrichtes.
Gegen Ende der ersten Stunde spürte Chihiro, wie sie schon langsam wieder
hungrig wurde, dabei war es noch nicht einmal halb Zehn und Mittagessen würde
es erst um 13 Uhr geben. Na das konnte ja noch heiter werden, stöhnte sie
innerlich.
Kapitel 6: Das Wasserfass
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Das Wasserfass
Haku war am Ende des ersten Tages im Bergwerk fix und fertig. Letztendlich war
es aber nicht ganz so schlimm gekommen, wie er zunächst befürchtet hatte.
Zuerst hatten sie alle Loren in den Fahrstuhl entladen, was relativ leicht
gewesen war und dann war Torooru cirka für eine halbe Stunde nach oben
gefahren, so dass Haku sich ein wenig umsehen konnte. Er wechselte zurück in
seine menschliche Gestalt, so dass er sich besser bewegen konnte, als in seiner
großen Drachenform.
Die Nachbarhöhle gegenüber des Aufzuges, die durch einige Grubenlampen
erleuchtet wurde, war an der Decke eine Lüftungsschacht mit Ventilator
versehen, durch den relativ kühle Luft in den Raum geblasen wurde, so dass es
hier vielleicht noch 30°C waren.
Rechts neben dem Eingang zu dieser Höhle war ein grob gezimmerte Holzbaracke
und die Ausmaße des Bettes darin ließen auf den Troll als Bewohner schließen.
Interessanterweise war die Hütte mit einer separaten Luftzufuhr versehen, die
oben direkt vom Hauptlüftungsschacht über ein Rohr abgezeigt wurde, so dass es
darin fast kalt zu nennen war, zumindest im Vergleich zur Umgebung.
Gegenüber der Hütte waren auf dem blanken Steinboden etwa zwei dutzend mehr
oder weniger schmutzige Futons ohne Decken ausgebreitet, aber die waren hier
auch wirklich nicht notwendig.
An der Wand gegenüber dem Durchgang zur Kaverne standen drei Fässer
nebeneinander aufgestellt, die Wasser enthielten, was er fühlen konnte, denn
immerhin war er ja ein Flussgott mit starker Verbundenheit zum Wasser. Die
Deckel der drei Fässer waren jedoch mit Vorhängeschlössern versehen, ließen
sich nicht öffnen und die Schlüssel würde wohl Torooru haben.
Dann entdeckte er in einer Nische der Felswand eine fast reglose Gestalt, die
dort in eine schmierige Decke eingewickelt lag und fiebrig vor sich hin
bibberte, trotz der brühwarmen Luft. Haku sah nach und es handelte sich um
einen der Froscharbeiter, der abgesehen von seinem allgemein schlechten Zustand
völlig dehydriert schien.
Er meinte ihn zu kennen und zuletzt vor etwa einem halben Jahr oben im Badehaus
gesehen zu haben. Der Froschmann musste jedenfalls unbedingt Wasser bekommen,
sonst würde er die nächsten Tage hier nicht überleben, dachte Haku. Für
Amphibien, wie die Froschgeister, musste die trockene, heiße Umgebung hier
unten tatsächlich wie die Hölle sein.
Nach einer Möglichkeit suchend, dem Froscharbeiter Wasser zu geben, fand Haku
einige verschmutzte Essschalen auf einem Felssims aufgestapelt und um an das
Wasser in den Fässern zu kommen, nahm er kurz seine Drachengestalt an und
knackte problemlos das Vorhängeschloss des linken der drei Fässer mit seinen
Klauen.
Mit einem der Schälchen flößte Haku dann dem halb bewusstlosen Frosch
insgesamt vier mal Wasser ein, bis dieser schließlich stöhnend wieder zu
Sinnen kam und mit ihn seinen Augen fixierte. "Meister Haku? .... .", hatte er
geflüstert und war dann friedlich eingeschlafen. Kurz darauf hatte Haku den
Aufzug wieder kommen hören und war zu den Loren zurückgekehrt.
Als er dann mit dem Troll zusammen das zweite mal in rasender Fahrt durch den
Tunnel nach unten geschossen kam, stellte Haku fest, dass der andere Lorenzug
gerade einmal halbvoll geladen war. Beim Hochziehen hinterher waren die Loren
längst nicht so Randvoll beladen, wie beim ersten Mal und er hatte das Gefühl,
als würde er eine ganze Lore weniger ziehen.
So kam er nach nur einer dreiviertel Stunde mit dem inzwischen etwas ruhiger
gewordenen Troll oben an. Diese Prozedur wiederholte sich noch drei weitere Male
und bei der letzten Fuhre ließ Haku es bewusst etwas langsamer angehen, da er
wusste, dass sie ohnehin genügend Zeit hatten.
Kurz nachdem er am Aufzug angelangt war, kamen auch schon die ersten
Froscharbeiter aus dem Tunnel geschlichen, die wie Haku jetzt sah, alle auch nur
Lendenschurze trugen. Sie waren den Tunnel noch nicht einmal so schnell
emporgestiegen, wie er selbst mit fünf Loren hinter sich, und hatten trotzdem
nicht einmal mehr die Kraft miteinander zu sprechen.
Torooru entlud allenthalben kommentarlos die Loren ein weiteres Mal in den
Aufzug und verschwand mit der Ladung nach oben, während die Froscharbeiter zu
ihren Schlafplätzen strömten.
Plötzlich entstand nebenan ein heftiger Tumult, als die Frösche das offene
Wasserfass entdeckten und augenblicklich darüber herfielen. Haku beobachtete,
wie sie fast eine Prügelei anfingen, als es darum ging, wer wann wie viel
Wasser bekommen sollte.
Einige Zeit später kehrte der Troll mit dem Abendessen zurück, einem Tonfass
voller Fischsuppe und einem weiteren Fass voll mit gekochtem Reis, die auf dem
Boden des Aufzuges standen. Er ließ vier der Froscharbeiter antanzen, die
jeweils zu zweit eines der Fässer hinüber in die Wohnhöhlung schleppten und
vor der Baracke des Trolls abstellten.
Hinter ihnen hergestapft kam der Troll, nestelte mühsam, wegen seiner kurzen
Arme, einen kleinen Schlüssel los, den er an der Bundschnur seines
Lendenschurzes getragen hatte und ging dann in seine Baracke. Dort hörte man,
wie er irgendetwas aufschloss, bevor er dann mit einem großen Schlüsselbund
wieder erschien.
Die Froscharbeiter hatten sich mittlerweile wortlos in einer ordentlichen
Schlange vor den Wasserfässern aufgestellt, ein jeder mit seiner Schale in der
Hand. Haku der das ganze interessiert beobachtet, nahm sich ebenfalls eine
Schale und reihte sich, misstrauisch beäugt von den Fröschen, als letzter in
die Schlange ein, denn er verspürte mittlerweile ebenfalls einen
beträchtlichen Durst.
Das Wasserfass, welches er vorhin aufgebrochen hatte, hatten die Frösche wieder
sorgfältig verschlossen und das kaputte Vorhängeschloss so davor befestigt,
dass es aussah, als währe es immer noch fest verschlossen.
Der Troll war derweil zu den Wasserfässern herübergestapft und öffnete fast
feierlich das Schloss des rechten der drei Wasserfässer, welches sich als noch
fast voll herausstellte.
"So ähr Faolpälze, jätz gäbs Wassär, jädär nor einä Schalä, on danach
Ässän.", grunzte er, woraufhin sich jeder der Frösche brav eine Schale mit
Wasser nahm und dann so taten, als würden sie gierig Trinken, während sie in
Wirklichkeit nur daran nippten.
Torooru betrachtete die ganze Aktion mit zunehmenden Misstrauen, denn
irgendetwas schien nicht zu stimmen.
"Was äst dänn los mät äuch? Är wärkt ärgäntwä allä so fräsch! Habt
är ätwa näch gänog gäschoftät?", wunderte er sich, als schließlich Haku
an der Reihe war und betrachtete mit verkniffenem Gesichtsausdruck die
Froscharbeiter, die mittlerweile eine ebenso akkurate Schlange vor den beiden
Fässern mit dem Abendessen gebildet hatten. Einige hatten es immer noch nicht
geschafft, ihre Wasserration auszutrinken und gossen sich den Inhalt mehr über
ihren Körper als dass sie ihn tranken.
Haku bekam endlich auch seine Schale mit Wasser, die er gierig auf einen Zug
leerte, und stellte sich dann ebenfalls für das Abendessen an.
Torooru verschloss das Wasserfass nun sorgfältig wieder und wollte gerade
hinüber zu seiner Baracke gehen, und die Essenausgabe überwachen, als am
dritten Wasserfass das geknackte Schloss plötzlich von alleine aufging und
leicht hin und her schaukelte. Er stutzte, ging zu dem Wasserfass hinüber,
untersuchte das Schloss, nahm es weg, öffnete den Deckel und sah hinein.
Dann stapfte er scheinbar Ruhig hinüber zu seiner Baracke, trug die beiden
Fässer hinein, sicherte die Tür sorgfältig mit einem weiteren
Vorhängeschloss und baute sich dann vor den Froscharbeitern auf.
"Wär hat das Fass gäöffnät?", polterte Torooru dann los, "Är wärdät allä
solangä kein Ässän mär bäkommän, bäs äch äs weiss!".
Die Froscharbeiter schwiegen betreten und blickten mehrheitlich zu Boden oder in
irgendeine andere Richtung, als die zum Troll. Haku dachte kurz nach und sah
dann ein, dass es letztendlich keinen Sinn haben würde, zu versuchen, die Sache
zu verschleiern, denn wenn der Troll ein wenig nachdenken würde, müsste er
irgendwann feststellen, dass nur Haku es gewesen sein konnte, der das Schloss
geknackt hatte, denn er war der einzige, der dazu überhaupt die Kraft und die
Gelegenheit hatte.
Die Frösche hätten es prinzipiell zwar auch tun können, wenn sie eine
Spitzhacke benutzt hätten, aber die hatten sie unten im Tunnel gelassen, so
dass hier auf den ersten Blick kein geeignetes Werkzeug vorhanden war, mit dem
sie das Schloss hätten knacken können.
Also ging er nach vorne, stellte sich vor den Troll, blickte ihm ruhig und
furchtlos in die Augen und sage: "Ich bin es gewesen. Der kranke Mann da hinten
brauchte etwas zu trinken, also habe ich ihm Wasser gegeben."
Das Gesicht Toroorus begann nun vor Zorn rot anzulaufen und irgendwie schien er
noch größer zu werden.
"Do bäst wohl Wahnsännäg gäwordän! Das Wassär moss för dä ganzä Wochä
reichä! Do värdammtär Drachä, do glaobst välleicht, do könntäs där
alläs raosnähmän?" Damit schlug er zu und traf Haku in die Magengrube.
Haku seinerseits hatte den Schlag problemlos kommen sehen und hätte ihm leicht
ausweichen können, denn der Troll bewegte sich weniger wie ein Tänzer, sondern
eher wie ein Catcher und durch seine kurzen Hebel und seine riesige Faust
entwickelte er zwar die Wucht eines Dampfhammers, hatte aber nur eine geringe
Reichweite.
Er wollte aber auf gar keinen Fall nachgeben, denn er glaubte, dass er richtig
gehandelt hatte, als der dem kranken Froschmann das Wasser gegeben hatte und
dafür, dass die andern Frösche dann über das offene Fass hergefallen waren,
konnte er nichts, das lag ganz einfach an den unzumutbaren Zuständen hier
unten.
Das machte ihn Zornig, sollte der Troll ihn doch Schlagen wenn er wollte. Also
spannte er nur in Erwartung des Schlages seine Muskeln an und nahm den Schlag
ohne jede sonstige Gegenwehr.
Die Wucht des Schlages, der erheblich heftiger war, als er erwartete hatte,
trieb ihm die Luft aus den Lungen und der getroffene Bereich wurde
augenblicklich Taub. Haku fühlte, wie er rückwärts meterweit durch die Luft
geschleudert wurde. Irgendwie schaffte er es, sich in der Luft herumzudrehen und
in seine Drachengestalt wechselte, bevor er gegen den Felsen prallte.
Nach einem harten Aufprall krallte er sich mit seinen eisenharten Klauen in den
Felsen, so dass dutzende kleiner Steinsplitter mit lautem Knallen wegplatzten
und durch die Gegend spritzten.
Panik erfüllt stoben die Froschmänner auseinander, verkrochen sich in
Felsnischen oder rannten in die Nachbarkaverne.
Wütend fixierte Haku den Troll und knurrte ihn dann wutschnaubend an, der immer
noch vor der Baracke stand und jetzt Hilfe suchend sich umschaute, bis er dann
seinen geliebten Knüppel ergriff, der neben der Eingangstür lehnte.
Torooru, sich jetzt dafür verfluchend, in einem Wutanfall den vermeintlich
schwachen Jungen geschlagen zu haben, wusste jetzt nicht mehr was er machen
sollte, denn er rechnete sich keine besonders großen Chancen gegen Drachen aus,
auch mit Knüppel nicht. Vielleicht hätte er mit einer Spitzhacke größere
Chancen gehabt, aber die waren alle unten am Flöz.
Hastig zog er sich deshalb in seine Baracke zurück, schaffte es aber nicht
mehr, die Tür zu schließen, bevor Haku die Distanz in einem großen Satz oder
einem kurzem Flug, das war nicht so genau zu unterscheiden, überbrückt hatte.
Immer noch knurrend steckte er seinen Kopf in die Baracke, um nach dem Troll zu
sehen, und wurde dann von einem harten Schlag mit dem Knüppel am Kopf
getroffen. Jedoch war dieser Schlag nicht gut genug gezielt gewesen, prallte
gegen den Ansatz seiner Hörner und zerbrach den Knüppel mit lautem Knacken.
Nun gänzlich ohne Waffen, sah sich der Troll dem starren, wütenden Blick Hakus
ausgesetzt, der sich jetzt weiter mit seinen vorderen Fängen in die Baracke
schob und sackte auf dem Bett in sich zusammen, den Kopf in Erwartung der
Attacke des Drachen unter den Armen begraben.
Aber die Attacke kam nicht, denn als Haku die Hilflosigkeit und Angst seines
Gegners sah, verrauchte sein Zorn im Nichts und nach kurzer Zeit zog er sich
zurück. Vor der Baracke blieb er eine Weile stehen und überlegte, was er tun
konnte, aber es ihm fiel nichts weiter ein.
So nahm er wieder seine menschliche Gestalt an, griff sich eine leere und
einigermaßen saubere Schale, nahm sich ruhig die ihm zustehende Ration vom
Abendessen, setzte sich neben dem Eingang mühsam im Schneidersitz auf den
Boden, denn seine ganze Bauchpartie schmerzte jetzt höllisch vom Schlag des
Trolls, und begann zu essen.
Die Froschmänner hatten sich während dieser Zeit nicht gerührt und kamen
jetzt nach und nach wieder zurück, um sich ebenfalls schweigend ihre Rationen
vom Abendessen zu nehmen. Dabei machten sie jedoch einen großen Bogen um Haku,
vor dem sie nach dieser Vorstellung einen höllischen Respekt bekommen hatten,
hatte er doch den Troll spielend in seine Schranken verwiesen.
Dumpf vor sich hinbrütend und den Schmerz ignorierend, mampfte Haku das Essen
mit zunehmendem Appetit in sich hinein, wurde sich erst jetzt gewahr, wie viel
Hunger er eigentlich durch die harte körperliche Arbeit des Lorenziehens
bekommen hatte.
Früher, als er noch in seinem Fluss gelebt hatte, hatte er nie etwas essen
müssen, denn sein Fluss hatte ihn mit einem immerwährenden Strom an
Lebensenergie, dem Ki, versorgt. Aber auch später im Badehaus hatte er nur
selten etwas gegessen und die wenigen Male, in denen er überhaupt etwas Appetit
verspürt hatte waren, als er von einigen seiner Zwangsmissionen für Yubaba
zurückgekehrt war, auf denen er wer weiß was für diese gemacht hatte.
Jetzt aber war er nach dem Essen eigentlich fast noch hungriger als davor und
überlegte, ob er hinübergehen und sich noch eine weitere Portion nehmen
sollte. Aber er beherrschte sich, denn er fand dass es ungerecht den anderen
gegenüber währe, wenn er seine überlegene Stärke ausnutzen und sich
persönliche Vorteile verschaffen würde, indem er mehr aß, als ihm zustand.
Denn dann währe er nicht besser als Torooru. Schließlich erinnerte er sich an
den kranken Frosch, der die ganze Zeit ohne sich zu rühren in seiner Felsnische
gelegen hatte und auch etwas zu essen bekommen musste.
Ein Stöhnen unterdrückend erhob sich Haku wieder und brachte dem kranken
Froschmann eine Schale mit Fischsuppe, die er ihm mit einem Holzlöffel nach und
nach einflösste. Dieser erwachte bei dieser Fütterungsprozedur aber kaum aus
seinem Erschöpfungsschlaf.
Dass die anderen Froschmänner sei Tun verwundert beobachteten, bemerkte Haku
nicht, denn das einzige woran er denken konnte war, dass Chihiro sich genau so
um ihn gekümmert haben musste, als er schwer verletzt im Kesselraum lag, wie es
ihm Kamaji später berichtet hatte.
Diese Gedanken machten ihm das Herz leicht und ließen ihn die deprimierende
Realität vergessen.
Torooru grübelte mittlerweile auf seinem enormen Bett liegend über die
Situation nach.
Diese verdammte Hexe Yubaba, dachte er, dass sie ihm zu seinen sonstigen
Problemen auch noch diesen Drachen aufgehalst hatte.
Dieser verfluchte Drache. Was der anrichten konnte hatte sich ja jetzt bereits
am ersten Tag hier unten gezeigt und er hatte keine Idee, was er dagegen
unternehmen konnte. Der Drache war einfach stärker als er selbst. Fast
bewundernd hatte er mit ansehen müssen, wie dieser fünf Loren alleine den
Tunnel hinauf gezogen hatte.
In seinen besten Zeiten hatte er alleine nicht mehr als drei Loren auf einmal
ziehen können und da war er noch jung gewesen. Trotzdem hatte er immer über
zwei Stunden für eine Strecke benötigt und die war früher noch längst nicht
so lang gewesen, wie jetzt und mehr als einmal pro Tag hatte er es damals auch
nicht geschafft.
Er bezweifelte, dass er diese Leistung immer noch vollbringen konnte, doch
dieser Drache hatte heute fünfmal dieses Kunststück vollbracht, einfach so.
Das war einfach ungeheuerlich und beängstigend.
Wie dieser winzige Junge dann einfach den härtesten Schlag wegstecken konnte,
zu dem er fähig war, war einfach unbegreiflich, einen Schlag, der jeden der
Froschmänner auf der Stelle getötet hätte, was er durchaus beabsichtigt
hatte. Dabei hatte er sich im Recht gefühlt, hatte Haku doch damit, dass er das
Fass aufgebrochen und dadurch die Froschmänner animiert hatte, es leer zu
saufen, sie alle in größte Schwierigkeiten gebracht. Wie sollten sie jetzt
über die Woche kommen, denn die drei Fässer mussten bis zur nächsten Woche
halten.
Mit nur zwei Fässern würde ihnen zwei zu früh Tage das Wasser ausgehen und
das bedeutet, dass sie entweder ihre Förderquote nicht einhalten konnten, oder
verdursten mussten. Tausend mal schon hatte er Yubaba ersucht, ihnen die
Wasserrationen zu erhöhen, aber mit einem Hinweis auf die Optimierung von
Produktionsprozessen hatte sie stets abgelehnt.
Dabei gab es oben im Badehaus nun wirklich genügend Wasser und es hätte ja
auch schon das Abwasser der Badegäste genügt. Darum ging es Yubaba aber
letztendlich nicht. Sie wollte hier eigentlich nur die überflüssigen
Froscharbeiter loswerden, denn hätte sie das Bergwerk nicht, dann wäre oben im
Badehaus irgendwann vor lauter Fröschen kein Platz mehr für die Gäste.
Hier unten konnte sie die überflüssigen und unfähigen loswerden, ohne gegen
den Schutz zu verstoßen, den diese aufgrund ihres Arbeitsvertrages vor ihr
genossen. Sie ließ sie einfach zu Tode schuften. Im Grunde taten ihm ja die
Froschmänner leid, aber was sollte er tun? Auch dieser kranke Froschmann, der
es fast hinter sich gebracht hatte, tat ihm leid, aber dadurch, dass der Drache
ihm Wasser gegeben hatte, hatte er dessen Leidenszeit nur verlängert und sie
außerdem alle in Schwierigkeiten gebracht!
So schlimm wie jetzt war es allerdings nicht immer gewesen, wie er sich
erinnerte.
Begonnen war der Bergbau seinerzeit von der Hexe Aburaba worden, der Mutter von
Yubaba und Zeniba. Diese hatte ursprünglich das Badehaus vor über einhundert
Jahren gegründet und als sämtliche Wälder in der näheren Umgebung abgeholzt
worden waren, um als Feuerholz für die Heißwassererzeugung zu dienen, hatte
sie mit ihrer Magie das Kohlevorkommen unter dem Badehaus entdeckt.
Da in jener Zeit in ganz Japan keine Experten für Bergbau zu finden waren,
hatte sie sich schließlich außerhalb Japans umgesehen und einen Trupp Zwerge
aus Oberbayern engagiert.
Diese übernahmen die Leitung des Bergbauunternehmens, erledigten den Tiefbau
und den Tunnelvortrieb und hauten die Kohle aus den Flözen. Für die
Schwerstarbeit, wie das Lorenziehen, die Beseitigung von Geröll und die Be- und
Entladung der Loren, wurden drei Minotauren aus Kreta, vier Centauren von der
Peloponnes und eben zwei Bergtrolle aus Norwegen engagiert. Wen auch immer
Aburaba für das Projekt gewinnen konnte.
Der Arbeitsvertrag, den ihm die junge freundliche Hexe Zeniba damals im Auftrag
ihrer Mutter vorgelegt hatte, war wirklich sehr Attraktiv gewesen, ermöglichte
er es ihm doch, seiner jungen Frau Frieda und seiner kleinen Tochter Ingeborg,
ein besseres Leben zu bieten, als in seiner armseligen Höhle in den Bergen.
Nur ein paar Jahre, hatte er gedacht, und er würde als wohlhabender Mann wieder
in seine Heimat zurückkehren können.
Die Arbeitsbedingungen waren wirklich sehr gut gewesen, die Unterkünfte oben im
Badehaus großzügig und der Verdienst mehr als ausreichend. So hatte er den
Arbeitsvertrag mehrfach verlängert, wie eigentlich alle aus der Gruppe, bis auf
seinen einen Trollkollegen, den frühzeitig das Heimweh gepackt hatte, denn sie
fühlten sich wohl, bis eines Tages Aburaba gestorben war und Yubaba und Zeniba
gemeinsam die Leitung des Badehauses übernahmen.
Yubaba erledigte das finanzielle und personelle Management, während Zeniba sich
um den Einsatz der Arbeitskräfte, die Küche und das Wohlergehen der Gäste
kümmerte. Ein weiteres mal hatte er seinen Arbeitsvertrag damals verlängert
und dabei überhaupt nicht die veränderten Vertragsklauseln bemerkt, die ihn
seines Namens beraubten, so dass er hinterher nur noch Torooru hieß, was auf
Japanisch einfach Troll heißt.
Das war jetzt vor fast achtzig Jahren gewesen.
Anfangs hatte sich nicht viel verändert, die Arbeitsbedingungen blieben gut und
ebenso sein Verdienst. Doch als er schließlich seinen Arbeitsvertrag kündigen
wollte, um zu seiner Familie nach Norwegen zurückzukehren, konnte er sich nicht
mehr an seinen richtigen Namen erinnern, und er wurde von Yubaba gezwungen zu
bleiben.
Einige Jahre später begannen dann die Probleme im Bergwerk, als sie in eine
merkwürdige weiche Felsschicht vorgedrungen waren. Einer der Zwerge nach dem
anderen verschwand auf mysteriöse Weise spurlos von der Bildfläche und
schließlich wurde auch einer der Centauren getötet. Man fand seine halb
aufgelösten Überreste in einem neu gegrabenen Nebenschacht.
Er selbst war es schließlich gewesen, der herausfand, was die Ursache dafür
war. Eines Tages, bei Schichtende war er sorglos ohne Lampe zum Aufzug
zurückgestapft, als er plötzlich in ein weiches, haariges Zeug hineingeriet,
das von der Tunneldecke herunterhing.
Im ersten Moment dachte er sich nichts schlimmes und wollte es einfach beiseite
wischen, doch dann explodierte der Schmerz auf seiner Haut überall dort, wo
dieses Zeug ihn berührte und er fühlte, wie er vom Boden weg gehoben wurde.
Urplötzlich wurde ihm bewusst, dass es um sein Leben ging und seine
entsetzlichen Schmerzen ignorierend arbeitete er sich wütend unter Aufbietung
all seiner Kräfte durch die wollige Masse hindurch bis hin zu deren Ursprung
und schaffte es irgendwie den Hauptkörper des Wesens zu zerreißen und töten.
Stundenlang hatte er danach in dem Tunnel hilflos gelegen, bedeckt von den
Fäden, bis ihn jemand gefunden und versorgt hatte. Seitdem war sein ganzer
Körper von fürchterlichen Narben bedeckt, überall dort, wo die Nesselfäden
der Felsanemone, wie sie die Kreatur schließlich aufgrund ihres Aussehens und
ihrer grellen Farben genannt hatten, begonnen hatten, sein Fleisch aufzulösen.
Er war der einzige gewesen, der jemals einer Felsanemone entkommen war. Nach und
nach hatten sich diese Wesen dann im gesamten Tunnelsystem ausgebreitet,
stülpten sich in vollständiger Dunkelheit aus ihren Felsspalten zwischen den
Holzverschalungen hindurch, ließen ihre Nesselfäden in den Tunnel hängen und
harrten ihrer Opfer.
Trotz des Bekanntseins der Felsanemonen, wurde die Belegschaft es Bergwergs
weiterhin dezimiert, denn immer wieder gerieten unvorsichtige Zeitgenossen,
denen plötzlich der Brennstoffvorrat ihrer Grubenlampen zur Neige ging, in
deren Fänge.
Yubaba begann damals die fehlenden Arbeitskräfte im Bergwerk durch
Froscharbeiter zu ersetzen, die sich jedoch als wenig geeignet für die harte
Arbeit unter Tage erwiesen unter den dort herrschenden trocken heißen
Bedingungen. Doch immer noch blieben die Arbeitsbedingungen für die Zwerge,
Centauren, Minotauren und ihn erträglich, denn alle wohnten immer noch im
Badehaus und fuhren nur zur Arbeitsschicht in das Bergwerk ein.
Es gab genügend Wasser und genügend zu Essen, hinreichend gutes Baumaterial
zur Abstützung der Tunnel und bis auf die lästigen Felsanemonen war die Arbeit
nicht übermäßig hart.
Vor etwa fünfzig Jahren dann schließlich bekam Zeniba von den Machenschaften
ihrer Schwester Wind, von den unredlichen Arbeitsverträgen, von
Unterschlagungen und von Erpressungen einiger Badegäste, die sie kompromittiert
hatte.
Es gab einen riesigen Krach zwischen Yubaba und Zeniba, der letztendlich zur
Trennung der beiden führte. Nachdem Zeniba weg war, wurde es nach und nach
immer schlimmer, denn Yubaba nahm ihnen zuerst die Quartiere im Badehaus weg, da
sie diese für die Frösche benötigte, wie sie sagte, und brachte sie alle
unten im Bergwerg unter. Sie bräuchten dann ja keine kostbare Arbeitszeit mit
dem Ein- und Ausfahren in den Berg mehr zu verschwenden, begründete sie diesen
Schritt.
Nach und nach wurden die Arbeitsmittel, die ihnen zur Verfügung standen immer
schlechter, das wenige Holz, dass ihnen noch geliefert wurde um die Tunnelwände
abzustützen, war von schlechter Qualität und das Essen und das Wasser wurde
rationiert. Yubaba entschuldigte diese Maßnahmen damit, dass die Zeiten
schwierig seinen und sie alle sparen müssten.
Aufgrund des schlechten Materials begannen sich alsbald die ersten Unfälle zu
ereignen, Seile rissen, mit denen die Loren gezogen wurden, die dann wie wild
gewordene Geschosse unkontrolliert die Schienen hinab rasten und jeden
überfuhren, der sich in ihrem Weg befand, morsche Balken brachen plötzlich so
dass ganze Tunnelabschnitte einstürzten und Leute unter sich begruben und die
mittlerweile uralten Grubenlampen wurden immer unzuverlässiger, gingen
plötzlich aus, so dass immer wieder jemand von den vermaledeiten Felsanemonen
erwischt wurde.
Einer nach dem anderen von der ursprünglichen Bergarbeitercrew starb durch
Unfälle oder schließlich einfach Altersschwäche. Vor nun fast dreißig Jahren
war der letzte der Zwerge in seinen Armen gestorben. So lange nun schon war das
Bergwerk hier sein Reich, in dem er mehr oder weniger tun und lassen konnte, was
er wollte.
Er wusste genau, dass Yubaba letztendlich abhängig von ihm war, denn keiner
außer ihm war in der Lage, den Bergbau hier unten im Gange zu halten. So konnte
er sein Leben hier unten noch einigermaßen erträglich gestalten und dafür
sorgen, dass zumindest er überlebte und so die Hoffnung aufrecht erhalten,
eines Tages vielleicht doch zu seiner Familie nach Norwegen zurückkehren zu
können, in die grünen Wälder seiner Jugend und die herrlich kalten und
weißen Winter der Berge.
Immerhin konnte er sich gute Hoffnungen machen, Yubaba vielleicht zu überleben,
weil er als Troll eine Lebenserwartung von bis zu 200 Jahren hatte und er war,
als er hie angeheuert hatte, noch keine 30 gewesen. Nach ihrem Tod würde er
vielleicht endlich hier wegkommen können.
Wie sehr er diese Hexe hasste, die ihn hier unten gegen seinen Willen gefangen
hielt und ihn vor allem von seiner Familie fernhielt. Sie führten nun einen
ständigen Kleinkrieg miteinander um Ressourcen wie Wasser und Baumaterialien
und er "bestrafte" sie jede Woche, indem er ihr absichtlich ihren kostbaren
Teppich beschmutzte, was sie jedes mal in Rage brachte.
Und nun hatte sie ihm auch noch diesen Drachen auf den Hals geschickt, der ihn
jetzt vor den versammelten Froscharbeitern gedemütigt hatte, wahrscheinlich um
ihm das Leben noch unerträglicher zu machen, oder gar, um ihn loszuwerden?
Nein, dass konnte nicht sein, denn wie sollte der Drache wissen, wie man ein
Bergwerk leitet. Trotzdem musste er diesen Drachen irgendwie unter Kontrolle
bekommen, doch wie? Wie hielt Yubaba eigentlich ihn selbst unter Kontrolle?
Der Schlüssel dazu lag in dem Vertrag. Wenn man gegen den Vertrag verstieß,
dann konnte Yubaba mit einem tun, was sie wollte. Er brauchte dem Drachen also
nur Anweisungen zu geben und der musste ihm gehorchen, seinem Vorgesetzten!
Hatte Yubaba heute Morgen in ihrem Büro nicht genau das gesagt?
Viel zu lange hatte er sich auf seine körperliche Überlegenheit verlassen, um
sich Respekt vor den Arbeitern zu verschaffen, denn das verstecken hinter
Paragraphen und Autoritäten lag nicht in seiner Natur. Aber jetzt blieb ihm
nichts anderes übrig und er hatte auch schon eine Idee, wie er den Drachen
klein kriegen konnte. Morgen würde er damit beginnen!
Kapitel 7: Im Krankenhaus
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Hallo, jetzt habe ich es endlich geschafft, das Kapitel zu vollenden. Ist ein
bisschen länger geworden, als ich gedacht hatte. Jetzt rätselt mal schön, was
mit Chihiro eigentlich los ist, hihihi.
An alle, die darauf warten, wie's weitergeht:
Ich muss im Moment 'ne wirklich wichtige Arbeit fertig machen (mit 180 Seiten!),
die nächste Woche (1.9.03) abgegeben werden muss. So lange wird es nicht
weitergehen, auch wenn ich das nächste Kapitel schon zu 2/3 fertig hab. Ich hab
im Moment einfach den Kopf nicht frei, sorry.
Im Krankenhaus
Gegen Ende der vierten Stunde konnte Chihiro sich vor lauter Hunger kaum noch
auf den Unterricht konzentrieren. Die Worte der Lehrerin verschmolzen zu einem
einzigen Gemurmel und das Klassenzimmer schien sich um sie herum zu drehen.
Ayaka stupste sie mehrfach an, als sie auf ihrem Stuhl zusammenzusacken begann.
Dann endlich ertönte die Pausenglocke und Chihiro riss sich zusammen, so gut
sie konnte und fokussierte sich vollständig auf das bevorstehende Mittagsmahl.
In der Schulkantine nahm sie kaum noch wahr, wie sie sich ein Tablett nahm und
an der Essenausgabe irgendetwas darauf gestellt bekam.
Als schließlich alle Platz genommen hatten und mit dem Essen beginnen durften,
hatte sie unter dem ungläubigen Staunen von Ayaka innerhalb von nur einer
Minute alles in sich hineingestopft, war aufgestanden und hatte versucht, noch
Nachschub zu holen. Doch die freundliche aber resolute Küchenangestellte
verweigerte ihr einen Nachschlag mit der Begründung, dass alle Kinder das
Gleiche zu bekommen hätten und außerdem sei die Portion ja wohl groß genug
gewesen für so ein kleines Mädchen wie sie.
"Mann Chihiro, was ist denn los mit dir? Du futterst ja, als hättest du gerade
um die Weltmeisterschaft gespielt.", staunte Ayaka.
"Ich weiß nicht genau. Das ging alles irgendwie gestern los.", meinte diese,
"Nachdem wir Fußball gespielt hatten, bin ich vor lauter Hunger kaum noch nach
Hause gekommen." Dann erzählte sie, was sie gestern und Heute so alles gegessen
hatte und Ayaka bekam immer größere Augen.
"Bohr, ich glaube ich währe geplatzt, wenn ich soviel gegessen hätte. Und ein
ganzes Kilo Tofu. Du musst wirklich Hungrig gewesen sein.", bestätigte Ayaka
etwas lautstark und aß etwas von dem Tintenfisch auf Reis, den es zu Mittag
gegeben hatte, was Chihiro erst jetzt auffiel. Vom Nachbartisch, an dem einige
Jungen saßen, darunter auch Bunzo Abe, ertönte in diesem Moment Gelächter.
"Zuerst wissen die nicht, welches Datum gerade ist, und dann Füttern sie ihre
Tochter auch noch mit rohem Tofu.", tönte Bunzo, "Mann, was müssen die Oginos
doof sein!"
Chihiro schaute erst überrascht und dann empört zu Bunzo hinüber, aber es war
Ayaka, die aufsprang und ihre neue Freundin verteidigte. Sie baute sich neben
Bunzo auf, der sie mit gespielter Angst ansah und schimpfte: "Wie kannst nur so
gemein sein? Und so einen Blödsinn erzählen? Und woher weißt du überhaupt,
dass sie Ogino heißt? Du bist selber doof!"
"Und wer glaubst du vorzustellen?" Bunzo lehnt sich lässig in seinem Stuhl nach
hinten und grinste überlegen. "Meinst du vielleicht ich Lüge? Mein Vater hat's
mir erzählt. Vor zwei Tagen, die waren grade nebenan eingezogen, kamen ihre
Eltern zu uns und fragten völlig verwirrt nach dem Datum. Und dass sie da dort
wohnt, hab ich gestern Abend gesehen, als sie nach Hause geschlichen kam. Und
das mit dem Tofu hat sie ja selber zugegeben."
"Trotzdem bist du gemein. Man lauscht nicht, wenn andere sich unterhalten. Das
ist unhöflich. Und doof bist du auch, du hast ja heute Morgen nicht mal deine
Klasse gefunden! So."
Darauf wusste auch Bunzo nichts zu erwidern, also ignorierte er Ayaka einfach
und stocherte leicht verlegen im Essen herum. Einer der Lehrer hatte die kleine
Auseinandersetzung bemerkt und kam jetzt herüber, um nach dem Rechten zu sehen.
Deshalb setzte auch Ayaka sich jetzt schnell wieder hin.
"Dem hab ich's gegeben. Trotzdem hat er mir den Appetit verdorben, der
Blödmann.", regte sie sich weiter auf, "Und du, regt dich das gar nicht auf,
wenn er deine Eltern beleidigt?"
"Ach Ayaka, solche Typen wie den gibt es in jeder Klasse, da darf man sich gar
nicht drüber aufregen.", beschwichtigte Chihiro, "Du sag mal, wenn du keinen
Hunger mehr hast, kann ich dann deinen Rest vom Essen haben?" Perplex glotzte
Ayaka zu Chihiro und schob dann kommentarlos ihr Tablett hinüber.
Eine Tischreihe weiter starrte Ichiyo Matsumoto, der den kurzen Disput
unfreiwillig mitbekommen hatte, traurig sein Tablett an. Sie finden mich doof,
weil ich vorhin den Klassenraum nicht gefunden habe, dachte er unglücklich.
Nach dem Mittagessen und der daran anschließenden Pause, wurde dann die Schule
von den Schülern geputzt und Chihiro und Ayaka wurden zum Wischen des Flurs
eingeteilt. Danach ging der Unterricht um 13:50 weiter und gegen 15:20 war dann
endlich die eigentliche Schule vorbei. Das hieß aber noch längst nicht, dass
sie jetzt nach Hause gehen konnten, denn zwischen Unterrichtsende und 17:00 Uhr
waren noch die nachschulischen Aktivitäten angesiedelt, denen jeder Schüler
nachzugehen hatte.
Nach der Klassenbesprechung gegen 15:30 ging dann jeder in den Kurs, für den er
sich Interessierte. Ayaka stellte zu ihrer großen Erleichterung fest, dass im
letzten Jahr auch eine Mädchen Fußballmannschaft gegründet worden war, da die
WM nun langsam näher rückte.
Sie versuchte auch Chihiro zu überreden, in die Fußballmannschaft zu gehen,
aber die fühlte sich mittlerweile vor lauter Hunger wieder so schlapp, dass sie
dankend ablehnte, obwohl sie Ayaka zuliebe durchaus in die Fußballmannschaft
gegangen währe, auch wenn sie nie besonders sportlich gewesen war. Aber das war
ja kein Grund, es nicht einmal zu versuchen.
Trotzdem war ihr jetzt mehr nach einer ruhigen Tätigkeit zumute, bei der sie
sich konzentrieren musste und ihren Hunger vergessen konnte. Also suchte sich
Chihiro den Ikebana-Kurs aus.
In dem Kurs waren wie sich herausstellte nur Mädchen und ihre Klassenlehrerin
war die Kursleiterin. Als es endlich 17 Uhr war, traf sich Chihiro mit Ayaka vor
der Schule und sie machten sich gemeinsam auf den Weg nach Hause. Unterwegs
kamen sie an dem Konbini vorbei und Chihiro holte sich von ihrem Taschengeld
zwei Tafeln Schokolade, die sie hastig in sich hineinmampfte, aber nicht ohne
Ayaka zwei oder drei Stückchen abzugeben. Sie hatte sich nämlich vor lauter
Hunger wieder so schwach gefühlt, dass ihr schon Schwindelig wurde.
Danach fühlte sie sich soweit gestärkt, dass sie den Nachhauseweg zu schaffen
glaubte. Als sie dann an Ayakas Haus vorbeikamen, verabredeten sie sich für den
nächsten Morgen, um gemeinsam zur Schule zu gehen.
Zu Hause erfuhr Chihiro dann, dass ihr Vater entlassen worden war und sie sich
in nächster Zeit erst einmal "Einschränken" mussten, was auch immer das zu
bedeuten hatte. Den Audi hatte er deshalb auch konsequenterweise sofort verkauft
und stattdessen einen Nissan Micra erworben, mit dem sie in nächster Zeit
auskommen mussten.
Optimistisch, wie er war, erzählte er den ganzen Abend von seinen zukünftigen
Plänen. Er wolle sich selbstständig machen als Bauingenieur und zunächst
einmal die Hausverwaltung einiger Häuser in dieser Neubauanlage übernehmen,
die von ihren Eigentümern vermietet worden waren.
Da er in das Projekt mit involviert war, hatte er die Liste aller
Hauseigentümer und wusste auch, welche von diesen ihre Objekte vermieteten.
Zwei Klienten habe er auch schon, die er im Architekturbüro kennen gelernt
hatte und sei in Verhandlung mit mehreren anderen.
Trotzdem würde dies in der ersten Zeit keineswegs ausreichen, um das Gehalt zu
ersetzen, welches er im Architekturbüro als Projektleiter erhalten hatte, aber
das Haus war bereits komplett bezahlt und die Ersparnisse würden noch ein paar
Monate reichen, wenn sie sparsam damit umgehen würden. Arbeitslosengeld würde
er keines erhalten, da er sich ja Selbstständig machte und somit de facto ja
eine Arbeit hatte.
Chihiro jedoch verstand von den ganzen Dingen nicht viel und zog sich nach dem
Abendessen, bei dem sie wieder reichlich zuschlug, auf ihr Zimmer zurück, um
die Hausaufgaben zu machen. Sie stellte fest, dass ihr das erheblich leichter
fiel, als noch vor den Sommerferien. Sie konnte sich hervorragend konzentrieren
und vergaß ihre Umwelt, bis sie plötzlich fertig war, nach viel kürzerer
Zeit, als sie gedacht hatte. Sie las hinterher noch ein wenig in ihrem Harry
Potter Buch, holte sich noch etwas zu Essen und ging danach völlig erschöpft
zu Bett.
In den nächsten Tagen wurde die Sache mit ihrem ständigen Hunger von einem
Ärgernis zu einem ernsthaften Problem. So viel sie auch immer aß, und ihre
Mutter wurde deswegen auch immer nervöser, sie schaffte es einfach nicht mehr
Satt zu werden und den ganzen Tag über hatte sie ein mehr oder weniger
intensives Hungergefühl, an das sie sich jedoch langsam gewöhnte.
Was Chihiro dann aber doch Sorgen bereitete, war dass sie trotz der ernormen
Mengen, die sie verputzte, in den letzten zwei Wochen zwei Kilogramm abgenommen
hatte, wo sie doch ohnehin nur 20 Kilo gewogen hatte. Auch hatte sie ihr
gesamtes Taschengeld für den Monat September innerhalb von diesen zwei Wochen
komplett in Süßigkeiten investiert, die sie in den Unterrichtspausen
vernaschte, um die Schulstunden irgendwie zu überstehen.
Ayaka half ihr dabei, so gut sie konnte, gab Chihiro immer etwas von ihrem
Mittagessen ab, oder steckte ihr Reiskuchen oder Süßigkeiten zu, die sie von
zu Hause mitgebracht hatte. Am Ende der dritten Schulwoche schließlich war
Chihiro ganz schwummerig zumute und es bereitete ihr schon Mühe, überhaupt aus
ihrem Stuhl aufzustehen und irgendetwas zu tun. Merkwürdigerweise war ihr nie
kalt, sondern eher etwas zu warm, sie hatte die ganze Zeit leichte Atemnot, als
ob sie andauernd laufen würde. Dementsprechend hoch war auch ihr Pulsschlag.
Ihrer Mutter hatte sie das Problem geschildert, doch diese tat das Ganze als
Unsinn ab und redete irgendetwas von einer Phase. Zumindest gab ihr ihre Mutter
soviel zu Essen, wie sie haben wollte, doch auch dies nur unter Gestöhne, weil
sie doch eigentlich sparen müssten. Sie konnten sich im Moment einfach keine
Probleme leisten und deshalb gab es auch keine. Basta!
Es war gerade Ende der vierten Stunde am Montag und Chihiro freute sich schon
sehnsüchtig auf das Mittagessen, als sie beobachtete, wie sich Bunzo Abe mit
zweien seiner Freunde, die er inzwischen gewonnen hatte, sich im Flur Ichiyo
Matsumoto stellten und sich drohend vor dem Jungen aufbaute, flankiert von
Hiroaki Matokai aus ihrer eigenen Klasse und Susumo Takasugi aus der
Parallelklasse.
Nach und Nach hatte sich Bunzo immer mehr als kleiner Tyrann herausgestellt, der
eine kleine Schar Williger um sich herum versammelte und begann, alle anderen zu
terrorisieren. Hiroaki war ein gutes Beispiel für die Leute, die Bunzo um sich
herum versammelte. Er war ein relativ kleiner Junge mit verkniffenem Gesicht,
der häufiger im Unterricht einschlief und sonst auch selten etwas mitschrieb.
Nach allem, was Chihiro über ihn wusste, war er einfach dumm wie Brot.
Auf jeden Fall war unschwer zu erkennen, dass Ichiyo sich nicht besonders wohl
zu fühlen schien und er redete panisch auf Bunzo ein. Dieser jedoch grinste nur
und boxte Ichiyo in den Bauch, der daraufhin kein sehr glückliches Gesicht
machte.
Chihiro geriet außer sich vor Fassung, als sie diese Szene beobachten musste.
Sie hatte Bunzo vom ersten Moment an nicht gemocht und vor zwei Wochen hatte er
sie und ihre Eltern lächerlich gemacht. Von Tag zu Tag war er ihr danach
unsympathischer geworden, aber für Hassgefühle hatte es nicht gereicht, bis
jetzt.
Wenn jetzt keiner Bunzo Einhalt gebot, würde es immer schlimmer werden und er
würde irgendwann die ganze Klasse terrorisieren, dass hatte sie in ihrer alten
Schule auch schon einmal erlebt. Ohne jede Spur von Furcht rannte Chihiro, ihre
Schwäche vergessend, zu Ichiyo und Bunzo hinüber.
"... tausend Yen, jede Woche!", hörte sie Bunzo gepresst sagen, als sie näher
kam, "Oder wir werden dich nicht beschützen!"
Chihiro erreichte in diesem Moment die beiden und quetschte sich Bunzo wütend
anstarrend zwischen sie, was ihr nicht sonderlich schwer fiel. Ayaka, mit der
Chihiro sich vorher unterhalten hatte, kam jetzt auch vorsichtig näher. Sie
mochte Bunzo auch nicht, wollte eigentlich so wenig wie möglich mit ihm zu tun
haben und die Entwicklung in den letzten Wochen hatte ihr nicht gefallen, denn
langsam bekam auch sie Angst vor dem Jungen.
"Ach schau an, wen wir da haben.", meinte dieser überrascht, "Unsere kleine
Tofu Fresserin."
"Lass ihn in Ruhe!", fauchte Chihiro Bunzo an.
"Und warum sollte ich das tun? Weil du das sagst?" Verächtlich wischte Bunzo
das zwei Köpfe kleinere Mädchen zur Seite. "Schieb ab, ich hab noch was zu
besprechen.", grunzte er.
Chihiro war von dem kurzen Sprint zuvor mittlerweile ganz schwindelig und übel
geworden, so dass sie fast hinfiel. Sterne tanzten vor ihren Augen, aber sie
wollte vor Bunzo und seiner Bande nicht klein beigeben.
Inzwischen waren außer Ayaka auch noch andere Schüler auf das Geschehen
aufmerksam geworden und hatten sich um Chihiro und Bunzo geschart. Unbeeindruckt
von Bunzos Größe stellte sie sich wieder zwischen ihn und Ichiyo.
"Wenn du was von ihm willst, musst du erst an mir vorbei.", sagte sie, Bunzo
direkt in die Augen blickend, wobei sie verzweifelt versuchte, nicht ohnmächtig
zu werden, nicht ausgerechnet jetzt.
Bunzo seinerseits gefiel die Situation immer weniger, jetzt da immer mehr Zeugen
hinzukamen. Er musste irgendwie dieses winzige, scheinbar verrückte Mädchen in
ihre Schranken verweisen, dass sich doch tatsächlich erdreistete, sich ihm in
den Weg zu stellen. Irgendwie musste er es schaffen ihr Angst zu machen, sie
einzuschüchtern, sonst würde ihn in Zukunft keiner mehr ernst nehmen. Wie
sollte sie ihn auch ernst nehmen, wenn er es nicht einmal schaffte, mit einem
kleinen, dünnen Mädchen fertig zu werden.
Mit wutrotem Kopf gab er Chihiro eine Ohrfeige, keine besonders feste,
eigentlich nur ein Wischer um sie zu erschrecken, aber in dem Moment wo er ihre
Wange berührte, leuchtete Chihiros Haarband kurz violett, was aber nur Ichiyo
bemerkte, der ja direkt hinter ihr stand, und gab es einen lauten Knall, als
hätte jemand mit einer Peitsche geschlagen.
Bunzo starrte einen kurzen Moment überrascht auf seine Hand, bevor dann seine
Augen hervorquollen und er vor Schmerzen jaulend anfing, durch die Gegend zu
hüpfen. Für ihn hatte es sich angefühlt, als hätte er mit voller Kraft gegen
eine Betonwand geschlagen, seine Hand pulsierte im Rhythmus seines Herzschlages
und begann anzuschwellen.
Chihiro bekam von der ganzen Sache nichts mehr mit. Sie hatte die Ohrfeige
überhaupt nicht gespürt, sondern ihr war mittlerweile derart schwummerig, dass
ihr Schwarz vor Augen wurde. Ohne einen Laut von sich zu geben, sackte sie
langsam vor Ichiyo in sich zusammen, der beim Versuch sie aufzufangen aber etwas
zu spät reagierte. Die meisten der Umstehenden hatten den Eindruck, als währe
ihre Ohnmacht die Folge der Ohrfeige Bunzos.
Chihiro hatte das Gefühl als würde sie schweben, sich langsam um die eigene
Achse drehen, alles war warm und weich wie Watte. Langsam drang dann ein
unangenehmes Druckgefühl an ihrem linken Arm in ihr Bewusstsein und sie
versuchte es loszuwerden, indem sie den Arm etwas bewegte. Aber es half nicht.
Mit ihrer rechten Hand tastete sie nach der drückenden Stelle und fühlte, dass
ein Schlauch aus ihrem Arm herauskam. Das verwirrte sie. War sie denn nicht in
der Schule?
"Ah, sie wacht auf.", hörte sie eine männliche Stimme sagen und eine andere,
weibliche dann, die sie als die Stimme ihrer Mutter identifizierte: "Chihiro,
mein Kleines. Was machst du denn nur für Sachen."
Als sie die Augen aufmachte, musste sie zuerst Blinzeln und sah dann die
besorgten Gesichter ihrer Eltern und eines Mannes in einem weißen Kittel über
sich hängen. Sie war in einem Raum mit freundlichen Farben und bunten Bildern
an den Wänden. Neben ihr stand ein Gestell, an dem eine Flasche aufgehängt
war, aus der ein Schlauch zu ihrem Arm führte und Flüssigkeit tropfenweise
über eine Kanüle in eine Vene floss, was das Druckgefühl verursachte.
"Hallo Mama, hallo Papa. Was mache ich denn im Krankenhaus?", wollte sie wissen,
wobei sie versuchte sich aufzurichten, aber kraftlos wieder zurücksank. Ihr
Vater eilte zur Hilfe und kurbelte das Kopfende des Bettes hoch, so dass Chihiro
in eine halb sitzende Position kam.
"Kannst du dich denn an gar nichts erinnern, dass dieser grässliche Junge dich
geschlagen hat?" Chihiro schüttelte den Kopf. "Er soll mich geschlagen haben?
Ich weiß nur noch, dass mir plötzlich schwarz geworden ist vor Augen und dann
bin ich hier wieder aufgewacht.", meinte sie.
In diesem Augenblick kam eine Krankenschwester mit einer Mappe herein, die sie
dem Arzt übergab. "Dr. Ito, hier sind die Ergebnisse der Blutuntersuchung des
Mädchens und die anderen Befunde.", sagte sie kurz angebunden und verschwand
eilends wieder. Dr. Ito studierte die Mappe eine Weile lang, während Yuuko
Ogino auf der Bettkante sitzend Chihiro streichelte und ihr Vater Akio, den Arzt
beobachtend, nervös auf und ab tigerte. Chihiro war die Aufmerksamkeit, die ihr
hier zuteil wurde, fast unangenehm.
Energisch klappte der Arzt schließlich energisch die Mappe zu und blickte
Chihiros Eltern streng an. "Herr und Frau Ogino, würden sie bitte einmal mit
nach draußen kommen. Ich möchte mit ihnen über ihre Tochter reden." Damit
marschierte er aus dem Zimmer und ihre Eltern hinterher, welche die Tür hinter
sich schlossen.
"Nun, wie aus den Untersuchungsergebnissen hervorgeht, wurde ihre Tochter
keineswegs durch einen irgendwie gearteten Schlag bewusstlos.", eröffnete er
den verdutzten Eltern, "Wir konnten keinerlei Zeichen einer Gehirnerschütterung
feststellen, ihre Pupillenreaktionen waren trotz Bewusstlosigkeit vollkommen
normal. Weiterhin konnten wir kein Anzeichen für ein Hämatom, also einen
Bluterguss, im Kopfbereich feststellen, wie es für solche heftigen Schläge
charakteristisch ist. Es hat, soweit wir das feststellen konnten, keinerlei
Gewalteinwirkung gegeben."
"Ja aber warum ist sie dann zusammengeklappt. Alle Augenzeugen haben einhellig
berichtet, dass der Junge sie heftig geschlagen hat.", warf Akio Ogino ein.
"Das will ich ihnen jetzt erklären. Ihre Tochter ist ohnmächtig geworden, weil
sie vollkommen unterzuckert gewesen ist.", ließ Doktor Ito die Katze aus dem
Sack, "Ich muss schon sagen, dass sie in einer körperlich ziemlich schlechten
Verfassung ist. Nicht nur dass Chihiro für ihr Alter deutlich zu klein ist, sie
hat auch erhebliches Untergewicht. Sie wiegt ja gerade noch 17 kg bei einer
Körpergröße von nur 120 cm und dass mit 10 Jahren! Das ergibt einen Body Mass
Index von gerade einmal 11,8."
"Wollen sie etwa behaupten, dass wir unserer Tochter zu wenig zu essen geben?",
empörte sich Akio Ogino.
"O nein, keineswegs. Laut den Aussagen der Lehrerin, Frau Watanabe, die zusammen
mit ihrer Tochter zu uns gekommen war, hat sie Chihiro in jeder Unterrichtspause
etwas essen sehen. Ich habe auch den Schulranzen ihrer Tochter inspiziert und er
war voller Süßigkeiten und Essensreste, wie etwa Bananenschalen oder
Kekskrümeln. Wissen sie, der Zustand ihrer Tochter war mir sogleich bei der
Einlieferung aufgefallen, deshalb habe ich ja auch sofort gefragt. Ich habe
einen Verdacht und möchte, dass sie mir zwei Fragen ehrlich beantworten: Hat
ihre Tochter in letzter Zeit ungewöhnlich viel gegessen und ist sie häufig auf
der Toilette verschwunden?"
"Um es ehrlich zu sagen, hat Chihiro uns in der letzten Zeit fast die Haare vom
Kopf gegessen und ich glaube auch, das sie öfters heimlich nachts an den
Kühlschrank gegangen sein muss.", antwortete Yuuko Ogino stirnrunzelnd, "Und
ja, sie ist auch relativ häufig auf die Toilette gegangen, wenn ich es recht
überlege. Ich dachte, das muss so sein, wenn sie soviel isst. So sagen sie
doch, Herr Doktor, was hat sie denn nun?"
"Sehen sie, das bestätigt genau meine Vermutung.", meinte Doktor Ito, jetzt mit
etwas freundlicherer Mine, "Sie ist zwar noch sehr jung für so etwas, aber der
Trend geht ja in letzter Zeit dahin, dass die betroffenen Personen immer jünger
werden. Ich glaube dass ihre Tochter an Bulimie leidet, der so genannten
Ess-Brech-Sucht! Das ist eine besonders unangenehme Form der Magersucht, bei der
die betroffenen Personen anfallartig Unmengen an Nahrungsmitteln in sich
hineinstopfen, um sie dann heimlich auf der Toilette wieder zu erbrechen."
"Wollen sie damit sagen, dass sie die ganzen Sachen in sich hineinstopft, um sie
dann später auf dem Klo heimlich wieder auszukotzen?", wollte Akio Ogino mit
Besorgnis in der Stimme wissen, woraufhin der Arzt nur nickte.
"Wissen sie, bei der Bulimie handelt es sich in erster Linie um ein psychisches
Phänomen. Ihre Tochter muss also in psychiatrische Behandlung. Wir werden
morgen damit beginnen.", erläuterte dieser weiterhin, "Auch müssen wir den
Kreislauf der heißhungrigen Fressattacken mit dem anschließenden Erbrechen
stoppen und gleichzeitig ihre Tochter wieder zu Kräften kommen lassen, so dass
sie ein bis zwei Kilos zunimmt, bevor wir sie nach Hause entlassen können. Das
wird denke ich einmal etwa eine Woche in Anspruch nehmen. Wichtig dabei ist auf
jeden Fall, dass sie unter gar keinen Umständen von irgendeiner Person nebenbei
etwas zu Essen bekommt, dass sie dann in sich hineinschlingt und wieder
erbricht. Sie wird von uns eine ausgewogene, nährstoffreiche Diät erhalten mit
fünf kleineren Mahlzeiten am Tag und etwa 2500 Kilokalorien. Das sollte mehr
als ausreichend sein, denke ich. Außerdem muss sie die ganze Zeit überwacht
werden, damit sie nicht wieder heimlich auf die Toilette geht."
Danach verabschiedete sich Doktor Ito von Chihiros Eltern, um sich um andere
Patienten zu kümmern, und ihre Eltern kehrten zu Chihiro in ihr Zimmer zurück
und verbrachten den Abend mit ihrer Tochter, fütterten sie, als es Essen gab
und warfen eine Münze in den Fernsehautomaten auf dem Flur, so dass der
Fernseher in ihrem Zimmer aktiviert wurde.
Nach einer vor Hunger halb durchwachten Nacht, gab es am nächsten Morgen gegen
6:00 Uhr das Frühstück und Chihiro hatte das Essen in wenigen Minuten verputzt
und bat dann die Krankenschwester, ob sie nicht noch mehr haben könnte, aber
diese ließ sich nicht erweichen. Dann musste sie feststellen, dass die Tür zur
Toilette in ihrem Zimmer zugeschlossen war und sie nach der Schwester klingeln
musste, wenn sie auf das Klo musste. Gegen halb acht Uhr kam dann plötzlich
Ayaka zur Tür herein spaziert.
"Hallo Chihiro, na wie geht's dir denn.", grüßte sie gutgelaunt.
"Hallo Ayaka, ich freu mich ja so, dass du mich besuchen kommst.", hieß Chihiro
sie willkommen, "Sag mal, kannst du mir irgend etwas zu Essen besorgen."
Traurig schüttelte Ayaka den Kopf. "Ich hatte dir eigentlich einen Beutel mit
Süßigkeiten mitgebracht, aber den hat mir die Krankenschwester abgenommen. Und
sie hat gesagt, sie würde mir alles abnehmen, was ich mitbringe. Ich weiß auch
nicht wieso."
"Na macht nichts, ich werde schon irgendwie über den Tag kommen.", meinte
Chihiro daraufhin aufmunternd, "Erzähl doch, was denn gestern noch alles
passiert ist, nachdem ich ohnmächtig geworden bin. Hat Bunzo mich wirklich
geschlagen?"
"Weißt du das denn nicht mehr?", wunderte Ayaka sich, "Nachdem du dich vor
Ichiyo gestellt hast, hat Bunzo dich geschlagen und es hat einen lauten Knall
gegeben und dann bist du umgefallen. Ich kann es immer noch nicht fassen, wie
mutig du warst. Dich einfach diesem Rüpel in den Weg zu stellen. Ich bin fast
umgekommen vor Angst. Hinterher ist dann der Krankenwagen gekommen und der
Direktor hat sich Bunzo vorgeknöpft und uns alle ausgefragt."
"Was meinst du mit vorgeknöpft?", wollte Chihiro wissen.
"Na ja, also zuerst hat er ihn mit auf sein Büro genommen und dann ist sein
Vater gekommen und hat ihn abgeholt. Besonders glücklich hat er nicht
ausgesehen. Er wurde erst mal vom Unterricht subversiert, oder so."
"Suspendiert meinst du. Och, das habe ich nicht gewollt. Ich wollte doch nur,
dass der Blödmann aufhört und Ichiyo in Ruhe lässt. Das Ganze währ doch
sonst immer schlimmer geworden.", staunte Chihiro über ihren Erfolg.
"Du hast das nicht gewollt. Erst stellst du dich Bunzo todesmutig in den Weg und
er haut dich KO und dann sagst du, du hast das gar nicht gewollt.", regte sich
Ayaka auf, "Aber jetzt ist Bunzo erst mal bei allen unten durch und wird sich
hüten noch mal aufzufallen. Dank dir."
In diesem Augenblick öffnete sich langsam und vorsichtig die Tür und Ichiyo
steckte seinen Kopf herein. "Hallo Ichiyo, komm doch rein. Ich freu mich, dass
du kommst.", ermunterte ihn Chihiro. Er huschte herein, drehte sich um, schloss
ganz leise die Tür wieder hinter sich, drehte sich wieder um und bekam ganz
große Augen, als er sah, dass auch Ayaka mit im Zimmer war. In seiner rechten
Hand hielt er einen großen Blumenstrauß und kam dann zögerlich näher, wobei
er leicht verwirrt abwechselnd zu Chihiro und zu Ayaka blickte.
"Ich äh, ... wollte. Also gestern... Chihiro... Äh D.. Da.. Danke.", sagte er
stockend, wobei er krebsrot im Gesicht wurde, legte Chihiro die Blumen auf das
Bett und rannte Hals über Kopf aus dem Zimmer.
"Hihihi, hast du gesehen, er ist ganz rot geworden. Wie süß.", kicherte Ayaka,
während Chihiro ihren Blumenstrauß inspizierte.
"Schau mal, Ayaka, er hat sogar ein Kärtchen mit dabei. Mein letzter
Blumenstrauß war ein Abschiedsstrauß, weißt du. So ist es mir viel lieber."
"Ein Kärtchen? Zeig mal." Chihiro reichte Ayaka das Kärtchen und diese las
vor: "Liebe Chihiro. Vielen Dank für deine mutige Hilfe und alles Gute für die
Genesung. Ichiyo"
"Huch, da steckt ja noch etwas in dem Blumenstrauß. Guck mal, ein Beutel voll
mit Pralinen. Den muss die Krankenschwester wohl übersehen haben."
"Ui, das ist aber lieb von ihm. Pass auf, besser du versteckst die Pralinen,
damit die Schwester sie nicht findet.", meinte Ayaka, woraufhin ihr Chihiro ihr
eine Praline abgab und selber eine aß. "Ich glaube du hast recht. Die heb ich
mir für nachher auf, wenn ich mal so richtig Hunger bekomme."
Damit stopfte Chihiro die Pralinen wieder in den Blumenstrauß zurück, den sie
in die leere Vase auf dem Nachttisch stellten, denn außer unter dem Kopfkissen,
dessen Bezug ja wohl im laufe des Tages gewechselt werden würde, gab es kein
wirklich geeignetes Versteck im Krankenzimmer.
"Du, hör mal. Ich glaube ich muss jetzt gehen, sonst komm ich zu spät zur
Schule.", verabschiedete sich Ayaka plötzlich, als sie auf die Uhr an der Wand
sah, "Auf Wiedersehen Chihiro, ich komme dich Morgen wieder besuchen."
Sie ging zur Tür und lächelte Chihiro zum Abschied noch einmal zu, bevor sie
den Raum verließ. Wieder alleine versuchte sich Chihiro irgendwie die Zeit zu
vertreiben, denn sie hatte nichts zu lesen dabei und der Fernseher wollte auch
nicht funktionieren, weil sie kein Geld für den Automaten hatte.
Gegen zehn Uhr bekam sie ein weiteres mal etwas zu essen, was aber vorne und
hinten nicht reichte, so dass sie bis Mittag ihre Pralinen eine nach der anderen
aufgegessen hatte. Kurz nach dem Mittagessen tauchten ihre Eltern auf, die ihr
das Harry Potter Buch mitbrachten und auch etwas Geld für den Fernsehautomaten.
Sie unterhielten sich eine Weile mit ihr und erzählten, wie gestern Abend noch
Bunzos Vater zu ihnen gekommen war und sich fast auf Knien für seinen
ungeratenen Sohn entschuldigt hatte. Dann gegen zwei Uhr holte der Arzt und eine
Schwester Chihiro ab, setzten sie in einen Rollstuhl und brachten sie zum
Kinderpsychologen.
Der Kinderpsychologe stellte sich als eine freundlich, weißhaarige ältere Frau
heraus, die sich als Frau Yamamoto vorstellte. Chihiro wurde von der Schwester
in einen bequemen Sessel gesetzt und dann unterhielt sich die Psychologin eine
Weile mit ihr über alles mögliche, über die Eltern, die Schule, ihre Freunde,
was sie gerne isst, was sie in der Freizeit so alles macht und vieles anderes,
wobei sie auch einige Male lachten.
Dann spielten sie ein Spiel, bei dem Chihiro Farbkleckse auf Papier beschreiben
musste und obwohl sie wusste, dass die Bilder eigentlich nichts darstellten,
fühlte sie sich immer wieder an einen Drachen erinnert. Nach dem Spiel wurde
sie auf eine bequeme Liege gelegt und die Psychologin hypnotisierte sie.
Das war ganz witzig, irgendwie wie einschlafen und träumen und das wichtigste
war, dass sie ihren bohrenden Hunger für eine Zeit lang nicht mehr spürte.
Irgendwann dann wachte sie wieder auf und blickte in das lächelnde Gesicht Frau
Yamamotos, die sich dann ganz lieb von ihr verabschiedete.
Erinnern konnte sich Chihiro an nichts, was während der Hypnose passiert war.
Sie wurde wieder in ihren Rollstuhl gesetzt und von der Krankenschwester wieder
zurück in ihr Zimmer geschoben, wo sie schon von ihren Eltern und Doktor Ito
erwartet wurden.
Ihre Eltern hatten Chihiro alles mögliche mitgebracht, wie etwa frische
Kleider, Sachen zum Zähneputzen und Waschen, ein paar Spielsachen, ihre
Schulbücher und, worüber sich Chihiro sehr freute, den dritten Harry Potter
Band: "Harry Potter und der Gefangene von Askaban", der gerade auf Japanisch
erschienen war. Danach wurden ihre Eltern und Doktor Ito zu der Psychologin
bestellt.
Frau Yamamoto empfing sie in ihrem Raum, der wie alle Räume auf der
Kinderstation des Krankenhauses sehr freundlich, ja richtiggehend gemütlich
eingerichtet war.
"Schön, dass sie sich Zeit nehmen konnten, Herr und Frau Ogino, Doktor Ito.",
begrüßte sie Psychologin ihre Gäste und verbeugte sich, "Wenn ich mich
vorstellen darf, mein Name ist Yamamoto. Bitte nehmen sie doch Platz."
Akio und Yuuko Ogino nahmen auf einem Sofa platz und Doktor Ito setzte sich in
den Sessel, in dem Chihiro zuvor gesessen hatte. Frau Yamamoto nahm in einem
weiteren Sessel ihnen gegenüber Platz.
"Wie sie sicherlich wissen, bin ich die Psychologin dieses Krankenhauses und ich
habe mich insbesondere auf die Kinderpsychologie spezialisiert.", begann sie,
"Vorhin habe ich mich gut eineinhalb Stunden mit ihrer Tochter beschäftigt,
insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Verdachts meines geschätzten Kollegen
Dr. Itos auf Bulimie. Das Gespräch mit ihrer Tochter hat zunächst keine
besonderen Hinweise auf etwaige psychische Störungen Chihiros erbracht. Erst
der Rorschachtest hat eine merkwürdige Affinität ihrer Tochter zu Drachen
gezeigt, die mich stutzig gemacht hat. Ich interpretierte dies als einen starken
Freiheitsdrang, den es zu ergründen galt. Daher entschloss ich mich, die
Befragung ihrer Tochter unter Hypnose fortzusetzen, um weiteres zu erfahren und
den Grund für die mögliche psychische Störung herauszufinden."
"Sie haben Chihiro hypnotisiert? War das denn wirklich notwendig?", wandte Akio
Ogino ein, "Ich meine, das ist immerhin ein tiefer Persönlichkeitseingriff."
"Ja, ich hielt diese Maßnahme in diesem Fall für gerechtfertigt, denn immerhin
geht es ihrer Tochter wirklich nicht besonders gut.", erwiderte Frau Yamamoto,
"Auf jeden Fall hat die Hypnose ihrer Tochter einige sehr interessante Dinge zu
Tage gefördert. Sie erzählte mir eine sehr verworrene Geschichte, oder
vielleicht einen Traum, in dem sie, Herr und Frau Ogino, als Schweine vorkamen.
Weiterhin kamen in dem Traum eine oder mehrere Hexen vor, ich muss das Tonband
des Mitschnittes noch einmal checken, ein großes Badehaus, in dem ihre Tochter
schuften musste, ein Junge, dem sie offenbar sehr zugeneigt war, ein weißer
Drache, ein riesengroßes Baby und eine merkwürdige schwarze Gestalt mit einer
Maske als Gesicht, die etwas schwierig zu interpretieren ist."
"Und, was bedeutet das alles?", wollte Chihiros Mutter wissen.
"Nun, das will ich ihnen sagen. Das Badehaus mit der Hexe als Leiterin, kann
problemlos als Synonym für die Schule interpretiert werden, von der sich ihre
Tochter aufgrund überzogener Leistungsanforderungen stark unter Druck gesetzt
sieht. Dementsprechend ist auch ihre Erscheinung in der Gestalt von Schweinen zu
sehen, da sie es offensichtlich versäumen, ihre Tochter vor diesem Druck zu
schützen oder ihn sogar verstärken."
Chihiros Eltern sahen einander betreten an und schienen etwas in sich
zusammenzusinken.
"Der Junge ist als Wunsch nach partnerschaftlicher Bindung zu sehen,
wahrscheinlich ist darin sogar der Junge sehen, den ihre Tochter in der Schule
zu schützen versucht hat, und das Baby interpretiere ich als den Wunsch nach
familiärer Geborgenheit, der es ihrer Tochter anscheinend zu mangeln scheint.
Beides ergänzt sich hervorragend. Die schwarze maskierte Gestalt ist als
Synonym für die gesichtslose, ungewisse Zukunft zu sehen, die droht Chihiro zu
verschlingen. Am meisten beeindruckt hat mich die Schilderung eines Rittes ihrer
Tochter auf dem Rücken eines weißen Drachens durch die Nacht in den Morgen
hinein, der sich dann in besagten Jungen verwandelt. Hierin ist ganz klar der
übermächtige Wunsch ihrer Tochter zu sehen, der nach und nach unerträglichen
Situation zu entfliehen und mit dem Jungen irgendwo anders ein neues Leben
schwerelos wie im Flug zu verbringen. Dies muss letztendlich als Ursache für
die Bulimie mit einhergehender Magersucht ihrer Tochter gelten.", beschloss die
Psychologin ihre Erläuterungen.
"Ja aber, was hat das Ganze denn nun zu bedeuten?", fragte Chihiros Mutter
betroffen, denn sie wollte dieser um jeden Preis helfen.
"Das bedeutet, einfach gesagt, dass ihre Tochter dringend psychologische
Betreuung benötigt und ihr gesamte schulisches und familiäre Umfeld einer
gründlichen Überprüfung bedarf.", antwortete Frau Yamamoto und fragte dann:
"Ich würde gerne wissen, wie lange dieses Problem eigentlich schon besteht,
dass geht nämlich aus den Unterlagen nicht hervor, wie lange hat Chihiro
eigentlich schon ihre Fressattacken?"
"Nun, soweit ich es bemerkt hatte, fing die ganze Sache kurz nach unserem Umzug
hierher an. Das war vor jetzt gut dreieinhalb Wochen.", antwortete Yuuko Ogino
und jetzt waren es Frau Yamamoto und Dr. Ito, die einander überrascht
anblickten, denn sie hatten mit einer wesentlich längeren Zeitspanne
gerechnet.
"Dreieinhalb Wochen? Das ist eine viel zu kurze Zeitspanne, um den Zustand ihrer
Tochter zu erklären.", entfuhr es Dr. Ito, "Das Problem muss, denke ich, seit
mindestens einem Jahr bestehen!"
"Auf jeden Fall gibt und der Umzug und die damit verbundene Veränderung der
Umgebung liefert uns einen wichtigen Hinweis auf den Auslöser der psychischen
Schwierigkeiten ihrer Tochter. Sagen sie, hat sich das Verhalten ihrer Tochter
vor und nach dem Umzug irgendwie entscheidend verändert, von ihren
Fressattacken einmal abgesehen?"
"Ja also, vor unserem Umzug war Chihiro eigentlich relativ teilnahmslos, sie hat
zwar immer alles gemacht, was man ihr gesagt hat, aber auch nicht mehr. An und
für sich hat sie sich gegen den Umzug ziemlich gesträubt. Aber als wir dann
einmal hier waren, war sie auf einmal viel fröhlicher, nicht wahr Schatz, hat
sich für alles und jeden interessiert, mir freiwillig bei der Hausarbeit
geholfen und sogar angefangen selber zu Kochen. Die Hausaufgaben hat sie ohne
Ermahnung und das sogar viel schneller als vorher gemacht. Außerdem hat sie
auch gleich eine neue Freundin gewonnen, Ayaka Fukazawa heißt sie, glaube ich.
Ihre alte Freundin, Risa, scheint sie kaum noch zu vermissen."
Das war nun gar nicht die Antwort, die die Psychologin erwartet hätte, eher
hatte sie damit gerechnet, dass es genau umgekehrt gewesen und Chihiro nach dem
Umzug teilnahmslos und apathisch geworden währe.
"Jetzt einmal von der Psychologie ganz abgesehen. Die offensichtliche
Kleinwüchsigkeit ihrer Tochter muss doch irgendwann ihren Ausgangspunkt
genommen haben. Laut Wachstumstabelle fehlen ihr ja annähernd 10 Zentimeter zu
ihren Altersgenossinnen und ich kann keinen Grund sehen, dass diese
Kleinwüchsigkeit aufgrund genetischer Faktoren bedingt währe, wenn ich mir sie
so ansehe, Herr und Frau Ogino. Gab es in der Vergangenheit irgendwann einmal
eine tief greifende Erkrankung, welche die Ursache dafür sein könnte.", hakte
der leicht verwirrte Dr. Ito nach, dem die Angelegenheit zunehmend unlogischer
vorkam.
"Wissen sie, vor etwa fünf Jahren hätten wir Chihiro beinahe verloren. Damals
war sie noch im Kindergarten und eines Tage brach sie plötzlich zusammen und
wurde bewusstlos in eine Klinik eingeliefert.", erinnerte sich Akio Ogino,
"Genau wie gestern, aber trotzdem anders. Sie war damals mehrere Wochen lang
Bewusstlos und musste sogar zweimal wiederbelebt werden. Die Ärzte konnten
damals keine Ursache dafür entdecken und waren gänzlich ratlos, denn
anscheinend litt Chihiro unter großen Schmerzen, obwohl sie das nicht mit
Bestimmtheit sagen konnten. Irgendwann dann erholte sie sich plötzlich und war
fast wieder wie vorher. Ich konnte mich damals leider nicht so um Chihiro
kümmern, wie es wohl notwendig gewesen währe, aber ich war leider mit der
Überwachung dieses Neubauprojektes and dem Fluss sehr beschäftigt."
"Genau so ist es gewesen. Vor diesem Zwischenfall war Chihiro eigentlich sogar
relativ groß für ihr Alter und sie fing an sogar ein wenig pummelig zu
werden.", ergänzt Yuuko Ogino, "Aber danach wurde sie immer dünner und blieb
im Wachstum immer weiter inter ihren Altersgenossinen zurück. Wenn sie es
wünschen, werde ich ihnen Chihiros damalige Krankenakte heraussuchen."
"Ja, ich denke, das könnte mir weiter helfen.", sagte Dr. Ito, "Auf jeden Fall
wirft diese Angelegenheit ein ganz anderes Licht auf den Fall."
Damit verabschiedeten sich Chihiros Eltern und Dr. Ito von der Psychologin, die
sich zuletzt von der Entwicklung des Gesprächs ein wenig überfahren
vorgekommen war.
Nachdem ihre Eltern zu der Psychologin gerufen worden waren, blieb Chihiro nur
kurze Zeit alleine, denn kurz nach 16 Uhr kam sie auf einmal ihre gesamte
Schulklasse inklusive ihrer Lehrerein zu Besuch. Sie hatten ihre
außerschulischen Aktivitäten erlassen bekommen, um in das Krankenhaus kommen
zu können. Alle waren sie rührend besorgt und lobten sie wegen ihrer großen
Tapferkeit, dass es ihr schon fast peinlich wurde.
Einerseits freute sie sich über den Besuch, andererseits hatte sie aber bereits
wieder solchen Hunger, dass ihr sogar im Bett liegend schwindelig wurde.
Irgendwie schaffte sie es, dem Besuch zu überstehen, ohne sich etwas anmerken
zu lassen, war dann aber dennoch erleichtert, als alle wieder gegangen waren.
Leider hatte sie nur einige wenige Worte mit Ayaka wechseln können.
Gegen 17 Uhr gab es dann ihr Nachmittagsmahl, dass sie in Windeseile herunter
geschlungen hatte, noch bevor die Schwester die es gebracht hatte, das Zimmer
verlassen hatte, ohne dass es groß eine Sättigung bewirkt hätte. Kurz darauf
kamen ihre Eltern von der Psychologin zurück und Chihiro bat diese fast
flehentlich um etwas zu Essen, was diese aber trotz ihrer rührenden Besorgnis
hartnäckig verweigerten.
Sie blieben bis nach dem Abendessen, dass gegen 20 Uhr gebracht wurde, bevor sie
sich dann von ihr verabschiedeten und ihr eine gute Nacht wünschten. Chihiro
versuchte danach noch ein wenig in ihrem Harry Potter Buch zu lesen, konnte sich
aber vor lauter Hunger nicht richtig konzentrieren. Einschlafen konnte sie auch
nicht, aus dem selben Grund.
Irgendwann nach Mitternacht, wurde es so schlimm, dass sie beschloss
aufzustehen, um sich irgendwie etwas zu Essen zu besorgen, egal was, egal wie.
Sie schaffte es jedoch nur bis zur Zimmertür, wo ihr Schwarz vor Augen wurde
und sie ohnmächtig zusammenbrach. So wurde sie am nächsten Morgen auf dem
Boden liegend gefunden.
"Herr und Frau Ogino, ich bin froh, dass sie so schnell kommen konnten.", sagte
Dr. Ito verlegen, "Ich glaube, wir, äh, haben den Zustand ihrer Tochter
stabilisieren können."
Akio Ogino baute seine mächtige, korpulente Gestalt vor Dr. Ito auf und stemmte
seine Fäuste in die Hüften. "Was ist mit Chihiro passiert?", forderte er von
dem Arzt zu wissen.
"Nun, äh, wir haben Chihiro heute Morgen bewusstlos in ihrem Zimmer
aufgefunden. Trotz aller Maßnahmen, die wir ergriffen, wurde der Zustand ihrer
Tochter rapide schlechter.", erläuterte Dr. Ito eilfertig, "Erst als wir zu
einer ungewöhnlichen und radikalen Maßnahme griffen, gelang es uns Chihiro zu
retten."
"Chihiro zu Retten?!? Jetzt sagen sie schon, was mir meiner Tochter los ist?",
rief Yuuko Ogino mit einem Anflug von Panik in ihrer Stimme.
"Es scheint, als ob unsere erste Diagnose auf Bulimie mit einhergehender
Magersucht ihrer Tochter nicht ganz zuzutreffen schien. Aber wie hätten wir
auch die blitzartige Entwicklung des Problems Chihiros vorhersehen können.",
versuchte Dr. Ito sich zu rechtfertigen, "Jedenfalls sank ihr Blutzuckerspiegel
immer weiter bis hinein in lebensbedrohliche Bereiche, welche Gegenmaßnahme wir
auch ergriffen. Erste die Infusion einer konzentrierten Zuckerlösung brachte
uns eine Verschnaufpause. Eine Maßnahme übrigens, die jeden anderen Patienten
unweigerlich getötet hätte."
"Wollen sie damit sagen, dass sie hier medizinische Experimente mit Chihiro
durchführen?", echoffierte sich ihr Vater, indem er sich drohend zu Dr. Ito
hinüberbeugte.
"Nein, nein, nein, so war das nicht gemeint.", beeilte sich der Arzt zu sagen,
"Es scheint nur so, dass Chihiro mit ihren Fressattacken nur versucht hat, ihren
stark erhöhten Kalorienverbrauch zu decken. Wir haben ihre Tochter vorhin noch
einmal gewogen und sie brachte gerade noch einmal 15 Kg auf die Waage. Dass
heißt, sie hat seit vorgestern, seit ihrer Einlieferung, zwei Kilogramm
abgenommen! Das würde bedeuten, dass sie ein Defizit von ca. 15000 Kilokalorien
hatte, was etwa den 2 Kg Gewichtsverlust entsprechen würde! Aus dieser
Überlegung heraus sagten wir uns, dass nur eine drastische Kalorienzufuhr ihre
Situation verbessern könnte und die konzentrierte Zuckerlösung hat
tatsächlich Erfolg gezeigt. Ich denke wir haben viel Glück gehabt, dass wir
ihr Leben noch haben retten können, denn ich denke nicht, dass sie noch weitere
zwei Tage durchgehalten hätte. Es war auf jeden Fall sehr knapp gewesen!"
"Also war das ganze Zeug, was sie uns Gestern erzählt haben alles Unsinn.",
ärgerte sich Chihiros Mutter, "Diese ganze angebliche Bulimie und die
Psychologie, das war alles nur Bockmist und sie haben Chihiros Leben deshalb in
Gefahr gebracht!"
"Ich glaube, jetzt sind sie ein wenig streng.", meinte Dr. Ito, "Was da mit
ihrer Tochter passiert ist, glaube ich, einmalig in der Medizinhistorie, weshalb
wir die Entwicklung nicht vorhersehen konnten. Ohne unseren Eingriff währe das
Problem, denke ich, innerhalb kurzer Zeit von ganz alleine so schlimm geworden.
Auf jeden Fall müssen wir dieses Phänomen näher untersuchen und seine
Ursachen ergründen."
"Und ich wünsche auf jeden Fall auf der Stelle meine Tochter zu sehen!",
forderte der besorgte Akio Ogino nachdrücklich.
"Dann folgen sie mir bitte. Chihiro befindet sich im Moment auf der
Intensivstation. Sie liegt noch immer im Koma. Bitte erschrecken sie nicht, wenn
sie sie sehen, denn sie ist an ein EKG angeschlossen und wir haben sie noch
intubiert, um sie künstlich mit Proteinbrei zu ernähren.", sagte Dr. Ito jetzt
wieder geschäftsmäßig.
Sie stiegen in den Aufzug und fuhren zwei Etagen nach oben. In einem separaten
Raum lag in einem Wust aus Schläuchen und Kabeln Chihiro, ihr sonst so rundes
Gesicht eingefallen und mit bleicher und verschwitzter Haut. Yuuko Ogino ging
erschüttert zu Chihiro hin und nahm ihre kleine Hand und hielt sie lange Zeit.
Chihiro war wach. Ganz plötzlich war sie einfach wach. Eben noch hatte sie
einen merkwürdigen Traum gehabt, in dem man sie in ein Krankenhaus eingeliefert
hatte, aber das war natürlich Unsinn, denn so wohl wie sie sich fühlte, musste
man doch nicht in ein Krankenhaus.
Sie war wach, hatte seit langer Zeit endlich keinen Hunger mehr und fühlte sich
voller Energie und Tatendrang. Überlegend was sie nun tun wollte, störte sie
zunehmend diese rhythmische nervtötende Piepen. Ob das ein Wecker war, wunderte
sie sich, und öffnete die Augen um nachzusehen.
Der Raum in dem sie lag war weiß angestrichen und wirkte insgesamt sehr
nüchtern. Links neben ihr stand die Maschine, von der das Piepen ausging. Es
war eine Maschine, wie Chihiro sie aus dem Fernsehen kannte und die den
Pulsschlag eines Patienten aufzeichneten. Überall waren Schläuche und Kabel an
ihr angebracht und dann sah sie rechts neben sich ihre Mutter zusammengesunken
schlafend auf einem Stuhl sitzen. Sie sah völlig fertig aus.
Chihiro versuchte etwas zu ihr zu sagen, stellte aber dann fest, dass ein
weiterer Schlauch aus ihrem Mund kam, der als ihr das bewusst wurde, auf einmal
ein leichtes Übelkeitsgefühl erzeugte. Stundenlang musste Chihiro dann warten,
während sie überlegte, wie sie eigentlich in diese Situation gekommen war, ehe
endlich eine Schwester in das Zimmer kam und feststellte, dass sie aufgewacht
war.
Am Vormittag stöpselte man sie von den ganzen Apparaten los und besonders
unangenehm war es, als man ihr die Magensonde aus dem Hals zog. Man brachte sie
dann zurück in ihr Zimmer, wo sie dann von ihrer immer noch schläfrigen Mutter
gefüttert wurde.
Reden konnte sie kaum, denn sie brachte wegen der Magensonde die zuvor in ihrem
Hals steckte nicht viel mehr als ein Krächzen zustande, aber sie durfte alles
essen, was auch immer sie wollte und soviel sie auch immer wollte. Schokolade,
Reiskuchen, Hamburger mit Pommes, Gummibärchen, Negerküsse, Eis, Chips,
Toffees, Kekse, Zitronensorbet, Schwarzwälder Kirschtorte, eben alles, was fett
war und viele Kalorien enthielt.
Alles brachte ihr die Schwester auf Wunsch an das Bett und Chihiro aß und
mampfte und stopfte alles in sich hinein, ohne jemals wirklich satt zu werden,
aber sie war endlich nicht mehr so schrecklich hungrig.
Am nächsten Tag wurde sie in einen andere Abteilung des Krankenhauses gebracht.
Dort musste die eine Art Atemmaske anlegen, sich auf ein merkwürdiges
Standfahrrad setzen, dass der zuständige Arzt Ergometer nannte und dann treten.
Zuvor war sie noch an ein EKG angeschlossen worden, wie auf der Intensivstation,
dass ihre Herzströme maß, und ein Blutdruckmessgerät wurde an ihrem Oberarm
befestigt. Chihiro schaffte es jedoch kaum, auch nur die erste Stufe des
Ergometers, 25 Watt, zu treten und musste nach nicht einmal einer Minute
erschöpft aufgeben.
Dann kam Dr. Ito in den Raum gestürzt und begann mit dem jungen Arzt zu
schimpfen: "Fujimaro, wer hat denn gesagt, dass sie strampeln soll. Du sollst
einfach nur ihren Sauerstoffverbrauch messen!"
"Aber, ich bitte dich, Kazu, das ist doch Unsinn. Ihren Ruheumsatz kann ich doch
einfach in einer Tabelle nachschlagen.", meinte Dr. Fujimaro Miwa, "Bei Kindern
reichen da doch einfach Alter, und Körpergewicht. Das passt dann schon."
"Nein, nein, nein, Fujimaro, das ist es ja gerade, was ich bei diesem Mädchen
klären will. Ich habe den Verdacht, dass sie einen deutlich erhöhten
Grundumsatz an Kalorien besitzt. Ich vermute, dass sie eine neue Art von
Stoffwechselstörung hat.", erklärte Dr. Ito.
"Na wenn du meinst.", zweifelte Dr. Miwa und begann zögerlich mit der Messung.
Nach etwa fünf Minuten, in denen Chihiro ruhig auf dem Sattel des
Fahrradergometers saß, war dann die Messung beendet und Dr. Miwa blickte
überrascht auf den Computerausdruck der Messung.
"Das ist doch völlig unmöglich!", murmelte er, nahm einen Taschenrechner und
begann hektisch Zahlen einzutippen.
"Kazu, wenn das hier stimmt, dann würde das ja bedeuten, dass das Mädchen bei
dem Sauerstoffumsatz am Tag 10000 Kilokalorien verbrauchen würde. Das kann doch
gar nicht sein!"
"Doch, genau das war mein Verdacht, Fujimaro. Schau dir ihren dauerhaft hohen
Pulsschlag von 150 Schlägen pro Minute an, ihren Blutdruck von 160 zu 60 und
ihre erhöhte Körpertemperatur von 38,5°C an. Es pass alles zusammen. Als ob
die Kleine einen permanenten Marathonlauf absolvieren würde!", bestätigte Dr.
Ito die Messwerte. Sie wiederholten die Messung noch zwei mal, aber es kam immer
das Gleiche heraus: Chihiro verbrauchte mehr Kalorien, als ein zehn mal so
schwerer Sumo Ringer.
"Ah, Herr Ogino, es freut mich, dass sie so Kurzfristig erscheinen konnten.",
begrüßte Dr. Ito Cihiros Vater jovial, "Ich glaube, dass wir ihre Tochter so
etwa in zwei Wochen entlassen können. Sie hat sogar wieder um ein Kilo auf 16
Kg zugenommen."
"Können sie mir nun endlich sagen, was mir Chihiro los ist, und wie ihre
weitere Behandlung aussieht?", fragte Akio Ogino besorgt.
"So weit wir das Feststellen konnten, scheint Chihiro an eine neuen Form von
Stoffwechselstörung erkrankt zu sein. Sie hat einen Kalorienverbrauch von ca.
10000 Kilokalorien pro Tag. Wenn sie das vergleichen wollen, ein ausgewachsener
Mann verbraucht etwa 2500 Kilokalorien, also ein Viertel davon. Ein Sumo Ringer
nimmt etwa 6000-7000 Kilokalorien pro Tag zu sich. Erst ein Profiradrennfahrer
verbraucht auf einer schweren Bergetappe bei der Tour de France auch um die
10000 Kilokalorien und das kann sein Organismus nicht ständig wiederholen und
er Radfahrer hat Schwierigkeiten, diese Kalorienmenge überhaupt zu sich zu
nehmen. Chihiro hat diesen Umsatz seit mehreren Wochen und ehrlich gesagt ist es
mir ein Rätsel, wie ihr winziger Körper von jetzt gerade einmal 16 Kg das
überhaupt bewältigt. Es ist einfach aberwitzig!"
"Ich weiß, wie viel ein Sumoringer essen muss, schliesslich war ich mal
Universitätsmeister. Und was bedeutet das für die weiter Behandlung von
Chihiro?", fragte ihr Vater.
"Nun ja. Es bedeutet zunächst einmal, dass wir Chihiro diese Kalorien irgendwie
zuführen müssen. Ich habe hier einen Diätplan für ihre Tochter aufgestellt,
der sich an de eines Profi Radrennfahrers orientiert. Aber im Prinzip kann
Chihiro alles essen, was sie will. Bei den Mengen, brauchen wir uns um
Einseitige- oder Mangelernährung keine Sorgen mehr zu machen.", erklärte Dr.
Ito.
Mit zunehmender Verwunderung studierte Akio Ogino den Zettel mit dem
Ernährungsplan, den ihm Dr. Ito hingehalten hatte. Wenn wir Chihiro das alles
zu essen geben müssen, wird das ziemlich Teuer werden, dachte er, die
schwierige wirtschaftliche Lage im Hinterkopf, die sie nach seiner Entlassung
hatten. Wie sollte er das nur alles Bezahlen, zusätzlich zu den Schulgebühren
Chihiros, dachte er verzweifelt.
Zwei Wochen später wurde Chihiro dann endlich nach Hause Entlassen, nachdem sie
einen ganzen Untersuchungsmarathon hinter sich gebracht hatte und auch
Spezialisten aus Tokyo hinzugezogen worden waren. Es konnte jedoch kein Grund
für Phänomen entdeckt werden und Chihiro musste sich damit abfinden, dass sie
praktische den ganzen Tag über essen musste um irgendwie die Kalorienmenge
aufzunehmen, die ihr Körper verbrannte.
Kapitel 8: Die Kiste
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Endlich habe ich es geschafft, das nächste Kapitel fertig zu stellen.
Ich möchte mich noch einmal bei allen für ihre ermunternden Kommentare
bedanken und bei Maruko für ihre Ayaka.
Die Kiste
Es war eng und furchtbar stickig in der Kiste, in die ihn Torooru Tag für Tag
sperrte. Haku konnte sich darin weder hinlegen, noch ausstrecken, noch
aufstehen. Eigentlich konnte er sich fast überhaupt nicht bewegen, so
zusammengekauert musste er darin immer fast die ganze arbeitsfreie Zeit
ausharren. An die Schmerzen in seinen Gelenken und seinen Muskeln, wenn der
Troll ihn am Morgen aus der Kiste ließ hatte er sich schon gewöhnt, an das
mehr als unangenehme Kribbeln, wenn das Blut wieder in die gequälten
Gliedmassen floss.
In der Kiste kauernd spürte er nach einer Weile gar nichts mehr, seine
Extremitäten wurden dankenswerterweise einfach taub. Während er in der Kiste
hockte, konnte er nichts anderes tun als nachzudenken oder zu schlafen, was ihm
aber nur wenig gelang. Worüber er auch immer Nachzudenken versuchte,
letztendlich landeten seine Gedanken immer bei Chihiro.
Wie wunderbar es gewesen war, wenn sie in seiner Nähe gewesen ist, wie sehr
ihre Stimme ihn beruhigt hatte und wie ihre Berührung alle Last und Sorgen von
ihm fortgespült hatte, dass er sich wie berauscht gefühlt hatte. War das
tatsächlich Liebe, wie Kamaji behauptet hatte. Aber wieso liebte er dieses
Menschenkind eigentlich? War er nicht ein Drache und Flussgott und sollte einer
Liebe zu einem Menschen überhaupt nicht fähig sein?
Tatsache war jedenfalls, dass bereits in dem Moment, als er sie auf der Brücke
zum Badehaus hatte stehen sehen, es wie ein Stich in sein Herz gefahren war, so
dass er den Auftrag Yubabas, das Menschenmädchen zu suchen und einzufangen, der
eigentlich seinen Willen hätte beherrschen sollen, einfach abschütteln konnte,
nur noch getrieben von dem Wunsch sie irgendwie vor der Hexe zu retten.
Als er sie dann berührt hatte, um sie fortzuschicken in die Sicherheit der Welt
der Menschen, hatte es ihn nahezu elektrisiert und er hatte sich lebendig
gefühlt wie seit Jahren nicht mehr. Wie seit der Zeit, bevor sein Fluss
zugeschüttet worden war und er von entsetzlichen Schmerzen gepeinigt Form und
Gestaltlos hin und hergehetzt war, verzweifelt nach einem Ausweg aus seiner
Situation suchend.
Hatte seine Zuneigung zu Chihiro damals seinen Ausgangspunkt genommen, als er
das vielleicht dreijährige Kind aus seinen Fluten gezogen hatte? Das konnte er
irgendwie gar nicht glauben, denn hinterher war er zwar furchtbar erleichtert
gewesen, dass es ihm gelungen war, dass Mädchen gerade noch einmal zu retten.
Er hatte sie gemocht, wie sie ihn hinterher im flachen Wasser des Ufers sitzend
begeistert gestreichelt hatte, bis schließlich ihre Mutter aufgetaucht war,
verzweifelt nach dem Kind rufend und er sich zurückziehen musste.
War da noch mehr gewesen? Hinterher hatte er die ganze Angelegenheit eigentlich
nur noch als eine unbedeutende Episode in seinem Dasein als Wächter des
Kohakugawas empfunden und nur noch selten daran gedacht.
Immer wieder hatte er die spielenden Kinder an seinen Ufern beobachtet und
manchmal war er sogar aus seinem Fluss gestiegen, hatte sich unter sie gemischt
und mit ihnen gespielt, wenn es ihm zu langweilig darin wurde. Vorbehaltlos
hatten sie ihn akzeptiert und er hatte sie dafür gemocht, aber hatte er jemals
etwas tiefgreifenderes für eines dieser Kinder empfunden? Ganz sicher nicht
mehr, als er damals für Chihiro empfunden hatte und das war nicht viel gewesen.
Später, als sein Fluss zugeschüttet worden war und er seine Stelle als
Lehrling bei Yubaba angenommen hatte, da hatte er überhaupt nicht mehr an
Chihiro gedacht, bis zu jenem Moment, da er sie auf der Brücke zum Badehaus
entdeckte. Aber was war dann an der Brücke anders gewesen, das ihn dazu
gebracht hatte, so auf sie zu reagieren, was ihn ja letztendlich in diese Lage
gebracht hatte? Er wusste es nicht und musste einfach seine Empfindungen für
Chihiro akzeptieren.
Sich selbst einen Ruck gebend, versucht er seine Gedanken auf die aktuelle
Situation zu richten, in der er sich befand und nicht im Selbstmitleid oder
Träumereien zu versinken, so verlockend das auch war.
Nachdem er damals Torooru an seinem ersten Tag hier unten in seine Schranken
gewiesen hatte, war der Troll am nächsten Tag wie verwandelt gewesen. Anstatt
herumzutoben und mit körperlicher Gewalt zu drohen, gab der Troll auf einmal
kühl und überlegt Befehle und ließ keinerlei Widerspruch zu. Haku musste
gehorchen denn Torooru war hier unten der Repräsentant der Hexe und Yubaba
hätte mit ihm machen können, was sie wollte, wenn er es nicht getan hätte.
Ihn einfach nur umzubringen lag gewiss nicht mehr in ihrer Absicht. Sie wollte
ihn quälen und wovor Haku am meisten graute, war irgendwann auch in jener Grube
unterhalb von Yubabas Arbeitszimmer zu enden, seine Seele dort unten bis an das
Ende der Zeit gefangen. Das währe noch viel schlimmer als der Tod an sich.
Schon nach wenigen Tagen war aus seinem Appetit dann ein bohrendes Hungergefühl
entstanden, wie er es noch nie zuvor gekannt hatte. Wenn er den Troll bei der
Essenausgabe nach einer weiteren Portion fragte, hatte dieser nur ungerührt
geantwortet, dass ihm nicht mehr oder weniger Essen zustände als allen anderen
auch. Dann nahm sich dieser noch eine dreifache Portion und ließ es sich
Schmecken.
Durst war für ihn unerwarteter Weise kein Problem, denn in seiner
Drachengestalt schwitzte er weder, noch machte ihm die Hitze irgendetwas aus, ja
er nahm sie kaum wahr. So genügte ihm denn die bescheidene Menge Wasser, die er
täglich erhielt. Er hatte zwar Durst, aber dieser wurde nie besonders schlimm.
Etwas anderes war allerdings das Essen. Nach kurzer Zeit allerdings war Haku aus
Gesprächsfetzen der Frösche klar geworden, die er mitbekommen hatte, dass er
mit seiner Arbeit sieben bis acht Froscharbeiter ersetzte, die ansonsten die
Loren hätten ziehen müssen. Eigentlich hätte ihm deswegen ein entsprechend
größerer Anteil an den Mahlzeiten zustehen müssen, da er hier mit Abstand die
schwerste Arbeit alleine verrichten musste.
Als er den Troll darauf hin ansprach, entrüstete sich dieser über seine
Unverschämtheit und gab ihm trocken den Befehl, diese verfluchte Holzkiste zu
Zimmern, in der er jetzt steckte und neben dem Aufzug hinzustellen. Ihm wurde
verboten, die Wohnhöhle nebenan jemals wieder zu betreten und er wurde Nacht
für Nacht in die Kiste gesperrt. Zu seiner und aller Sicherheit, wie der Troll
betonte.
Auf eine Bitte seinerseits, etwas zu bekommen, um die Kiste ein wenig
auszupolstern, wenn er schon darin ausharren sollte, antwortete Torooru
ungerührt, wie er sich denn beschweren könne, dass die Kiste unbequem sei, wo
er sie er sie ja doch selber zusammengezimmert hätte.
So wurde er dann auch im Laufe der ersten drei Wochen zur sichtbaren
Zufriedenheit des Trolls immer schwächer und schwächer. Der Hunger nagte
bohrend an ihm, bis er zuletzt so entkräftet war, dass er zwei Stunden
benötigte um einen Zug von nur noch drei Loren nach oben zu schleppen.
Yubaba, zu der er beim wöchentlichen Rapport des Trolls mitgenommen wurde, um
seine vertraglich zugesagte Lektion in Zauberei zu erhalten, war über die
Entwicklung seine Zustandes kaum verholen erfreut. Jede Woche ließ sie ihn die
gleiche Lektion wiederholen, wie er mit Hilfe der Magie einen Gegenstand
willentlich bewegen konnte, etwas das er schon lange bevor er zu Yubaba gekommen
war, längst selbst entdeckt hatte.
Es war eine rein theoretische Lektion, denn das Halsband verhinderte ja, dass
keinerlei Magie von ihm ausgehen konnte und es so keinen Gegenstand unter seinen
Willen zwingen konnte. Zum Abschied versäumte sie es dann auch nicht, ihn
liebenswürdig daran zu erinnern, dass er sofort aus seinem Vertrag entlassen
währe und gehen könne, wenn er ihr verriete, wer außer ihm Chihiro noch
geholfen habe.
Dann auf einmal, etwa nach einem Monat, begann sich sein Zustand zu
stabilisieren und sein Hunger war nicht mehr ganz so schlimm wie zuvor. Langsam
wurde er auch wieder kräftiger und zum Entsetzen des Trolls konnte er nach
einem weiteren Monat wieder alle fünf Loren auf einmal ziehen, schneller als
jemals zuvor.
Sein Körper begann sich an die Leistung zu gewöhnen, die ihm täglich
abverlangt wurde und mittlerweile kannte er jede Gleisschwelle, an er sich
abstützen konnte, um die Loren in Bewegung zu halten. Schließlich schaffte er
die Strecke in weniger als eine halben Stunde und zu seiner Genugtuung konnte er
beobachten, dass der Troll ins Schnaufen geriet, wenn er versuchte, mit ihm
Schritt zu halten und völlig verschwitzt war, wenn er zusammen mit ihm am
Aufzug ankam.
Auch Yubaba war nicht sehr erfreut über diese Entwicklung und konnte ihre
Verärgerung über die Verbesserung seines Zustandes kaum verbergen. So
verabreichte sie Torooru einen wütenden Rüffel, so dass dieser seine sonstige
Aufsässigkeit Yubaba gegenüber vergaß und ihren Teppich ausnahmsweise nicht
verschmutzte.
Sie ließ ihn danach für seine Lektion auch nicht mehr in ihr Arbeitszimmer
kommen, sondern er musste in dem Raum bleiben, in dem der Aufzug endete und
musste die immer gleiche Lektion nun dort vor einer immer grantiger werdenden
Yubaba herunter leiern.
Mittlerweile waren bereits viele Monate verstrichen. Wie viele genau, konnte er
nicht sagen, weil er langsam begann das Gefühl für die Zeit zu verlieren. Der
Froschmann, dem er das Leben gerettet hatte, war nur wenige Wochen später doch
gestorben und von den Froschmännern, die bei seiner Ankunft hier unten waren,
lebte allerhöchstens die hälfte noch. Unter den Neuankömmlingen, mit denen
Yubaba in steter Regelmäßigkeit die Lücken auffüllte, waren bereits die
ersten, die ihn nicht mehr als Yubabas rechte Hand erkannten. Sie mussten also
im Badehaus angefangen haben, nachdem er nach hier unten verbannt worden war.
Währe nicht diese vermaledeite Kiste gewesen, in die er Tag für Tag gesperrt
wurde, und währen die Bedingungen hier unten nicht so deprimierend gewesen,
dass praktisch jede Woche mindestens eine Person ums Leben kam, so hätte er
wahrscheinlich ein Dasein hier unten dem als Handlanger Yubabas vorgezogen, als
mehr oder weniger willen- und ehrloser Sklave ihrer Gier. So würde es besser
sein, einfach zu sterben.
Wieso es ihm dann plötzlich besser ging, war im ein Rätsel, doch einerlei, er
schöpfte neue Zuversicht, sein Versprechen Chihiro gegenüber noch halten zu
können, Yubabas Klauen zu entkommen und das Mädchen noch einmal sehen zu
können. Einzig und alleine diese Aussicht verhinderte, dass er seinen Lebensmut
völlig verlor.
Plötzlich hörte Haku schwere Schritte näher kommen und wie sich jemand an dem
Schloss zu schaffen machte, mit dem die Kiste verschlossen war. Gleißendes
Licht strömte herein, als der Deckel geöffnet wurde, und Torooru verdrießlich
auf ihn hinabblickte. "Los komm raos, do Drachä do!", rumpelte er.
"Guten Morgen, Meister Torooru. Haben sie auch sie eine ebenso gute Nacht
gehabt, wie ich?", begrüßte ihn Haku, blinzelnd zu ihm heraufschauend und sich
dabei zu einem freundlichen Lächeln zwingend. Dann stützte er sich an den
Rändern der Kiste ab, stemmte sich hoch und sprang federnd heraus, das
Protestieren seiner Muskeln und Gelenke ignorierend.
Er wusste, dass es Torooru am meisten fuchste, wenn keine seiner
Zwangsmaßnahmen funktionierte, und er liebte es ihn zu provozieren, indem er
übermäßig zuvorkommend und freundlich zu dem Troll war, obwohl er eigentlich
bis hätte aufs Blut gereizt sein müssen.
"Na los, mach schon. Da äst daän Fröhstöck!" Der Troll wies auf die
erbärmlich kleine Portion Reis und eine kleine Schale mit Suppe. Dazu gab es
noch einen Becher Wasser.
"Vielen Dank, Meister Torooru für eure übergroße Güte!" Haku verbeugte sich
artig vor dem Troll, hatte ihm aber damit die Rolle eines zuvorkommenden
Gastgebers zugewiesen, der um das Wohl seines Gastes ernsthaft bemüht ist. Dann
hockte es sich im Schneidersitz auf den Steinboden und begann in aller
Seelenruhe und mir offensichtlichem Genuss das Essen zu verspeisen.
Zu Beginn hatte Torooru die ihm zustehenden Rationen permanent verkleinert.
Laut seinem Arbeitsvertrag hatte er freie Kost und Logis, so dass man ihm etwas
zu Essen und Trinken geben musste. Aber nach einer Weile, als der Troll
feststellte, dass die Maßnahme, ihm die Rationen zu kürzen keinen Zweck zu
haben schien und es ihm mit unmöglich wenig Essen und Trinken trotzdem nicht
schlechter zu ging, hatte er aufgegeben und die Rationen auf einem niedrigen,
aber konstantem Niveau belassen.
Torooru stapfte mit einem unzufriedenen Grunzen fort und begann dann die
Froschmänner nebenan aufzuscheuchen. Dabei stellte er fest, dass über Nacht
wieder einer von ihnen gestorben war und schimpfte deshalb lauthals über
Yubaba, die sie mit Nahrungsmitteln, Wasser und Baumaterialien derart knapp
hielt.
"Los jätzt, allä än dä Lorän!", befahl der Troll, nachdem alle
Froschmänner hastig ihr Frühstück herunter geschlungen hatten. Den Toten
hatte er einfach unsentimental wie ein Stück Abfall in den Aufzug geschmissen
und würde ihn bei seiner ersten Kohlelieferung nach oben heute in die Grube
entsorgen. Wenn er zu lange hier unten in der Hitze blieb, würde er innerhalb
kürzester Zeit beginnen zu verwesen und zu stinken. Beim nächsten Rapport
würde er Yubaba wider um Arbeiternachschub bitten müssen, den ihm die Leiterin
des Badehauses gerne gewähren würde. Das einzige, was sie überhaupt gerne
gewährte.
Haku musste alleine in die vorderste Lore steigen, der Troll besetzte die
hinterste, um dort die Bremse zu bedienen und die derzeit fünfzehn Frösche
platzierten sich in den drei Mittleren. Damit sorgte der Troll dafür, dass er
immer getrennt von den Fröschen war und keinen Kontakt zu ihnen aufbauen
konnte.
Auf etwa halber Strecke nach unten, als der Lorenzug mit voller Fahrt
dahinschoss, gab es plötzlich ein lautes klatschendes Geräusch, gefolgt von
einem Tumult und Gebrülle in der mittleren Lore. Unten angekommen wurde schnell
klar, was passiert war.
Einer der Frösche, die erst letzte Woche in das Bergwerk gekommen waren, hatte
im Übermut seinen Kopf zu weit herausgestreckt und war damit gegen einen
unvermutet tief hängenden Balken gekracht. Es war kein erbaulicher Anblick und
zwei der Froschmänner aus der Lore des Unglücklichen hatten ihr gerade erst
verschlungenes Frühstück wieder ausgekotzt. Jetzt würde noch ein weiterer
Arbeiter ersetzt werden müssen und sie würden in den nächsten Tagen Probleme
bekommen, genügend Kohlen für den Kessel heranzuschaffen.
Normalerweise war genügend Platz zwischen der Oberkante der Loren und der
Tunneldecke. Dass der Froschmann gegen einen Balken gestoßen war, bedeutete
also, dass es einen Schaden in der Tunnelabstützung geben musste und eventuell
ein Balken gebrochen war.
Torooru befahl deshalb zwei Fröschen die restlichen Balken, Nägel, Hämmer und
Sägen in eine Lore zu laden, um den Schaden zu beheben. Dann koppelte er diese
und die Lore dahinter ab, spannte Haku davor und ließ sich selbst und die
beiden Froscharbeiter bis zur Schadensstelle ziehen.
Der fragliche Balken war halb durchgebrochen und auch das umgebende Holz der
Stützverschalung war sehr morsch und brüchig, viel zu brüchig, als es seinem
Alter nach der Fall sein sollte. Irgend etwas hatte die Balken beschädigt. Nach
einer kurzen Untersuchung hatte Torooru auch schon den Schuldigen gefunden.
Eine Felsanemone hatte sich in einer Spalte oberhalb des Balkens angesiedelt und
im Dunklen ihre Nesselfäden in den Tunnel herabhängen lassen, deren Gift das
Holz langsam zersetzt hatte. Im Moment wurde der Tunnelabschnitt von mehreren
mitgebrachten Grubenlampen erleuchtet, so dass die Felsanemone sich in ihre
Spalte zurück gezogen hatte.
"Däsä värdammtä Fälsanämonä!", fluchte Torooru, "Na wartä, där wärd
ächs zaigän."
Vor sich hin grummelnd umwickelte er einen Balken mit alten Tüchern, die er
dann mit dem Öl aus einer der Grubenlampen tränkte und anzündete, um im
Felsspalt nach der Anemone zu stochern um sie auszuräuchern. Auf einmal war ein
leises Zischen aus der Spalte zu hören, als die Flammen den Körper der
Felsanemone erreichten, welches innerhalb weniger Augenblicke in ein tiefes
Dröhnen überging und die Felswände vibrieren ließ. Sand begann aus der
Spalte zu rieseln, aus der dann plötzlich auch noch Nesselfäden des Wesens
hervorschossen.
Weiterhin fluchend sprang der Troll zurück, die selbst gemachte Fackel immer
noch in seiner Hand, prallte mit dem Hinterkopf gegen den halb gebrochenen
Balken und stürzte dann auf die Geleise. Knackend und quietschend begann der
Balken jetzt weiter nachzugeben, bis er zusammen mit den Verschalungsbrettern
auf den Troll herab fiel. Den Brettern folgte Schwall aus Sand und kleineren
Steinen.
Der Spalt und die Tunneldecke lagen jetzt völlig frei. Das Dröhnen das von der
Felsanemone ausging wurde immer lauter und durchdringender, bis Sand und Geröll
von der Decke zu rieseln begannen. Dann plötzlich gab es ein lautes klopfendes
Geräusch, als sich die ersten größeren Felsbrocken von der Tunneldecke zu
lösen begannen und mit dumpfen poltern zu Boden krachten.
Verzweifelt versuchte Torooru dem Felssturz zu entkommen, aber er schaffte es
nur teilweise und wurde bist zum Hals unter Geröll und Steinen begraben. Nur
sein Kopf war zum Schluss noch frei. Nachdem sich der Fels beruhigt hatte und es
nur noch ein wenig rieselte, klatschte auf einmal ein großes, rundes und mit
unzähligen Haaren bedecktes etwas auf die Schienen und rollte hastig aus dem
Bereich des Lichts der Grubenlampe, die an der vorderen Lore befestigt war, den
Tunnel hinab und verschwand in die Dunkelheit der tieferen Stollen.
Haku, der einige Meter unterhalb der Stelle des Felssturzes immer noch vor die
Loren gespannt war und wartete, hatte das Ganze beobachtet und war
vorsichtshalber noch einige Meter zurückgewichen. Ihm wurde klar, dass er als
einziger auf dieser Seite den Felssturz überstanden hatte und dass es nun seine
Aufgabe war, den anderen gegebenenfalls zu helfen.
Da waren ja auch noch die ganzen anderen Froscharbeiter, die jetzt tief unten im
Stollen die Kohle schlugen und noch gar nichts davon wussten, dass sie ebenfalls
festsaßen. Also machte er sich daran, die Rollen der Loren mit Felsbrocken zu
blockieren, um zu verhindern dass diese wegrollen, und nahm dann wieder seine
menschliche Gestalt an, um eine größere Bewegungsfreiheit zu erlangen. Die
Verwandlung entledigte ihn auch sogleich seines Zuggeschirrs, da es für seinen
menschlichen Körper viel zu groß war und einfach zu Boden fiel.
Als erstes nahm er im Licht der einzigen, verbliebenen Lampe an der vorderen
Lore, den Felssturz in Augenschein und überprüfte den Zustand des Trolls.
Dieser atmete noch, war jedoch bewusstlos und würde keinesfalls eine Hilfe
sein. Er konnte jetzt die Lampe nehmen und nach unten zu den Froscharbeitern
gehen und dort Hilfe holen, aber er bezweifelte, ob die Frösche ihm
tatsächlich helfen konnten.
Außerdem würde er den Troll alleine im Dunkeln zurücklassen müssen, so dass
die Gefahr bestand, dass er von einer der Felsanemonen erwischt würde, die wie
er jetzt gesehen hatte, durchaus beweglich waren.
Er überlegte. Währe es wirklich so schlimm, wenn der Troll, der ihm ja so
schlimm zugesetzt hatte, jetzt hier sterben würde? Das würde doch Yubaba einen
schlimmen Schlag versetzten, denn dann hätte sie niemanden mehr, der den
Kohleabbau hier unten aufrechterhalten könnte und das Bergwerk würde über
kurz oder lang stillgelegt werden müssen. Dann müsste sie entweder für die
Brennmaterialien bezahlen oder das Badehaus schließen.
Wenn er einfach hier warten würde und nichts täte, was würde dann passieren.
Spätestens wenn Kamaji der Brennstoff für den Kessel ausgeht, würde sie
bemerken, dass etwas nicht stimmt und nachsehen kommen. Der Kohlenvorrat würde
ungefähr für zwei Tage reichen, dass hatte Kamaji ihm einmal erklärt. Sicher
würde Yubaba mit ihrer Magie dann auch einen Weg finden, den Felssturz beiseite
zu räumen, aber damit währe frühestens in zwei Tagen zu rechnen.
Die Grubenlampen hatten aber maximal, bei vollem Öltank, eine Brenndauer von 24
Stunden. Danach wäre es dunkel und dann kämen die Felsanemonen. Zudem würden
die Frösche mit dem Wasservorrat hier unten auf gar keinen Fall zwei Tage
überstehen. Den Wassernachschub für den Tag pflegte Torooru immer mit der
ersten Leerfahrt nach unten zu befördern, also ist wahrscheinlich gar kein
Wasser mehr dort.
Nein, er musste selbst irgendwie dafür sorgen, dass sie hier herauskommen,
sonst würden alle Frösche hier unten sterben, was ja vielleicht sogar im Sinne
von Yubaba lag. Sie war es letztendlich, die die Situation hier unten provoziert
hatte, sie mit zu wenig Wasser und Nahrung versorgte, schlechte Arbeitsgeräte
zur Verfügung stellte, mit den Fröschen ungeeignete Personen hier unten
beschäftigte und sie von einem Troll drangsalieren ließ, den sie wer weiß wie
lange schon hier unten gefangen hielt.
Wenn er den Troll jetzt hier sterben ließ, würde er dann nicht genauso handeln
wie Yubaba? Er, ein Drache, ein Symbol des Lebens und des Glücks? Das durfte
nicht sein! Er durfte sich in seinem Handeln niemals von solchen niederen
Motiven leiten lassen! Und Haku schämte sich, dass er überhaupt so etwas
gedacht hatte.
Mehrere Minuten stand Haku am Fuße des Felsrutsches und dachte weiter über
seine Situation nach, bis ihm zum Schluss noch einfiel, dass Torooru ja die
einzige Person war, die ihm das Halsband wieder abnehmen konnte. Yubaba hatte ja
gesagt, dass nur diejenige Person es ihm wieder abnehmen könnte, die es ihm
angelegt hatte, und das war Torooru gewesen. Wenn der Troll jetzt starb würde
er es am Ende nie mehr loswerden.
Er kletterte den Felsrutsch bis zur Tunneldecke hinauf, wo er anfing, Steine
beiseite zu räumen. Als er schon glaubte, ein wenig voran zu kommen und in
absehbarer Zeit die andere Seite zu erreichen, begann auf einmal Material von
Oben nachzurutschen und machte seine bisherige Arbeit zunichte.
So würde das nichts werden, dachte er bei sich, ich muss schneller arbeiten.
Zudem waren da einige ziemlich große Felsbrocken, die er in seiner menschlichen
Gestalt nicht bewegen konnte. Sie waren einfach zu schwer. Unter ihm begann der
Troll, der von dem nachrutschenden Material bis zum Kinn bedeckt worden war,
jetzt zu stöhnen. Er kletterte an Torooru vorbei wieder auf den Tunnelboden,
immer darauf bedacht, dass nichts weiter ins rutschen kam, verwandelte sich
wieder in einen Drachen zurück und machte sich erneut an die Arbeit.
Er stellte fest, dass er auf diese Weise wesentlich schneller voran kam und auch
die schwersten Felsbrocken problemlos zur Seite räumen konnte. Eine halbe
Stunde später hatte er den Troll weitestgehend freigelegt, nur ein besonders
großer Felsen lag noch auf dessen Beinen. Haku trieb seine Klauen in den
Felsbrocken und begann zu ziehen. Seine ganze Kraft als Drachen aufbietend
begann der Felsen sich knirschend zu bewegen und nachdem er ihn aus dem
Felsrutsch gelöst hatte, schleuderte er den Felsen mit einem Ruck hinter sich,
wo er dumpf auf den Tunnelboden krachte.
Torooru lag nun völlig frei, doch in dem Moment, als Haku ihn zur Seite
schaffen wollte, setzte sich der Fels erneut in Bewegung und mit lautem Poltern
stürzte Material aus der Öffnung in der Decke nach. Es gelang Haku gerade noch
wegzuspringen, sonst wäre auch er unter Felsen begraben worden.
Ein paar Minuten später hatte schließlich aufgehört Material nachzurutschen.
Jedoch war Torooru jetzt wieder bis zum Bauch verschüttet und hustete jetzt
vernehmlich im aufgewirbelten Staub, Haku unverwandt anblickend.
"So wärd das nächts, Drachä.", krächzte er dann, "Do mosst dä Däckä
abstötzä."
"Und wie soll ich das machen, Troll?", fragte Haku mit sarkastischem Unterton,
nachdem er in seine menschliche Gestalt zurückgewechselt war, "Ich sehe selber,
dass es nicht geht. Wir haben hier weder genügend Material, um die Tunneldecke
abzustützen, noch könne ich es alleine tun."
"Do mosst Hälfä holä. Hol ein paar Fröschä von ontän. Dä sollän där
hälfän.", befahl Torooru, bevor er dann stutzte und erneut fluchte:
"Värdammtär Mäst, ontän äst aoch kaän Baomatäräal mär. Wär mössän
wartän, bäs ons jämand von aossän hälft."
"Nein, Troll, das dauert wahrscheinlich mehrt als zwei Tage.", konterte Haku,
"Bis dahin sind alle unsere Lampen aus und wenn es dunkel ist, kommen die
Felsanemonen. Außerdem sind bis dahin alle Frösche verdurstet. Wir müssen
schnellstmöglich den Tunnel wieder frei machen, sonst sterben wir hier alle."
"Was dänkst do, wä do das schaffä wällst, Drachä?", blaffte Torooru,
"Hähä, wär wärdän allä stärbän, ond das alläs, waäl Yobaba zo gaäzäg
äst, om ons gotäs Baomatäräal zo gäbn. On sä sälbs wärd ährn Ladän
dächtmachä könnä, waäl sä kaänä Kohlä mär hat, hahahahahaha." Dann
musste er stark Husten und Blut kam aus seinem Mund.
"Ich weiß schon, wie ich es schaffen könnte, den Durchgang frei zu räumen und
gleichzeitig die Decke abzustützen." Haku blickte kalt auf den Troll herunter.
"Du musst mir nur das Halsband abnehmen. Dann kann ich Magie einsetzen, um das
Nachrutschen der Felsen zu verhindern."
Torooru blickte verblüfft zu Haku auf. Auf diese Idee wäre er selbst nie
gekommen, da er niemals irgendwelche magischen Fähigkeiten gehabt hatte, die er
hätte einsetzen können. "Do bäst wohl värröckt gäwordä. Wänn Yobaba das
ärfährt, wärd sä mäch ombrängä!"
"Das glaube ich kaum, denn sie braucht dich, um das Bergwerk am laufen zu
halten. Aber wenn sie so in zwei Tagen merkt, dass keine Kohle mehr da ist, wird
sie wutschnaubend herunterstürmen und den Felssturz mit ihrer Magie einfach und
ohne Rücksicht auf Verluste hinwegpusten, so wie ich sie kenne. Wenn du dann
noch hier liegst, wirst du das kaum überleben, du dummer Troll."
Haku hatte sich jetzt neben dem Troll auf einen Stein gesetzt und starrte in die
Grubenlampe, die am vorderen Wagon leicht flackerte. Der Staub hatte sich
mittlerweile gelegt und die Luft begann immer stickiger zu werden, da der
Luftaustausch durch den Felssturz verhindert wurde.
Torooru sagte eine ganze Weile lang überhaupt nichts und schien dabei auf die
Decke starrend angestrengt nachzudenken. Irgendwann schließlich richtete er
seinen Blick auf Haku. "Äch glaobe do hast Rächt, Drache. Komm, boäg däch
härontär, dann nähmä äch där das Halsband ab on Yobaba soll där Täofäl
holä."
Nachdem Haku das Halsband losgeworden war, hatte er das Gefühl, als hätte
jemand einen Schleier hinweg gezogen, der seine Wahrnehmung wie Watte gedämpft
hatte. Mühelos konnte er die Felsen jetzt nicht nur mit seinen Augen sehen,
sondern gewissermaßen auf magische Weise fühlen, den Druck spüren, den die
darüber liegenden Felsmassen ausübten. Es gelang ihm, die nachrutschenden
Felsmassen mit der Blockade eines einzigen großen Felsbrockens zu stoppen, der
sich direkt oberhalb der Öffnung befand, welchen die Felsanemone hinterlassen
hatte.
Yubaba, du gierige alte Vettel, dachte er dabei hämisch, jetzt kann ich genau
die Lektion über die willentliche Bewegung eines Gegenstandes mit Hilfe der
Magie anwenden, die sie mich wie weiß wer oft hat wiederholen lassen.
In Drachengestalt räumte er die Gesteinsmassen weg, stets seine Konzentration
auf den blockierenden Felsbrocken gerichtet. Eine gute Stunde später hatte er
dann den Troll wieder frei gelegt. Als er ihn dann jedoch aus dem Geröll
herauszog und neben den Loren auf den Boden legte, verlor er für kurze Zeit die
Konzentration, so dass ihm die Kontrolle über den blockierenden Felsbrocken
entglitt und wieder ein ganzer Schub an Felsbrocken nachrutschte.
Torooru stöhnte, als Haku ihn ablegte, da er sich mehrere Rippen gebrochen
hatte und auch unnatürliche Knick in seinem rechten Unterschenkel verhieß
nichts gutes. Haku wunderte sich, dass er sich bei den tonnenschweren
Felsbrocken, die auf ihn gestürzt waren, nicht mehr verletzt hatte. Das zeigte
den massiven Knochenbau des Trolls. Die blutigen Kratzer, die Haku dem Troll
beim herausheben aus dem Geröll mit seinen Klauen zugefügt hatte, schien
dieser überhaupt nicht zu spüren, aber sie waren unvermeidlich gewesen, denn
Torooru hatte mindestens 300 Kg Gewicht, so dass er fest hatte zupacken
müssen.
Sich wieder auf das nachrutschende Felsgestein konzentrierend, begann Haku
erneut den Durchgang frei zu graben. Diesmal war es jedoch ungleich schwieriger,
da es nicht genügte nur einen großen Felsbrocken zu blockieren, sondern
mehrere kleine unter Kontrolle gehalten werden mussten, um einen neuerlichen
Felsrutsch zu verhindern.
Noch einmal verlor Haku fast die Konzentration, als nach etwa weiteren zwei
Stunden mit einem mal einer der Froscharbeiter mit einer Grubenlampe aus der
Dunkelheit auftauchte.
"Was ist los, Chef?", fragte er den auf dem Boden sitzenden und sich an die
Tunnelwand lehnenden Troll, "Wir haben unten kein Wasser mehr und zwei von uns
sind deshalb schon ohnmächtig geworden." Dabei nahm er den Felsrutsch ebenso
wenig wie Haku zur Kenntnis.
"Do blödär Frosch.", keuchte Torooru als Antwort, wobei er erneut Blut
hustete. Offensichtlich hatten die gebrochenen Rippen seine Lunge verletzt. "Los
schaff allä dä noch arbaätä könnä härhär on sä sollä alläs
Baomatäräal mätbrängä, was noch da äst!"
Als die gesamte Froschmannschaft nach einer weiteren Stunde endlich auftauchte,
hatte Haku bereits den Durchbruch geschafft und war dabei den Durchlass zu
vergrößern. Den größten Teil des Schutts hatte er in einen nahen
Seitenstollen geschafft, in den auch die Felsanemone verschwunden war. Innerhalb
kurzer Zeit hatten sie unter den barschen Anweisungen Toroorus mit Baumaterial,
dass sie aus einem weiteren Nebenstollen abgerissen hatten, eine primitive
Deckenabstützung gezimmert.
Erleichtert wechselte Haku in seine menschliche Gestalt zurück, nachdem er den
Druck der nachrutschenden Felsen vorsichtig auf die Abstützung verlagert hatte.
Von der ungewohnten geistigen Anstrengung bei der Anwendung von Magie nach über
einem knappen Jahr Pause ohne Übung hatte Haku jetzt heftige Kopfschmerzen und
währe am liebsten auf der Stelle eingeschlafen. Zuerst aber hatte er noch den
Transport Toroorus in die Wohnhöhle zu bewerkstelligen und die Bergung der
bewusstlosen Frösche aus dem Kohleabbaubereich zu organisieren.
Später oben in der Wohnhöhle versorgte Haku erst Torooru, richtete dessen
Unterschenkelbruch und schiente ihn. Zur Unterstützung der Heilung wandte er
einen einfachen Zauber an, der den Heilprozess beschleunigte und verhinderte,
dass sich die Abschürfungen und Kratzer infizierten, die sich der Troll
zugezogen hatte. Später brach er noch eines der Wasserfässer auf und verteilte
eine reichliche Wasserration an alle.
Die beiden Frösche, die mit Torooru und Haku den Felsrutsch miterlebt hatten,
waren in die Wohnhöhle geflohen und hatten sich bei der Ankunft der anderen
unter ihren Futons versteckt, anstatt zu versuchen, Hilfe zu hohlen.
Am nächsten Tag, als Haku erwachte, war Torooru bereits wieder auf den Beinen.
Er polterte lautstark, kommandierte die Frösche hin und her, die ihm Krücken
gemacht hatten, mit denen er ächzend durch die Gegend humpelte. Haku hatte die
Nacht wie üblich in seiner Kiste verbracht, denn er wollte Yubaba keinen Grund
liefern, ihn töten zu können, konnte aber, da sie nicht verschlossen war, die
Beine heraushängen lassen und hatte so eine der besten Nächte seit langer Zeit
verbracht und geschlafen wie ein Baby. Seine Kopfschmerzen vom Tag zuvor waren
verflogen und zum ersten mal, seitdem er hier in der Kohlengrube war, hatte er
wirkliche Zuversicht, dass er dieser Falle doch noch entkommen konnte.
Torooru beachtete ihn den ganzen Morgen über nicht, sondern kümmerte sich
trotz seines verletzten Beines um das Essen und die Instandsetzung des Tunnels
und der Gleise. Haku kauerte sich einfach auf den Boden neben dem Aufzug und
wartete, was weiter passieren würde. Nach Mittag befahl ihm Torooru noch drei
Kohleladungen hochzuziehen. Auf dem Weg von unten nach oben konnte er dabei die
Schäden an den Tunnelwänden noch deutlich sehen und dass noch längst nicht
alle Trümmer weggeräumt waren.
Am Abend erstattete Torooru in seinem schwer angeschlagenen Zustand dann noch
Yubaba Bericht, bevor er dann mit dem Abendessen für alle zurückkehrte.
Nachdem in einer gemeinsamen Anstrengung, um die schwersten Schäden zu
beseitigen, damit am nächsten Tag die Kohleförderung wieder regulär
aufgenommen werden konnte, war Torooru doch noch zu ihm gekommen.
"Äh, Hako, äch äh möchtä mäch baä där bädankä, dass do ons allä
gärättät has.", flüsterte er mit heiserer Stimme, so dass es keiner der
Frösche horen konnte, "Äch moss däch trotzdäm om was bättä. Morgän fröh
wäll Yobaba kommä, om säch dän Zostand där Grobä anzoschaoä. Darom lass
mäch bättä das Halsband wädär dranmachä."
Haku dachte kurz nach und sagte dann: "Ich verstehe das, Torooru. Ist es dir
recht, wenn ich es mir selber anlege. Es sollte für Yubaba egal sein, ob ich
oder du es mir angelegt hast, aber wenn ich es mir anlege, kann ich es mir auch
selber wieder abnehmen. Aber wenn du willst, kannst auch du es mir wieder
anlegen. Du solltest übrigens die Kiste ebenfalls wieder zuschließen, sonst
bemerkt sie am Ende noch etwas. Ich glaube, ich haben mich mittlerweile daran
gewöhnt. Yubaba ist immer sehr misstrauisch."
Torooru erklärte sich einverstanden und nachdem Haku sich das Halsband selbst
angelegt hatte, schloss er den Deckel der Kiste über Haku ab, wobei er sich
zutiefst schämte, dass er dem Jungen das antun musste, obwohl dieser ihm
wahrscheinlich das Leben gerettet hatte.
In der Nacht konnte er wegen der Schmerzen in seinem gebrochenen Bein nur
schlecht schlafen und dachte über seine Beziehung zu dem Drachen nach. Noch
immer misstraute er Haku, aber eigentlich misstraute er nach seiner Erfahrung
mit Yubaba jedermann. Irgendwie jedoch begann er den jungen Drachen zu mögen.
Schließlich kam Torooru zu der Einsicht, dass nun er keine Angst mehr vor dem
Drachen hatte, dass dieser keinerlei Bedrohung für ihn darstellte. Letztendlich
hatte nur Yubaba Schuld an seiner Misere und all derer, die mit ihm in dieser
Grube gefangen waren. Wie er diese Frau hasste!
Kapitel 9: Der See im Wald
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So, jetzt habe ich das neue Kapitel abgeschlossen. Es ist ein bisschen länger
geworden, als ich wollte, aber ich denke mal, da wird wohl keiner was dagegen
haben.
Viel Spass beim Lesen
Der See im Wald
Seit einer Stunde schon lag Chihiro bereits wach im Bett, war aber immer noch zu
faul, um endlich aufzustehen. Lieber döste sie noch eine Weile vor sich hin,
denn Ayaka und Ichiyo wollten erst um 10 Uhr kommen. Dabei es war gerade erst
einmal halb neun. Wenn sie hier so lag, nahm sie ihren chronischen Hunger kaum
wahr und konnte ihren Gedanken nachhängen.
Sie wohnte nun bereits ein dreiviertel Jahr in dem neuen Haus und fühlte sich
richtig wohl, obwohl ihre Eltern an allen Ecken und Enden knapsen mussten und
sie ihre Freundin Risa aus Tokyo immer noch vermisste. In den nächsten Tagen
wollte sie Risa auch mal wieder anrufen, aber heute war Samstag und die
Sommerferien hatten vor einer Woche begonnen, so dass sie Risa heute wohl nicht
erreichen würde. Sie würde den ganzen Tag unterwegs sein, wie sie sie kannte.
Das Hausverwaltungsgewerbe ihres Vaters brachte jedenfalls noch zu wenig Geld
ein, um alle laufenden Kosten zu bezahlen. Größter Posten dabei war natürlich
ihr Essen, was so viel zu Essen war, wie eine fünfköpfige Familie zusammen am
Tage verbrauchte. Ach ja, und natürlich ihre Schulgebühren. Ihre Mutter hatte
deshalb einen Job als Kassiererin in dem Konbini in der Nähe angenommen, mit
dem zusätzlichen Vorteil hatte, dass sie die Nahrungsmittel zum
Angestelltenpreis kaufen konnte.
Zu ihrem elften Geburtstag vor zwei Wochen hatte sie jedenfalls nur ein Paar
neue Schuhe bekommen und den vierten Band von Harry Potter. Aber außer neuen
Schuhen brauchte sie auch keine neuen Kleider, denn ihre alten passten ihr noch
immer, weil sie, seitdem sie hierher gezogen waren, gerade mal einen Zentimeter
gewachsen war. Ihren Eltern war sie deshalb nicht Böse, denn sie verstand, dass
sie nicht mehr so viel Geld hatten wie früher, als ihr Vater noch seinen gut
bezahlten Job im Architekturbüro gehabt hatte.
Es hätte ihre finanzielle Situation erheblich verbessert, wenn jemand das nur
Essen für sie bezahlt hätte. Leider weigerte sich die Krankenkasse aber
hartnäckig, es zu bezahlen, denn auch wenn es eine medizinische Indikation für
ihre erhöhte Nahrungsaufnahme gab, so vertrat sie den Standpunkt, dass
Nahrungsmittel nun einmal keine Arzneimittel seien und außerdem gäbe es
keinerlei Hinweise darauf, an was für einer Krankheit sie denn leiden würde,
geschweige denn, ob sie überhaupt krank währe.
Ihr Vater hatte deswegen bereits einen Prozess gegen die Krankenkasse
angestrengt, wobei er auf die Schützenhilfe von Dr. Ito hoffte. Dieser hatte in
verschiedenen Fachzeitschriften bereits Artikel über den Fall veröffentlicht
und auf mehreren Symposien darüber vor Fachkollegen darüber referiert. Zudem
hatte er ihrer Krankheit den Namen "hyperkalorisches metabolisches Syndrom"
gegeben oder auch kurz "Itosyndrom". Wenn es eine "offizielle" Krankheit war,
würde die Kasse schon zahlen müssen!
Sie fand den Namen "Itosyndrom" jedenfalls ungerecht. Wenn überhaupt hätte
ihre Krankheit "Oginosyndrom" heißen sollen, zudem sie sich ja gar nicht krank
fühlte, sondern hatte einfach nur andauernd Hunger hatte. Aber wenn Dr. Ito
ihnen vor Gericht helfen konnte, dass die Krankenkasse das Essen für sie
bezahlen musste, dann durfte er es ihretwegen auch "Itosyndrom" nennen.
Der Prozess zog sich nun schon über mehrere Monate hin und wurde von der
Krankenkasse immer wieder hinausgezögert, wohl in der Hoffnung, dass sie
irgendwann klein beigeben würden. Aber da kannten sie ihren Vater schlecht. Der
war schließlich als Student mehrfach Universitätsmeister im Sumo gewesen und
das wurde man nicht, indem man zurückwich, sondern standhaft war und nach vorne
ging.
Auf jeden Fall wollte Dr. Ito am Abend vorbei kommen, um mit ihren Eltern seine
neuesten Untersuchungsergebnisse zu diskutieren. Er hatte sie ja anfangs jede
Woche einmal und später monatlich Untersucht. Die letzte Untersuchung war
gerade mal erst eine Woche her.
Um viertel vor neun raffte Chihiro sich dann endlich auf, stürmte zuerst nach
unten in die Küche, wo eine große Schüssel mit Reisbällchen für sie
bereitstand, von denen sie einige sofort verschlang, bevor sie sich waschen
ging. Ihre Mutter war bereits in den Konbini gegangen, um dort zu Kassieren, und
ihr Vater beaufsichtigte wohl gerade irgendwelche Handwerker in einem der
Häuser, die er verwaltete.
Um sich die Zeit zu vertreiben, bis Ichiyo und Ayaka kommen würden, wollte sie
noch ein wenig Harry Potter lesen. Sie platzierte dafür ihren Plüschtotoro wie
üblich auf dem Bett und lehnte sich gemütlich dagegen. Dann holte sie noch die
Schüssel mit den Reisbällchen nach oben, um diese nach und nach zu vertilgen.
Harry war gerade dabei mit Ron und Hermine für das Trimagische Turnier zu üben
und Chihiro dachte daran, was sie letzte Woche gehört hatte. Daran, dass
nämlich die meisten Zaubersprüche in dem Buch lateinischen Ursprungs waren.
Wie konnte es dann eigentlich sein, dass es den Laden von Mr. Ollivander, in dem
Harry seinen Zauberstab gekauft hatte, schon seit 382 vor Christus gab? Die
Römer waren doch erst unter Cäsar nach Britannien gekommen, wie sie gelernt
hatte, und das war etwa 55 vor Christus gewesen.
Wie hatten die Zauberer vorher gezaubert. Jedenfalls nicht in Latein! Und wie
war das in China gewesen? Benutzte man dort auch lateinische Zaubersprüche?
Oder hier in Japan? Oder im alten Ägypten? Irgendwie erschien ihr das nicht
ganz logisch. Wozu musste man überhaupt etwas sagen? Verstand die Magie etwa
Latein? Hatte nicht Harry ganz am Anfang ganz ohne was zu sagen und ohne
Zauberstab die Scheibe von dem Terrarium mit er Boa verschwinden lassen, so dass
Dudley hinein gefallen ist?
Chihiro hatte plötzlich wieder dieses intensive Gefühl, dass sie sich
eigentlich an etwas erinnern müsste. Vor ihrem inneren Auge blitzte plötzlich
das Bild knorriger Finger mit langen, rot lackierten Nägeln auf, die ein paar
Gesten machten und so eine Unzahl von Gegenständen durch die Luft fliegen
ließen.
Einer plötzlichen Eingebung folgend sprang sie auf und ging zu ihrem
Schreibtisch herüber. Sie nahm einen Bleistift aus ihrem Mäppchen und suchte
dann nach etwas, dass sie als Ersatz für eine Feder benutzen konnte. Am Ende
riss sie einfach einen Streifen Papier aus einem ihrer Schulhefte und legte ihn
in die Mitte des Schreibtisches. Das müsste genügen.
Sie setzte sich auf den Stuhl, wutschte und wedelte mit dem Bleistift und rief
laut und wie sie hoffte mit der richtigen Betonung: "Wingardium leviosa!".
Natürlich passierte nichts, der Papierschnipsel bewegte sich keinen Millimeter
von der Stelle. ABer das hatte sie auch erwartet. Nach mehreren versuchen
seufzte sie und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Dabei legte sie den Bleistift
auf den Tisch zurück.
Eine Weile starrte sie auf den Papierschnipsel. Dann schloss sie die Augen und
versuchte sich den Schnipsel vorzustellen, so wie er auf dem Tisch lag. Vor
ihrem geistigen Auge ließ sie ihn von der Tischplatte abheben, höher, immer
höher, ließ ihn über sich hinwegschweben und dann in der Mitte des Zimmers
verharren. In diesem Moment ertönte die Türklingel. Ayaka und Ichiyo waren
da.
Chihiro schreckte hoch, als währe sie aus einem Traum erwacht, sprang auf und
wollte gerade zur Tür eilen, als sie sah, wie der Papierschnipsel langsam von
der Decke herunter schwebte. Verwundert schaute sie zu, wie er langsam kreiselnd
zu Boden sank. Dann ging die Schelle noch einmal.
"Ich komme ja schon.", rief sie und eilte die Treppe herunter zur Haustür.
Draußen standen Ichiyo und Ayaka, beide mit ihren Schulranzen und warteten.
Jeder von ihnen hatte zu ihrer Verwunderung noch eine Einkaufstüte dabei. Ayaka
trug wieder ihr japanisches Fußballtrikot und hatte ihren unvermeidlichen
Fußball unter den Arm geklemmt. Ichiyo hatte kurze Hosen, ein T-Shirt und
Turnschuhe mit weißen Socken an. Chihiro fiel aber auf, dass die rechte Socke
einen blauen Kringel hatte und die linke einen grünen. Zudem standen seine
Haare wirr durcheinander, als wäre er erst vor kurzem aus dem Bett gefallen.
"Hallo Ayaka, Ichiyo. Kommt doch herein.", lud Chihiro sie ein. Ayaka
marschierte stracks ins Haus, entledigte sich ihrer Schuhe, die sie in das
stellte. Dagegen verbeugte Ichiyo sich zuerst artig und brachte seine übliche
Entschuldigung hervor: "Guten morgen liebe Chihiro. Entschuldige bitte, wenn ich
so unordentlich hier erscheine, aber ich habe leider verschlafen." Dabei fuhr er
mit seinen Händen durch seine Haare, die er so versuchte irgendwie zu
bändigen.
"Ichiyo, du brauchst dich nicht andauern zu entschuldigen, außerdem sind Ferien
und es ist doch egal, wie du rumläufst, hauptsache nicht nackig.", versuchte
Chihiro ihn aufzumuntern, aber Ichiyo lief bereits wieder rot an. "Na los, jetzt
komm schon rein." Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn durch die Tür nach
innen. Ichiyo war heute erst das zweite mal bei Chihiro zu hause. Das erste mal
war an ihrem elften Geburtstag vor kurzem gewesen.
Nachdem auch er seine Schuhe abgestellt hatte, musste Sie ihn fast die Treppe
hinauf ziehen zu ihrem Zimmer. Als sie hereinkamen hatte Ayaka ihren Tornister
und die Einkaufstasche auf den Schreibtisch gestellt, den Fußball auf den Boden
gelegt und sich selbst auf das Bett geschmissen, wo sie gerade zufrieden eines
der Reisbällchen mampfte. Staunend blieb er dann wieder im Türrahmen stehen
und sah sich mit aufgerissenen Augen um.
An jeder freien Stelle im Zimmer hatte Chihiro Blumengestecke aufgestellt, die
sie im Ikebana-Kurs aus Trockenblumen gemacht hatte, und im Raum schwebte ein
leichter Blumen- und Kräutergeruch. Insgesamt waren es mehr als zwei Dutzend
Blumengestecke.
"Los Ichiyo, setz dich irgendwo hin, wo du magst.", forderte ihn Chihiro auf,
"Deine Sachen stell einfach neben Ayakas auf den Schreibtisch." Sie ging in die
Mitte ihres Zimmers, hob den Papierschnipsel auf, der dort immer noch lag und
schnipste ihn in den Papierkorb. Dann drehte sie sich um und währe fast mit dem
Jungen zusammengestoßen, der beinahe geräuschlos in das Zimmer geschlichen
war.
"Äh, Chihiro.", sagte er, "Ich habe hier etwas für dich. Ayaka meinte, dass
dir etwas Abwechselung von den Reisbällchen gut tun würde." Er hielt Chihiro
die Einkaufstüte hin, die sie ihm aus der Hand nahm und hineinschaute. Es waren
alle möglichen Leckereien darin, wie Kekse, Bonbons, Kartoffelchips,
Schokolade, Erdnüsse, Müsliriegel und anderes.
"Oh, äh, ja, daf hätt if ja faft fergeffen.", ließ sich Ayaka vom Bett
vernehmen. Sie hatte sich gerade ein weiteres Reisbällchen in den Mund
gestopft. Nun sprang sie auf und gab Chihiro ihre Tüte, die sie auf den
Schreibtisch gestellt hatte. Die Tüte enthielt ebenso wie die von Ichiyo eine
kunterbunte Auswahl verschiedenster Knabbereien.
"Hier. Ich hatte gedacht, ich bringe noch etwas mehr mit, sonst has du ja doch
wieder alles bis morgen aufgegessen.", meinte sie, setzte sich auf die Bettkante
und nahm sich ein weiteres Reisbällchen aus der Schüssel, wobei sie Chihiro
leutselig anschaute, "If nehm mir nof ein Paar, ja? Hab nämmif niftf
Gefrühftückt."
"Oh, Ichiyo, Ayaka, das währe doch nicht nötig gewesen. Aber trotzdem vielen
dank.", strahlte Chihiro, "Wollt ihr was zu Trinken haben? Und äh Ichiyo, du
darfst dir gerne auch ein paar Reisbällchen nehmen, wenn du Hunger hast. Die
hängen mir sowieso zum Hals raus." Ichiyo und Ayaka bejahrten dies, so dass
Chihiro nach unten in die Küche ging, um etwas zu Trinken zu holen.
Alle drei waren sie jetzt in der sechsten Klasse der Grundschule. So langsam
rückten damit die Abschlussprüfungen immer näher und somit die Versetzung auf
die Mittelschule. Um auf eine gute Mittelschule gehen zu können musste man bei
diesen Abschlussprüfungen ein möglichst gutes Ergebnis erzielen.
Deshalb hatten Ichiyos und Ayakas Eltern ihre Kinder auf eine Juku, eine
Paukschule geschickt, die sie auf diese Abschlussprüfungen vorbereiten sollten.
Währen der Sommerferien mussten Ichiyo und Ayaka jetzt jeden Tag in der Woche,
Montags bis Freitags dort acht Stunden lang die Schulbank drücken, natürlich
gegen Bezahlung.
Diese Rundumbetreuung der Kinder war allerdings so teuer, dass Chihiros Eltern
sich dies im Moment einfach nicht leisten konnten, so dass sie sich alleine auf
die Prüfungen vorbereiten musste.
Um Chihiro zu helfen, hatten sich Ayaka und Ichiyo bereit erklärt, am
Wochenende zusammen mit Chihiro den Stoff durchzugehen, den sie während der
Woche in der Paukschule eingetrichtert bekommen hatten. Sie hatten verabredet,
von zehn Uhr morgens bis sechs Uhr abends lernen und danach noch zusammen
schwimmen zu gehen.
Ayaka hatte nämlich von einem wunderschönen kleinen See mitten im Wald
erzählt, den sie letzten Sommer entdeckt hatte. Er sollte nur einen guten
Kilometer entfernt sein und da heute ein wunderbarer heißer Julitag war, würde
es eine gute Abwechselung sein.
Chihiro kehrte mit drei Gläsern und einer Flasche Sprudel in ihr Zimmer
zurück, wo die beiden anderen bereits das Unterrichtsmaterial und ihre
Mitschriften aus der Juku ihren Ranzen entnommen und auf dem Boden verteilt
hatten. Sie würden den ganzen Vormittag und Nachmittag ihre Ruhe haben, bis
etwa gegen 17 Uhr. Dann würde ihre Mutter nach Hause kommen um das Abendessen
vorzubereiten. Gegen 18 Uhr wollte dann ja noch Dr. Ito zu Besuch kommen.
Kurz nach Fünf schaute dann ihre Mutter Yuuko in das Zimmer und sah, wie alle
drei auf dem Boden hockten und fleißig lernten. Chihiro schreckte fast hoch, so
versunken war sie in den Stoff gewesen, ohne zu merken, wie die Zeit verging.
Je näher er es dann auf sechs Uhr zuging, desto unruhiger wurde Ayaka. Sie fing
an, mit den Füssen zu wippen, schaute immerzu auf die Uhr oder zum Fenster
hinaus und konnte sich nicht mehr auf die Sache konzentrieren. Ichiyo hatte
damit übrigens keine Schwierigkeiten und ging mit Chihiro weiter seelenruhig
die Geschichte Japans durch.
Gegen halb Sechs begann Ayaka dann mit ihrem Ball herumzuspielen, probierte ihn
auf ihrem Zeigefinger kreiseln zu lassen, was ihr aber nicht immer gelang. Nach
einigen Versuchen prallt der Ball mit lautem Klingen gegen die inzwischen leere
Schüssel, in der sich die Reisbällchen befunden hatten. Ayaka und Ichiyo
hatten jeweils vielleicht ein Sechstel davon gegessen, wovon sie pappsatt waren,
und Chihiro den ganzen Rest.
Jedenfalls wurde es Chihiro jetzt zu bunt. "Ayaka, was machst du denn. Du musst
die Prüfung doch auch machen. Komm noch eine halbe Stunde lernen, ja?",
versuchte sie ihre Freundin bei der Stange zu halten.
"Mann Chihiro, du hörst dich ja schon an, wie meine Mutter. Es ist doch nichts
passiert. Die Schüssel ist noch heile und lernen können wir auch morgen
noch.", gab diese zurück, "Die ganze Woche habe ich noch keinen Fußball
gespielt, sondern andauernd nur gelernt. Ich muss mich endlich mal bewegen."
Es tat Chihiro jetzt leid, dass sie ihre Freundin so angefahren hatte. Sie
selbst hatte ja die ganze Woche nicht in der Juku hocken müssen und Ayaka war
nur ihr zuliebe hier. "Also gut, Ayaka, ich glaube, du hast recht. Dann hören
wir jetzt auf, und ihr zeigt mir, wo dieser See im Wald liegt.", gab Chihiro
deshalb nach, wobei sie Ayaka anlächelte, "Ich hol nur noch eben meine
Badesachen."
Kurz darauf kam sie mit dem großen Rucksack wieder, den sie sonst anstatt eines
normalen Tornisters immer mit zur Schule nahm, weil zusätzlich zu ihren
Schulsachen noch das ganze Essen hineinpassen musste, dass sie im Laufe eines
Schultages so vertilgte. Ayaka kannte ihn schon sehr gut, denn Chihiro schaffte
es meistens nur, den Rucksack morgens bis zu Ayakas Haus zu schleppen, wo diese
ihn dann den Rest des Weges bis zur Schule tragen durfte, während Chihiro
Ayakas viel leichteren Ranzen übernahm. Wenn sie dann an der Schule ankamen,
war selbst Ayaka meistens ganz fertig, aber sie sah es einfach als Training und
tat es deshalb gerne.
"Du Chihiro, wir wollen nur Baden gehen. Wozu brauchst du denn den riesigen
Rucksack?", fragte Ayaka, bereits innerlich stöhnend.
"Naja, ich muss doch noch etwas zu Essen mitnehmen. Wer weiß, wie lange wir
wegbleiben.", meinte Chihiro, während sie begann, einiges von den Knabbereien,
die Ichiyo und Ayaka mitgebracht hatten, in den Rucksack zu stopfen.
"Chihiro, hast du eigentlich deinen Badeanzug schon an?", fragte Ayaka weiter,
"So schnell hast du ihn sicherlich nicht anziehen können. Willst du dich dann
am See umziehen? Hinter einem Busch?"
Verdutzt sah Chihiro zu Ayaka herüber und dann in den Rucksack. "Äh, ich
dachte...", stammelte sie und bemerkte dann, wie Ichiyo bereits wieder rot
anlief, "Ok, ich geh und zieh ihn mir unter die Sachen."
Fünf Minuten später waren sie dann alle an der Haustür. Chihiros Mutter
wünschte ihnen noch viel Spaß und ermahnte sie, vorsichtig zu sein.
Gleichzeitig verstaute sie noch zusätzlich einen dicken Stapel belegter Brote
in dem Rucksack ihrer Tochter. Beim herausgehen stießen sie dann fast noch mit
Chihiros Vater zusammen, der gerade nach Hause kam.
"Wo geht's lang, Ayaka?", wollte Chihiro wissen, als sie auf der Strasse
standen. Sie drehte sich zu den beiden anderen um, sah dass Bunzo, der ja im
Nachbarhaus wohnte, sie aus seinem Zimmerfenster finster anstarrte und anfing
Grimassen zu schneiden, als er bemerkte, dass Chihiro ihn gesehen hatte.
"Wir müssen da hinunter.", sagte Ayaka und zeigte auf den riesigen alten Baum,
der am Waldrand stand, "Weißt du, da lang, wo wir uns letztes Jahr begegnet
sind. Der Bach mündet übrigens in den See." Sie kletterte über die
Straßenbegrenzung, um den Abhang hinunter zu steigen. Auf den im letzten Sommer
noch leeren Grundstücken linkerhand am Abhang waren jetzt viele Häuser im Bau,
von denen vielen schon der Rohbau abgeschlossen war.
Der riesige alte Baum durfte nicht abgeholzt werden, um auch dort ein Haus zu
bauen, weil er unter Denkmalschutz stand, wie Chihiro erfahren hatte. Er war
schon über 2000 Jahre alt und die Leute glaubten, dass Kami in ihm wohnen
würden, weshalb an seinem Fuß auch die vielen kleinen Steinhäusschen
aufgestellt hatten und die Leute dort öfters etwas den Göttern opferten.
Dieser Gedanke machte sie glücklich, weil sie dadurch immer an den lustigen
Waldgeist Totoro aus dem Zeichentrickfilm "Tonari no Totoro" von Hayao Miyazaki
erinnert wurde, einem ihrer absoluten Lieblingsfilme. Vielleicht wohnte ja ein
ähnlicher Geist in diesem Baum.
Unten am Waldweg angelang, führte Ayaka sie zielstrebig in den Wald hinein, was
in Chihiro ungute Erinnerungen weckte, wie sie mit ihren Eltern letztes Jahr
sich hier verfahren hatte, um dann erst nach mehr als zwei Wochen wieder heraus
zu kommen.
Um kurz nach sechs Uhr Abends, Chihiro und ihre Freunde waren gerade eine
viertel Stunde aus dem Haus gegangen, schellte die Türglocke bei den Oginos und
Dr. Ito war da. Im Unterschied zu sonst hatte er diesmal keinen weißen Kittel
an, sondern trug einen normalen Anzug. Über seine Schulter hatte er eine Tasche
gehängt, die offensichtlich einen Laptop enthielt und in der rechten Hand eine
Aktentasche.
"Kommen sie doch herein, Herr Dr. Ito.", begrüßte ihn Yuuko Ogino freundlich,
"Ich habe uns einen Tee gemacht." Sie führte den Arzt in das Wohnzimmer und bat
ihn dort Platz zu nehmen.
Dr. Ito legte den Laptop auf den Wohnzimmertisch, klappte ihn auf und schaltete
ihn ein, während Chihiros Mutter allen einen Tee einschenkte. Vater Ogino saß
mit verschränkten Armen in seinem Fernsehsessel, den Doktor skeptisch
anblickend. "Was gibt es denn so interessantes, was sie uns erzählen wollen?",
fragte er ungeduldig.
"Aber Schatz, jetzt lass uns doch erst mal einen Tee trinken.", bremste sie ihn
und sagte dann zu Dr. Ito gewandt "Herr Ito, wie geht es ihnen und ihrer Frau
denn so?"
"O, vielen Dank der Nachfrage. Wir erwarten bald unser zweites Kind?" Er nahm
einen Schluck aus seiner Teetasse. "Ich glaube aber, da ihr Mann so neugierig
ist, sollte ich besser gleich mit meinen neuen Informationen herausrücken. Der
Computer ist ja auch bereits hochgefahren."
"Na gut, wenn sie meinen. Ich bin auch schon gespannt auf das was sie
herausgefunden haben", gab Yuuko Ogino auch ihre Neugier zu.
"Also gut. Wie sie ja wissen, haben wir ihre Tochter allen möglichen und
unmöglichen Untersuchungen unterzogen.", begann Dr. Ito seine Ausführungen,
"Bis heute ist es uns aber nicht gelungen, eine medizinische Ursache für das
Problem ihrer Tochter auszumachen. Körperlich scheint sie, bis auf ihr
Untergewicht, in ausgezeichneter Verfassung zu sein. Auch hat sie keinerlei
hormonelle Störung, wie etwa einen Mangel an Wachstumshormonen. Daher habe ich
mich in den vergangenen Wochen einmal mit der Vergangenheit ihrer Tochter
befasst, insbesondere mit der medizinischen und bin da auf einige interessante
Zusammenhänge gestoßen. Deshalb hatte ich sie ja auch letzten Monat gebeten,
mir noch einmal alle Unterlagen ihrer Tochter über frühere Erkrankungen zur
Verfügung zu stellen und insbesondere das aufschlussreiche Heftchen, in dem sie
die Entwicklungsphasen des Kindes aufgezeichnet haben. Diese Unterlagen können
sie übrigens jetzt gerne zurück haben."
Er kramte kurz in seiner Aktentasche und zog einen Stapel Papier hervor, sowie
ein leicht zerfleddertes Schulheft. Dann fuhr er fort: "Ich habe zunächst
einmal die Wachstumsdaten ihrer Tochter mit denen aus der statistischen
Wachstumstabelle für japanische Kinder aus den neunziger Jahren verglichen.
Dies hier ist graphische Darstellung der normalen Größenentwicklung in
Abhängigkeit vom Alter. Einen Moment bitte."
Auf dem Laptop startete er ein Programm, mit dem er dann eine Datei öffnete. In
sekundenschnelle baute sich am Bildschirm eine Grafik auf, die ein Achsenkreuz
mit einem Gitternetz darstellte, auf dem eine rote Linie erschien. Auf der
X-Achse war das Alter in Jahren und auf der Y-Achse die Größe in Zentimetern
aufgetragen.
"Die ist die normale Wachstumslinie, nach der ihre Tochter sich hätte
entwickeln sollen.", führte er aus, "Ich habe sie mit dem Wachstum Chihiros in
ihren ersten drei Jahren abgeglichen. Hätte sie sich gemäß dieser
Wachstumslinie entwickelt, so wäre sie mir 16 Jahren ausgewachsen gewesen und
vermutlich etwa 5 cm größer geworden als sie, verehrte Frau Ogino."
Chihiros Eltern starrten gebannt auf das Display des Laptops. Dr. Ito nahm einen
weiteren Schluck Tee, beugte sich vor und drückte eine Taste. Daraufhin
erschien eine weitere Linie in dem Diagramm, diesmal eine blaue, die teilweise
über und teilweise unter der roten Linie verlief.
"Dieser blaue Graph stellt das tatsächliche Wachstum Chihiros dar, wie ich es
aus ihren Aufzeichnungen rekonstruiert habe.", fuhr er fort, wobei er auf das
zerfledderte Schulheft tippte, "Wie sie sehen, sind die beiden Graphen in den
ersten drei Jahren deckungsgleich. Hier auf einmal nimmt das Wachstum ihrer
Tochter enorm zu und sie gewinnt in den folgenden zwei Jahren fünf Zentimeter
gegenüber der statistischen Wachstumslinie. Begleitet wird dieses Wachstum
gleichzeitig von einer enormen Gewichtszunahme."
"Hm ja, aber was hat das ganze mit dem momentanen Problem Chihiros zu tun?",
warf ihre Mutter ein. Vater Ogino nickte.
"Warten sie ab, ich kommen gleich darauf. Hier mit fünf Jahren auf einmal
bekommt ihre Wachstumskurve einen deutlichen Knick und wird erheblich flacher.
Sie verliert den gesamten Wachstumsvorsprung, den sie aufgebaut hatte und gerät
bis zum zehnten Lebensjahr um fast zehn Zentimeter in Rückstand gegenüber den
anderen Kindern. Interessanterweise bleibt ihr Körpergewicht dabei nahezu
konstant. Sie verwandelt sich in diesen fünf Jahren quasi von einem etwas
pummeligen großen Kind in ein viel zu kleines und dünnes Mädchen."
Akio und Yuuko Ogino blickten einander ratlos an.
Unbeirrt machte Dr. Ito weiter, wobei er immer wieder an seinem Tee nippte. "Ich
jedenfalls vermute, dass dieser scharfe Bruch in der Entwicklung des Kindes auf
das Ereignis zurückzuführen ist, bei dem ihre Tochter damals ins Krankenhaus
eingeliefert werden musste und sie beinahe ums Leben gekommen ist. Die Ärzte
damals haben ebenso wie ich heute keine körperliche Ursache für den Beinahetod
ihrer Tochter gefunden. Deshalb vermute ich, dass es damals wie heute einfach
keine körperliche Ursache gab. Die eigentliche Zäsur im Leben des Mädchens
vermute ich aber in ihrem dritten Lebensjahr, das Ereignis, dass damals ihren
Wachstumsschub verursacht hatte."
"Wie kommen sie denn darauf? Unserer Tochter ging es damals prächtig. Ich sehe
da keinen Zusammenhang mit ihrem aktuellen Zustand.", argumentierte Chihiros
Vater eifrig, "Ich könnte mir eher vorstellen, dass das, was damals ihren
Zusammenbruch im Kindergarten ausgelöst hat, auch für das jetzige Problem
verantwortlich ist. Finden sie lieber einen Zusammenhang zwischen den damaligen
Untersuchungsergebnissen und den heutigen. So kommen wir der Sache bestimmt auf
die Spur."
Yuuko Ogino schenkte derweil dem Arzt eine weitere Tasse Tee ein.
"O, vielen Dank. Gemach, gemach, Herr Ogino. Es gibt da nämlich noch etwas
anderes, was ich in ihren Aufzeichnungen entdeckt habe, was mich vermuten
lässt, dass es doch mit dem dritten Lebensjahr zu tun hat." Dr. Ito lächelte
und nahm einen weiten schluck Tee.
"Und das wäre?", fragte Yuuko Ogino mit erwachender Neugier. Sie hatte die
bisherigen Ausführungen des Arztes zwar interessant, aber wenig aufschlussreich
gefunden.
"Nun, das ist auch der eigentliche Grund, weshalb ich zu ihnen gekommen bin. Ich
wollte sicher gehen, dass es sich nicht um einen Fehler, beziehungsweise eine
Unterlassung in ihren Aufzeichnungen handelt.", setzte Dr. Ito jetzt an, "Wann
ist Chihiro das letzte mal krank gewesen?"
Chihiros Mutter war jetzt Baff und glotzte den Arzt ungläubig an. "Wie, was?
Sie sind zu uns gekommen um uns das zu fragen? Sie ist doch gerade jetzt Krank
und Masern und Röteln hat sie auch gehabt! Das steht doch in dem Heft alles
drin!"
"Nein, bitte überlegen sie. Die Frage war durchaus ernst gemeint. Ich werte
einmal Chihiros Zusammenbruch im Kindergarten damals und ihren jetzigen Zustand
nicht als Krankheit, da wir keinerlei organische Ursache gefunden haben.", hakte
Dr. Ito eindringlich nach, "Aus ihrem Heft geht hervor, dass Chihiro
verschiedene Kinderkrankheiten hatte, darunter auch Masern und Röteln. Sie
haben auch minutiös jede Erkältung des Kindes aufgezeichnet, jedes Bauchweh
und jeden Durchfall. Aber die Aufzeichnungen enden mit dem 26.6.1993, an dem sie
Husten und Halsweh hatte. Danach gibt es noch einen Eintrag etwa ein Jahre
später, wo sie sich an der Hand verbrannt hat, aber das ist ja auch kein
Krankheit im eigentlichen Sinne, sondern eine Verletzung. Deshalb frage ich sie,
haben sie nur aufgehört, Chihiros Erkrankungen aufzuschreiben oder ist sie
einfach nicht mehr krank gewesen?"
Akio Ogino blickte Dr. Ito nachdenklich an, während Yuuko mit einem Seufzer auf
dem Sofa neben dem Arzt zurücksank und die Stirn kraus zog. "Nein, wir haben
nicht aufgehört, es aufzuschreiben.", sagte sie schließlich, nach einigen
Minuten des Nachdenkens, "Chihiro ist einfach nicht mehr krank gewesen, seit 8
Jahren. Nichts, gar nichts. Ich kann mich erinnern, vor zwei Jahren, da gab es
in der Schule einen Nachtisch, der mit Salmonellen verseucht war. Alle, die
davon gegessen hatte, mussten mit Durchfall und Magenbeschwerden ins Krankenhaus
eingeliefert werden, alle außer Chihiro. Damals hielt ich es für einen Zufall,
aber jetzt, nachdem sie mich darauf aufmerksam gemacht haben, glaube ich es
nicht mehr."
"Ich hatte das bereits vermutet, aber ich musste sicher gehen, dass es sich
nicht um einen Fehler in den Aufzeichnungen handelte.", meinte Dr. Ito und
fragte dann weiter: "Wie war das eigentlich mit der Verbrennung an ihrer Hand.
Ich meine, immerhin war es ihnen wichtig genug, dass sie es notiert hatten."
"O, das. Das war nicht so schlimm, wie es zunächst schien.", erinnerte sich
Yuuko Ogino, "Sie hatte mit ihrer rechten Hand auf die glühende Herdplatte
gepatscht. Die Hans sah schlimm aus, im ersten Moment. Die ganze Handfläche war
offen und die Wundränder schwarz, aber Chihiro hat nicht einmal geweint. Wir
sind dann sofort zum Arzt mit ihr. Der hat dann die Hand verbunden und uns ins
Krankenhaus geschickt. Aber die haben gesagt, dass es nicht ganz so schlimm
wäre und die Hand erneut verbunden. Am übernächsten Tag, war dann alles
verheilt und die Hand sah aus, wie vorher." Jetzt zog Dr. Ito die Stirn kraus.
"Was musstest du Chihiro auch auf die Arbeitsplatte neben dem Herd setzten.",
ärgerte sich Akio Ogino, der an die ganze Aufregung damals zurückdachte, "Das
war unverantwortlich von dir."
"Schatz, es ist doch damals nicht schlimmes passiert.", verteidigte sich Yuuko,
wobei sie ziemlich zerknirscht aussah, "Es ist außerdem schon soo lange her."
"Ich finde, Schuldzuweisungen bringen uns im Moment nicht weiter.", unterbrach
sie Dr. Ito, "So wie sie das beschrieben haben, hatte ihre Tochter also eine
Verbrennung dritten Grades. Nach ihren Aussage ist das in nur zwei Tagen
verheilt, obwohl es hätte Monate dauern und Narben zurücklassen müssen. Die
ganze Sache wird ja immer interessanter!"
"Naja, wenn ich mich so recht entsinne, hat keine Verletzung bei Chihiro länger
zum Verheilen benötigt, als zwei Tage.", erzählte Chihiros Mutter weiter, "Sie
ist, äh, war bis letztes Jahr ziemlich tollpatschig, ist andauernd hingefallen,
hat sich die Haut aufgeschürft, hat sich öfters mal geschnitten oder gepiekt
und hat ziemlich viele blaue Flecken gehabt. Aber immer sind ihre Verletzungen
in weniger als zwei Tagen verheilt, meistens in weniger als einem. Ich habe mich
nie darüber gewundert, aber jetzt, wo sie mich darauf aufmerksam machen, ist es
doch merkwürdig."
"Also gut. Lassen sie mich einmal zusammenfassen.", resümierte Dr. Ito, "Ihre
Tochter ist in der Lage, mehr als 10000 Kilokalorien am Tag umzusetzen. Ich
wundere mich schon die ganze Zeit, wie sie es überhaupt schafft, diese
Nahrungsmenge zu sich zu nehmen, geschweige denn sie zu verdauen. Sie widersteht
jeder Infektionskrankheit und Verletzungen heilen bei ihr in weniger als zwei
Tagen, ohne Narben zu bilden. Herr und Frau Ogino, ich muss schon sagen, Chihiro
ist ein medizinisches Phänomen! Zumindest, wenn das stimmt, was sie sagen."
"Trotzdem verstehe ich immer noch nicht, was das alles zu bedeuten hat.", warf
Akio Ogino ein.
"Das weiß ich ja selber nicht und ich bin hier bei ihnen, um zu versuchen ein
wenig mehr Licht in diese ganze Sache zu bringen." Dr. Ito nahm noch einen
Schluck Tee. "Schauen sie, das Leben ihrer Tochter lässt sich ganz klar in zwei
Abschnitte einteilen. Einen Abschnitt, in dem die Entwicklung des Mädchens
völlig normal verläuft und einen Abschnitt, der durch Wachstumsanomalien mit
zwei beinahe tödliche Zusammenbrüchen gekennzeichnet ist, durch eine
offensichtlich Resistenz des Kindes gegen jegliche Krankheit und ein
außergewöhnliches Wundheilungsvermögen. Irgendwann um ihren dritten
Geburtstag herum muss etwas mit ihr passiert sein. Bitte versuchen sie sich zu
erinnern, Herr und Frau Ogino."
"Um ihren dritten Geburtstag, meinen sie?", überlegte Chihiros Mutter, "Das
einzige, woran ich mich da erinnern kann, aber ich glaube kaum, dass es etwas zu
bedeuten hat, ist dass sie in einen Fluss gefallen ist und ihren Schuh verloren
hat."
"Yuuko, davon hast du mir ja gar nichts erzählt.", meinte Akio Ogino
überrascht.
"Na ja, ich wollte dich nicht beunruhigen und du hattest damals ja mit der
Projektüberwachung am Kohakugawa genug zu tun.", erzählte Yuuko Ogino weiter,
"Wissen sie, Herr Dr. Ito, es fand damals eine Ortsbesichtigung für ein
Siedlungsprojekt an diesem Fluss statt und weil die Gegend so schön war und das
Wetter so gut, hatte mein Mann mich und Chihiro mitgenommen, um das ganze mit
einem Picknick zu beschließen. Auf einmal war Chihiro fort und ich habe sie
gesucht. Einige hundert Meter flussabwärts habe ich sie nach einer
Viertelstunde fröhlich im flachen Wasser am Ufer planschend gefunden. Der
rechte Schuh war futsch und außerdem hatte ich deswegen einen gehörigen
Schrecken deswegen. Ach ja, sie brabbelte irgendetwas von einem weißen Drachen.
Zwei Jahre später, wurde der Fluss dann trockengelegt und zugeschüttet, um
dort Apartmenthäuser zu bauen."
"Das scheint ja wirklich nichts mit der Sache zu tun zu haben. Aber Moment
einmal, hatten sie nicht letztes Jahr gesagt, dass sie so viel zu tun hatten,
gerade, als es Chihiro so schlecht ging?", fiel Dr. Ito ein und er begann in
seiner Aktentasche zu Kramen, "Ah, hier haben wir es ja. Laut den Aussagen der
Kindergärtnerin bekam Chihiro am 24.07.1995 gegen 10:30 einen Anfall, wegen dem
sie ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Sie sagten letztes Jahr Herr
Ogino, wie ich mich erinnere, dass sie nur wenig Zeit hatten, um sich um ihre
Tochter zu kümmern, da sie zu der Zeit die Baumassnahmen an einem Fluss
überwachen mussten. Aus dem Zusammenhang kann ich jetzt nur schließen, dass es
er Kohakugawa gewesen sein muss, der Fluss, in den ihre Tochter zwei Jahre zuvor
gefallen ist."
Chihiros Vater war bei dieser Feststellung aufgesprungen und zu seinem
Schreibtisch gelaufen. Er kramte eine Weile lang in alten Dokumenten bis er
fündig geworden war. "Das ist es.", sagte er triumphierend, "Am 24.07.1995
wurde damit begonnen, den Kohakugawa trocken zu legen. Um genau 10:30 Uhr wurde
seine Quelle gesprengt!"
Als Akio Ogino klar wurde, was er da gesagt hatte, war es, als hätte man die
Luft aus ihm heraus gelassen. Er sank quasi in sich zusammen. "Moment einmal,
sie wollen doch nicht etwas sagen....", hauchte er und begann hektisch in seinen
Unterlagen zu wühlen. "Das kann doch überhaupt nicht sein. Am 11.08.1995 wurde
er der letzte Zufluss des Kohakugawa umgeleitet und am folgenden Montag, wurde
damit begonnen, das Flussbett zuzuschütten." Bleich ließ er sich in seinen
Sessel plumpsen.
"Laut den Aufzeichnungen musste Chihiro in der Nacht zu 12.08.1995 zweimal
wiederbelebt werden. Ich finde die Koinzidenz der Ereignisse höchst
interessant, höchst interessant.", philosophierte Dr. Ito, "Wenn ich einmal
zusammenfassen darf, so ist folgendes geschehen: ihre ist Tochter am 16.7.1993
in den Kohakugawa gefallen, wo sie dem Flussgott in Gestalt eines weißen
Drachen begegnet ist. Erinnern sie sich an die Hypnose durch die
Kinderpsychologin letztes Jahr. Chihiro hat auch hier wieder von einem weißen
Drachen erzählt. Dieser hat irgendetwas mit ihrer Tochter angestellt. Danach
wurde sie aus dem Fluss mit zusätzlicher Lebensenergie versorgt so dass sie
anfing, stark zu wachsen und an Gewicht zuzulegen. Als der Fluss trockengelegt
und zugeschüttet wurde, versiegte diese Quelle plötzlich und sie wurde stark
in Mitleidenschaft gezogen. Danach begann der Flussgott irgendwie seine
Lebenskraft aus ihrer Tochter zu beziehen und hat so für den hohen
Kalorienverbrauch gesorgt."
"Das kann doch wohl nicht ihr Ernst sein?", wunderte sich Akio Ogino leicht
verstört, "So einen Unsinn habe ich ja lange nicht mehr gehört!"
"Nein, sie haben vollkommen Recht.", stimmte ihm Dr. Ito zu, "Dass ist nur die
Schlussfolgerung, die man ziehen müsste, wenn man ein schintoistischer Priester
währe und an die japanische Mythologie glaubt. Selbstverständlich würde eine
solche Theorie niemals einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten. Ich
bin völlig sicher, dass es eine vollkommen andere Erklärung für Chihiros
Probleme gibt."
Chihiros Vater hatte dies wieder beruhigt und Dr. Ito sprach noch mehr als eine
Stunde mit den Oginos über mögliche medizinische Implikationen und über den
bevorstehenden Prozess gegen die Krankenkasse, bevor sie ihn an der Haustür
verabschiedeten.
"Schau mal, Chihiro, dieser komische Stein da im Wald.", rief Ayaka übermütig,
sprang in die Büsche und kletterte auf den mit einem grinsenden, doppelten
Gesicht behauenen und mit Moos bewachsenen Felsen, wobei sie die Mundöffnung
als Stufe verwendete, "Ich wüsste nur zu gerne, was das bedeuten soll?" Sie
nahm ihren Ball und begann ihn auf dem Fuß zu jonglieren, während sie mit dem
anderen Bein auf der Spitze des Felsens balancierte.
"Ayaka, du wirst noch herunterfallen und dir die Haxen brechen." Chihiro blickte
sich kurz zu Ichiyo um, der sie mittlerweile eingeholt hatte, aber völlig
verschwitzt war, weil er zusätzlich zu seinem eigenen Schulranzen noch Ayakas
trug und Chihiros Rucksack mit dem ganzen Essen. Dazu kam noch, dass die
Temperaturen um die 30° C lagen und es wie immer in dieser Jahreszeit ziemlich
schwül war. Er tat ihr leid.
"Ichiyo, komm mal.", sagte sie laut und vernehmlich, "Ich finde es ja furchtbar
lieb von dir, dass du unsere Sachen tragen wolltest, aber alles ist auch für
dich zu schwer. Wenn du mir meinen schweren Rucksack trägst, dann nehme ich
deinen Ranzen."
Ichiyo blickte sie überrasch an, sagte aber nichts. Es war eine umständliche
Prozedur, ihm seinen Schulranzen abzunehmen, denn zunächst musste er Chihiros
Rucksack ablegen und dann Ayakas Ranzen herunter nehmen, den er vor dem Bauch
trug, bevor er dann seinen eigenen herunternehmen konnte. Nachdem sich Chihiro
seinen Ranzen auf den Rücken geschnallt hatte, machte sich Ichiyo umständlich
wieder daran, zuerst Chihiros schweren Rucksack auf den Rücken zu wuchten und
dann Ayakas Ranzen wieder vor den Bauch zu schnallen.
Ayaka ihrerseits hatte von ihrem erhöhten Standpunkt aus verwundert die Szene
beobachtet und aufgehört, mit ihrem Ball herumzuspielen. Als sie sah, wie
Ichiyo mühsam versuchte, sich ihren Ranzen wieder vor den Bauch zu schnallen,
sprang sie von dem Stein herunter, lief zu dem Jungen herüber. Sie nahm ihm
ihren Ranzen ab und gab ihm einen Bussi auf die Wange, woraufhin er sofort
wieder rot anlief.
"Los jetzt, wir sind bald da.", sagte sie bestimmt und begann energisch dem Weg
durch den Wald weiter zu folgen.
Wenige Minuten später erreichten sie ein großes, mit bröckeligem rotem Putz
bedecktes Gebäude, in das ein Tunnel hinein führte, der von einem weiteren
Stein bewacht wurde, in den vorne und hinten ebenfalls ein grinsendes Gesicht
eingemeißelt war.
Chihiro wurde langsamer und langsamer. Ayaka marschierte straks in den Tunnel
und Ichiyo trottete hinter ihr her. Die ganze Situation kam ihr irgendwie
schrecklich vertraut vor. Direkt vor dem Stein blieb sie dann stehen, blickte
sich um und starrte dann auf den Stein. Hier war sie schon einmal gewesen,
letztes Jahr mit ihren Eltern, begann sie sich zu erinnern. Dann waren sie in
den Tunnel gegangen und erst zweieinhalb Wochen später wieder heraus gekommen.
"Chihiro, jetzt komm schon.", klang Ayakas Stimme hohl aus dem Tunnel, "Nur noch
durch den Tunnel und dann sind wir auch fast da."
Vorsichtig, mit einem flauen Gefühl in der Magengrube kam Chihiro um den Stein
herum, stellte sich vor den Tunneleingang und sah hinein. Düster war am anderen
Ende der Ausgang zu sehen, schemenhaft die Umrisse von Ayaka und Ichiyo, wie sie
weiter durch den Tunnel gingen. Ein kühler und feuchter Lufthauch kam aus der
dunklen Öffnung und leise waren die Schritte ihrer Freunde in der fast
vollkommenen Stille zu hören.
"Na los Chihiro, wir warten hier auf dich.", hörte sie Ayaka dumpf aus dem
Tunnel rufen, als sie und Ichiyo die andere Seite erreicht hatten. "Genau,
Chihiro, ist ganz ungefährlich. Ist einfach nur ein Tunnel.", ergänzte der
Junge.
Sie fasste sich ein Herz, obwohl das flaue Gefühl immer stärker wurde. Sie
sollte da nicht hineingehen. Trotzdem machte sie noch einen Schritt in Richtung
des Tunnels, so dass sie jetzt genau in der Öffnung stand, als plötzlich ein
starker Luftsog begann sie hineinzuziehen. Ihr Herz schien auszusetzen und eine
unbestimmte Furcht beschlich ihre Gliedmassen. Sie wollte jetzt nicht alleine
sein, sondern bei Ayaka und Ichiyo, also begann sie in den Tunnel hinein zu
rennen.
Der Tunnel war vielleicht 50m lang und als sie das Ende erreichte, war von ihren
Freunden keine Spur zu sehen. Von dem kurzen Lauf war ihr allerdings wieder ganz
elend und schwummerig zumute, weswegen sie sich erst einmal mit den Händen auf
die Knie stützte, um durchzuschnaufen. Danach erst begann sie sich umzuschauen,
was ein unheimliches Gefühl des Deja-vu in ihr hervorrief. Sie war hier schon
einmal gewesen, erinnerte sie sich dann auf einmal, letztes Jahr mit ihren
Eltern.
Verwundert sah sie sich in dem Raum um, der wie ein verlassener Wartesaal eines
Bahnhofes aussah, von farbigen Licht aus mehreren bunt verglasten,
bullaugenartigen Fenstern erleuchtet. Sich einmal um die eigene Achse drehend,
sah sie, dass an der Rückseite des Raumes drei Tunnelöffnungen mündeten und
dass sie durch die linke Tunnelöffnung gekommen war. Schräg rechts von ihr, in
der Mitte der gegenüberliegenden Wand, vorbei an mehreren Säulen und einem
kleinen tropfenden Trinkbrunnen, war der Ausgang, durch den helles und
freundliches Sonnenlicht hereinschien.
"Ayaka, Ichiyo, wo seit ihr?", rief sie, "Jetzt seit doch nicht so gemein."
Niemand antwortete. Sie ging zu den anderen Tunnelöffnungen und sah nach, ob
sich die beiden dort versteckt hätten. Jeder der Tunnel sah gleich aus und am
anderen Ende war jeweils der Ausgang zu erkennen, aber keine Ayaka und kein
Ichiyo. Die beiden mussten nach draußen gegangen sein.
Sie ging zum Ausgang, um die beiden zu suchen. Draußen angekommen, stellte sie
fest, dass sie auch hier schon einmal gewesen war. Es schien so, als würde die
Erinnerung immer nur so weit wiederkommen, wie sie weiterging. Die hügelige
Landschaft, von hohem Gras bedeckt durch das ein sanfter Wind strich, war genau
so, wie letztes Jahr, als sie mit ihren Elter hier gewesen ist. Überall standen
merkwürdig behauene Steine herum und in der Ferne waren einige verfallene
Gebäude zu erkennen.
Ayaka und Ichiyo jedoch waren nirgends zu sehen. Hatte Ayaka nicht gesagt, der
See würde im Wald liegen. Hier gab es jedoch keinen Wald und auch keinen See,
so weit sie sehen konnte und sie wusste irgendwie auch, dass da keiner war.
Chihiro entfernte sich etwas von dem roten Gebäude und noch ehe sie sich noch
umdrehte wusste sie, dass sich über dem Eingang eine große Uhr und oben auf
dem Dach ein kleiner Turm mit vier Uhren befand, eine in jeder Himmelsrichtung.
"Ichiyo, Ayaka, wo seid ihr denn nur?", rief sie mit beginnender Verzweiflung.
Vielleicht waren sie ja neben dem Gebäude. Sie begann um das bahnhofsartige
Gebäude herumzugehen, um dann verdutzt festzustellen, das das Haus sich
höchstens 20m in der Tiefe erstreckte, eben genauso groß, wie der Wartesaal.
An der Hinterseite des Gebäudes angekommen fragte sie sich verwirrt, wo denn
eigentlich die drei Tunnel verliefen, die in den Wartesaal im inneren mündeten.
Die Rückwand des Gebäudes war einfach glatt verputzt, ohne Fenster und oder
sonstige Öffnungen darin.
"Das kann doch gar nicht sein!", murmelte sie zu sich selber, an ihrem Verstand
zweifelnd, "Wo bin ich denn hier durch gekommen?" Auch hinter dem Gebäude
erstreckten sich weitere Wiesen und waren noch andere verlassene Häuser zu
sehen. In der Ferne gab es einige kleinere Waldstücke, die aber eher große
Büsche waren, als ein richtiger Wald, wie der, durch den sie hierher gelangt
war.
Die ganze Sache wurde Chihiro immer unheimlicher, trotz der herrlichen
Landschaft und des wunderbaren Wetters. Nachdem sie das Gebäude vollständig
umrundet hatte, ging sie ohne umschweife sofort wieder in den Wartesaal zurück,
in den jetzt von ihr aus rechten Tunnel, bis sie an dem doppelgesichtigen
Grinsestein am anderen Ende wieder im Wald heraus kam. Auch hier waren kein
Ichiyo und keine Ayaka zu sehen.
Sie wartete ein paar Minuten und je länger sie wartete, umso mehr erschien ihr
das eben Erlebte wie ein Traum. Auf einmal hallte Ichiyos Stimme aus dem Tunnel:
"Chiiiihirooooo, Chiiiiihirooooo, woo biiiiist duuuuu."
Etwas ärgerlich, weil die beiden sich offenbar vor ihr versteckt hatten, rief
Chihiro in den Tunnel: "Ich bin hier! Ich komme jetzt zu euch und wehe, ihr
bleibt nicht da, wo ihr seid."
Entschlossen betrat sie wieder den Tunnel, um die beiden schemenhaft am anderen
Ende auszumachenden Gestalten zu erreichen. In dem Moment, als sie die
Tunnelöffnung durchschritt, setzte wieder dieser merkwürdige Luftsog ein und
kurz hatte sie den Eindruck, als würde die gegenüber liegende Tunnelöffnung
verschwimmen. Danach waren Ayaka und Ichiyo nicht mehr zu sehen.
"Na wartet. Euch werde ich es noch zurückzahlen!" Chihiro war jetzt richtig
sauer und vergaß sogar ihr mulmiges Gefühl. Energisch schritt sie durch den
Tunnel hindurch, bis in den Wartesaal. Hier war wie erwartet keine Spur von den
beiden anderen zu sehen. Erstaunt stellte sie allerdings fest, dass jetzt kein
Sonnenlicht mehr durch den Ausgang direkt ihr gegenüber hereinschien. Der
Ausgang lag jetzt im Schatten und draußen herrschte eine Stimmung wie kurz vor
Sonnenuntergang.
Dann stutze sie. Der Ausgang war ihr direkt gegenüber? Sie wirbelte herum, um
festzustellen, dass sie genau vor dem mittleren der drei Tunnel in der Rückwand
des Wartesaals stand. War sie vorhin nicht durch den linken Tunnel gekommen. Und
im letzten Jahr mit ihren Eltern durch den rechten Tunnel? Hier stimmte
irgendetwas nicht und ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken herunter. Sie
musste weg von hier! Sofort! Mit einem lauten "Uaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah" rannte
sie durch den Tunnel zurück, einer ziemlich erstaunten Ayaka direkt in die
Arme.
"Mensch Chihiro, wo bist du denn nur gewesen. Wir haben stundenlang nach dir
gesucht." Ayaka schüttelte Chihiro zuerst, bevor sie Chihiro dann in die Arme
nahm und mit Tränen in den Augen feste an sich drückte. Ichiyo, der sich mit
unglücklicher Mine gegen den Steinkopf gelehnt hatte, blickte erleichtert auf,
nahm Chihiros Rucksack vom Rücken, um vorsorglich eine Packung Kekse heraus zu
holen.
Chihiro ihrerseits verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte Ayaka denn hier
sein, wenn sie Chihiro gerade vorher noch von der anderen Seite des Tunnels
zugerufen hatte. Sie hätten sich doch im Tunnel begegnen müssen. Oder waren
sie außen herum gelaufen. Aber das ging doch gar nicht. Oder waren sie durch
einen der anderen Tunnel gegangen und wo führten die überhaupt hin? Wieso war
hinter dem roten Gebäude kein Wald gewesen? Das war doch alles völlig
unmöglich.
Jetzt bemerkte sie, dass es bereits zu Dämmern begonnen hatte, also musste es
schon nach neun Uhr am Abend sein.
"Ayaka, Ichiyo, es tut mir leid, ich weit auch nicht, was genau passiert ist.",
schniefte sie dann, "Da war dieser Wartesaal und ihr wart nicht da. Und dann
habe ich euch gesucht. Und..." Die ganze Geschichte quoll unter Tränen aus ihr
heraus, ungläubig von den beiden anderen aufgenommen.
Schließlich, nachdem Chihiro einige Kekse gegessen hatte, die Ichiyo ihr
hinhielt, machten sie sich gemeinsam schweigend auf den Rückweg. Zu Hause
angekommen, konnte sich Chihiro kaum noch an das erinnern, was geschehen war.
Sie ließ sich deshalb ihre eigene Geschichte von den konsternierten Freunden
noch einmal erzählen und es war, als würde jemand einen Wattebausch entfernen,
der sich um ihr Gehirn gelegt hatte. Auf einmal wurden ihre Erinnerungen wieder
klar und deutlich.
Ayaka und Ichiyo holten noch ihre Schulsachen ab, bevor sie sich gemeinsam
verabschiedeten. Yuuko Oginos Frage, ob sie denn auch alle viel Spaß beim
Schwimmen gehabt hatten, bejahten sie energisch und gingen dann nach Hause.
Chihiro selbst verbrachte den Rest des Abends damit, mit Buntstiften Bilder von
den Orten zu malen, die sie gesehen hatte, von dem Wartesaal, dem Grinsestein,
den verlassenen Gebäuden, den hügeligen Wiesen, der Turmuhr und vielem mehr.
Kapitel 10: Wasser
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Hallo zusammen,
in der letzten Zeit war ich schwer beschäftigt, so dass ich irgendwie keine
Zeit und Lust zum schreiben hatte.
Endlich habe ich das neue Haku Kapitel nun fertiggestellt und bin schon mit dem
nächsten Kapitel dran.
Pazu
Wasser
Die Inspektion durch Yubaba am darauffolgenden Tag war für alle die reinste
Tortur. Die alte Hexe zeigte sich mit allem und jedem unzufrieden, insbesondere
jedoch mit dem Zustand der Tunnelverschalungen. Bei jeder Kleinigkeit, die sie
entdeckte, überschüttete sie Torooru mit einem Schwall an Vorwürfen, darüber
dass er so schlampig gearbeitet habe.
Als sie endlich gehen wollte und in Richtung des Aufzuges steuerte, bemerkte sie
das erste mal die Kiste, die dort stand. "Und was ist da drin?", schnauzte
Yubaaba.
"Da Drän?", beeilte Torooru sich, "Das äst dä Kästä von Hako" Er humpelte
mit seinem gebrochenem Bein etwas näher.
"Ah, das ist also besagte Kiste. Passt er da wirklich rein?" Sie wirkte mit
einem mal wesentlich selbstzufriedener und freundlicher. "Komm doch mal her,
Torooru, und schließ die Kiste auf, ich möchte meinem Lehrling doch einmal
guten Tag sagen."
Mühsam kam der Troll näher, sich schwer auf seine Krücken stützend. Den
Schlüsselbund hatte er an der Krücke befestigt, so dass er keine Probleme
hatte, an den Schlüssel heran zu kommen, wie wenn er den Bund an der Schnur
seines Lendenschurzes befestigt hatte. Trotzdem währe er fast gestürzt, als er
das Schloss der Kiste öffnete.
Nachdem der Troll den Deckel hochgeklappt hatte, wurde Haku in der Kiste
sichtbar. Er hatte sich so gut sauber gemacht, wie es nur irgendwie ging und
stand dann, seine protestierenden Muskeln ignorierend, scheinbar federleicht
auf, um sich vor Yubaba zu verbeugen.
"Guten Tag, verehrte Meisterin.", begrüßte er sie formvollendet, "Habt ihr
einen anstrengenden Tag gehabt?"
Yubabas Mine verfinsterte sich auf der Stelle. "Na, dir scheint es ja gut zu
gehen, hier unten.", meinte sie in sarkastischem Tonfall, "Und du bist dir
sicher, dass er keine Extrarationen bekommt und immer in der Kiste ist, wenn er
nicht gebraucht wird, Torooru?!?"
Torooru beeilte sich zu nicken. "Är, är bäkommt nä nächts äxtra.",
stammelte er, "Abär är hat ons allä gärättät."
"Hmm, er scheint irgendwie ein Faible dafür zu haben, Leute zu retten.",
grummelte die Hexe, "Schade dass ich es erst so spät entdeckt habe." Sie wandte
sich wieder Torooru zu. "Wie dem auch sei, ich bin sehr unzufrieden mit dem
Zustand des Bergwerkes hier unten und ich denke, ich muss weitere Maßnahmen
ergreifen, um die Disziplin hier wieder zu erhöhen." Dabei blickte sie drohend
im Kreis herum.
"Verzeihen sie bitte, Meisterin, aber liegt es nicht an dem schlechten Material
und den wenigen Nahrungsmitteln die wir hier haben, dass der Zustand des
Bergwerkes so schlecht ist?", warf Haku vorwurfsvoll unter den erschrockenen
Blicken der Froschmänner und Toroorus ein.
Yubaba drehte sich gefährlich langsam zu ihm hin, trat einen Schritt auf ihn zu
und starrte ihn dann unverwandt an. "So, so. Der kleine Lehrling meint also
seine Meisterin belehren zu müssen.", zischte sie ihn an und sagte dann in die
Runde: "Ich werde euch besseres Material liefern, aber damit ihr auch einen
kleinen Anreiz habt, den Saustall hier in Ordnung zu bringen, werde ich die
Wasserration von vier Fässern pro Woche auf drei Fässer kürzen, bis Torooru
mir Vollzug gemeldet und ich die Verbesserungen abgenommen habe. Bedankt euch
bei Haku dafür." Damit rauschte sie in den Aufzug, betätigte den Hebel und
entschwand nach oben.
Torooru schaute Haku mit finsterer Mine an. "Do konntäst wohl dä Schnaozä
näch haltä, hä?", fuhr er ihn an, "Äch hattä sä schon so wäät, dass sä
ons näoä Wärkzäogä on Baomatäräal gäbt, om das Bärgwärk zo ärhaltä.
Abär do mosstäs däch ja wädär aofspälä." Damit wandte sich der Troll ab,
humpelte zu den Froscharbeitern hinüber und erteilte ihnen Anweisungen.
Haku ließ sich auf seine Kiste sinken. Vor sich hin starrend dachte er
verzweifelt daran, dass er durch seine Unbeherrschtheit das Leid der Frösche
noch weiter erhöht hatte. Mit nur drei Fässern pro Woche würden sie nicht
lange durchhalten können. Auch wenn ihm mittlerweile egal war, was mit ihm
selbst geschah und er so jegliche Angst vor Yubaba verloren hatte, so bedeutete
das nicht, dass er keine Verantwortung für seine Leidensgenossen hatte, die ja
nichts dafür konnten, dass er Streit mit der Hexe hatte.
War er nicht ein Gott, ein Wächtergott eines Flusses mit der Aufgabe den Fluss,
seine Bewohner und alle Tiere und Personen die zu ihm hinkamen zu beschützen?
Wie konnte er sich nur so vergessen und seinen dummen Streit mit Yubaba auf dem
Rücken der anderen austragen? Aber was war er doch auch für ein toller
Flussgott, ein Flussgott der seinen Fluss verloren hatte, der letztendlich nicht
imstande gewesen war, ihn zu erhalten und zu beschützen. Er war einfach zu gar
nichts nütze!
Torooru hatte wahrscheinlich Recht, als er ich gleich am ersten Tag töten
wollte, denn er kannte die Situation hier unten seit vielen, vielen Jahren und
wusste, wie man das Leiden für alle reduzieren konnte. Es machte einfach keinen
Sinn, sich Yubaba widersetzen zu wollen, sie saß nun einmal am längeren Hebel.
Wie würde er in Zukunft reagieren, wenn er sich wieder mit einem Problem oder
der Hexe konfrontiert sehen würde. Würde er wieder irgendetwas unbeherrschtes
oder dummes oder unnützes tun? Das durfte nie wieder passieren!
Aber was konnte er jetzt noch tun, wie konnte er Yubaba besänftigen? Am
einfachsten wäre es, er würde das tun, was Yubaba von ihm erwartete, nämlich
sterben. Wenn er tot wäre, hätte sie erreicht was sie wollte und könnte die
Wasserrationen wieder erhöhen, ohne ihr Gesicht zu verlieren, und er würde
keine Dummheiten mehr machen können. Es wäre so einfach. Er brauchte in einen
der verlassenen Seitenstollen zu gehen, immer weiter, bis ihn schließlich eine
der Felsanemonen erwischen würde. Vermissen würde ihn ohnehin niemand. Und
wenn sie ihn aufgefressen hatte, könnte auch niemand seinen Körper in die
Grube, Yubabas Seelenfalle werfen. Zumindest seine Seele währe dann frei.
Langsam stand er auf, begann durch die hin und her laufenden Froschmänner, die
damit beschäftigt waren, weiter aufzuräumen, in Richtung des Tunnels zu gehen.
Niemand beachtete ihn, auch nicht Torooru, der am Aufzug wartete, um die erste
Ladung neuer Baumaterialien von oben zu empfangen.
Nachdem Haku hundert Meter den Gleisen durch den Haupttunnel gefolgt war, nahm
er den ersten Seitenstollen, der nach links abging und begann ihm zu folgen.
Einige hundert Meter weiter wurde das Restlicht, dass aus dem Haupttunnel noch
hierher drang, so gering, dass er trotz seiner ausgezeichneten Augen nichts mehr
richtig erkennen konnte. Deshalb nahm er sich das Halsband ab und begann seine
Umgebung mit seinen magischen Sinnen wahrzunehmen. Mit grimmiger Ironie fiel ihm
ein, dass er noch gestern sich durch das eigenhändige Abnehmen des Halsbandes
seinem Leben viel schneller ein Ende hätte setzen können.
Obwohl es für ihn hier bereits zu dunkel wurde, um etwas zu erkennen, war es
immer noch zu hell für Felsanemonen. Er musste also noch weiter gehen. Etwa
einen halben Kilometer weiter und um einige Biegungen des Tunnels später, wurde
es so dunkel, dass er überhaupt kein Licht mehr wahrnehmen konnte.
Nachdem er um eine weitere Biegung gegangen war, spürte Haku auf einmal, dass
irgendetwas vor ihm war, dass sich wie ein Vorhang aus feinen Fäden anfühlte.
Es war vielleicht noch zehn Meter von ihm entfernt. Dort musste eine Felsanemone
lauern. Er blieb noch einmal stehen, um sich zu sammeln. Nicht ein Geräusch
drang an seine Ohren, er hörte lediglich das Blut mit jedem Herzschlag durch
seine Ohren pulsieren und wunderte sich, dass er so ruhig blieb.
In sich fühlte er keine Angst, sondern nur eine tiefe Traurigkeit. Traurigkeit
darüber, dass Yubaba jetzt ihren Willen bekommen würde und dass er das
Versprechen Chihiro gegenüber nicht würde halten können. Wie gerne hätte er
sie noch einmal berührt, ihren menschlichen Geruch eingeatmet, den die anderen
alle so unangenehm fanden, ihr noch einmal in die Augen geschaut und sich an
ihrem Lachen erfreut. Als er fühlte, wie eine einzelne Träne die Wange
herunterrann, gab er sich einen Ruck und begann langsam weiter zu gehen.
Noch fünf Meter, jetzt noch drei Meter bis zu den Nesselhaaren der Felsanemone,
dachte er, wie in Trance weitergehend, gleich ist es vorbei. Er wappnete sich
gegen die Schmerzen, wenn die Nesselfäden ihr Gift in seinen Körper hinein
entladen würden, wie Torooru es ihm beschrieben hatte. Aber er machte sich
deswegen keine Sorgen, denn nichts würde jemals die Agonie übertreffen
können, die er verspürt hatte, als die Menschen seinen Fluss trockengelegt und
zugeschüttet hatten.
In dem Moment, in dem er glaubte, nur die Arme ausstrecken zu müssen, um die
Nesselfäden berühren zu können, stieß er plötzlich mit dem Fuß gegen etwas
weiches, haariges, das mit einem lauten Quieken von ihm wegrannte, direkt in den
Nesselvorhang der Felsanemone hinein. Das Wesen, was auch immer es gewesen sein
mochte, verfing sich darin und wurde unter weiterem lauten Gequieke von der
Felsanemone nach oben gezogen, wo es kurz darauf verstummte.
Wie vom Donner gerührt blieb Haku stehen, dehnte seine magischen Sinne weiter
aus und begann die Umgebung genauer zu Untersuchen. Er konnte das Pulsieren der
Felsanemone in einer Höhlung in der Decke über ihm spüren, während sie das
Lebewesen verdaute, nahm aber noch weitere solcher Wesen war, die in einiger
Entfernung hin und her huschten. Er hatte sich so sehr auf die Felsanemone
konzentriert, dass er diese gar nicht bemerkt hatte.
Sie waren klein, vielleicht so groß wie eine Ratte, besaßen aber sechs Beine,
hatten keine Augen, dafür aber riesige Ohren und einen überlangen Schwanz. Das
Wesen, das die Anemone nun gerade vertilgte, hatte wohl nicht gewusst, was
gefährlicher war, er oder die Felsanemone und sich regungslos auf den Boden
gekauert, bis er dagegen getreten war und es so in die Fänge der Anemone
gescheucht hatte.
Jedenfalls war die nun erst einmal mit Verdauen beschäftigt und hatte ihre
Nesselfäden aus dem Tunnel zurückgezogen, so dass er seinen Plan hier nicht
mehr umsetzen konnte. Sollte er zurückgehen? Nein, er würde weitermachen, bis
es vollbracht war. Als er versuchte weiterzugehen, bemerkte er auf einmal, wie
zittrig seine Beine nun waren, da er dem Tod so knapp entgangen war. Würde er
es schaffen, den Mut noch einmal aufzubringen?
Schritt für Schritt wurde es besser und seine Entschlossenheit nahm wieder zu.
Die merkwürdigen Wesen, die hier überall fast lautlos herumhuschten, wichen
ihm aus oder verschwanden in irgendwelchen Felsspalten. Fünfzig Meter weiter
ging er um eine weitere Biegung des Tunnels und stand plötzlich vor dem Ende
des Weges. Ein Felsrutsch versperrte den Tunnel und verhinderte, dass er dem Weg
weiter folgen konnte.
Verzweifelung machte sich in ihm breit. Es war, als ob irgend jemand verhindern
wollte, dass er in den Tod ging. Haku dehnte seine magischen Sinne noch weiter
aus, um nach einer Möglichkeit zu suchen, wie er seine Absicht doch noch
umsetzen konnte. Auf der anderen Seite des Felssturzes konnte er die Gegenwart
einer weiteren Felsanemone spüren und auch viele von diesen anderen Wesen, die
herumwuselten.
Mit einem male stutzte er plötzlich. Eine vertraute Empfindung, die er empfing,
das herrliche Gefühl fließenden Wassers drang in sein Bewusstsein. Er
konzentrierte sich darauf und stellte fest, dass hinter der Felswand links,
etwas 20 Meter schräg unter ihm eine Wasserader verlief.
Haku sackte in sich zusammen und kauerte sich in der pechschwarzen Finsternis
auf den steinigen Boden, um über die neue Situation nachzudenken. Vielleicht
würde er heute doch noch nicht sterben. Wasser war das Problem hier unten,
immer wieder Wasser. Wenn sie diese Wasserader anzapfen würden, wäre es egal,
wie viel Wasser Yubaba ihnen geben würde, sie hätten immer ausreichend davon,
könnten sogar darin Baden, wenn sie wollten.
Das würde allen, auch Torooru, mehr helfen, als wenn er seinem verpfuschten
traurigem Dasein hier unten ein Ende setzen würde und Yubaba hätte er wieder
ein Schnippchen geschlagen. Nein, so etwas durfte er gar nicht denken. Er musste
jeden Gedanken an Rache aus seinem Herzen verbannen.
Zuerst hatte er sich an den Menschen rächen wollen, indem er ein großer Magier
wurde und war so in die Fänge von Yubaba geraten. Und jetzt hatte er versucht,
sich an Yubaba zu rächen, indem er sie möglichst stark ärgerte und hatte
dadurch andere in Schwierigkeiten gebracht. Rache brachte ihn nicht ein Stück
weiter, sondern hatte seine Probleme immer nur weiter vergrößert.
Was würde er nun tun? Zu Torooru gehen und ihm von der Wasserader erzählen?
Der Troll war sicher im Moment so verärgert, dass er ihm überhaupt nicht
zuhören würde oder ihm glauben schenken würde. Sollte er lieber warten, bis
sich die Lage beruhigt hatte und Toroorus Ärger verflogen war? Bis dahin wären
sicherlich alle halb verdurstet und die ersten Frösche würden sterben.
Am besten würde es sein, wenn er das Wasser jetzt direkt freilegen würde. Wie
konnte er am besten da herankommen, ohne Spitzhacke und Schaufeln? Haku
erinnerte sich an seinen ersten Tag hier unten zurück, als er von Toroorus
Faustschlag gegen die Wand geschleudert worden war. Er hatte sich in seine
Drachenform verwandelt und sich mit seinen Klauen in den Felsen gekrallt. Dieser
hatte sich dabei eher wie bröseliges trockenes Brot angefühlt und nicht wie
festes Gestein.
In seine Drachengestalt gewechselt begann Haku nun wie ein Wahnsinniger seine
Klauen in das massive Felsgestein zu treiben, riss Brocken heraus, zerbröselte
das Gestein und scharrte es nach hinten weg. Etwa nach zehn Minuten hatte er ein
Loch von einem Meter Tiefe und einem Meter Durchmesser in die Wand getrieben.
Zufrieden begutachtete er sein Werk und den Schutthaufen, der sich im Tunnel zu
bilden begann. Dann machte er weiter, grub sich Meter für Meter durch das
Felsgestein. Nach einiger Zeit wurde es immer mühsamer, weil er das
herausgegrabene Gestein immer wieder in den Tunnel hinaus schieben musste. Auch
war das Loch das er grub doch reichlich eng, so dass er sich darin kaum richtig
bewegen konnte.
Gut sechs Stunden später hatte er es dann beinahe geschafft, nur noch eine
vielleicht zehn Zentimeter dicke Gesteinsschicht trennte ihm von der Wasserader.
Haku hielt inne und spürte das Wasser, da auf der anderen Site strömte. Sollte
er es jetzt tun? Oder doch erst Torooru bescheid sagen? Der würde bestimmt
schon nach ihm suchen und sehr wütend sein.
Nein, er war jetzt schon so weit gekommen, er würde auch jetzt den letzten
Schritt machen. Entschlossen rammte er seine durch das graben reichlich
abgewetzte rechte Vorderklaue erneut in den Felsen, der ihn noch von dem Wasser
trennte und riss mit einem Ruck ein Loch in die Wand, die ihn noch von dem
Wasser trennte.
Sofort schoss ein siedend heißer Wasserstrahl unter hohem Druck aus dem Loch
und prallte mit derartiger Wucht gegen seinen Hals, dass er sich in den Felsen
krallen musste, um nicht fortgespült zu werden. Die Hitze des Wassers hatte er
bereits vorher wahrgenommen und sie machte ihm in Drachengestalt auch nichts
aus, aber mit dem ungeheuren Druck unter dem das Wasser stand hatte Haku nicht
gerechnet.
In Sekundenschnelle stieg der Wasserstand in dem Gang, den er gegraben hatte,
Meter für Meter. Nach weniger als einer Minute hatte es den Gang vollständig
ausgefüllt, begann in den Tunnel hinaus zu laufen und bildete bald darauf
bereits einen kleinen See. Haku, der sich als Flussgott unter Wasser fast
genauso leicht bewegen konnte, wie an Luft, schoss aus dem Gang heraus und
erfühlte mit seinen magischen Sinnen erschrocken den schnell steigenden
Wasserspiegel.
Wenn das Wasser weiterhin mit dieser Geschwindigkeit aus dem Loch strömte,
würde dieser Tunnel in wenigen Stunden voll gelaufen sein und das Wasser
flösse in den Haupttunnel. Dort aber gab es keinen Ablauf und auch keinerlei
Pumpen. Haku wusste nicht genau, wie lange es genau dauern würde, aber das
Bergwerk würde wohl innerhalb weniger Wochen absaufen.
Wenn Yubaba schlechte Laune hatte, ließe sie sie alle mit absaufen. Er konnte
sich überhaupt nicht ausmalen, wie wütend sie werden würde, wenn sie das
erführe. Sie könnte das Badehaus stillegen und alle anderen müßten darunter
Leiden, nur weil er, Haku, meinte, er würde es alleine schaffen können. Nichts
konnte er richtig machen. Es währe wohl doch besser gewesen, wenn ihn die
Felsanemone gefressen hätte.
Sollte nun alles umsonst gewesen sein? Irgendwie musste man dieses Wasser doch
aufhalten können. Wozu war er denn schließlich ein Flussgott? Haku
konzentrierte sich auf das strömende Wasser, erfühlte seine Eigenschaften und
begann dann langsam die Strömung unter seinen Willen zu zwingen, zu
verlangsamen und letztendlich ganz zum Stillstand zu bringen.
Es kostete ihn seine ganze Konzentration, um die magische Energie aufzubringen,
das Wasser aufzuhalten, aber er schaffte es. Unter größter Anstrengung
sammelte er sich noch einmal, machte eine abwehrende Geste mit der Klaue und
errichtete damit ein Bannfeld, welches das Wasser unter Kontrolle halten sollte.
Dann gab er schließlich vorsichtig seine Kontrolle über das Wasser auf und zu
seiner Erleichterung hielt das Bannfeld dem Druck stand.
Er steckte eine Kralle in das Bannfeld hinein, das nun das Loch in der Wand, das
er gegraben hatte, verschloss und stellte fest, dass das Feld die Kralle fast
ohne Widerstand hindurch ließ. Beim Herausziehen schoss dann kurz ein dünner
scharfer Wasserstrahl in den Tunnel, bevor sich das Bannfeld wieder vollständig
schloss.
Haku schnaubte vor Erleichterung, bevor er dann endlich bemerkte, dass er bis
zum Bauch in nunmehr lauwarmem Wasser stand. Euphorisch über den glücklichen
Ausgang seiner Wassergrabung machte Haku, immer noch in seiner Drachenform, sich
auf den Rückweg, um Torooru von dem Wasser zu berichten.
Weil er es eilig hatte, wollte er den Rückweg fliegend zurücklegen, jagte um
die erste Tunnelbiegung, ein gerades Tunnelstück entlang und wollte gerade um
die nächste Biegung fetzen, als er sich in einem Knäuel aus Fäden verfing. Im
Geiste verfluchte er sich, denn die Felsanemone hatte er total vergessen. Diese
hatte ihre Mahlzeit verdaut, sich wieder auf die Lauer gelegt und schlang jetzt
ihre Nesselfäden um seinen Leib.
Das Wesen versuchte ihn zu sich hoch zu ziehen, hatte aber mit seiner Größe
und seinem Gewicht offenbar Probleme. Der erwartete Schmerz durch die Nesseln
blieb ebenfalls aus, denn vermutlich konnten sie seine Schuppen nicht
durchdringen. Trotzdem schaffte es die Anemone irgendwie ihn doch nach oben zu
ziehen und der Druck, den sie auf seinen Körper ausübte wurde immer heftiger,
bis er glaubte, dass sie ihm die Rippen brechen würde.
Diesmal sollst du mich nicht kriegen, dachte Haku zornig. Er schaffte es
irgendwie sich umzudrehen und sich mit seinen Beinen an der Decke abzustützen.
Wenn Torooru sich daraus hatte befreien können, dann würde er es auch
schaffen. Immer mehr Nesselfäden schlangen sich um seinen Leib und drückten
stärker und stärker zu. Verzweifelt begann Haku, den Felsen um die Spalte zu
bearbeiten, durch welche die Nesselfäden herauskamen, und er schaffte es die
Öffnung Stück für Stück zu vergrößern, bis mit einem Male ein größeres
Stück der Decke wegplatzte und die Anemone in der Höhlung dahinter den Halt
verlor.
Zusammen mit Haku fiel sie auf den Boden des Tunnels, auf dem auch hier das
Wasser noch Knietief stand. Sofort ließ die Anemone von ihm ab, ein eigenartig
wimmerndes Geräusch von sich gebend. Sie begann mit ihrem kugeligen Körper auf
dem Boden des Tunnels im Wasser hin und her zu rollen, offenbar nach einem
Ausweg suchend. Zusätzlich hörte Haku ein stärker werdendes Zischen und nahm
einen ekeligen Geruch wie nach verbranntem Gummi wahr.
Sie versuchte den Tunnel hinab zu rollen, um irgendwie aus dem Wasser zu
gelangen, wurde dabei aber immer langsamer und geriet in immer tieferes Wasser.
Dann begriff Haku, was mit der Felsanemone geschah: Sie löste sich im Wasser
irgendwie auf. Nach etwa fünf Minuten hörte die Felsanemone sich schließlich
auf zu bewegen und nur noch ein leises zischen war zu hören.
Haku wechselte in seine menschlich Gestalt zurück, machte eine schnippende
Geste, die er so häufig bei Yubaba beobachtet hatte, und eine kleine Flamme
entstand an seiner Fingerspitze. Wie lange hatte er üben müssen, bis er es in
seiner Kammer endlich hinbekommen hatte, das Yubaba nachzumachen. Das meiste von
dem, was er konnte, hatte er durch abschauen gelernt, denn die Hexe hatte ihm
kaum jemals irgendetwas richtig beigebracht, wie er es sich erhofft hatte.
Die plötzliche Helligkeit der kleinen Flamme ließ seine Augen tränen und es
dauerte einige Momente, bis er etwas sehen konnte. In etwa 20 Metern Entfernung
lagen die Überreste der Felsanemone im Wasser und blubberten und zischten leise
vor sich hin. Er watete näher, aber als er auf wenige Meter heran gekommen war,
wurde der Gestank so ekelerregend, dass ihm über wurde. Zudem begann sich das
Wasser von der sich auflösenden Anemone in eine grünliche Brühe zu
verwandeln.
Angewidert machte Haku sich auf den Rückweg, watete durch das zunächst
knietiefe Wasser, das langsam flacher wurde, und löschte die kleine Flamme auf
der Spitze seines Zeigefingers erst, als er fast das Ende des Seitentunnels
erreicht hatte. Das Wasser reichte nur bis etwa 500 m vor das Tunnellende, so
dass er den Haupttunnel mit den Gleisen mit vollständig trockenen Füßen
erreichte und auch seine Hakama war von der brühwarmen Luft bereits fast
getrocknet worden. Kurz bevor er die Haupthöhle betrat, legte er sich zur
Sicherheit noch das Halsband wieder an, bevor die anderen ihn sehen konnten.
Es war jedoch niemand mehr zu sehen, alle schienen sich breits zur Ruhe begeben
zu haben, denn die Beleuchtung in der Schlafhöhle war ausgeschaltet und nur
eine einsame Glühbirne beleuchtete die Haupthöhle. An der Wand rechts vom
Aufzug waren fein säuberlich große Mengen frischen Baumaterials gestapelt.
Seine Kiste hatten sie davor gestellt, aber er fand sie verschlossen vor, so
dass er nicht hinein konnte.
Haku überlegte, ob er zu Torooru gehen sollte, um ihm von seinem Wasserfund zu
berichten, aber das Verbot, die Schlafhöhle zu betreten bestand noch immer und
so musste er ausharren, bis alle anderen wieder aufstehen würden. So kauerte er
sich vor seiner Kiste auf den Felsboden und wartete.
Haku flog als Drache mit Chihiro auf dem Rücken über den Wolken durch einen
strahlendblauen Himmel, weiter, immer weiter. Er fühle den sanften Druck ihrer
Beine auf dem Rücken, hörte ihre Stimme, wie sie ihm seinen Namen verriet. Er
war glücklich, unendlich glücklich. Sie würden fliegen, weiter fliegen bis in
alle Ewigkeit.
Durch einen scharfen Schmerz wurde er dann mit einem Male aus seinem Traum
gerissen, von einem Hieb, der ihm die Luft aus den Lungen trieb. Hustend
öffnete Haku die Augen und erblickte den Troll, der drohend über ihm stand und
ihn mit seiner Krücke vor die Brust geschlagen hatte.
"Do värdammtär Drachä.", brüllte er aufgebracht, "Do glaobs wohl, do
könntäs där alläs raosnähmä? Däch aänfach vor där Arbaät zo dröckä.
Wär habän gästärn nor zwaä Fohrän Kohlä gäschafft waäl do nächt da
warst. Das haässt, wär mössän häotä acht Fohrän schaffä. Also rontär
mät där ond hol schon mal dän ärstän Zog här. Fröhstöck kannst dö
värgässän!" Damit drehte er sich um und humpelte davon.
"Aber Meister Torooru, ich habe ihnen etwas wichtiges zu sagen.", versuchte Haku
zu erwidern, "Ich habe ..."
"Äch wäll nächts mähr von där höhrän. Waäl do mär das Läbän
gärättäst hast, wärdä äch aof aänä waätärä Bästrafong
värzächtän.", schnitt ihm der Troll das Wort ab, indem er sich umdrehte und
Haku finster anstarrte, "Wänn das abär noch aänmal vorkommt, wärdä äch
Yobaba bäschaäd sagän."
"Wasser gefunden...", stammelte Haku flehentlich.
"Zo tränkän bäkommst do hoätä aoch nächts.", grollte Torooru weiter, "Ond
äch wärdä dä Kästä wädär öbär Nacht zospärrän, damät Yobaba nächt
noch mähr Ärgär macht."
Haku fand sich damit zunächst ab, zog den ganzen Tag Lorenzug für Lorenzug,
half bei den Instandsetzungsarbeiten, räumte Schutt beiseite und machte sich so
nützlich wie nur möglich. Trotzdem wurde er von den Fröschen ignoriert und
von Torooru mit Gleichgültigkeit behandelt.
Wann immer Haku in den nächsten Tagen mit Torooru über seinen Wasserfund reden
wollte, wurde er von dem Troll abgekanzelt ohne dass er zu Wort kommen konnte.
Zudem wurde er auch noch permanent überwacht, damit er sich nicht mehr vor der
Arbeit "drücken" konnte. So hatte er Tagsüber keine Gelegenheit, zu der
Wasserquelle zu gehen und etwas Wasser zu holen, um so seine Entdeckung zu
dokumentieren, und Nachts konnte er nichts tun, weil er in seine Kiste
eingesperrt wurde. Es war einfach zum Mäusemelken.
So ging es nun Tag für Tag weiter so. Torooru weigerte sich einfach ein
vernünftiges Wort mit ihm zu wechseln, behandelte ihn indifferent, wie jeden
anderen der Frösche. Bei seinem wöchentlichen "Unterricht" bei Yubaba konnte
diese ihre Wut über Hakus nicht eintreten wollendes Ableben kaum verhehlen und
er schämte sich dafür, dass es ihm Vergnügen bereitete, wie die Hexe
versuchte sich zu beherrschen.
Ihm selbst machte die verringerte Wasserration kaum etwas aus, aber die
Wasserknappheit beeinträchtigte die Frösche um so mehr und sie wurden
schwächer und schwächer, so dass Torooru und er selber immer mehr arbeiten
mussten. Dies hatte zur folge, dass Toroorus gebrochenes Bein nicht Heilen
wollte, obwohl ihm seine gebrochenen Rippen keine größeren Probleme bereiten
zu schienen.
Nach zwei Wochen begann das Bein immer schlimmer auszusehen, war geschwollen und
entzündet, blaue und grüne Blutergüsse waren am gesamten rechten
Unterschenkel zu sehen. Torooru wurde immer ungeniessbarer, schien unter starken
Schmerzen zu leiden. Wenige Tage später wurde sein Gesicht noch bleicher, als
es ohnehin schon war, wobeix sein ganzer Körper ständig von einem feinen
Schweißfilm bedeckt war und der Geruch, der von ihm ausging, unangenehmer als
je zuvor war.
Wenige Tage später, eines Morgens, wartete Haku dann vergebens darauf, dass
Torooru kam, um die Kiste aufzuschließen. Nach einer kleinen Ewigkeit war dann
ausserhalb der Kiste ein Stimmengemurmel zu hören, die Stimmen der Frösche,
die sich leise berieten. Nach einer geraumen Zeit intensiver Beratung, klopfte
endlich jemand vorsichtig gegen seine Kiste.
"Verzeihung, ehrenwerter Herr Drache.", vernahm er eine vorsichtige Stimme,
"Meister Torooru liegt Bewußtlos in seinem Bett und wir wissen nicht, was wir
tun sollen." Unter den Fröschen war inzwischen keiner mehr, der ihn noch aus
seiner Zeit oben im Badehaus kannte, als Lehrling und rechte Hand von Yubaba.
Sie wussten nicht, was sie tun sollten und fürchteten sich offenbar davor,
Yubaba über Toroorus Zustand zu informieren. So wandten sie sich an die einzige
Person, die Yubaba und Torooru jemals die Stirn geboten hatte, die Feiglinge.
"Ihr müsste Yubaba bescheid sagen, dass es Torooru schlecht geht.", sagte er
also aus seiner Kiste, "Sie wird dann kommen und alles in die Hand nehmen."
"Ja, das wollten wir auch, aber keiner von traut sich, zu ihr zu gehen.", hörte
er die Stimme sagen, "Kommen sie doch bitte heraus, ehrenwerter Herr Drache, und
sagen ihr bescheid."
"Ich kann aber nicht, die Kiste ist zugeschlossen.", gab Haku zurück, "Torooru
hat den Schlüssel."
Daraufhin hörte er wieder Gemurmel und nach einer geraumen Weile sagte die
Stimme: "Verzeihung, ehrenwerter Herr Drache, aber wir können den Schlüssel
nicht finden. Könnt ihr denn nicht auch so herauskommen, ihr seid doch so
stark."
Haku dachte eine Weile nach nach und kam dann zu dem Schluss, dass sie auf
gewisse Weise recht hatten. Zwar wollten sie ihm nur Schmeicheln und die
Verantwortung auf ihn abwälzen, nichtsdestotrotz war er derjenige, der nach
Torooru nun am längsten im Bergwerk war und er war auch unbestreitbar der
stärkste, stärker noch, als der Troll, zumindest als Drache.
Er kam zu dem Entschluß, dass es jetzt wohl am besten war, die Initiative zu
ergreifen. "Geht zur Seite.", rief er, wartete kurz und begann dann mit der
Verwandlung in seine Drachengestalt. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl,
er würde zerquetscht werden, als seine Verwandlung begann, bevor dann das Holz
der Kiste nachgab, als sein Körper zu der vollen Größe seiner Drachengestalt
heranwuchs.
Kaum hatte er die Kiste von innen heraus gesprengt, nahm er sich auch schon
wieder seine menschliche Gestalt an, um Anweisungen erteilen zu können.
Als erstes sah er nach Torooru in seiner Baracke. Er fand Torooru bewusstlos auf
seinem mächtigen Bett liegend vor, das gebrochen Bein in einem Kissen gelagert.
Dem Troll ging es schlecht, aber nachdem Yubabas Halsband abgenommen hatte,
konnter er spüren, dass die Aura seiner Lebenskraft kräftig und ruhig war,
wenn auch durch die Entzündung in seinem Bein beeinträchtigt. Er würde nur
Ruhe und vor allem genügend Flüssigkeit benötigen, um wieder gesund werden.
Das war einfach typisch Yubaba, einen Untergebeben unnotig leiden zu lassen,
dachte er resigniert. Sie hätte sein Bein einfach mit ihrer Zauberkraft heilen
können. Er hatte es selber schon erlebt, wie sie bei einem Gast, der beim
Einstieg in den Badezuber ausgerutscht war und sich dabei ebenfalls das Bein
gebrochen hatte, dieses ohne große Mühe wieder zusammengehext hatte. Bei
Torooru hatte sie dies nicht für nötig gehalten und Haku wusste einfach nicht
genug über Heilzauber, um es selber tun zu können.
Als nächstes öffnete Haku das zweite der drei Fässer mit Wasser und wies die
Frösche an, es austrinken. Sie gehorchten ohne Widerspruch. Auch Torooru
versorgte er mit einer ausreichenden Wassermenge, wusch ihn und kühlte sein
Fieber mit feuchten Umschlägen.
Danach führte er die Frösche in den Seitentunnel mit der Wasserquelle, die er
gegraben hatte. Das Wasser im Tunnel war in den letzten Wochen inzwischen
größtententeils verdunstet oder versickert, lediglich im Bereich vor dem
Felssturz gab es noch einige Pfützen. Der Kadaver der Felsanemone war komplett
verschwunden. Ob er sich aufgelöst hatte oder gefressen worden war, wusste Haku
nicht zu sagen.
Erleichtert, dass sein Bannfeld dem großen Druck in der Wasserader noch immer
standhielt, stellte Haku fest, dass nur ein Rohr durch das Feld gesteckt werden
brauchte, um Wasser aus der Quelle zu Zapfen. In dem Moment, wo man das Rohr
wieder aus dem Fels heraus zog, verschloss sich das Bannfeld von selbst wieder
und hielt das Wasser zurück.
In kürzester Zeit, als die Frösche endlich genügend Wasser bekamen, wurden
sie putzmunter und konnten ihr Arbeitspensum viel schneller erledigen. Haku
leiss sie Gleise bis zur Quelle legen, wo er die Frösche jeden Tag ein ganzes
Fass voll mit Wasser in einer Lore holen liess. Den Kohlenabbau erledigten sie
in weniger als der halben Zeit, so dass entsprechend mehr Zeit für die
Instandsetzungsarbeiten blieb.
Er erledigte den Kohlentransport mit dem Aufzug in den Kohlenspeicher und holte
neue Baumaterialien aus dem Raum in Yubabas Etage, wobei er jedoch nie jemanden
zu Gesicht bekam. Zusätzlich zog er weiterhin die Lorenzüge unten von der
Förderstelle bis zum Aufzug hoch. Er hatte so viel zu tun, dass er jeden Tag
nicht mehr als ein oder zwei Stunden zum Schlafen kam.
Nach vier Tagen etwa erwachte Torooru aus seinen Fieberträumen und wollte
sofort aufstehen und mit seiner Tätigkeit als Leiter des Bergwerkes fortfahren,
wovon ihn Haku mühsam abhalten konnte. Er schaffte es sogar, den Troll davon zu
überzeugen, in seinem Bett leigen zu bleiben, bis er wieder vollständig
genesen war. Lediglich zu seinem wöchentlichen Rapport bei Yubaba stand Torooru
auf und musste hinterher von der Anstrengung einen ganzen Tag lang schlafen.
Zwei Wochen später war Torooru wieder auf den Beinen und nahm zögernd die
Leitung des Bergwerks von Haku wieder in seine Hände. Am Abend nahm er Haku
dann zur Seite, um sich mit ihm zu unterhalten.
"Äch waäss nächt, wä äch äs sagän soll, do hast mäch schon wädär
gärättät.", sagte der Troll zögerlich, "Was kann äch där gäbän, om mäch
baä där zo bädankän? Wänn do wällst, kanns do dä Laäton däs Bärgwärks
öbärnähmän ond här in maänä Barackä aänzähän."
Haku blickte Torooru ernst mit seinen grünen Augen an. "Dass du mir dankst, ist
bereits genug. Weißt du Torooru, ich habe das alles nicht getan, um irgendetwas
für mich zu erreichen, ich wollte euch lediglich helfen und meinen Fehler von
neulich wieder gut machen. Du musst wissen, dass ich jemandem ein Versprechen
gegeben habe, einem Menschenmädchen, es noch einmal wieder zu sehen. Alles was
ich will und alles wofür ich noch lebe ist, dieses Versprechen noch zu halten.
Was danach mit mir geschieht ist mir gleich."
"Do wällst aän Mänschänmädchän wädärsähän?", keuchte Torooru
verblüfft, "Abär do bäst doch aän Drachä, aän Gott! Das västähä äch
nächt."
Haku ging überhaupt nicht Toroorus Einwurf ein. "Ich weiß nicht, ob ich euch
mit dem Wasser einen Gefallen getan habe.", fuhr er fort, "Yubaba wird es
herausfinden, über kurz oder lang, und ich habe irgendwie ein schlechtes
Gefühl bei der Sache, als ob ich irgendetwas übersehen hätte. Deshalb hör
mir jetzt zu, Torooru. Wenn ich noch einmal Mist baue und euch alle in Gefahr
bringe, oder mich wieder mit Yuababa anlege, dann töte mich einfach, wie du es
schon am ersten Tag tun wolltest. Ich werde mich nicht mehr wehren. Das wird
für uns alle wohl das beste sein. Nur wirf meinen Körper bitte hinterher nicht
in diese schreckliche Grube, diese Seelenfalle unter dem Badehaus. So will ich
nicht enden." Damit wandte Haku seinen Blick von Torooru ab.
"Abär das kann doch nächt daän Ärnst saän? Maäns do das wärkläch odär
hast do das nor so gäsagt?", flüsterte der Troll erschüttert.
Haku blickte jedoch nur noch geistesabwesend durch den Troll hindurch und
antwortete nicht mehr.
Kapitel 11: Der See im Wald II
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Hallo zusammen,
hier ist das neue Chihiro Kapitel. Mann, jetzt sind es schon über 50000 Worte
und ich wollte doch vielleicht so maximal 30000 Worte schreiben und längst
fertig sein. Aber irgendwie krieg ich die Geschichte nicht so recht vorwärts
und es fallen mir immer noch Sachen ein, die ich erzählen muss, bevor die
beiden sich endlich kriegen können. Hach, ist das alles kompliziert, das
Erzählen und Schreiben und sowieso alles!
Pazu
Der See im Wald II
Chihiro schlief in dieser Nacht äußerst schlecht, träumte immer wieder von
dem roten Gebäude im Wald, dem Tunnel, der hindurch führte, dem Wartesaal auf
der anderen Seite, wo auch immer das sein mochte, und der wunderbaren Landschaft
dort. Mehrfach schreckte sie mitten in der Nacht hoch, mit stark klopfendem
Herzen und dem heftigen Gefühl, dass sie kurz davor war, sich an etwas
wesentliches zu erinnern.
Als sie am Sonntagmorgen aufstand, hatte sie leichte Kopfschmerzen und war so
entsetzlich müde, dass sie überhaupt keine Lust verspürte, mit Ayaka und
Ichiyo den ganzen Tag lang zu pauken. Aber es half nichts, sie würde sich
zusammenreißen müssen.
Eine halbe Stunde vor Zehn versuchte sie noch einmal wie Tags zuvor einen
Papierschnipsel durch den Raum schweben zu lassen, aber sie konnte sich vor
Müdigkeit kaum konzentrieren und es gelang ihr nicht. Überhaupt schien ihr der
gestrige Tag bereits so unwirklich, dass sie zweifelte, ob nicht alles doch nur
Einbildung gewesen war.
Während der ganzen Zeit, nachdem Ayaka und Ichiyo dann gekommen waren und sie
miteinander lernten, war sie an diesem Tag sogar noch hibbeliger als ihre
Freundin. Ichiyo musste die beiden andauernd wieder zur Raison rufen, was aber
selten länger als eine halbe Stunde vorhielt bevor entweder Chihiro oder Ayaka
zu gibbeln anfingen.
Gegen fünf Uhr am Nachmittag machten die Drei sich wie am Samstag auf, um noch
einmal zu versuchen zum See zu gelangen und dort ein wenig zu planschen. Leider
war das Wetter längst nicht so schön wie am Tag zuvor, der Himmel war bedeckt
und es war bei vielleich 25 °C drückend schwül. Im Wald herrschte eine leicht
dämmerige gedrückte Stimmung und es war wesentlich Stiller als am Vortag, als
hätte sich die Stimmung auch auf die Tiere und Vögel übertragen.
Da Chihiro versichert hatte, dass sie sich weigern würde noch einmal durch den
Tunnel zu gehen, um auf die andere Seite des roten Gebäudes und so zum See zu
gelangen, schlugen sich die Drei frühzeitig in die Büsche und trafen in etwa
dort auf den Bach, wo Chihiro Ayaka vor fast einem Jahr das erste mal getroffen
hatte.
Diesem Bachlauf folgten sie, was sich als schwieriger erwies, als sie gehofft
hatten, denn mehrfach mussten sie sich durch dichtes Unterholz kämpfen oder
über umgestürzte Bäume klettern. Chihiro hatte dabei erstaunlicherweise die
geringsten Probleme, weil sie sich als kleinste und dünnste am ehesten überall
hindurchquetschen konnte.
Auf einmal, nachdem sie sich durch ein weiteres Gebüsch geschlagen hatten,
öffnete sich der Wald in eine große Lichtung von ca. einem Kilometer
Durchmesser, in deren Mitte sich der See befand. Rechts von ihnen, etwa hundert
Meter entfernt, mündete der Weg, der durch das rote Gebäude und den Tunnel
hindurch sie gestern ebenfalls zum See hätte führen sollen. Eingefasst war das
in der leicht trüben Stimmung an diesem Tag wie verwunschen wirkende Gewässer
von wild wucherndem Schilf und Bambusgras.
An einigen Stellen allerdings reichte die Wiese, die sich zwischen dem Waldrand
und dem Ufergürtel auf vielleicht zehn bis zwanzig Metern erstreckte, auch
direckt bis an das Wasser heran. An einer dieser Stellen liessen sie sich
nieder, breiteten ihre Badetücher aus und entledigten sich der Kleidung, unter
der sie ihre Badesachen trugen. Chihiro machte sich zunächst daran, ihren
aufgekommenen Hunger mit ein paar Reisbällchen und einer Tafel Schokolade zu
stillen, während Ayaka und Ichiyo sofort in den See sprangen, und begannen dort
sofort wild zu planschen.
"Chihiro, komm doch auch ins Wasser.", rief Ayaka nach einer Weile, nachdem
Chihiro mit ihrem Imbiss fertig war und den beiden auf ihrem Badetuch hockend
beim planschen zusah, "Los komm schon, das Wasser ist angenehm warm."
"Genau Chihiro, es macht richtig spass!", schloss sich Ichiyo an und liess sich
demonstrativ vornüber der Länge nach ins flache Wasser platschen.
Chihiro hatte jedoch überhaupt keinen Bock ebenfalls Nass zu werden, denn
während sie gegessen hatte, war ihr die Frage, wie denn wohl die andere Seite
des roten Gebäudes aussähe, nicht mehr aus dem Sinn gegangen. "Hört mal, ihr
beiden, ich hab jetzt keine Lust zu baden, ich schaue mich mal ein wenig hier
um.", informierte sie deshalb Ayaka und Ichiyo.
"Na gut Chihiro, dann eben nicht.", rief Ayaka zurück, wobei sie Ichiyo ins
Wasser stiess, "Aber verschwinde nicht einfach so, wie gestern."
Chihiro war bereits aufgestanden und ging in Richtung des Weges. "OK, aber fangt
bloss nicht wieder an, nach mir zu suchen.", erwiederte sie.
Langsam ging sie den Weg entlang, sah sich neugierig um und liess die Umgebung
auf sich wirken. Alles erschien ihr, als währe es wie in einem Traum, als
währe es nicht wirklich real. Sie kam um eine Biegung des Weges und dann sah
sie auch schon nicht weit entfernt das rote Gebäude.
Es sah im Grossen und Ganzen genau so aus, wie von der anderen Seite, erstreckte
sich rechts und links in den Wald hinein, hatte im Obergeschoss eine Reihe von
Fenstern und in der Mitte war der Ausgang des Tunnels, vor dem ebenso wie auf
der anderen Seite, eine grinsende Steinstaue Wache hielt.
Nachdenklich kam Chihiro näher. Wieso waren Ayaka und Ichiyo offenbar hier
heraus gekommen, während sie in diesem Wartesaal gelandet war, überlegte sie.
Das ergab alles doch überhaupt keinen Sinn. Was wohl passieren würde, wenn sie
von dieser Seite durch den Tunnel gehen würde?
Chihiro trat direkt vor den Tunneleingang und fast sofort begann ein Sog
einzusetzen, wie sie ihn auch von der anderen Seite her kannte. Sie atmete
einmal tief ein, machte zögerlich einen Schritt in den Tunnel hinein, noch
einen und war kurz darauf mitten im Tunnel. Da sie nun schon einmal so weit
gekommen war, ging sie auch den Rest des Weges und betrat zu ihrer Verwunderung
den Wartesaal durch die rechte der drei Öffnungen an der Rückwand des Raumes.
Diesmal verspürte sie jedoch keine Furcht mehr, denn nach dem gestrigen Tag
hatte sie mit so etwas fast gerechnet, sondern ihre Neugier gewann die Oberhand.
Dass sie irgend wo anders war, als in der Nähe des Waldsees, zeigte sich daran,
dass der Himmel außerhalb des Wartesaales unter dem Uhrenturm strahlend blau,
die Luft angenehm und würzig war und eine herrliche laue Brise wehte.
Das alles interessierte sie jedoch nicht besonders, sie nahm es eher beiläufig
zur Kenntnis. Viel wichtiger schien ihr die Frage, was geschehen würde, wenn
sie wieder durch eine der drei Öffnungen in der Rückwand des Wartesaales ging.
Wo würde sie dann hin gelangen?
Entschlossen marschierte sie durch die mittlere der drei Öffnungen, wobei sie
unwillkürlich an die andere, die dem See abgewandte Seite des Gebäudes mitten
im Wald dachte. Und siehe da, kurz darauf kam sie genau auf der Seite aus dem
Tunnel, an die sie gedacht hatte.
Chihiro konnte mittlerweile gar nichts mehr überraschen, so dass sie auch keine
Angst mehr hatte, sondern das Ganze eher spannend und irgendwie lustig fand.
Scheinbar musste sie sich nur vorstellen, zu welcher Seite des Gebäudes sie
wollte, und konnte dann einfach durch den Tunnel dorthin gehen.
Aufgeregt über die Entdeckung umrundete sie den Grinsestein einmal und trat
dann wieder an den Tunneleingang heran. Konzentriert stellte sie sich die andere
Seite des Gebäudes vor, auf welcher der Waldsee lag und trat dann in den
Tunneleingang hinein. Nichts geschah, kein Sog setzte ein, genau wie sie gehofft
hatte.
Angestrengt versuchte Chihiro das andere Ende des Tunnels zu erkennen, um zu
erkennen, ob der Ausgang nun am Waldsee mündete oder im Wartesaal, hatte jedoch
keinen Erfolg. Was soll's, dachte sie bei sich, marschierte in den Tunnel und
gelangte kurze Zeit später in die trübe Abendstimmung auf der anderen Seite
des Gebäudes am Waldsee.
Chihiro sah sich genau um, konnte jedoch keine Veränderung gegenüber vorhin
feststellen, als sie den Tunnel betreten hatte, und die Statue vor dem Eingang
grinste beflissen nach Vorne und Hinten.
Irgendwie schien dieser Durchgang durch das rote Gebäude eine Art Tor zu sein,
überlegte sie, und es bringt mich an die Seite des Tunnel, an die ich gerade
denke. Nein, das konnte auch nicht ganz richtig sein, schließlich hatte sie
eigentlich an gar nichts gedacht, als sie mit ihren Eltern vor einem Jahr dort
hindurch gegangen war, denn damals hatte sie den Wartesaal ja noch gar nicht
gekannt. Und genau so war es ja auch gestern gewesen. Trotzdem hatte das "Tor"
sie in diesen Wartesaal gebracht, obwohl sie gar nicht dorthin gewollt hatte.
Sie drehte sich um, dachte an den Wartesaal und trat in die Tunnelöffnung.
Sofort setzte der Sog ein, schien sie hereinziehen zu wollen. Schnell trat sie
einen Schritt zurück, woraufhin der leichte Sog sofort aufhörte. Mehrfach
wiederholte sie das Experiment und achtete dabei auch besonders auf den
gegenüber liegenden Tunnelausgang.
Jedes Mal, wenn sie in die Tunnelöffnung trat und an den Wartesaal dachte,
setzte augenblicklich der leichte Sog ein und der Tunnelausgang schien kurz zu
verschwimmen, als ob sich ein Durchgang, ein Tor öffnen würde. Dachte sie
jedoch an den Ausgang im Wald, geschah nichts. Merkwürdigerweise öffnete sich
das Tor aber auch, wenn Chihiro an irgendetwas anderes als an die Gegenseite
dachte.
Noch merkwürdiger allerdings fand sie, war dass Ayaka bereits mehrfach durch
diesen Tunnel gegangen war, ohne dass etwas passiert war, und Ichiyo war ja
gestern auch hindurch gegangen ohne im Wartesaal zu landen. Vielleicht öffnete
sich der Durchgang ja auch nur für sie selbst. Vielleicht währen ihre Eltern
im letzten Jahr ja gar nicht dort hin gelangt, dachte sie erschrocken, wenn sie
brav im Auto sitzen geblieben währe, wie ihre Mutter es gesagt hatte und sie
nicht alle mehr als zwei Wochen verschwunden.
Sollte sie Ayaka und Ichiyo von ihrer Entdeckung erzählen? Gestern Abend hatten
sie ihrer leicht wirren Geschichte zwar höflich zugehört, doch hatten sie ihr
auch wirklich geglaubt? Nein, sie musste es den beiden zeigen. Wenn sie nachher
nach Hause gingen, würde sie zustimmen, den kurzen Weg durch den Tunnel zu
nehmen, anstatt wieder den Bach entlang durch das Unterholz zu tapern. Beim
Durchgang durch den Tunnel würde sie dann an den Wartesaal denken, um den
beiden zu zeigen, dass alles was sie gestern erzählt hatte, der Wirklichkeit
entsprach.
Wenn es klappte konnte sie den beiden den Wartesaal unter dem Uhrenturm zeigen,
die Wiesen und die wunderbare Landschaft dort. Wenn es nicht klappte, würde
niemand etwas bemerken, außer ihr selbst natürlich. Chihiro holte einmal tief
Luft um sich zu sammeln, drehte sich um und marschierte entschlossen zu Ayaka
und Ichiyo zurück.
Die beiden hatten inzwischen das Wasser verlassen und spielten am Waldrand
Fußball, was hieß, dass Ayaka den Ball schießen durfte und Ichiyo im Tor
stehend, welches von zwei jungen Bäumen gebildet wurde, den Ball halten
musste.
Ichiyo erblickte sie zuerst. "Hallo Chihiro, da bist du ja wieder." Er winke ihr
zu und machte so auch Ayaka auf sie aufmerksam. Diese hatte sich gerade den Ball
zurecht gelegt, war ein paar Schritte zurückgegangen, um Anlauf zu nehmen, als
Chihiro näher kam.
"Mann, du hast dich aber lange umgesehen.", meinte sie leicht spöttisch, "Du
warst ja mindestens 'ne Stunde weg." Damit rannte sie los und zimmerte den Ball
an dem überraschten Ichiyo vorbei ins Tor.
"O entschuldige Ayaka, ich hatte einen Moment lang nicht aufgepasst.", entfuhr
es Ichiyo sofort automatisch, so dass die Mädchen zuerst ihn und dann einander
verblüfft anblickten, bevor sie gemeinsam begannen loszukichern.
"Verzeihung, habe ich irgend etwas falsch gemacht?", fragte er verwirrt.
"Nein, du hast nichts falsch gemacht, Ichiyo, du sollst dich nur nicht dauernd
entschuldigen, wenn du gar keine Schuld hast. Ich hab doch geschossen, weil ich
gesehen hatte, dass du noch nicht fertig warst, um dich zu überraschen.",
erbarmte sich Ayaka einer Erklärung und Ichiyo wurde sofort knallrot, weil er
wieder mal ins Fettnäpfchen getreten war.
Er tat Chihiro leid und so warf sie Ayaka einen strengen Blick zu, als diese
spontan erneut losprusten wollte. Ayaka riss sich dann auch zusammen, holte den
Ball aus dem Wald zurück und legte ihn wieder auf die Abschussposition.
Weil sie wieder Hunger bekommen hatte, holte Chihiro sich noch etwas zu Essen
aus ihrem Rucksack, und sah dann den Beiden beim Ballspielen zu. Sie war
erstaunt, wie flink und geschmeidig Ichiyo war, wenn er sich bewegte. Wenn man
ihn so sah, schmächtig und mit Brille, traute man ihm sportlich nicht viel zu,
was auch für ihn selber zu gelten schien, aber er war wirklich flink und
schnellkräftig.
Reaktionsschnelligkeit allerdings schien nicht seine große Stärke zu sein,
aber sobald er einmal sein Ziel anvisiert hatte, federte er präzise darauf zu,
war jedoch meisten etwas zu langsam, weil er einfach zu spät reagiert begonnen
hatte.
Ayakas Bewegungen erinnerten Chihiro eher an die von Jungen, so richtig
burschikos waren sie. Sie machte kräftige, weit ausholende Bewegungen, die für
ein Mädchen völlig untypisch waren, und besaß eine Ausstrahlung aggressiver
Souveränität. Wenn sie keine Zöpfe gehabt hätte, würde Chihiro sie für
einen Jungen gehalten haben.
Schuss um Schuss gab Ayaka auf das Tor ab, wobei sie meistens Siegerin blieb und
Ichiyo überwand. Erneut startete sie, traf den Ball hart und satt, so dass er
genau in Richtung von Ichiyo Kopf flog. Dieser machte vor Schreck eine rudernde
Bewegung, erwischte den Ball noch irgendwie und lenkte ihn so von seinem Kopf
ab.
Der Ball prallte daraufhin gegen den linken Baum des Tors und von dort
geradewegs in Chihiros Gesicht, die keine Chance hatte, zu Reagieren. Mit einem
dumpfen "Poff" prallte er dann von ihrem Kopf fort, wurde hoch hinaus in die
Luft geschleudert und landete etwa 70 bis 80 Meter weiter draußen auf dem
Wasser im See.
Völlig perplex stand Chihiro mit offenem Mund da. Eigentlich müsste es jetzt
weh tun, dachte sie, in Erwartung des Schmerzes, der aber nicht kam. Dann wurde
ihr bewusst, dass sie den Aufprall des Balles gar nicht gespürt, sondern nur
einen leichten Luftzug gefühlt hatte, als ob der Ball sie überhaupt nicht
berührt hätte.
"Chihiro, Chihiro, hast du dir weh getan?", schrie Ayaka mit Panik in der
Stimme, rannte zu ihr hin und nahm sie in den Arm. Aus eigener schmerzvoller
Erfahrung wusste sie, wie weh ein Volltreffer mit einem Fußball im Gesicht tun
konnte.
Chihiro schüttelte den Kopf. "Keine Sorge Ayaka, es hat nicht weh getan. Ich
habe kaum etwas gespürt.", beruhigte sie ihre Freundin und Ichiyo, der
inzwischen auch zu ihr herüber gekommen war, legte seine Hand auf ihre Schulter
und sah ihr besorgt in die Augen.
"Es war genauso, wie letztes Jahr.", sagte er leise, "Weißt du, als Bunzo,
dieser Blödmann, dir die Ohrfeige gegeben hatte."
Ayaka und Chihiro sahen ihn fragend an. "Was meist du damit?", wollte Ayaka
wissen, "Was hat denn eine Ohrfeige mit einem Ball zu tun?"
"Na ja, ich stand bei der Ohrfeige doch genau hinter Chihiro.", erinnerte er
sich, "Und als Bunzo sie traf, das leuchtete ihr Haarband kurz violett auf.
Chihiros Kopf aber hatte sich gar nicht gerührt, obwohl Bunzo sich bei dem
Schlag die Hand geprellt hatte."
"Ja? Ist das so gewesen?", wunderte sich Chihiro, die von Ayaka inzwischen aus
der Umarmung entlassen worden war, "Ich kann mich gar nicht an die Ohrfeige
erinnern, mir war vor lauter Hunger vorher schon ganz schlecht und dann bin ich
deswegen auch umgekippt."
"Genau so ist es gewesen.", meinte Ichiyo, "Genau wie jetzt. Ich habe es aus dem
Augenwinkel gesehen, aber es war eindeutig. Als dich der Ball traf, leuchtete
dein Haarband auch wieder violett auf und schau doch mal, wo der Ball gelandet
ist, mit welcher Wucht er weggeflogen ist. Er ist mit viel größerer Wucht von
dir weggeprallt, als er dich getroffen hat."
Alle Drei sahen sich nach dem Ball um, der in etwa 100 m Entfernung auf dem
Wasser im See trieb. "Du hast recht. So weit kann ich den Ball gar nicht
schießen.", erkannte die verblüffte Ayaka, "Ich schaff es vielleicht vom
Strafraum bis zu Mittellinie, also vielleicht 30 m. Aber soo weit...." Sie
wandte sich wieder Chihiro zu. "Zeig doch mal her dein Haarband.", forderte
sie.
Bereitwillig gab sie es Ayaka, die es eingehend betrachtete. "Mann, mir war ja
noch nie aufgefallen, wie hübsch es ist.", staunte sie, "Wo hast du das denn
bloß her? Vielleicht kann ich da ja auch welche für meine Zöpfe kriegen."
"Ich weiß nicht, wo ich es her habe.", meinte Chihiro, ganz genau beobachtend,
was Ayaka damit anstellte.
"Wie, du weißt es nicht?", zweifelte sie überrascht, "Das kann doch gar nicht
sein. So was vergisst man doch nicht." Aber Chihiro zuckte bloß mit den
Schultern. "Also gut, dann wollen wir das mal ausprobieren.", bestimmte Ayaka
dann, "Ich mach mir das Teil in die Haare und dann wirft Ichiyo mir den Ball
gegen den Kopf. Dann werden wir ja sehen, ob es was bewirkt."
"Ja aber, und was ist, wenn ich dir weh tue?", wandte Ichiyo zögernd ein,
während Ayaka das Haarband um ihren linken Zopf machte.
"Blödsinn! Das schaffst du nie.", protzte die jedoch voller Selbstvertrauen,
"Ich hab' mindestens schon tausend mal einen Ball geköpft und weh getan hat das
noch nie, außer ich hab' ihn auf die Nase gekriegt. Aber jemand müsste mal den
Ball holen, hmmm." Womit sie Ichiyo unverwandt anblickte.
"OK, ich geh ja schon.", beeilte dieser sich zu sagen, drehte sich um, rannte
zum See und ins Wasser. Er musste viel weiter raus in den See, als beim
Planschen zuvor gewesen war, so weit, dass er schwimmen musste. Und so dauerte
es eine Weile, bis er den Ball zurück geholt hatte.
"So, du wirfst mir jetzt den Ball zu und du, Chihiro, guckst, ob das Haarband
was macht, leuchtet oder so.", kommandierte Ayaka dann, stellte sich vor das
"Tor" und ging in Stellung für den Kopfball. Vorsichtig warf Ichiyo ihr den
Ball von unten ausholend zu, während Chihiro das Haarband nicht aus den Augen
ließ. Zielsicher traf sie den Ball und beförderte ihn unter lautstarkem Jubeln
zwischen die beiden Bäume, die das Tor markierten.
"Tooooor, Toooor!!! Und hiermit hat Ayaka Fukazawa das Golden Goal geschossen
und damit den WM-Titel für Japan gesichert.", kommentierte sie lautstark ihren
"Erfolg". Dann drehte sie sich mit einem Ruck zu Chihiro und fragte: "Und? Hat
das Haarband irgendwie geleuchtet?" Diese schüttelte den Kopf.
"Na ja, irgendwie hat sich der Kopfball auch angefühlt wie immer.", meinte
Ayaka, "Aber so schnell wollen wir nicht aufgeben. Ichiyo! Wirf den Ball diesmal
doller. So kann den ja ein Baby köpfen."
Sie probierten es noch mehrere Male und jedes mal wurde Ichiyo mutiger, als er
sah wie sicher Ayaka den Ball beherrschte, und warf ihn heftiger. Aber es
passierte überhaupt nichts, die Kopfbälle fühlten sich an wie immer und das
Haarband weigerte sich einfach zu leuchten.
Dann aber hatte Chihiro eine Idee. Vielleicht war es ja so ähnlich wie bei dem
Tunnel durch das rote Gebäude, dachte sie. Das Haarband machte, was sein
Träger wollte, genauso wie der Tunnel sie an den Ort brachte, an den sie
dachte.
Wenn also Ayaka den Ball köpfen wollte, ließ das Haarband das auch zu und
wurde nicht aktiv. Aber bei Bunzos Ohrfeige und bei dem Balltreffer vorhin,
hatte sie nicht getroffen werden wollen und war zudem auch überrascht worden.
Also hatte das Haarband sie irgendwie beschützt, Bunzos Hand und den Ball
irgendwie abgewehrt.
"Ayaka, du musst die Augen zu machen und darfst nicht versuchen den Ball zu
köpfen.", schlug sie daraufhin vor, "Sonst funktioniert es wahrscheinlich
nicht." Wenn Ayaka die Augen zu machte, würde sie den Ball nicht köpfen
wollen, weil sie ihn nicht sehen könnte, und sie wüsste auch nicht, wann der
Ball sie träfe, so dass er sie überraschen würde. Dann währe die Situation
sie gleiche, wie bei den beiden Malen, wo es bei ihr funktioniert hatte.
"Hä? ... Na gut, wenn du meinst.", gab sie zurück und stellte sich tapfer mit
geschlossenen Augen vor Ichiyo auf. Vorsichtig warf er den Ball, diesmal wieder
von Unten ausholend, genau gegen Ayakas Kopf, und siehe da, er wurde so heftig
zurückgeschleudert, dass Ichiyo Mühe hatte, ihn zu fangen.
Ayaka hörte den Rückprall des Balles und Ichiyos verblüfftes "Uff", so dass
sie die Augen öffnete. "Ist es schon vorbei? Ich habe gar nichts gemerkt.",
fragte sie erstaunt, "Hat es geleuchtet?"
"Ja, Ayaka, es hat geleuchtet.", bestätigte Chihiro, die das ganze gespannt
beobachtet hatte, "Es hat zwar nur ein ganz bisschen geleuchtet, aber es hat
geleuchtet!"
"Wow, das ist ja Cool.", entfuhr es ihr begeistert, "Noch mal, noch mal, aber
diesmal stärker". Sie baute sich stocksteif noch einmal vor Ichiyo auf und
kniff die Augen in übertriebener Weise zusammen. Dieser tat ihr den Gefallen
und warf ihr den Ball mit einer Schlagwurfbewegung etwas kräftiger an den Kopf.
In dem Augenblick, als der Ball Ayakas Kopf zu berühren schien, leuchtete das
Haarband an ihrem linken Zopf diesmal heller auf und schleuderte den Ball mit so
großer Wucht gegen Ichiyos Brust zurück, dass dieser einen Satz rückwärts
machte und sich auf den Hosenboden setzte, wo er hustend sitzen blieb.
"Au Mann, das war heftig.", presste er hervor, wobei er nach Luft jappste. Dabei
blickte er mit skeptischer Mine auf seine Brust herunter, wo die Haut von dem
Aufprall schnell eine tiefrote Färbung annahm, röter noch, als er im Gesicht
zu werden pflegte. Es brannte ziemlich stark und er bekam kaum Luft.
Chihiro lief sofort zu ihm hin, um nach ihm zu schauen, und auch Ayaka, die
jetzt ihre Augen geöffnet hatte, glotzte mit offenem Mund auf Ichiyo herab.
"Hui, bin ich das gewesen?", rief sie ungläubig und sprang ebenfalls zu ihm
hin, "Ichiyo, hast du dir weh getan? Komm, ich helf dir hoch."
"Nein, ist nicht so schlimm.", röchelte er, immer noch nach Luft schnappend,
nahm Ayakas dargebotene Hand und ließ sich von ihr auf die Beine helfen. "Ich
glaube, wir sollten das nicht weiter ausprobieren.", meinte Ayaka besorgt, "Komm
Chihiro, hier hast du dein Haarband zurück."
"Hallo, ihr drei.", sagte plötzlich eine melodische weibliche Stimme, gerade
als Ayaka das Band von ihrem linken Zopf herunterziehen wollte. Chihiro, Ayaka
und Ichiyo wandten ihre Köpfe der Stimme zu und erblickten eine schöne junge
Frau, die wenige Meter entfernt aus dem Boden gewachsen zu sein schien und sich
höflich vor ihnen verbeugte. Sie war barfuss und trug ein leichtes blaues
Sommerkleid, passend zu ihren strahlend blauen Augen.
Trotz ihrer Augenfarbe besaß sie eindeutig japanische Gesichtszüge, war keine
Europäerin. Bei näherem Hinsehen, schien sie jedoch nicht so jung zu sein, wie
sie im ersten Augenblick erschien, sondern wirkte auf seltsame Art völlig
alterslos. "Ich bin Manami und ich wohne hier in der Nähe", stellte sie sich
vor, "Ihr müsst entschuldigen, aber ich habe euch schon die ganze Zeit, die ihr
hier seid, beobachtet. Was ihr da eben gemacht habt, war sehr, äh, interessant.
Dürfte ich das Haarband wohl auch einmal sehen?"
Chihiro und ihre Freunde erwiderten die Verbeugung und sahen einander dann
ratlos an. Wo war diese Frau hergekommen, wo wohnte sie, denn außer dem roten
Gebäude schien kein anderes in der Nähe zu sein. Und von wo aus hatte sie sie
beobachtet, ohne dass sie es bemerkt hatten? Die ganze Situation schien völlig
unwirklich und ein wenig unheimlich.
"Hallo Frau Manami. Äh, das Haarband gehört mir aber nicht.", sagte Ayaka dann
vorsichtig, nahm es aus ihrem Haar und gab es Chihiro zurück.
Chihiro ging ein paar Schritte auf die Frau zu und fragte dann: "Warum wollen
sie es sehen? Und wenn sie es mir nicht wieder geben?"
"Was ich eben gesehen habe, deutet auf echte Magie hin.", antwortete diese, "Das
Haarband schein ein sehr starker Talisman zu sein. Ich möchte wissen, wer ihn
gemacht hat und wie ein kleines Mädchen wie du daran gekommen bist. Aber du
brauchst keine Angst zu haben, ich werde es dir wiedergeben."
"Magie, woher wissen sie, dass es Magie ist?"; wollte Chihiro spontan wissen und
Ayaka fragte: "Sind sie eine Hexe?", woraufhin Manami lächeln musste und
erwiederte: "Nein, ich bin keine Hexe, aber ich habe mich etwas mit Zauberei
beschäftigt, rein aus, äh, beruflicher Neugier. Würdest du es mir zeigen,
hm."
Chihiro war von ihrer Stimme und ihrem Blick aus diesen blauer als blauen Augen
wie hypnotisiert, so dass sie ihre Hand vorstreckte und der Frau das Haarband
hinhielt. Diese griff danach, aber als sie Chihiros Hand berührte, zuckte sie
zuerst überrascht zurück, bevor sie es dann mit nachdenklichem
Gesichtsausdruck doch entgegen nahm.
Sie hielt Chihiros Haarband einige Momente imit beiden Händen umschlossen,
wobei sie die Augen schloss, bevor sie mit einem Seufzer mehr zu sich selbst
murmelte: "Es ist mächtiger, als ich dachte.". Sie hockte sich vor Chihiro hin
und fasste deren Haar mit dem Band wieder zu einem Zopf zusammen.
Leise sagte sie zu Chihiro: "Du musst gut darauf aufpassen, es ist sehr
wertvoll. Und zeig niemandem, was es kann. Es ist nicht gut, wenn ihr einfach
damit herumspielt.". Dann blickte sie Chihiro noch einmal nachdenklich an, bis
sich ihr Gesicht plötzlich aufhellte und sie fragte: "Sag mal, bist du nicht
die kleine Sen? Ein guter Bekannter hat mir von deinen Eskapaden letztes Jahr
erzählt. Das würde jedenfalls so einiges erklären. Zum Beispiel wo du das
Haarband her hast."
Chihiros Herz setzte einen Schlag aus. Sen? Ich Name war doch nicht Sen.
Trotzdem wusste sie, dass Manami auch recht hatte und sie einmal Sen gewesen
war, irgendwann. "Aber mein Name ist doch gar nicht Sen, sondern Chihiro.",
sagte sie trotzdem, da ihr nicht einfallen wollte wieso sie Sen gewesen war.
"Ist schon gut, Chihiro.", sagte Manami lächelnd und strich dem Mädchen über
das Haar, "Hm, kannst dich an nichts erinnern, oder? Dann wollen wir es dabei
auch belassen, ist schon besser so.". Damit stand sie auf und verbeugte sich
noch einmal vor Ayaka und Ichiyo. "Ich würde mich freuen, wenn ihr mich öfter
mal besuchen kommt. Es ist immer so einsam und langweilig hier.", verabschiedete
sie sich, drehte sich um und ging einfach fort.
Alle drei verbeugten sich leicht verwirrt vor der fortgehenden Frau, blickte ihr
nach, wie sie langsam den See umrundete und auf der anderen Seite verschwand,
als wenn sie sich in Luft aufgelöst hätte. "Huh, das war aber merkwürdig.",
schüttelte sich Ichiyo, "Da ist einem ja eine Gänsehaut den Rücken hinunter
gelaufen."
"Ja, die war seltsam!", ergänzte Ayaka hinzu, "Hast du ihre Augen gesehen.
Nicht einmal Rundaugen (Europäer) haben soo blaue Augen."
"Ja, merkwürdig war sie schon, aber ich fand sie trotzdem Nett.", legte Chihiro
sich fest, die immer noch ein wohlig warmes und leicht schwindeliges Gefühl von
dem Moment hatte, als Manami ihr den Zopf gebunden und sie gestreichelt hatte.
"O Mist, jetzt fängt es auch noch zu Regnen an.", schimpfte Ayaka, als sie
bemerkte, dass es leicht zu nieseln begonnen hatte, "Ich geh mal und hol den
Ball. Er muss irgendwo da in den Wald gesprungen sein.". Sie rannte los und
verschwand zwischen den Bäumen, während Ichiyo und Chihiro ihr Sachen
zusammenrafften, in den Rucksack stopften und sich flugs anzogen. Auch Ayakas
Sachen packen sie schnell zusammen und legten ihre Kleider zurecht, die sie
zuoberst in ihren Rucksack packten, damit sie nichts Nasses anziehen musste.
Eine viertel Stunde später kam Ayaka wieder aus dem Wald geschlichen und zog
eine Fleppe, wie Chihiro es bei ihr noch nie gesehen hatte. "Scheiße, verdammte
Kacke, der Ball ist weg.", fluchte sie frustriert.
"Aber Ayaka, so was sagt man doch nicht.", sagte Ichiyo automatisch, seiner
Erziehung gehorchend, woraufhin Ayaka ihn wütend anfuhr: "Ach du, halt doch die
Schnauze. Warum hast du den Ball auch nicht fest gehalten, du Blödmann!"
Ichiyo schossen sofort die Tränen in die Augen, hatte er doch gedacht, dass
Ayaka ihn mögen würde, so wie er sie gerne hatte. Chihiro ging zu Ayaka hin,
um sie zu beruhigen, und nahm sie bei der Hand. "Komm Ayaka, es ist doch nur ein
Ball. Zieh dich erst einmal an und dann gehen wir alle suchen.", beruhigte sie
ihre Freundin, wobei sie sie zu ihrem Rucksack herüber zog.
Während Ayaka sich mit muffeliger Mine anzog, ging Chihiro zu Ichiyo, der wie
ein Häufchen Elend auf einem Baumstumpf hockte. Sie setzte sich neben ihn und
legte ihren Arm um seine Schulter. "Ichiyo, Ayaka hat das nicht so gemeint, sie
ist nur traurig, weil ihr Fußball weg ist.", sagte sie leise in sein Ohr,
"Komm, hilfst du mir suchen?"
Ichiyo schniefte: "OK, gehen wir suchen.", womit er aufstand und in Richtung des
Waldes ging. Chihiro folgte ihm, aber Ayaka, die sich inzwischen angezogen und
etwas beruhigt hatte, rief: "Ichiyo, es tut mir leid. Ihr, ihr braucht jetzt
nicht suchen. Ich hab sowieso noch einen Ball zu Hause, ist also nicht so
schlimm. Außerdem kannst du ja nichts dafür, ich wollte doch, dass du den Ball
wirfst. Komm, wir gehen nach Hause, bevor wir alle klatschnass werden."
Nach Ayakas Entschuldigung, fasste Ichiyo sich schnell wieder und gemeinsam
machten sie sich auf den Rückweg. Ayaka schlug die Richtung zum Bach ein, aber
Chihiro erklärte sich zur Überraschung aller bereit, den kürzeren,
schnelleren und vor allem auch trockeneren Weg durch den Tunnel zu nehmen.
Als sie das rote Gebäude erreichten, überlegte Chihiro kurz, ob sie den Plan,
den sie sich vorhin zurecht gelegt hatte, noch umsetzen sollte, aber sie fand,
dass Ayaka und Ichiyo ein Ablenkung brauchten, um den blöden Streit von eben zu
vergessen und so dachte sie konzentriert an den Wartesaal, als sie durch den
Tunnel gingen.
"Schau mal, wie hell der Ausgang erleuchtet ist.", bemerkte Ichiyo, als sie etwa
die Hälfte des Weges durch den Tunnel zurück gelegt hatten, "Als wenn dort die
Sonne scheinen würde." Die Sonne schien aber nicht, sondern der Wartesaal war
hell mit Lampen erleuchtet und der Ausgang war dunkel, als ob draußen bereits
Nacht währe. Auf den Bänken hatten duzende merkwürdiger Gestalten Platz
genommen, andere standen in Gruppen zusammen und unterhielten sich angeregt.
Keine dieser Gestalten nahm zunächst von ihnen Notiz, als sie durch die linke
Tunnelöffnung in der Rückwand des Raumes in diese Szene platzten. Chihiro
selber war mehr verwundert und neugierig, als erschrocken, während Ayaka und
Ichiyo wie erstarrt waren und sich mit aufgerissenen Augen unwillkürlich
krampfhaft an Chihiro festklammerten.
Direkt ihnen gegenüber saß ein riesiges Etwas auf dem Boden, dass wie ein
Konglomerat aus verschiedenen Wurzeln und Ästen aussah, jedoch über Hörner
verfügte und einen dichten, rosafarbenen Pelz besaß. Es blickte sie aus
mehreren großen Facettenaugen an. Noch ehe sie sich an den Anblick gewöhnt
hatten, wurde Ichiyo von hinten angestupst und ärgerlich von einer Art riesigem
Vogel mit gelbem Federkleid angefiept.
Chihiro zog daraufhin Ayaka und Ichiyo etwas zu Seite, da sie immer noch genau
vor dem Tunnelausgang standen und ihn so blockierten. Kaum hatten sie ihn frei
gemacht, strömte eine ganze Prozession duzender dieser Vogelwesen aus dem
Tunnel. Ayaka, die das ganze mit vor Angst geweiteten Augen beobachtet hatte,
riss sich mit einem Quieken von Chihiro los und stürmte mit lautem Gekreische
in den mittleren Tunnel, um aus der Situation zu entkommen.
Wenige Augenblicke darauf kam sie aus dem rechten der drei Tunnel wieder
herausgerannt und stieß mit einem Wesen zusammen, dass wie eine Art grüne
Kartoffel aussah, jedoch in einen feinen, mit Blumen bedruckten Seidenkimono
gewandet war. Mit einem Schnauben verzog es sein Gesicht zu einer Maske des
Ekels, hielt sich die überdimensionale Nase mit einer seiner vier Hände zu und
machte mit den drei anderen eine abwehrende Geste in Ayakas Richtung, die
schockiert und keuchend dastand.
"Iiieee, ein Meeensch.", machte das Wesen mit hoher, näselnder Stimme, "Was hat
der den hier zu suchen. Bedieeenung, Bediiiiieeeeeeenung. Bäh, grausiger
Service hier, ich werde mich bei Madame Yubaba beschweren." Mit den drei freien
Armen wollte es nach Ayaka greifen, um sie fortzuschieben.
Diese lief jedoch mit einem erneuten Quieker panisch davon, umrundete eine
Säule, rammte fast gegen eine Bank, blieb beinahe an einer der Wurzeln dieses
Wesens hängen und stürmte dann in den linken Tunnel hinein, um kurz darauf aus
dem mittleren wieder heraus zu kommen, wo sie mit kalkbleichem Gesicht wie
angewurzelt stehen blieb.
Mühsam löste sich Chihiro, die überhaupt keine Angst verspürte, von Ichiyo,
ging zu Ayaka herüber, um sie von dem Tunnelausgang weg zu ziehen. "Mann Ayaka,
reiß dich zusammen und benimm dich.", zischte sie, "Keiner tut dir hier was."
Mehrere andere Gestalten wurden jetzt auf die Drei aufmerksam, darunter ein
Wesen, dass wie ein riesiger weißer Rettich aussah und in mittelalterliche
Reisekleidung gehüllt war. Langsam stapfte es zu ihnen herüber. Mittlerweile
war ein Affe in einem Pagenanzug durch den Ausgang von draußen herein gekommen
und verkündete mit lauter Stimme: "Sehr verehrte Gäste, die Fähre zum
Badehaus legt in wenigen Minuten ab. Bitte versammeln sie sich am Anlegesteg.".
Sein Blick schweifte durch die runde und blieb an Chihiro, Ayaka und Ichiyo
hängen, so das er hinzufügte: "Alle sind willkommen, alle außer ...
Menschen!"
Der Rettich, der Chihiro unheimlich bekannt vorkam, baute sich mit seinem
mächtigen Bauch vor ihnen auf, verbeugte sich und sagte mit tief grollender
Stimme: "Verehrte Sen, ich freue mich, dass es ihnen gut geht, aber es währe
besser, wenn ihr jetzt wieder ginget."
Chihiro und Ichiyo verbeugten sich artig, wobei Ichiyo die Bewegung mehr oder
weniger automatisch mitmachte, weil er sich so heftig an Chihiro klammerte.
Ayaka starrte ihn nur mit blödem Gesichtsausdruck an und verbeugte sich nicht,
was der Rettich aber einfach ignorierte. Er drehte sich gemächlich um und
begann in Richtung des Ausganges zu watscheln.
Die meisten Gestalten bewegten sich mittlerweile auch mehr oder weniger eilig
zum Ausgang während Chihiro Ayaka und Ichiyo zum mittleren Tunnel herüber zog.
Gemeinsam warteten sie kurz, bis er frei wurde und gingen dann hinein, wobei
Chihiro angestrengt an den Tunnelausgang auf der Seite des roten Gebäudes
dachte, an der nach Hause führte.
Kurze Zeit später verließen sie den Tunnel in fortgeschrittener Dämmerung im
prasselnden Regen. Schweigend machten sie sich auf den Rückweg, wo sie schnell
durchnässt waren, und Chihiro hatte Schwierigkeiten überhaupt zu gehen, weil
sich ihre beiden Freunde immer noch schockiert an ihr festhielten. Wenigstens
war der Regen lauwarm, so dass sie nicht frieren mussten.
Chihiro merkte, dass Ayaka und Ichiyo zu verwirrt und geängstigt waren, um
jetzt zu reden. Sie mussten dass Erlebte erst einmal verarbeiten, also ließ sie
die beiden in Ruhe in Ruhe. Sie machte sich außerdem Vorwürfe, dass sie in
diese Situation geraten waren, was hatte sie die beiden auch mit auf die andere
Seite nehmen müssen. Selbst war sie von den dort anwesenden Gestalten zwar
überrascht aber nicht geängstigt worden, denn diese Wesen waren ihr
größtenteils vertraut gewesen. Sie war ihnen schon einmal begegnet, nur konnte
sie sich einfach nicht erinnern, wo.
Dann fiel ihr siedend heiß ein, was diese Gestalten waren. Es waren die
japanischen Naturgottheiten, die Kami, die dort hin gekommen waren, um ... um
was zu tun? Sie hatte das Gefühl, dass sie es eigentlich wissen müsste. Auf
jeden Fall hatte dieser dicke Rettichgott sie gekannt, wie auch sie sich an ihn
erinnern konnte, und mit dem gleichen Namen angeredet, wie die merkwürdige Frau
Manami vorhin am See: Sen.
Diese hatte nicht nur ihren Namen erraten, von dem ihr ein Bekannter erzählt
hatte, sondern auch gewusst, dass etwas ihr Gedächtnis blockierte, so dass sie
sich an nichts erinnern konnte. Wenn dieser Rettichgott ihren Namen kannte,
bedeutete das, dass die Frau etwa auch den Göttern begegnet war? Oder war sie
am Ende selber eine Göttin. Sie wollte Manami sofort am nächsten Tag besuchen
gehen, schließlich war sie ja von dieser dazu aufgefordert worden.
"Du sag mal Chihiro, das mit dem Haarband vorhin, das war wirklich Cool.", sagte
Ayaka plötzlich gut gelaunt in Chihiros Gedanken hinein, "Und du weißt
wirklich nicht, wo du es her hast? Ob wirklich echte Magie darin steckt?"
Chihiro war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte,
wie Ayaka und Ichiyo sie los gelassen hatten.
"Ja genau." pflichtete Ichiyo ihr ebenso gut gelaunt bei, "Aber diese Frau,
diese Manami, die war wirklich ein wenig unheimlich. Wie die auf einmal wie aus
dem Nichts aufgetaucht ist."
Chihiro versuchte verwundert die Gesichter ihrer Freunde in der tiefen
Dämmerung zu erkennen, konnte aber die Gesichtszüge nicht ausmachen. Die
Äußerungen ihrer Freunde verwirrten sie ein wenig. Waren sie eben nicht noch
völlig verängstigt und schockiert gewesen. Jetzt benahmen sie sich, als wenn
das alles nie passiert währe. Wenn sie über den Wartesaal voll von Kami
gesprochen hätten, hätte sie das verstanden, aber das jetzt war einfach
absurd, als ob es nie passiert wäre.
Gerade wollte sie an ihrem eigenen Verstand zweifeln, als es ihr wie Schuppen
von den Augen fiel. Sie hatten es vergessen! Genau wie sie vergessen hatte, was
sie dort auf der anderen Seite letztes Jahr erlebt hatte. Irgendeine Magie hatte
es sie vergessen lassen. "Sagt mal, als wir vorhin durch den Tunnel gegangen
sind,", fragte sie deshalb vorsichtig, "da ist euch doch nicht etwas
aufgefallen?"
"Was soll uns denn aufgefallen sein?", wollte Ichiyo leicht verwirrt wissen,
"Wir sind auf der einen Seite hinein gegangen und auf der anderen wieder heraus
gekommen, wie das Tunnel so an sich haben. Auf jeden Fall ist mir aber
aufgefallen, dass es angefangen hat zu Regnen. Sauwetter!"
"Genau, lass uns schneller gehen, ich will nicht noch nasser werden und am Ende
noch eine Erkältung kriegen.", fügte Ayaka hinzu. Sie hatten jetzt das Ende
des Waldweges erreicht und konnten den großen alten Baum sehen, wie er sich
gegen den nachtgrauen Himmel abhob. Gemeinsam kämpften sie sich den vom Regen
glitschig gewordenen Abhang zu Chihiros Haus hinauf, bevor sie sich dann von ihr
bis zum nächsten Wochenende verabschiedeten und durch den Regen die Strasse
entlang nach Hause rannten.
In ihrem eigenen Haus wurde sie von ihrer Mutter empfangen, die vor Sorge
bereits ganz aufgelöst war, denn es ging, wie sich herausstellte, bereits auf
11 Uhr Abends zu. Chihiro konnte sich nicht erklären, wieso sie so lange weg
gewesen war. Ihrem Zeit- und Hungergefühl nach, hätte es höchstens so gegen
Neun sein dürfen. Jedenfalls war sie dankbar für die Fischsuppe, die ihr ihre
Mutter warm gehalten hatte und von der sie dann mehrere Teller voll
herunterschlürfte, bevor sie gegen Mitternacht erschöpft ins Bett fiel.
Kapitel 12: Überfroschung
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Hallo zusammen. Es tut mir leid, dass es wieder mal so lange gedauert hat, aber
nach Weihnachten hatte ich 'ne regelrechte Schreibblockade. Ich hab teilweise
2-3 Stunden auf den Text gestarrt und dann gerade mal einen Satz zustande
gebracht. Freitag habe ich mir mein Machwerk dann mal als Ganzes reingezogen und
nur kopfschüttelnd gedacht: "Was hast du denn da fürn Mist verzapft."
Das Wochende habe ich dann damit verbracht alles noch mal umzuschreiben und hier
ist jetzt das Ergebnis.
Viel Spass,
Pazu
Überfroschung
Torooru wusste langsam nicht mehr ein noch aus. Jetzt hatte Yubaba ihm schon
wieder drei neue Frösche mit herunter geschickt. Das bedeutete, dass jetzt
insgesamt schon 42 Frösche hier unten im Bergwerk lebten. Dazu gekommen war es,
weil seit letztem Jahr, seit Haku die Wasserquelle in dem Seitentunnel entdeckt
und freigegraben hatte, sich die Situation der Frösche hier unten derartig
verbessert hatte, dass keiner von ihnen mehr gestorben war.
Die drei armseligen Gestalten drängten sich hinter ihm im Aufzug auf der
Einfahrt ins Bergwerk ängstlich zusammen und Haku stand nach seiner
"Unterrichtsstunde" bei der Hexe wie in Trance in neben ihm, teilnahmslos vor
sich hin starrend.
Wenn ihm Yubaba weiterhin in regelmäßigen Abständen "Nachschub" schickten
würde, um die "gestorbenen" Frösche zu ersetzen, würde nun deren Anzahl hier
unten immer größer werden. Sie würden immer mehr Nahrung verbrauchen, bis
sich ein neues Gleichgewicht eingestellt hätte und die Frösche nicht mehr an
Wassermangel, sondern würden Hungers sterben müssten.
Verzweifelt dachte er zurück, wie gut sich nach dem Wasserfund vor einem Jahr
zunächst alles angelassen hatte. Die Arbeitskraft der Frösche hatte mit der
endlich ausreichenden Wasserversorgung derart zugenommen, dass die ihr
Arbeitspensum in der halben Zeit schafften, ohne in einen Zustand der
Erschöpfung zu geraten.
So hatten sie auch die Instandsetzung der Tunnelabstützung in wesentlich
kürzerer Zeit absolviert, als Torooru geschätzt hatte und da jede Menge
Baumaterialien übrig geblieben waren, hatten sie begonnen, einen zweiten
Aufenthaltsraum in der Nähe der Quelle in den Felsen zu schlagen, den sie mit
weiteren Schlafgelegenheiten und vor allem mit in den Boden eingelassenen
Wasserbecken ausstatteten. Diesen neuen Raum nannten die Frösche scherzeshalber
das "Terrarium".
Zwar war die Temperatur wegen der fehlenden Frischluftzufuhr im Terrarium
wesentlich höher, als in der alten Wohnhöle vorne am Aufzug, aber die Frösche
verbrachten ihre Zeit trotzdem lieber dort, den sie konnten dort den ganzen Tag
in den Wasserbecken verbringen und es sich gut gehen lassen.
Da die Frösche sich unten am eigentlichen Kohleflöz mittlerweile gegenseitig
auf die Flossen traten, wurde die Arbeit nun so verteilt, dass sie eine Hälfte
der Froschmänner frei hatte und diese Zeit im wesentlichen im Terrarium
verbrachten und die andere Hälfte unten im Flöz die Kohlen abbaute. Diese
Hälfte verbrachte dann auch die Nacht in der Wohnhöhle, wo sie im Anblick bei
einer möglichen Kontrolle durch Yubaba, schmutzig wie sie vom Kohleabbau waren,
gegenüber dem alten Zustand vor dem Wasserfund kaum einen Unterschied boten.
Am nächsten Morgen rückten sie dann alle ein, wo dann an dem Seitentunnel der
zu Wasserquelle und "Terrarium" führte ein Austausch der Mannschaft vorgenommen
wurde. Auf diese Weise schöpfte Yuababa keinen Verdacht, die nach dem
Zwischenfall im Vorjahr öfters eine Kurzinspektion des Bergwerks vornahm.
Das alles hätte so schön sein können, wäre da nicht ein weiteres Problem
erwachsen, mit dem Torooru gar nicht gerechnet hatte. Die Wasserversorgung war
zwar nun gesichert, aber die Nahrungsmittelzuteilung für das Bergwerk hatte
sich nicht erhöht. Diese reicht gut für etwa 20 Personen, den großen Appetit
Toroorus mit eingeschlossen, aber jetzt mussten damit bereits 42 Frösche, Haku
und er selbst, also insgesamt 44 Personen versorgt werden.
Es reichte einfach vorne und hinten nicht mehr, so dass selbst er sich stark
hatte einschränken müssen und in den letzten sechs Monaten sichtbar abgenommen
hatte.
Einzig und alleine Haku schien das alles überhaupt nichts auszumachen. Er nahm
nie mehr als seine winzige Wasser und Nahrungsration entgegen, wie er sie fast
von Anfang an bekommen hatte und leistete trotzdem stoisch die schwere Arbeit
als Zugpferd vor den Loren. Dabei liess er sich auch von niemandem helfen oder
akzeptierte jemals eine Ablösung.
Nach getaner Arbeit verzehrte der mit entnervender Langsamkeit seine Ration,
fast so, als müsse er sich zwingen zu essen, sass dann häufig noch eine Zeit
lang auf seiner Kiste, um geistesabwesend vor sich hin zu starren, bevor er dann
darin für die Nacht verschwand. Er kam dann am nächsten Morgen wieder heraus,
wenn er erneut Loren zu ziehen hatte oder zu seiner wöchentlichen
Unterrichtsstunde bei Yubaba erscheinen musste.
Auch ansonsten hatte er sich vollkommen in sich selbst zurückgezogen und so
weit sich Torooru erinnern konnte, seit seinem letzten Gepräch mit ihm, kein
einziges Wort mehr mit irgendjemandem gesprochen. Es war fast so, als wäre er
nur noch ein Geist, und auch wenn man direkt neben ihm stand, hatte man manchmal
den Eindruck, als wäre niemand da.
Nichts desto trotz tat ihm der Junge leid und Torooru ertappte sich immer wieder
dabei, wie er zu Haku hingehen wollte, um ihm irgendwie zu helfen. Er fand aber
nie die richtigen Worte, so dass er es am Ende dann doch immer bleiben liess und
ihn wieder nur von weitem beobachtete. Dabei fühlte er sich immer richtig
mies.
Aber seine Beziehung zu Haku war im Moment zweitrangig. Er musste wegen der
Versorgung mit Nahrungsmitteln irgendetwas unternehmen. Zu Yubaba zu gehen und
sie über die Situation hier unten zu informieren, würde einen riesigen Ärger
bedeuten, vor dem er sich fürchtete. Nur, was sollte er tun. Wenn er Alles so
weiterlaufen ließ wie bisher, konnte er sich an fünf Fingern abzählen, wann
sich die Situation hier unten so zuspitzen würde, dass Yubaba es selbst
herausfinden musste.
Sorgenvoll blickte er auf Haku hinunter, der immer noch bewegungslos neben ihm
im Aufzug stand. Der Drache hatte recht gehabt, als bei ihrem letzten Gespräch
vor gut einem Jahr gesagt hatte, dass er kein gutes Gefühl bei der Sache hätte
und irgendetwas übersehen hätte. Auf jeden Fall würde es Yubaba endlich einen
Vorwand liefern, sich seiner entgültig zu entledigen, wenn sie herausfand, dass
er ohne Erlaubnis nach Wasser gegraben und sich dafür vor der Arbeit gedrückt
hatte. Und sie würde es herausfinden!
Torooru sah erneut zu Haku herab und dachte ein weiteres Mal an ihr letztes
Gespräch zurück. Wenn Yubaba es herausfände, würde er genau in jener Grube
unterhalb ihres Büros enden, wie so viele andere vor ihm, und seine Seele wäre
auf ewig darin gefangen. Es würde genau das passieren, wovor sich der Junge am
meisten fürchtete.
In diesem Augenblick erreichten sie mit dem Aufzug die verwaiste und spärlich
beleuchtete Haupthöhle. Der Troll scheuchte in seiner rüden Art die drei neuen
Frösche aus dem Aufzug, in eine der Loren des bereitstehenden leeren Zuges und
machte sich daran, die rasante Fahrt in den Abbaubereich zu vorzubereiten. Haku
trottete wie eine Marionette hinter ihnen her und bestieg roboterhaft eine freie
Lore, in der er sich auf den Boden plumpsen ließ.
Vier Wochen später hatte sich die Situation weiter verschlimmert, da Yubaba in
einem Zornesausbruch weitere sechs Frösche in das Bergwerk geschickt hatte.
Torooru hatte noch mitbekommen, wie sie mit jemandem telefoniert hatte, der ihr
mitgeteilt hatte, dass ein besonders hochgeschätzter, wichtiger und vor allem
auch vermögender Gast eine unmögliche Summe dafür geboten hatte, wenn er die
Dienste einer gewissen Sen beim Baden in Anspruch nehmen könnte.
Aber diese Sen war wohl aus irgendwelchen Gründen nicht verfügbar, so dass der
Gast schließlich ungehalten und vor allem ohne Gold da zu lassen wieder
abgereist war. Daraufhin hatte sie in ihrem Ärger darüber einfach die sechs
Frösche ins Bergwerk geschickt, die diesem wichtigen Gast zugeteilt worden
waren.
Damit waren jetzt im Bergwerk bereits 50 Mäuler zu stopfen, mit
Nahrungsmitteln, die für 20 Leute gedacht waren. Widerwillig musste Torooru
in den nächsten Tagen die Rationen noch weiter reduzieren, so dass die Frösche
nun doch anfingen zu murren und zudem in ihrer Arbeitsleistung deutlich
nachließen, weil sie einfach nicht mehr genügend zu beißen bekamen. Von
Wasser alleine wurde man nun einmal nicht satt.
Im Laufe der folgenden Woche wurde der Druck der Situation auf ihn immer
größer, so dass er sich genötigt sah, zu einer Entscheidung zu gelangen.
Diese Entscheidung nach aller Überlegung und trotz allen Sträubens nur lauten,
Yubaba über die veränderte Situation hier unten zu informieren. Doch er
fürchtete sich vor ihrer Reaktion.
Der Zweck des Bergwerkes war ja nicht nur die Versorgung des Badehauses mit
Kohle, sondern ebenso auch die Entsorgung der überflüssigen
Froscharbeitskräfte, denn Yubaba konnte es sich nicht leisten, sie gehen zu
lassen und von den Zuständen im Badehaus woanders zu erzählen.
Konsequenterweise musste sie also die Wasserquelle wieder versiegeln, um erneut
den alten Zustand herzustellen und die Frösche müssten sich hier unter im
wahrsten Sinne des Wortes wieder zu Tode schuften.
Und Haku, was würde sie mit ihm tun? Torooru hatte keinen Zweifel, dass sie
dies Ereignis als Vorwand nehmen würde, ihren Lehrling, und das war er ja
offiziell noch immer, endgültig loszuwerden. Haku hatte seine Aufgabe des
Lorenziehens einmal nicht erfüllt, sich heimlich davon geschlichen und statt
dessen das Wasser freigelegt. Damait hatte er ganz klar gegen die Interessen des
Badehauses verstoßen und seinen Vertrag gebrochen. Und er, Torooru hatte es ihr
nicht gemeldet.
Er selber rechnete zwar auch für sich mit einer Bestrafung, aber die Hexe
brauchte ihn, um das Bergwerk hier unten zu leiten, so dass er nicht um sein
Leben fürchten musste, dafür aber um so mehr um das von Haku. Dabei hatte er
sich gerade jetzt an den Drachen gewöhnt und war froh um dessen Gesellschaft,
froh um jemanden, der nicht einfach kam und ging, wie die Frösche.
Was sollte er nur tun? Wie war er bloß in diese Situation geraten? Wenn er
nichts tat, würden sie entweder alle verhungern oder Yubaba würde von alleine
herausfinden, was los war, und wenn er Yubaba Bescheid sagte, würde sie endlich
einen Grund haben Haku offiziell, nach den Regeln des Vertrages zu töten.
Aber es half einfach nichts, er musste jetzt etwas unternehmen, bevor alles noch
schlimmer würde. Entschlossen stapfte er, nach seinem Beinbruch kaum noch
hinkend, zu Haku herüber, der wie in Trance auf seiner Kiste sitzend sein
Abendessen einnahm.
"Hako, äch moss mät där rädän.", sagte er, als er vor dem Jungen stand,
wobei er sich bemühte, leise zu reden, "Äch moss äs Yobaba sagän."
Haku reagierte jedoch überhaupt nicht, sondern saß weiterhin mit glasigem,
starrem Blick nach vorne da und kaute in Zeitlupe seinen Reis.
"Hako, Haaakoho, hast do mäch gähört?", keuchte Torooru, Haku jedoch
reagierte immer noch nicht. "Hako, ställ dän Raäs baäsaätä on hör mär
zo.", befahl er daraufhin leise, denn immerhin hatte Haku in den letzten Monaten
kommentarlos jeder Anweisung gehorcht. Vielleicht würde er auf einen Befehl
reagieren.
Der Junge stellte denn auch, immer noch lähmend langsam die Reisschüssel neben
sich und richtete einen trüben Blick auf Toroorus Gesicht, wo er ohne zu
blinzeln verharrte.
"Äch moss äs Yobaba sagän, das mät däm Wassär ond alläm. Wär
värhongärn sonst allä.", krächzte er fast flehentlich, mit brüchiger
Stimme, auf Hakus Einsicht hoffend, aber dieser glotzte den Troll weiterhin ohne
jeden Funken eines Verstehens an.
"Mänsch, Jongä, was äst dänn los?", grollte der Troll in seiner
Verzweifelung, "Värstähst do dänn nächt, was das bädoätät? Äs äst
alläs aos!" Damit packte er Haku bei den Schultern und schüttelte ihn.
Haku wehrte sich nicht dagegen, blinzele mit einem Male jedoch, als wäre er aus
einem Traum erwacht und fixierte den Troll plötzlich mit festem Blick.
Nachdem Haku beschlossen hatte, vorerst nicht zu sterben, hatte er begonnen sich
selbst zu konditionieren, nur noch bedingungslos jede Anweisung Toroorus
auszuführen, um nicht erneut irgendwelche voreiligen Dinge zu tun, die im
Endeffekt andern schaden könnten.
Kein Widerspruch, kein Zweifel, keine Emotionen und keine Nachlässigkeit mehr
sollten sein Handeln beeinflussen. Um dieses Ziel zu erreichen hatte er seine
ganze Kraft darauf verwendet, sein eigenes Selbst vollkommen auszuschalten, bis
er dauerhaft in einen ähnlichen Zustand geraten war, wie unter dem Einfluss von
Yubabas verfluchtem schwarzen Wurm.
Er dachte nicht mehr, sondern handelte nur noch, entsprechend Toroorus Befehlen,
nahm nur noch wahr, was zur Ausführung dieser notwendig war und konnte sich im
Nachhinein kaum erinnern, was er getan hatte. Auch das Zeitgefühl ging ihm
vollkommen verloren. Ein Augenblick war eine Stunde, ein Tag, eine Woche, ein
Monat, einerlei. Deshalb wusste er auch nicht, wie lange er sich in diesem
Zustand befand.
Alle anderen Tätigkeiten, die aktives eigenverantwortliches Handeln
erforderten, wie etwa essen, schlafen oder waschen erforderten eine unsägliche
geistige Anstrengung und gingen entsprechend langsam vonstatten.
So war es denn auch gekommen, dass er von den ganzen Vorgängen im Bergwerk, wie
etwa der Einrichtung des Terrariums, der stetigen Zunahme der Anzahl an
Fröschen oder der Kürzung der Rationen bewusst nichts mitbekommen hatte.
Erst als Torooru ihm befohlen hatte zuzuhören, waren dessen Worte langsam in
sein Bewusstsein gesickert und ebenso langsam begannen die Rädchen seines
Geistes sich wieder zu drehen. Toroorus Schütteln allerdings beschleunigte
diesen Vorgang ein wenig.
"Torooru, es ist schon gut, ich habe dich verstanden.", flüsterte er mit
heiserer Stimme, nachdem der Troll aufgehört hatte, ihn durchzurütteln, denn
er hatte seit fast einem Jahr nicht mehr gesprochen, "Du willst mir sagen, dass
du mich töten musst. Das ist schon OK, Torooru, dann hast du von Yubaba nichts
zu befürchten und ich habe sowieso nichts anderes verdient, wenn ich an all die
Verbrechen denke, die ich im Auftrag von Yubaba begangen haben muss."
"Abär das kann doch nächt daän Ärnst saän, Hako? Äch wäll däch doch
nächt ombrängän!", entfuhr es dem Troll vor Schreck und schwer atmend mit
rasendem Herzen starrte er auf den Jungen herab. Er konnte es einfach nicht
fassen, wie kaltblütig und unbeteiligt der Drache das geäußert hatte.
"Doch, Torooru, das ist mein voller Ernst.", antwortete Haku ruhig, "Was glaubst
du, wollte ich tun, als ich das Wasser durch Zufall gefunden habe? Ich wollte
mich nicht vor der Arbeit drücken, ich wollte sterben, mich von einer
Felsanemone fressen lassen! Doch dann bin ich auf dieses Wesen im Tunnel
gestoßen und es ist alles anders gekommen. Ich werde ohnehin nicht mehr lebend
hier heraus kommen und wenn ich die Wahl habe, von deiner oder von Yubabas Hand
zu sterben, dann wähle ich dich, Torooru. Nur bitte, bitte sorg dafür, dass
ich nicht in dieser Grube ende."
"Naän, Hako, das kanns do doch nächt von mär värlangän, das äst doch
wahnsännäg.", brüllte der Troll verzweifelt.
"Nein, Torooru, das ist völlig logisch.", antwortete Haku gelassen und lehnt
sich etwas zurück, um den Troll besser ansehen zu können, "Schau, Yubaba wird
uns für das lynchen, was wir hier durch das Wasser erreicht haben. Diese
Situation, dass ihr jetzt hungern müsst, ist durch meinen Eingriff entstanden,
also muss ich auch die Verantwortung dafür tragen, um dich und die Frösche zu
schützen. Yubaba hat mich sowieso hier herunter geschickt, damit ich hier
sterbe und nichts wird sie mehr befriedigen, als wenn du ihr meinen Kopf
bringst. Was bin ich denn schon. Ein heimatloser Drache, ein Flussgott ohne
Fluss, der sich von einer Hexe zu einem Sklaven, Dieb und Mörder hat
degradieren lassen. Wenn du ihr meinen Kopf bringst, wird sie dich vielleicht
ungeschoren lassen. Also reiß mit das Halsband herunter, das wird mich sicher
umbringen."
Torooru blickte nachdenklich zu Haku, der ihn erwartungsvoll und ohne Angst
anblickte. So wie er das sagte, hörte es sich tatsächlich logisch an. Aber
Moment mal. Was würde sich denn ändern? Haku wäre tot, die Frösche müssten
sich wieder zu Tode schuften, er wäre weiterhin hier unten gefangen und Yubaba
würde so weiter machen, wie bisher. Irgendwo musste in Hakus Logik ein Fehler
sein.
"Naän Hako, äch wärdä däch nächt tötän!", sagte der Troll deshalb und
fuhr fort, "So langä do läbst, gäbt äs ämmär noch Hoffnong. Vällaächt
passärt ätwas völläg Onärwartätäs. .... Wänn wär doch nor mähr zo
Ässän hättan!" Mit einem Seufzer wandte sich der Troll ab und gin in seinen
Verschlag, um über die Situation noch einmal nachzudenken.
Haku selber fühlte zu seiner eigenen Verwunderung überhaupt nichts, keine
Angst, keine Trauer, keine Bitternis, aber auch keine Erleichterung darüber,
dass ihn der Troll nicht umbringen wollte. Innerlich war er ohnehin zu der
Überzeugung gelangt, dass jeder Versuch seinerseits jemandem anderen zu helfen,
dessen Leid letztendlich nur vergrößerte.
Sein letzter Versuch die Situation im Bergwerk zu verbessern war ein perfektes
Beispiel dafür. Statt zu verdursten mussten jetzt alle verhungern. Sein gut
gemeintes Handeln hatte die Situation zwar temporär verbessert aber auf lange
Sicht letztendlich verschlimmert. Es blieb alles beim alten. Die Frösche
mussten sterben, damit Yubaba ihren Wahnsinn mit dem Badehaus weiterhin aufrecht
halten konnte.
Nein, er wollte kein Teil mehr dieser mörderischen Maschinerie sein. Aber es
war ihm auch bewusst, dass er dem Ganzen, so lange sein Ausbildungsvertrag mit
der Hexe lief, nicht entkommen konnte, weshalb er sich vor Scham und Ekel
wünschte, er wäre Tot. Und selbst wenn er nach Ablauf des Vertrages entkäme,
wie könnte er mit dem Wissen um die Zustände hier unten weiterleben, wo sollte
er weiterleben, als heimatloser Flussgott?
Aber da war immer noch das Versprechen, dass er Chihiro gegeben hatte, das
Versprechen, sie noch einmal wiederzusehen. Band ihn diese Versprechen nicht an
das Leben? Der Troll hatte gesagt, solange man lebte, gäbe es noch Hoffnung.
Vielleicht sollte er ja doch noch einmal gründlich die Situation und seinen
Wunsch zu sterben nachdenken.
Wenn er den Troll überredete ihn zu töten, doch dann bliebe alles wie bisher,
nur dass es ihn nicht mehr gäbe und Yubaba hätte die Genugtuung, ihn endlich
beseitigt zu haben. Er konnte es aber auch darauf ankommen lassen und sehen was
passiert, wenn Yubaba von der Situation hier unter erfährt.
Vielleicht hatte er ja Glück und die Hexe liesse ihn am Leben, so dass er das
Ende seines Lehrlingsvertrages doch noch erleben würde. Doch das wahr sehr
unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher war, dass er in der Grube unter ihrem
Büro enden würde. Hier unten würde dennoch alles beim alten bleiben und die
Frösche müssten weiterhin für die Hexe sterben.
Er könnte auch Torooru töten und damit das Bergwerk und somit auch das
Badehaus faktisch schließen, denn ohne Kohlen gäbe es auch kein heisses Wasser
mehr. Das wäre ein echter Schlag für Yubaba, doch wer wüsste, wie sie darauf
reagieren würde. Vielleicht konnte er sie erpressen, indem er ihr klar machte,
dass nur er, Toroorus statt, das Berkwerk leiten konnte, denn wenn es um das
Geschäft ging, wusste die Hexe schon immer ihr Temperament zu zügeln, so dass
sich Haku gute Chancen ausrechnete, damit sogar durchzukommen.
Doch kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende verfolgt, lief es ihm vor Schrecken
kalt den Rücken herunter. Dies war genau die Art, in der Yubaba dachte und
handelte. Er würde sich selbst damit zum Parteigänger ihrer finsteren
Interessen machen und sein Schicksal unentrinnbar an das von Yubaba binden. Da
wäre es immer noch besser, tot zu sein.
Auf die letzte Möglichkeit war er erst gekommen, nachdem ihm der Troll vorhin
erzählt hatte, dass sie alle verhungern müssten. Denn vielleicht gab es hier
unten doch Nahrung. Möglicherweise. Diese Tiere, die er tief im Tunnel in der
Nähe der Wasserstelle wahrgenommen hatte, von denen die Felsanemone eines
anstatt seiner gefressen hatte. Wenn Felsanemonen sie frassen, konnten ja
eventuell auch Frösche sie essen.
Nur würde er sich damit wieder auf diese unselige Strasse begeben und Yubabas
Interessen zuwiderhandeln indem er den anderen half. Und würde er den Fröschen
und Torooru damit wirklich helfen oder würde alles wieder noch schlimmer
werden? Solange man am Leben war, gab es noch Hoffnung. Dann wurde ihm klar,
dass er mehr Angst davor hatte, den anderen zu Schaden, indem er versuchte ihnen
zu helfen, als vor dem Tod. Das war einfach zu dumm.
Er war ein Drache, er würde versuchen den anderen zu helfen. Und wenn es schief
ginge, würde er die Konsequenzen auf sich nehmen und die Folgen ertragen.
Entschlossen stand Haku auf und ging zur Schlafhöhle herüber, die er jedoch
nicht betrat, so wie es ihm vor langer Zeit befohlen worden war.
"Torooru, Torooru!", rief er so laut, wie er konnte, was nicht besonders laut
war, weil ihm seine Stimme noch immer nicht so recht gehorchen wollte, "Ich muss
mit dir reden." Der Troll rührte sich jedoch in seinem Verhau nicht und die
Froschmänner, die gerade beim Abendessen sassen, blickten ihn misstrauisch an.
Doch auch nach mehrmaligem Rufen liess sich der Troll nicht sehen, so dass Haku
einige Kohlestücke einsammelte und gegen die Tür seines Verhaus warf. Das
laute Poltern schien nun doch zu Torooru durch zu dringen, so dass er kurz
darauf missmutig seinen Kopf aus der Tür steckte.
"Was äst dänn los, Jonge.", grummelte er, "Kannst do mäch dänn nächt än
Rohä lassän. Äch moss nachdänkän."
"Torooru, vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit.", rief Haku heiser
zu Torooru erüber, "Ich weiss, woher wir vielleicht etwas zu essen bekommen."
Der Troll kniff argwöhnisch die Augen zusammen. Dann winkte er Haku zu sich
hinuber und bedeutete ihm, mit in die Hütte zu kommen. Dieser war dankbar
dafür, dass Torooru sich seitdem genügend Wasser vorhanden war, zumindest
einmal jede Woche wusch, und zwar nach jedem Rapport bei Yubaba, so dass es
nicht allzu sehr auffiel, wenn er dann nach einer Woche wieder ungewaschen bei
ihr auftauchte.
"Wo, was, wo soll das saän?", platzte es aus ihm heraus, nachdem Haku sich auf
einen Schemel gesetzt hatte. Haku blickte seinerseits zu Torooru hinüber, der
sich auf die Kante seines riesigen, mit Äonen altem Heu bedeckten Bettes gestzt
hatte.
"Was glaubst du eigentlich, wovon sich die Felsanemonen ernähren?", fragte er
den ungläubig blinzelnden Troll, der darüber offensichtlich noch nie
nachgeacht hatte. Danach berichtete er Torooru von seiner Entdeckung, die er
nach seinem eigenen Empfinden, erst vor wenigen Tagen gemacht zu haben glaubte.
Staunend hörte sich der Troll Hakus Geschichte an, bevor sie sich dann
berieten, wie und wo man diese Lebewesen wohl fangen könnte. Sie kamen zu der
Überlegung, dass man ja im Prinzip nur Felsanemonen finden müsse, denn
Felsanemonen können ja nur dort sein, wo es auch Nahrung für sie gibt. Unter
der Annahme, dass diese Wesen die Hauptnhrungsquelle für die Felsanemonen
bildeten, war die Wahrscheinlichkeit sehr groß, sie ebenfalls dort zu finden.
Wegen seiner weitestgehenden Orientierungslosigkeit in völliger Dunkelheit
schlug Torooru vor, dass Haku versuchen sollte, sie zu fangen, da er über
Möglichkeiten magischer Wahrnehmung verfügte und ausserdem mit einem
Paralysezauber einfach ein solches Lebewesen fangen können sollte, einer
Bannblase, die ein Lebewesen temporär ausser Gefecht setzte und den er auch
schon einmal bei dem kleinen grünen Frosch eingesetzt hatte, als er mit Chihiro
über die Brücke zum Badehaus gekommen war.
Kurz darauf hatten sie sich auch schon auf den Weg zum nächsten Seitentunnel
gemacht, von dem der Troll wusste, dass es dort Felsanemonen gab. Er begleitete
Haku nur einige Meter weit in den Tunnel, bis es so dunkel wurde, dass man nicht
mehr viel erkennen konnte. Dort wünschte er Haku viel Glück, bevor dieser sich
auf den Weg weiter in den Seitentunnel hinein machte.
Bereits nach wenigen Metern wurde es vollständig dunkel. Haku hatte plötzlich
ein sehr starkes Gefühl des Deja Vu und hörte das laute Pochen seines Herzens.
Alles war genau so, wie das letzte Mal, als er sich hatte umbringen wollen und
schliesslich das Wasser gefunden hatte. Unwillkürlich dehnte er seine magischen
Sinne weiter aus, um nicht plötzlich in irgendetwas hinein zu laufen. Doch da
war nichts vor ihm, nichts innerhalb der vielleicht 30 Meter, die seine
Wahrnehmung jetzt reichte.
Er würde seinen Wahrnehmungsradius auch noch weiter ausdehnen können wenn es
notwendig gewesen wäre, aber das wäre schnell auf Kosten seiner Kraft und
Konzentration gegangen. Vorsichtig ging er an baufälligen Stützstreben vorbei,
musste mehrfach über Geröllhügel klettern, an Stellen, an denen die
Deckenverschalung nachgegeben hatte, und einmal auch über einen fast 1m breiten
Spalt im Boden springen, dessen Grund er nicht wahrnehmen konnte, der also
tiefer als ca. 30 m sein musste.
Nachdem er noch einige hundert Meter weiter gegangen war, nahm er endlich die
wuselnde Bewegung wahr, nach der er gesucht hatte. Gerade am Rand seines
magischen Wahrnehmungsradius' konnte er die Bewegung spüren. Er ging weiter.
Aber immer wenn er versuchte den Wesen näher als etwa 25 m zu kommen, so
verschwanden diese in ihren Felslöchern oder rannten tiefer in den Tunnel
hinein.
Nach einigen Versuchen gab er es auf, sich den Wesen direkt nähern zu wollen.
Es würde also nicht einfach werden, eines zu fangen, denn um eine Bannblase um
eines der Wesen herum zu erzeugen, musste er näher heran, viel näher.
Er würde eines der Wesen in die Enge treiben oder aber sich wie ein guter
Jäger auf die Lauer legen müssen, wie es die Felsanemonen ja auch machten.
Leise schlich er sich an eine Felsspalte in der Tunnelwand heran, wo er einige
der Wesen verschwinden wahrgenommen hatte, kauerte sich daneben auf den Boden
und wartete.
Etwa einen halben Meter tief im Felsgestein konnte er eine Höhlung wahrnehmen,
in der zwei grosse und mehrere kleine Wesen sich verkrochen hatten, vermutlich
die Elterntiere mit ihren Jungen. Jedoch rührte sich in dem Nest kaum etwas und
die Tiere schienen zu schlafen.
Haku musste ein schier endlose Zeit lang warten, bis endlich die Aktivität der
Tiere wieder zunahm. Aber auch jetzt machten sie immer noch keine Anstalten,
wieder aus ihrem Nest herauszukommen, sondern schienen mehr damit beschäftigt
zu sein, sich um ihre Jungen zu kümmern.
Endlich machte sich dann eines der Wesen, immer wieder umsichtig schnuppernd,
auf den Weg nach draußen, um dann am Ausgang der Felsspalte zu verharren.
Vermutlich, dachte Haku, nahm es seine Gegenwart irgendwie wahr, denn es
schnupperte immer wieder in seine Richtung. Wahrscheinlich würde es wieder im
Tunnel verschwinden, wenn er sich jetzt rührte und dann würde er wieder lange
warten müssen.
Innerlich fluchte er. Es konnte doch nicht so schwer sein, eines von diesen
Tieren zu fangen. Er würde es einfach probieren mussen, sonst müsste er noch
ewig warten. Blitzschnell zuckte seine Hand vor, schleuderte eine Bannblase nach
dem Wesen und erwischte es, nicht jedoch bevor dieses reflexartig in die
Felsspalte zurückgezuckt war.
Haku versuchte nach dem Wesen zu greifen, bevor die Bannblase sich auflöste und
das Wesen wieder freigab, aber es hatte es noch um einen scharfen Knick in der
Felsspalte geschafft, so dass er es gerade nicht erreichen konnte. Wenn er eines
der Wesen doch nur in die Enge treiben konnte. Und dann fiel ihm siedend heiss
ein, dass die Wesen in ihrer Höhlung ja im Prinzip bereits in der Falle
sassen.
Er musste nur den Felsen aufgraben. Rasch wechselte er in seine Drachengestalt,
stemmte seine Vorderklauen in den Felsspalt und riss das Gestein entzwei. In
weniger als einer Minute hatte er sich bis zu dem Nest vorgearbeitet, in dem die
Wesen jetzt panisch nach einem Ausweg suchten.
In aller Seelenruhe fing er sie mit einer Bannblase, verwandelte sich wieder in
seine menschliche Gestalt zurück, zog seinen Suikan aus und wickelte die Wesen,
sowohl die beiden Elterntiere als auch die Jungen darin ein, bevor er sich auf
den Rückweg zu Torooru machte.
Wärend der meisten Zeit auf dem Rückweg verhielten sich die Wesen still,
rührten sich nicht und gaben auch keine Geräusche von sich. Dies änderte sich
dann aber rasch, als Haku wieder in einen Teil des Tunnels zurückkehrte, in den
noch etwas Licht aus dem Haupttunnell gelangte. Laut quiekend versuchten die
Wesen nun nämlich sich aus ihrer Lage zu befreien, begannen sich durch den
Stoff seines Suikan zu nagen, offensichtlich um dem Licht zu entkommen.
Als er dann die Haupthöhle betrat und direktes Licht der trüben Glühbirne
über dem Aufzug die in seinen Suikan eingewickelten Wesen erreichte, fingen
diese an unkontrolliert zu zucken bevor sie mit einem Mal still waren. Haku
konnte fühlen, dass sie tot waren.
Da niemand mehr wach zu sein schien und Haku den Troll jetzt auch nicht wecken
wollte, er durfte ohne Toroorus Aufforderung die Schlafhöhle immer noch nicht
betreten und hätte alle wach brüllen müssen, breitet er seinen Suikan auf
seiner Kiste aus und nahm die Wesen genauer das erste mal bei Licht in
Augenschein.
Die erwachsenen Tiere waren zwischen 15 und 20 cm lang, allerdings abzüglich
ihres Schwanzes, der etwa doppelt so lang war, wie der Rest des Körpers, und
die Jungen etwa 5 cm lang. Sie hatten 6 Beine, riesengroße Ohren, eine
rüsselförmige Nase, mit der sie möglicherweise auch greifen konnten,
keinerlei Augen und auch kein Fell. Den Zähnen nach zu urteilen schien es sich
um eine Art Nager zu handeln, denn die großen, vorstehenden Paare von
Schneidezähnen waren unverkennbar.
Das erstaunlichste an ihnen war aber das Fehlen jeglicher Pigmentierung. Dies
führte nicht etwa dazu, dass die Tiere weiß waren, wie etwa Albinos, nein sie
waren transparent und man konnte ihre inneren Organe gut erkennen, ebenso wie
ihre Skelettstruktur. Eine solche Spezies konnte sich wohl nur in vollkommener
Dunkelheit entwickeln und es wunderte Haku nicht mehr, dass sie unter der
Lichteinwirkung einer einzelnen Glühbirne gestorben waren.
Haku fragte sich, von was sich diese Tiere wohl ernähren mochten. Eine
eingehendere Untersuchung des Verdauungstraktes brachte die Antwort schnell zu
Tage. Er entdeckte in ihrem Inneren schwarze Pünktchen, die nicht zu der
sonstigen Pigmentarmut passen wollten. Sie stellten sich zu Hakus Erstaunen als
Kohlekrümel heraus. Konnte es tatsächlich sein, dass sich diese Tiere von
Steinkohle ernährten?
Auf jeden Fall war diese Frage im Moment zweitrangig. Viel wichtiger war die
Frage, ob die Tiere essbar waren. Zumindest für die Felsanemonen waren sie das,
aber das bedeutete ja noch lange nicht, dass auch die Frösche sie essen
konnten, auch wenn sie mit Vorliebe solche Leckerbissen verspeisten, wie etwa
geröstete Salamander, in Sojasoße eingelegte Gottesanbeterinnen oder gar
frittierte Taranteln.
Die größte Herausforderung aber war: Wie konnten sie genügend dieser Tiere
fangen, um alle davon zu ernähren? Haku fiel dazu nur eine Antwort ein. Sie
mussten die Tiere züchten, sonst würden irgendwann die Tunnel leergejagt sein
und dann würde es erst richtig schlimm werden. Ernährten sich die Tiere aber
von Kohlen, so könnten sie problemlos beliebig viele der Tiere füttern und
züchten.
Den Rest der Nacht setzte Haku sich auf den Boden vor seiner Kiste und wartete
auf den nächsten Tag, um Torooru von seinen Ergebnissen zu berichten.
Es stellte sich heraus, dass die Wesen, die er und Torooru wegen ihrer sechs
Beinchen Käferratten getauft hatte, zwar nicht besonders schmackhaft,
eigentlich schmeckten sie nach gar nichts, aber gut bekömmlich und nahrhaft
waren.
Sie hatten ebenso wie die Felsanemonen die Eigenschaft, sich in Wasser
aufzulösen, so dass man sie problemlos zu einer fade schmeckenden,
dickflüssigen Brühe verarbeiten konnte, indem man eine genügende Anzahl der
Tiere einfach in heißem Wasser auflöste. Zum Entzücken der Froschmänner
konnte man sie aber auch gut über einem Kohlefeuer grillen, wo sie dann etwa
die Konsistenz von Erdnuss Flips erhielten
Glücklicher Weise waren sie auch einfach zu fangen, als Haku nach seinen
Problemen gedacht hatte, denn man brauchte nur einfach herzustellende Fangreusen
mit der Öffnung nach oben aufzustellen, ein wenig frisch gehauene Kohle
hineinzugeben und nach wenigen Stunden hatte man garantiert ein Dutzend Tiere
oder mehr gefangen. Allein in dem Seitentunnel, in dem Haku die ersten
Käferratten gefangen hatte, erbeuteten sie in der ersten Woche über 1000
Tiere.
Das nächste Projekt, nämlich der Aufbau einer Farm für die Käferratten, um
eine dauerhafte und kontinuierliche Versorgung mit Nahrung sicherzustellen,
stellte sich jedoch bedeutend schwieriger heraus. Das Hauptproblem war hierbei
die enorme Lichtempfindlichkeit der Käferratten, die schon unter geringster
Lichteinwirkung verendeten. Die Versorgung der Tiere mit Kohle musste aber von
Personen durchgeführt werden, die hierfür Licht benötigten, denn Haku konnte
ja nicht alles machen.
Das Problem fand seine Lösung, indem man den Käferratten Verschläge baute, in
denen sie sich in Lichtdichte Kammern zurückziehen konnten, wenn sich jemand
mit einer Grubenlampe näherte. Dieser konnte nun die Futtertröge mit frischer
Steinkohle füllen, ohne die Aufzucht der Tiere mit seinem Licht zu gefährden.
Wenn man fertig gemästete Tiere für den Verzehr benötigte, so brauchte man
nur eine Klappe über den lichtdichten Kammern zu öffnen und mit der Lampe
hinein zu leuchten, was dann die Käferratten auf der Stelle tötete, so dass
man sie leicht einsammeln konnte.
Da die Fortpflanzungsrate der Käferratten bei etwa einer Generation alle fünf
Wochen lag, dauerte es nur knapp drei Monate, bis die Käferrattenfarm die
ersten Erträge erbrachte und weitere zwei Monate, bis die mittlerweile 53
Froschmänner ernährt werden konnten.
Bis es so weit war, bekam Haku allerdings besonders viel zu tun, denn bis die
Erträge aus der Käferrattenfarm ausreichend waren und den Nahrungsbedarf
decken konnten, mussten genügend der Tiere in freier "Wildbahn", bzw.
"Tunnelbahn" gefangen werden. Hierzu musste er in viele verlassene Seitentunnel
eindringen, dort die Fallen aufstellen und die möglichen Gefahren sondieren.
Insgesamt wurde Haku bei dieser Aufgabe sechs mal von Felsanemonen erwischt, mit
denen er in seiner Drachengestalt aber relativ problemlos fertig wurde. Weitere
33 Felsanemonen tötete er, indem er ihre Höhlungen mit Wasser voll pumpte, was
sich als wesentlich effizienter herausstellte, als Toroorus Methode der
Ausräucherung.
Nebenher hatte er noch weiterhin seine Aufgabe als Zugdrache für die Loren zu
erfüllen, so dass er am Ende dieser drei Monate völlig mit seinen Kräften am
Ende war und sich zu fragen begann, wann sein Vertrag mit Yubaba denn nun
endlich erfüllt war.
Kapitel 13: Das WM-Endspiel
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Hallo alle zusammen,
hier ist das neue Kapitel, jetzt sogar "betagelesen" durch Magicfantasie. Vielen
Dank Magic ^___^!
Und nochmal vielen Dank für Eure lieben Kommentare.
Und tretet mir ruhig in den Hintern, wenn es nicht vorwärts geht. Vor allem die
Haku Kapitel fallen mir immer so schwer und da brauch ich manchmal 'ne
Aufmunterung. Aber es gibt ja sowieso nur noch ein Haku Kapitel, hehe ^^.
Pazu
PS
Ich hab noch 'n paar Artefakte gefunden, die eigentlich als Anmerkung für Magic
gedacht waren. Die sind jetzt raus.
Das WM-Endspiel
"Chihiro, jetzt beeil dich doch", rief Ayaka aus dem offenen Fenster der Toyota
Previa Großraumlimousine ihres Vaters. "Sonst kommen wir am Ende noch zu spät
zum Bahnhof!" Sie trug heute nicht ihr unvermeidliches japanisches
Nationaltrikot, sondern hatte das blaue Torwarttrikot der deutschen Mannschaft
mit der Nummer "1" und der Aufschrift "Kahn" an. Um die Stirn hatte sie sich ein
Tuch in den Farben Schwarz, Rot und Gold umgebunden.
Im Verlauf des Turniers war sie zu einer glühenden Verehrerin des deutschen
Torhüters mutiert, an dem sie besonders sein gutes Aussehen und seinen
unbändigen Siegeswillen schätzte. Chihiro fand eigentlich eher, dass er böse
guckt *.
*
Auch trug sich Ayaka ernsthaft mit dem Gedanken, von ihrer Position im Sturm
zwischen die Torpfosten zu wechseln, was ihr vom Trainer der
Mädchen-Fußball-Schulmannschaft mühsam immer wieder ausgeredet werden musste.
Der war nämlich froh, endlich eine halbwegs fähige Stürmerin bekommen zu
haben.
"Ja, einen Moment noch", drang Chihiros Stimme aus dem Inneren ihres Hausflures
durch die offene Eingangstüre nach draußen. "Ich hab gleich alles zusammen."
Kurz darauf spazierte sie gut gelaunt aus der Tür, gefolgt von ihrem Vater, der
einen riesigen Rucksack schleppte. Chihiros Mutter hatte leider heute Dienst im
Konbini, der auch sonntags geöffnet hatte, sodass sie ihre Tochter nicht
verabschieden konnte. Während Chihiro hinten einstieg und sich zu Ayaka und
Ichiyo setzte, der auch mitkam, öffnete ihr Vater die Heckklappe und lud den
Rucksack dort ab, bevor er nach vorne ging, um Ayakas Vater, Herrn Satoru
Fukazawa, zu begrüßen.
Im Fond beäugten Ayaka und Ichiyo mittlerweile staunend den Rucksack. "Was hast
du denn da nur wieder alles drinnen?" wollten sie wissen.
"Och das! Das ist mein Reiseproviant. Wollt ihr Kekse?" meinte Chihiro. Sie
griff hinter sich, um den Rucksack aufzufummeln und holte Kekse heraus. Dabei
konnte man erkennen, was alles im Rucksack drin war: Dutzende von eingepackten
Butterbroten, eine vertraute Plastikschüssel, die mit Alufolie abgedeckt und
wahrscheinlich mit Reisbällchen gefüllt war, eine Banane, ein Apfel, zwei
Thermoskannen, eine Flasche mit Sprudelwasser und noch eine Packung mit Bonbons.
Als Ichiyo und Ayaka das sahen, nahmen sie beide artig einen Anstandskeks und
ließen Chihiro den Rest der Packung. Beide beschlossen sie, kein Wort über den
Rucksack zu verlieren.
"OK, ihr drei da hinten, jetzt geht's los", sagte Ayakas Vater Chihiro.
"Schnallt euch an." Damit ließ er den Motor an und fuhr los. "Viel Spaß,
Chihiro, und iss immer fleißig!" brüllte ihr Vater Akio winkend hinter ihnen
her. Durch Zufall fiel Chihiros Blick kurz auf das Nachbarhaus, wo Bunzo finster
brütend aus seinem Fenster sehend ihre Abfahrt beobachtete.
"So, ich mach jetzt mal die Fenster zu", sagte Herr Fukazawa, während er die
entsprechenden Knöpfe betätigte und die Scheiben elektromotorisch hochfuhr.
"Dann kann ich nämlich die Klimaanlage einschalten und uns wird nicht so
warm." Es war etwa halb vier Uhr am Nachmittag und die größte Mittagshitze
hatte gerade ihren Höhepunkt überschritten. Trotzdem war es noch unangenehm
warm und die Sonne knallte auf das Autodach.
"Sagt mal, wisst ihr eigentlich, was Bunzo Abe jetzt macht?" fragte Chihiro ihre
Freunde leise Ihr war flau geworden, als sie kurz in dessen dumpfe Augen
geblickt hatte.
"Meinst du das alte Sackgesicht, das dir damals eine gewatscht hat?", frotzelte
Ayaka. "Nö, keine Ahnung. Interessiert mich auch nicht."
"Den haben sie doch damals fast von der Schule geschmissen", antwortete Ichiyo
ernsthaft, wie immer. "Erst nachdem sich herausgestellt hatte, dass es nicht die
Ohrfeige gewesen war, die dich ins Krankenhaus gebracht hatte, durfte er wieder
zur Schule zurück. Dann haben sie ihn aber in eine andere Klasse gesteckt."
"Aber das weiss ich doch schon alles", warf Chihiro leicht ungeduldig ein. "Nur
was macht er denn jetzt?"
"Entschuldige bitte, Chihiro, dazu wollte ich gerade kommen", fuhr er fort. "Ich
habe gehört, dass er von der ganzen Schule das schlechteste Abschlusszeugnis
hatte und bei keiner privaten Mittelschule die Aufnahmeprüfung bestanden hat.
Er geht jetzt auf die staatliche Mittelschule in Tochinoki."
"Ha, das geschieht ihm ganz recht!" stellte Ayaka schnippisch fest. "Komm, lass
uns von was anderem reden. Wenn ich an den denke, wird mir schlecht ... Sagt
mal, wusstet ihr eigentlich, dass Olli Kahn es mal geschafft hat, 803 Minuten
ohne Gegentor zu bleiben? Und ..."
Chihiro musste an Herrn Abe denken, den sie als stillen und freundlichen
Frührentner kennen gelernt hatte. Dass er mit so einem Sohn gestraft war, tat
ihr Leid, aber sie wusste auch nicht, was sie da tun sollte. Dann musste sie an
die ganze Zeit denken, die sie seit letztem Sommer mit lernen verbracht hatten.
Sie selbst, Ayaka und Ichiyo hatten einander immer wieder gegenseitig abgefragt
und die beiden hatten ihr auch alles gesagt, was sie auf der Juku gelernt
hatten. Weil ihr gemeinsames Lernen dafür verantwortlich ist, dass sie die
Karte für das Endspiel geschenkt bekommen hat.
Chihiro und Ichiyo hatten die beiden höchsten Punktzahlen bei der
Aufnahmeprüfung an der privaten Mittelschule in Nakaoka erhalten, der besten in
größerem Umkreis, aber auch Ayaka hatte es mit Ach und Krach gerade noch
geschafft. Sie wurden jetzt jeden Morgen vom Schulbus abgeholt und in ihren
noch ungewohnten Schuluniformen in das 15 km entfernte Städtchen gefahren.
Ayakas Vater hatte ihr versprochen, dass sie zum WM-Endspiel fahren dürfe,
falls sie die Aufnahmeprüfung schaffen würde. Als Ichiyo davon gehört hatte,
hatte er seine Eltern gefragt, ob er von seinem Ersparten auch ein Ticket für
da Endspiel kaufen könnte. Nach seiner überzeugenden Aufnahmeprüfung hatten
sie es ihm dann zum Geschenk gemacht.
Ayakas Vater hatte aber außer für sich selbst und Ayaka noch ein drittes
Ticket gekauft, nämlich für ihren älteren Bruder Takumi. Der aber hatte
gerade zum zweiten Male die Aufnahmeprüfung für die Universität vermasselt,
weil er lieber auf Partys ging, als zu lernen. So hatte Herr Fukazawa ärgerlich
beschlossen, dass sein Sohn zu Hause bleiben müsse, um zu lernen, und das
Ticket vor dessen Augen Chihiro geschenkt.
Nachdem Chihiro irgendwann erfahren hatte, wie viel das Ticket gekostet hatte,
war es ihr richtig peinlich gewesen, dass sie es in dieser Situation ohne
nachzudenken angenommen hatte. Ayakas Vater hatte dafür nämlich 40.000 ¥ (ca.
370 €) bezahlt. Das waren zwar nur die billigsten Tickets, aber immerhin. Ihre
Eltern hatten dann auch darauf bestanden, die Zugfahrkarte nach Yokohama für
Chihiro zu bezahlen; so schwer es ihnen auch fiel.
Ihr Vater begann jetzt zwar so langsam mit seinem Hausverwaltungsbüro tritt zu
fassen, aber die Gebühren für ihre neue Schule, die Schulbücher und die
Kosten für die Schuluniform hatten ihre Eltern dennoch in so große
Verlegenheit gebracht, sodass sie sogar eine Hypothek auf das Haus hatten
aufnehmen müssen. Zum Glück waren die Zinsen in Japan so niedrig wie noch
nie.
Den Prozess gegen die Krankenkasse um die hohen Ausgaben für Chihiros
chronischen Heißhunger hatten sie zwar in erster Instanz gewonnen, aber die
Krankenkasse war sofort in Revision gegangen und in der zweiten Instanz wurde
nun mit Gutachten und Gegengutachten nur so um sich geworfen.
Nachdenklich schaute Chihiro zum Fenster heraus, während sie nur mit einem
halben Ohr den Schwärmereien Ayakas über diesen deutschen Torhüter lauschte.
Sie hatten gerade das Ortseingangsschild von Nakaoka passiert und würden in
Kürze auf dem Weg zum Bahnhof an ihrer neuen Schule vorbeifahren. Dort wollte
Herr Fukazawa das Auto in einem Parkhaus abstellen und sie würden den Rest der
Reise mit dem Zug zurücklegen.
Vom Bahnhof hier in Nakaoka sollte sie der Regionalzug bis nach Nagoya bringen,
wo sie dann den Tokaido-Sanyo Shinkansen nach Yokohama und Tokyo besteigen
würden. Am Bahnhof Shin-Yokohama würden sie aussteigen, von wo sie nur noch
einen knappen Kilometer bis zum "Yokohama International Sports Stadium" hätten,
wo das WM-Endspiel zwischen Deutschland und Brasilien um 20:00 Uhr abends
stattfinden würde.
Insgesamt dauerte die Reise von der Haustür bis zum Stadion mit allen
Zwischenstopps und Wechseln der Fortbewegungsart gute drei Stunden und die
Rückreise würde noch einmal so viel Zeit in Anspruch nehmen, sodass sie in
den frühen Morgenstunden des folgenden Tages wieder zurückkommen würden.
"Und dann ist Olli Kahn auch insgesamt vier Mal deutscher Meister geworden mit
seinem Verein Bayern München und hat letztes Jahr sogar die
Vereinsweltmeisterschaft gewonnen", quatschte Ayaka ohne Unterlass und voller
Begeisterung für ihr neues Idol.
"Verzeih bitte, Ayaka, aber wir werden Olli Kahn ja bald sehen", meldete sich
mit freundlichem Tonfall Ichiyo zu Wort, "Schau mal, wir sind gleich am Bahnhof
und auf dem Rest der Fahrt können wir ja Karten spielen"
Chihiro kannte Ichiyo mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass diese
Äußerung einem Wutausbruch von ihm schon sehr nahe kam. Es bedeutete ungefähr
Folgendes: "Kannst du dumme Kuh nicht mal 'ne andere Scheibe auflegen? Und den
Rest der Fahrt will ich von dem doofen Kahn nix mehr hören!" Wenn er das so
gesagt hätte, hätte Ayaka ihn bestimmt auch verstanden.
Lange Zeit hatte sie sich darüber gewundert, warum Ichiyo seine Zeit lieber mit
zwei Mädchen verbrachte, als mit den anderen Jungen. Sie hatte sich dann
gesagt, dass er mit den anderen Jungen nicht so gut klar kam, weil er so
schüchtern war und vielleicht weil er dankbar war, dass sie ihn damals vor
Bunzo gerettet hatte. Aber mittlerweile war in ihr ein anderer Verdacht
gekommen.
Indem er sich nämlich an sie ranhängte, konnte er unauffällig auch in der
Nähe Ayakas sein. Sie hatte dann begonnen, ihn ein wenig zu beobachten. Er
bekam immer einen roten Kopf, wenn Ayaka dabei war und häufig, wenn er sich
unbeobachtet glaubte, blickte er diese verträumt an. Ayaka, der alte Trampel,
bemerkte das natürlich nicht und Ichiyo, da war sich Chihiro sicher, würde es
ihr nie sagen.
So musste er jetzt da sitzen und zuhören, wie Ayaka von einem erwachsenen Mann
offen schwärmte, den sie nicht mal kannte. Kein Wunder, dass er da ungehalten
wurde. Und was war mit ihr selber? Chihiro schaute an sich hinunter und dann zu
Ayaka. Bei der konnte man unübersehbare Anzeichen ausmachen, dass sie mitten in
der Pubertät steckte und Ichiyo entwickelte mitunter den einen oder anderen
Pickel und der Stimmbruch hatte auch schon eingesetzt.
Doch bei selbst ihr tat sich da noch gar nichts und würde sich auch in
absehbarer Zeit nichts tun. Dr. Ito hatte sie darauf vorbereitet, dass es
aufgrund ihres Untergewichts zu einer stark verzögerten Entwicklung kommen
würde und vor dem 15. oder 16. Lebensjahr bei ihr nichts passieren würde.
Chihiro war es in ihrer alten Klasse auf der Grundschule gar nicht so
aufgefallen, aber als sie das erste Mal auf ihrer neuen Schule in die neue
Klasse gekommen war, hatten die anderen Schüler sie ausgelacht und wegschicken
wollen.
Sie hatten gesagt, dass eine Drittklässlerin nichts auf einer Mittelschule zu
suchen hätte, obwohl sie doch ihre nagelneue Schuluniform getragen hatte. Ayaka
hatte sie dann energisch verteidigt und nach und nach hatten die anderen
Schüler sie auch akzeptiert. Dennoch konnte sie die anderen Schüler verstehen,
denn sie war, wie im Jahr zuvor, gerade mal um einen Zentimeter auf 1,22 Meter
gewachsen und hatte nicht ein Gramm zugenommen.
Ayaka mit ihren jetzt fast 1,50 Metern und ihrer athletischen Fußballerstatur
wog mittlerweile mehr als das Doppelte von Chihiro, die sich mit ihren dünnen
Beinchen und Ärmchen neben ihrer Freundin so winzig ausnahm, dass niemand
glaube mochte, dass sie beide gleich alt waren und in die gleiche Klasse
gingen.
Jedenfalls wurden Chihiro, mit ihren absonderlichen Essgewohnheiten, die selbst
im Unterricht essen durfte, und Ichiyo mit seiner selbst für japanische
Verhältnisse übertriebenen Zurückhaltung und Höflichkeit, schnell zu
Außenseitern abgestempelt. Dahingegen ließ Ayakas offene und manchmal etwas
gedankenlose Art, sie schnell überall Anschluss finden.
So sorgte dann ihre selbstverständliche und bedingungslose Freundschaft
ausgerechnet zu Chihiro und Ichiyo für einige Irritation unter den anderen
Schülern. Aber bereits nach kurzer Zeit tat man dies achselzuckend ab und so
wurden die beiden dank Ayaka auch problemlos in die Klassengemeinschaft
integriert.
In diesem Moment bogen sie in das Parkhaus ein. Chihiro wollte sich schon
umdrehen und die Keksschachtel zurück in ihren Rucksack tun, als sie bemerkte,
dass sie, während sie nachdachte, die Kekse aufgemampft hatte.
Zwanzig Minuten später hatten sie in dem halb leeren Zug ein Abteil okkupiert,
Chihiro hatte einen Stapel Butterbrote neben ihrer Thermoskanne mit grünem Tee
auf dem Klapptisch vor sich aufgeschichtet und Ichiyo mischte bereits die Karten
für eine Partie Poker, bei der auch Herr Fukazawa begeistert mitmachte.
Der Shinkansen erwies sich leider als vollkommen ausverkauft und da sie keine
nebeneinander liegenden Sitze in einem der Großraumwaggons hatten, mussten sie
das Kartenspiel einstellen. Das heißt, bis Ayaka die übrigen Zugpassagiere so
weit genervt hatte, dass sie durch Platztausch alle wieder zusammensaßen.
Dies hatte allerdings so lange gedauert, dass Chihiro rechts durch das
Panoramafenster des Waggons bereits den charakteristischen Landmark Tower *
sehen konnte, während sich im linken Panoramafenster die gewohnte, aber immer
wieder beeindruckende Kulisse des Fujiyama bereits nach hinten verabschiedete.
In Kürze würden sie also in Yokohama einlaufen.
* http://www.jinjapan.org/atlas/architecture/arc10.html
Die Orientierung am Bahnhof in Yokohama fiel nicht schwer. Eine gute Stunde vor
Spielbeginn brauchten sie sich nur an den Menschenmassen zu orientieren, die in
Richtung Stadion strömten. Nach einigen Problemen, in das Stadion zu gelangen,
wegen des Rucksacks voller Essen, was nicht sehr gerne gesehen war, hatten sie
endlich ihre vier Plätze nahe unterhalb des Stadiondaches eingenommen und
harrten der Dinge, die da kommen sollten *.
* ?
Der Anstoß sollte um Punkt 20:00 Uhr stattfinden. Vorher würden noch einige
Reden gehalten werden und das auflockernde Vorprogramm hatte bereits begonnen.
Nach Ende des Spiels würde die Siegerehrung stattfinden, gefolgt von der
Abschlussveranstaltung und der Übergabe des Staffelstabes an den Ausrichter der
nächsten WM im Jahre 2006: Deutschland.
Hierzu waren viele ungemein wichtige Leute im Stadion anwesend, wie etwa das
Kaiserpaar, Kaiser Akihito und Kaiserin Michiko, der Ministerpräsident Koizumi,
König Hussein von Jordanien, der südkoreanische Präsident Kim Dae-Jung, sowie
der deutsche Kanzler Shloedel, der deutsche Präsident Lau und der deutsche
Kaiser Beckenbauel. *
* Natürlich meine ich Kanzler Schröder und Bundespräsident Rau, aber da die
Japaner R und L nur schwer unterscheiden können, hat Chihiro den
Stadionsprecher eben so verstanden.
Wozu die Deutschen wohl einen Kanzler, einen Präsidenten und einen Kaiser
brauchten? Man konnte es ja auch übertreiben.
Der Stadionsprecher gab Erklärungen darüber, welche sonstigen Prominenten noch
alles zu Gast im Stadion seien, wie die Mannschaften ins Endspiel gekommen waren
und versuchte sogar das Abseits zu erläutern. Chihiro glaubte jedoch nicht,
dass irgendjemand diese Erklärung verstanden hatte und erinnerte sich an die
endlosen Versuche Ayakas, ihr dieses Phänomen zu erklären, bis sie es
schließlich selber kapiert hatte.
Nach etwa einer weiteren halben Stunde erschienen die ersten Spieler auf dem
Platz, um sich warmzulaufen und um die Atmosphäre in sich aufzunehmen, wie
Ayaka fachmännisch erklärte.
Herr Fukazawa hatte mittlerweile feierlich aus einem kleinen Alukoffer sein
neues Fernglas hervorgeholt. Ein Fernglas mit elektronischer Entwackelung, wie
er stolz erklärte, ein Canon 15x50 IS AW *. Als Chihiro das Fernglas
ausprobieren durfte, fand sie, dass es viel zu schwer war; sie konnte es kaum
halten.
* http://www.canonbinocular.com/18x50is/index.html
Die Entwackelung aber funktionierte sehr gut. Man musste nur einen Knopf an der
Oberseite drücken und im Inneren lief kaum hörbar eine Kreiselstabilisierung
hoch, die das Wackeln der Hände ausglich, sodass man ruhig und entspannt
beobachten konnte.
Kurz darauf nahm die Veranstaltung ihren Lauf, die Kanzler, Präsidenten,
Könige und Kaiser richteten bedeutsame Worte an die zuschauende
Weltöffentlichkeit und die Mannschaften betraten das Spielfeld. Hiernach kam es
zur Vorstellung derselben, mit allen Spielern, den Trainern und zuletzt den
Schiedsrichter. Der Hauptschiedsrichter stellte sich als ein Glatzkopf aus
Italien heraus, dessen Aussehen Chihiro an einen Totenschädel erinnerte.
Er begrüßte jeden der Spieler persönlich mit Handschlag, bevor sich die
beiden Mannschaften rechts und links von der Mittellinie in einer Linie
aufstellten, die Schiedsrichter in der Mitte. Dann standen alle auf und die
Nationalhymnen erklangen.
Damit sie überhaupt noch etwas sehen konnte, stellte Chihiro sich einfach auf
ihren Sitz, von wo aus sie etwas gelangweilt zu den Spielern herunterblickte,
die tapfer mitzusingen schienen. Wann ging es denn nun endlich los?
Da stutzte sie plötzlich. Da war doch was, irgendeine Bewegung direkt vor den
Spielern. Sie blickte sich um, aber niemand schien etwas zu bemerken. Dann rieb
sie sich die Augen und schaute noch einmal genauer hin. Es war ein Mann,
halbtransparent und seltsam unscharf, ein Mann in einer merkwürdigen Tracht,
der ebenso merkwürdige Gesten vor jedem einzelnen der Spieler ausführte.
Unwillkürlich hatte Chihiro den Eindruck, dass der Mann diese irgendwie zu
segnen schien.
"Ayaka, könntest du mir mal das Fernglas geben?" fragte sie ihre Freundin. Die
machte eindringlich "Schschschscht!", drückte ihr aber das optische Wunderwerk
ansonsten kommentarlos in die Hand. Mit fünfzehnfacher Vergrößerung und
elektronischer Entwackelung rückte Chihiro dem Unbekannten nun zu Leibe.
Doch da war nichts, überhaupt nichts zu sehen. Sie sah noch einmal ohne
Fernglas hin. Da war er wieder, klarer als zuvor. Je mehr und länger sie sich
auf die Gestalt konzentrierte, um so realer schien sie zu werden, bis Chihiro
genau erkennen konnte, dass der Mann eine alte Hoftracht aus der Heian-Zeit trug
und in der rechten Hand eine Art weißen Ball hielt, mit dem er kreisende
Bewegungen bei jedem Spieler ausführte.
Noch einmal versuchte sie ihn durch das Fernglas genauer zu erkennen, aber
sobald sie durch die teure Optik blickte, war der Mann einfach verschwunden.
Mittlerweile hatte der Mann den Brasilianer Ronaldo erreicht, den einzigen
Spieler, den Chihiro neben Olli Kahn noch kannte und das auch nur, weil dieser
vor dem Torwart Ayakas großes Idol als Stürmer gewesen und in vielfacher
Ausfertigung an den Wänden ihres Zimmers zu bewundern war. Angestrengt
versuchte sie Genaueres zu erkennen und konzentrierte sich verzweifelt auf die
immer noch schemenhafte Gestalt.
Doch plötzlich war es, als würde sie mit dem Scharfstellrad des Fernglases in
den Fokus rutschen, und sie konnte den Mann genauso gut erkennen, wie die
Spieler, vor denen er stand. Im gleichen Moment zuckte dieser zusammen, als
hätte ihn eine Biene in den Nacken gestochen. Er begann sich ein wenig verwirrt
umzuschauen, während er gleichzeitig Ronaldo weiterhin "segnete".
Chihiro Herz begann ihr bis zum Hals hinauf zu schlagen. Was, wenn er mich
entdeckt, dachte sie erschrocken und im selben Moment war es auch soweit. Ihre
Blicke trafen sich für einen kurzen und doch unendlich langen Augenblick. Dann
begann er langsam, aber herzlich zu lächeln, zwinkerte verschmitzt mit den
Augen und winkte ihr freundlich mit der freien linken Hand zu.
Während dieser ganzen Zeit führte er unaufhörlich seine kreisenden Bewegungen
mit der rechten Hand, in der er immer noch den Ball hielt, vor und über Ronaldo
fort, der langsam immer selbstsicherer wirkte. Als der Mann sich Ronaldo wieder
zuwandte, führte er seine Handlung dann noch kurz fort, bevor er diese mit
offensichtlichem Erschrecken abrupt beendete, einen Schritt zur Seite machte und
mit dem "Segnen" bei dem nächsten Spieler fortfuhr, als wäre nichts
geschehen.
Zur Sicherheit wuchtete Chihiro das optomechanische Präzisionsinstrument noch
einmal an ihre Augen, aber ebenso wie der Mann auf der Großbild-Videoleinwand
von den Fernsehkameras nicht gezeigt wurde, war er auch beim Blick durch das
Fernglas einfach nicht vorhanden.
Verstohlen blickte sie sich noch einmal um. Wenn die anderen jemanden unten bei
den Spielern sehen könnten, der auf der Videoprojektion nicht zu sehen ist,
hätte das sicherlich doch für einen Tumult gesorgt.
Da aber niemand reagierte, musste Chihiro davon ausgehen, dass die anderen den
Mann nicht sehen konnten. Sie hatte in der letzten Zeit ja einige wirklich
merkwürdige Erfahrungen gemacht, sodass sie sich nicht wirklich wunderte oder
an ihrem Verstand zu zweifeln begann. Vielmehr war sie eher neugierig Sie wollte
wissen, wer das da unten war, und was er dort tat.
Mittlerweile hatte der Mann in der mittelalterlichen Hoftracht den letzten
Spieler in der Reihe abgefertigt und die Nationalhymnen waren verklungen. Der
glatzköpfige Schiedsrichter Collina hatte die beiden Mannschaftskapitäne,
einen gewissen Cafu für Brasilien und natürlich Olli Kahn für Deutschland zu
sich geholt, um mit einem Münzwurf darüber zu entscheiden, wer den Anstoß
ausführen durfte, wie der Stadionsprecher erklärte.
Das interessierte Chihiro im Moment jedoch nur peripher. Immer noch auf ihrem
Sitz stehend, während alle um sie herum bereits Platz genommen hatten,
beobachtete sie, wie der Mann würdevoll zum Spielfeldrand in Richtung des
Stadiontors schritt, alldieweil die Spieler sich auf dem Rasen verteilten. Laute
Sprechchöre feuerten entweder die Deutschen oder die Brasilianer an und es
herrschte ein fast ohrenbetäubender Lärm.
Chihiro wollte jetzt unbedingt wissen, was das für eine Figur war, die sich da
vor aller Augen und trotzdem unsichtbar an den Spielern zu schaffen gemacht
hatte. Wortlos stieg sie vom Sitz herunter und drückte Ayaka das Fernglas in
die Hand, um sich dann an den sitzenden Zuschauern vorbei in Richtung Ausgang zu
quetschen.
"Chihiro, wo willst du denn hin?" brüllte Ayaka ihr verblüfft hinterher, als
sie Chihiros Abgang bemerkte. "Du kannst doch jetzt nicht gehen. Das Spiel
fängt doch an!"
"O, äh, ich äh, ich muss nur mal kurz austreten", brüllte Chihiro zurück,
indem sie die Hände zu einem Trichter vor dem Mund formte. Dann setzte sie
ihren Weg fort und hatte kurz darauf den vollständig verwaisten Aufgang
erreicht.
Hastig rannte sie die Treppe hinunter, um den Mann, der bald in den Katakomben
des Stadions angelangt sein musste, noch abzufangen. Es ging aber leider nicht
so schnell, wie sie sich gedacht hatte, weil sie an jedem zweiten Treppenabsatz
vor Schwäche eine kurze Pause einlegen musste. Nicht etwa, dass sie außer Atem
geraten wäre. Immer öfter in letzter Zeit wünschte sie sich, dass sie sich
überhaupt so stark anstrengen könnte, um außer Puste zu kommen oder sogar ins
Schwitzen zu geraten.
Aber es ging einfach nicht, denn immer schon lange bevor es soweit war, ging ihr
einfach die Kraft aus, als ob sie jemand aus ihrem Körper heraussaugen würde.
Und jetzt hinderte es sie daran, so schnell wie möglich nach unten in die
Katakomben zu eilen.
Endlich unten angelangt, musste sie leider feststellen, dass die entscheidenden
Bereiche der Katakomben und insbesondere der Zugang zum Spielfeld mit Barrieren
abgesperrt waren, die von Sicherheitsleuten und der Polizei bewacht wurden.
Man scheuchte sie nicht weg, denn welche Gefahr sollte ein kleines Mädchen
schon darstellen, sondern ignorierte ihre Anwesenheit einfach. Da musste man
doch irgendwie vorbei kommen, überlegte Chihiro leicht genervt. Sie zog sich
etwas zurück, um die Angelegenheit ein wenig aus der Ferne zu beobachten.
Um die Absperrung herum gab es ordentlichen Betrieb. Fernsehteams passierten die
Barriere, nicht ohne gründlich kontrolliert worden zu sein, an einer Seite
saßen offensichtlich Journalisten auf dem Boden, die hektisch die Tastaturen
ihrer Laptops bearbeiteten und einmal versuchte eine Person ohne Ausweis an der
Absperrung vorbei auf das Spielfeld zu gelangen.
Doch Chihiro musste nicht lange warten, denn schon erschien der Mann in seiner
mittelalterlichen Tracht, ging würdevoll zwischen den Wachmännern und
Polizisten hindurch, als wären diese nicht vorhanden und schritt einfach durch
die Absperrung hindurch, als wäre diese immateriell. Offenbar ohne dass jemand
außer Chihiro ihn wahrnahm, wandelte er majestätisch den Hauptkorridor der
Katakomben entlang, vorbei an ihrer Position, wo sie so tat, als würde sie den
Mann ebenfalls nicht sehen.
Plötzlich bog er nach rechts ab und marschierte zielstrebig auf eine Seitentür
zu, während im Stadion die Menge tobte. Er sah kurz nach rechts und links, als
befürchtete er, dass ihn jemand beobachtete, bevor er dann die Türklinke
herunterdrückte und energisch durch die Tür hindurchtrat.
Kaum war er hinter der Tür verschwunden, eilte Chihiro hinter ihm her. Vor der
Tür angelangt zögerte sie noch kurz. Vielleicht war es ja gefährlich, den
Mann zu verfolgen und sie wusste auch nicht, was sich hinter der Tür verbarg.
Vorsichtshalber überprüfte sie deshalb noch einmal den korrekten Sitz ihres
violetten Haarbandes. Doch es war da, wo es sein sollte, hielt ihren Zopf
zusammen und gab ihr die notwendige Sicherheit und Zuversicht.
Vorsichtig drückte sie die Türklinke ebenfalls herunter, schob die schwere
Feuerschutztür einen Spalt auf, durch den sie linste. Hinter der Tür befand
sich ein weiteres, von Leuchtstoffröhren erhelltes Treppenhaus, welches tiefer
hinein in die Eingeweide des Sporttempels führte.
Gut fünf Meter ging es noch in die Tiefe, bevor Chihiro den Grund erreichte, wo
sich eine weitere Tür gegenüber des Treppenabsatzes befand, die der
geheimnisvolle Mann passiert haben musste, denn ansonsten gab es keinen weiteren
Weg.
Hinter dieser Tür war deutlich das Summen von Maschinen zu hören, während die
Geräusche der Menschenmasse über ihr nur noch stark gedämpft herunterdrangen.
Es roch deutlich nach feuchtem, unbehandeltem Beton, überlagert von einem
leichten chemischen Geruch.
Chihiro konnte sich nicht entscheiden, ob sie weitergehen oder ob sie besser
umkehren sollte. Angst und Neugier hielten sich im Moment in etwa die Waage.
Dann gewann die Neugier und sie öffnete die Tür.
Die Maschinengeräusche, die vorher nur schwach zu hören gewesen waren, wurden
mit einem Mal lauter. Sie trat durch die Tür hindurch und fand sich in einem
kahlen und funktionellen Gang wieder, der sich nach rechts und links endlos zu
erstrecken zu schien. Unter seiner Decke verliefen dick gedämmte Rohre und an
den Wänden waren offene Kabelführungen angebracht. Der Gang war leicht
gekrümmt und schien unterirdisch einmal rings um das Stadion zu führen.
Mit gemischten Gefühlen trat Chihiro in den Gang hinaus und überlegte, in
welche Richtung der Mann wohl gegangen sein mochte. Wenn der Gang aber
tatsächlich einmal rings um das Stadion führte, mochte es ja auch egal sein,
welche Richtung sie einschlug. Letztendlich würde sie ebenfalls Fall dort
vorbei kommen, wo der Mann entlang gegangen sein musste.
Ihrer Intuition folgend, wandte sie sich nach links und begann, dem Gang zu
folgen. Nach vielleicht 100 m stieß sie auf eine Abzweigung nach rechts, einen
weiteren Gang, der genau so aussah, wie der Hauptgang, und dessen Ende sich in
der Ferne verlor. Sie wollte schon daran vorbei gehen, als sie stutzte. Neben
dem Seitengang, an der Wand des Hauptganges, war eine kleine Zeichnung
angebracht, die sie erschauern ließ.
Es war die Zeichnung eines grinsenden Steinkopfes, genau eines solchen
Steinkopfes, wie er auch bei ihr im Wald vor dem Tunnel durch das rote Gebäude
stand. Mit heftig pochendem Herzen trat sie einen Schritt näher, um die
Zeichnung genauer in Augenschein zu nehmen.
"Hallo, kleines Mädchen", hörte Chihiro plötzlich eine sanfte, freundliche
Stimme hinter sich. "Du interessierst dich wohl sehr für Fußball, oder?"
Erschrocken wirbelte Chihiro herum. Der Mann stand nur etwa einen Meter von ihr
entfernt und sie konnte sich überhaupt nicht erklären, wo er auf einmal
hergekommen war, denn beide Gänge waren eben noch leer gewesen. Das erinnerte
sie ganz stark an die Art, wie Manami manchmal auftauchte, wenn sie am See im
Wald zum Baden waren.
Im Licht der Leuchtstoffröhren konnte sie jetzt die ganze Pracht des
golddurchwirkten Seidenstoffes erkennen.
Der Mann hatte ein freundliches, offenes Gesicht und der Schalk blitzte ihm aus
den Augen. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen Eboshi und seine Hände hatte er
in den weiten Ärmeln seines Gewandes verborgen. Doch obwohl sie jetzt direkt
vor dem Mann stand, konnte Chihiro überhaupt nicht abschätzen, wie alt der
Mann überhaupt war. Genau wie bei Manami.
Weil sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte, verbeugte sie sich vor
dem Mann und sagte: "Guten Abend."
"O, ja äh, so viel Zeit muss sein. Du bist ja die kleine Sen, nicht wahr? Kein
Wunder, dass du mich gesehen hast. Guten Abend, Sen", gab er zurück und
verbeugte sich ebenfalls. "Entschuldige, ich habe es ein wenig eilig, sonst
würde ich mich noch ein wenig mit dir unterhalten. Ach, mein Name ist übrigens
Seidaimyojin. So, jetzt muss ich aber wirklich weg, damit ich rechtzeitig zur
zweiten Halbzeit wieder hier bin."
Er wühlte ein wenig in seinen weiten Ärmeln, wobei der feine Seidenstoff leise
raschelte, und holte dann den weißen Ball hervor, mit dem er vorhin vor den
Spielern herumgefuchtelt hatte. "Hier, den schenke ich dir. Jetzt geh wieder
brav nach oben und schau dir das Spiel an, ja? Auf Wiedersehen, Sen", sagte er,
drückte Chihiro den Ball in die Hände und rauschte in den Seitengang, wobei er
murmelte: "Ich hoffe doch nur, ich habe bei Ronaldo nicht zu viel ..."
Dann war er verschwunden, einfach weg. Chihiro blickte vorsichtig in den
Seitengang hinein, aber der sah genau so aus wie zuvor.
Neugierig nahm sie dann ihr Geschenk in Augenschein. Der Ball bestand aus feinem
weichem Leder, das angenehm duftete, hatte einen Durchmesser von vielleicht 25
cm und war federleicht. Chihiro hatte den starken Eindruck, dass der Ball
ziemlich wertvoll war.
So etwas Wertvolles konnte sie doch nicht einfach so annehmen und außerdem, was
sollte sie den anderen erzählen, woher sie den Ball auf einmal hatte? Den
konnte sie auf gar keinen Fall behalten.
Diesem Impuls folgend, betrat Chihiro den Seitengang, wo sofort ein nur allzu
vertrauter Sog einsetzte. Das entfernte Ende des Ganges schien zu verschwimmen
und machte einem vertrauten Umriss mit runder Gewölbedecke platz.
Schlagartig wurde ihr klar, was das hier sein musste. Es war ein ebensolcher
Durchgang, wie der Tunnel im Wald und wenn sie hindurchging, würde sie bestimmt
in dem Wartesaal landen. Dorthin musste dieser Seidaimyojin verschwunden sein!
Sich einen Ruck gebend, marschierte Chihiro in den Gang hinein. Wie erwartet und
ohne sich irgendwie zu wundern, kam sie in dem verlassenen Wartesaal heraus.
Seidaimyojin war jedoch nicht hier! Draußen vor dem Ausgang herrschte eine
goldene Abendstimmung und sie schaute sich noch außerhalb vor und hinter dem
Gebäude um, aber dieser Seidaimyojin war nirgendwo zu sehen.
Sanft strich der Wind über die grasbewachsenen Hügel, trug einen leichten,
würzigen Duft nach Blumen und feuchtem Gras mit sich und die tief stehende
Abendsonne tauchte die Landschaft in ein märchenhaftes Licht. Leise war in der
Ferne das Rattern eines fahrenden Zuges zu hören. Einige Minuten ließ Chihiro
diese Eindrücke auf sich wirken, während sie überlegte, was sie nun tun
sollte.
Sie hatte im Moment eigentlich noch keine Lust wieder ins Stadion
zurückzukehren, zurück in dieses Getöse um ein Spiel, das sie nicht wirklich
interessierte. Viel spannender fand sie derzeit die Frage, ob sie jetzt von hier
aus zu sich nach Hause oder noch besser zum See gelangen konnte. Dann wäre sie
ja innerhalb nur weniger Minuten von Yokohama in die Nähe ihres Zuhauses
gelangt. Eine Strecke, für die man mit Auto und Zug über drei Stunden
brauchte.
Den weißen Ball unter den Arm geklemmt ging sie zurück zum mittleren Tunnel,
dachte intensiv an den See, ging in das Tor hinein und hindurch.
"Hallo Chihiro", begrüßte sie Manami, die es irgendwie schaffte, sich im
Schneidersitz oben auf dem Grinsestein zu halten. "Was machst du denn hier?
Wolltest du nicht nach Yokohama fahren, zu diesem Fußballdings?" Offenbar hatte
sie gerade versucht, da oben auf dem Stein zu meditieren.
"Hallo Manami", sagte Chihiro leicht verlegen, denn eigentlich mochte sie Manami
nicht anlügen. Doch sollte sie ihr jetzt die Wahrheit sagen? Jedes Mal, wenn
sie, Ayaka und Ichiyo im vergangenen Jahr an den See zum Baden gekommen war, war
Manami über kurz oder lang zu ihnen gestoßen, hatte ihnen Geschichten
erzählt, mit ihnen gespielt oder sich einfach nur mit ihnen unterhalten.
Am Anfang war sie immer einfach aufgetaucht, wie aus dem Nichts. Ayaka und
Ichiyo hatte das immer stark irritiert, weshalb sie der Frau gegenüber
zurückhaltend und misstrauisch geblieben waren, wohingegen Chihiro Manami
gleich gemocht hatte. Aber nach einer Weile hatte sie begonnen, von irgendwo her
zu ihnen zu kommen, aus dem Wald, aus dem Schilf am Seeufer oder um den See
herum geschlendert.
Nach und nach begannen ihre Freunde dann ebenfalls Zutrauen zu Manami zu fassen.
Erst gestern noch waren sie am See gewesen, hatten Manami alles über das
WM-Finale erzählt und Ayaka hatte sie mit einer Komplettbiografie von Olli Kahn
zugetextet. Diese hatte ihr geduldig zugehört und nicht das geringste Anzeichen
von Ungeduld oder Desinteresse gezeigt.
"Chihiro, du kannst mir ruhig die Wahrheit sagen", munterte Manami das zögernde
Mädchen auf. "Ich habe bemerkt, dass du nicht von der anderen Seite aus dem
Wald gekommen bist. Du hast das Tor benutzt, das Tor zu der anderen Welt, der
Welt der Götter und Geister, nicht wahr?"
Chihiro fühlte sich ertappt und hauchte mit gesenktem Blick ein: "Ja, Manami."
"Na komm, ist ja nicht schlimm", beruhigte Manami sie und sprang gewandt von dem
Stein herunter. "Möchtest du mal sehen, wo ich wohne? Komm, ich zeig's dir."
Sie kam zu Chihiro, nahm sie an der Hand und zog sie den Weg entlang in Richtung
des Sees.
"Du, Manami, sag mal, kennst du einen Herrn Seidaimyojin?" fragte Chihiro, ihr
erwartungsfroh folgend. Sie wollte immer schon wissen, wo Manami eigentlich
wohnte, denn außer dem roten Gebäude gab es in der Nähe des Sees kein
weiteres Haus.
Manami hielt inne und blickte Chihiro verwundert an. "Zeig mir doch mal den Ball
her", bat sie dann nach einer kurzen Denkpause, "Bitte Chihiro"
Diese tat Manami den Gefallen und Manami untersuchte den Ball eingehend. "Wow,
der ist ja tatsächlich echt!" staunte sie und fuhr dann fort: "Da bist du dem
alten Narren tatsächlich begegnet. Den hat er dir geschenkt, ja? Aber es war ja
eigentlich damit zu rechnen, dass er in Yokohama bei diesem Fußballdings sein
würde"
"Sooo alt schien er aber gar nicht zu sein", entgegnete Chihiro und da Manami
ihn tatsächlich zu kennen schien, bohrte sie weiter: "Ja, aber wer ist denn nun
dieser Herr Seidaimyojin, Manami?"
"Hat man euch das in der Schule denn nicht erzählt?" meinte diese daraufhin,
"Seidaimyojin ist der Gott des Sports, insbesondere des Fußballs. Ich wette, er
hat mal wieder die Spieler heimlich mit einem Aufputschzauber behandelt, damit
es ein besseres, flotteres Spiel gibt, der Quatschkopp. Ach, und das hier ist
ein Kemari Ball, einer uralten japanischen Form des Fußballs. Er ist aus feinem
weißem Hirschleder gemacht" * Sie gab Chihiro den Ball zurück, die ihn mit
weit aufgerissenen Augen wieder entgegen nahm.
* )
http://ww2.enjoy.ne.jp/~tia/en/vol32/culture.htm
"Komm, ich zeig dir jetzt mein Haus und dort können wir uns ja in aller Ruhe
weiter unterhalten", forderte Manami sie wieder auf und ging weiter zum See hin.
"Ich wollte dir sowieso mal ein paar Fragen stellen, ohne dass deine beiden
Freunde dabei sind."
Chihiro trottete leicht verwirrt hinter ihr her. Am Seeufer angelangt, sagte
Manami: "So, jetzt sind wir fast da. Am besten ist, wenn du deine Schuhe und
Socken ausziehst. Barfuß geht es sich einfach besser!"
Jetzt war Chihiro endgültig perplex. Wo sollte denn hier ein Haus sein und
warum sollte sie ihre Schuhe ausziehen? Trotzdem tat sie, was Manami wollte,
denn sie vertraute ihr und wusste nicht, was sie sonst hätte tun sollen. Manami
nahm sie wieder an der Hand, als Chihiro ihre Schuhe, in die sie die Socken
gestopft hatte, zusammengebunden um den Hals gehängt hatte. Dann tat Manami
etwas, was Chihiro endgültig an ihrem Verstand zweifeln ließ: Sie ging in den
See hinein.
Da sie Chihiro an der Hand gepackt hatte, musste diese hinterher, ob sie nun
wollte oder nicht. Nach ein paar Metern schaute sie irritiert nach unten, denn
merkwürdigerweise wurden ihre Füße gar nicht nass. Dann stellte sie erstaunt
fest, dass sie und Manami auf dem Wasser zu gehen schienen, welches sich kühl,
trocken und leicht gummiartig federnd anfühlte. Bei jedem Schritt breiteten
sich ringförmige Wellen aus.
Abrupt blieb sie stehen. Das war jetzt einfach zu viel. "Manami? Duhu, wir gehen
auf dem Wasser?" vergewisserte sie sich. Manami grinste sie an: "Genau! Ist
nicht mehr weit. Komm weiter!"
Mehr von Manami gezogen, als dass sie von alleine ging, bewegten sie sich immer
weiter auf den See hinaus. Als sie mehrere hundert Meter vom Ufer entfernt fast
in der Mitte des Sees angelangt waren, blieb Manami endlich stehen. "So, jetzt
sind wir da", verkündete sie freudestrahlend und Chihiro entgegnete unsicher,
nachdem sie sich umgeschaut hatte: "Ja aber, hier ist doch nichts."
Nachdenklich blickte Manami zu ihrer kleinen Freundin hinab, ließ sie nach
kurzem Zögern los und ging noch einen weiteren Schritt nach vorne. Dort machte
sie eine weit ausholende Geste mit beiden Armen und es war, als würde die Luft
vor ihnen kurz wabern. Dann schien eine Art billige Überblendung wie aus einem
zweitklassigen Fernseh-Science-Fiction stattzufinden und innerhalb weniger
Sekunden erschien Manamis Domizil vor ihren Augen.
Auf einer etwa 30 cm erhöhten und vielleicht 20 x 20 Meter großen Plattform
war ein klassischer Tempelbau erschienen, ein kleiner Schrein mit einem
übergroßen, prächtigen, pagodenförmigen Dach. Das an sich wäre ja nicht
weiter erstaunlich gewesen, wenn man einmal von dem Standort des Gebäudes in
der Mitte eines Sees absah. Das Material jedoch, aus dem der Schrein bestand,
stürzte Chihiro erneut in größte Verwirrung.
Er bestand nicht etwa aus Holz oder Stein oder Eisen oder sonst irgendeinem
festen Material. Der gesamte Schrein war weitestgehend durchsichtig und bestand
offenbar vollständig aus Wasser!
Wie selbstverständlich betrat Manami die Plattform und ging einige wenige
Schritte in Richtung der Eingangstür, wo sie sich umdrehte, die Arme
ausbreitete und Chihiro glücklich anlächelte. "Das hier ist mein Zuhause",
frohlockte sie. "Ist es nicht wunderschön? Wenn du heraufkommst, zeige ich dir
auch gerne das Innere."
Unsicher eierte Chihiro näher und stellte vorsichtig einen Fuß auf die
Plattform, die völlig real und solide zu sein schien. Sie stieg herauf, ging
ein paar Schritte in Manamis Richtung und beobachtete dabei, wie kleine Wellen
die nachempfundene Holzmaserung durchliefen. Am Eingang zum Inneren des Schreins
angelangt, durch den Manami nun mit einer einladenden Geste zu Chihiro
hindurchtrat, hielt sie kurz inne und glotzte wie blöd auf den rechten
Türpfosten.
Dort schwamm in Zeitlupe und aller Seelenruhe ein Fisch mit gelangweilter Mine,
ein etwa 30 cm großer Karpfen, wenn sie in der Schule richtig aufgepasst hatte,
senkrecht nach oben in Richtung des Daches, fleißig Wasser durch seine Kiemen
pumpend.
Unwillkürlich berührte Chihiro den Türpfosten auf Höhe des Karpfens, um zu
überprüfen, ob der Fisch auch echt und nicht eingebildet war. Der Pfosten, der
zunächst fest war, gab dann mit einem Mal nach und Chihiros Hand glitt in den
Pfosten hinein, der nun so nass war, wie Wasser sein sollte. Dort patschte sie
mit ihrer Hand gegen den Karpfen, der daraufhin erschrocken nach oben jagte und
blitzschnell außer Reichweite schoss.
Fünf Minuten später hatte Chihiro im Hauptraum des Tempels im Schneidersitz
auf etwas Platz genommen, das aus Wasser bestand, sich aber wie eine
Tatami-Matte anfühlte, trocken und weich. Manami servierte ihr aus einer
wässernen Kanne heißen grünen Tee, den Chihiro aus einer ebenfalls wässernen
Tasse trank.
Irgendwo über ihrem Kopf schwamm ein Karpfen herum und im Moment tummelten sich
einige Kaulquappen in der Platte des niedrigen Tisches, an dem sie saßen.
Chihiro hatte den Ball aus weißem Hirschleder auf den Tisch gelegt, und
beobachtete nun, wie er langsam auf der Tischplatte schwimmend hin und her
trieb.
Von draußen drang das warme Licht der tief stehenden Sonne, die allzu bald im
Wald versinken würde, durch die angrenzende Wand herein, und erzeugte eine
Stimmung, als wären sie auf dem Grund eines Schwimmbeckens. Aber Chihiro war
das jetzt alles egal. Sie war einfach glücklich und zufrieden mit ihrem Tee, an
dem sie mehrfach nippte, und hatte ein Gefühl, als würde sie schweben.
"Und, wie gefällt es dir?" wollte Manami nach einer angemessenen
Gewöhnungszeit wissen.
Chihiro schreckte hoch, als wäre sie aus einem Traum aufgewacht und starrte
kurz in ihre Teetasse, bis ihr Manamis Frage vollständig ins Bewusstsein
gedrungen war. Dann sagte sie: "Es ist, na ja, ich weiß nicht wie ich es sagen
soll, es ist sehr, äh, speziell."
"Schade. Soll das bedeuten, dass es dir nicht gefällt?" Manamis Gesicht zeigte
eine leichte Enttäuschung.
"Nein, Manami. Es heißt nur, dass ich mich erst daran gewöhnen muss", sagte
Chihiro langsam. "Das ist alles sehr neu für mich, weißt du" Sie überlegte
eine Weile, richtete dann ihren Blick konzentriert auf ihre Freundin und wollte
wissen: "Manami, wer bist du nur?"
"Also gut, ich werde es dir sagen. Du musst wissen, dass ich es noch nie zuvor
einem Menschen gesagt habe", erwiderte sie mit ungewohntem Ernst. "Mein
vollständiger Name lautet: Shizunami Manami Nushi." Sie verbeugte sich kurz vor
Chihiro. "Ich bin die Göttin des Sees, Chihiro. Jetzt habe ich mich dir
vorgestellt, und nun sag mir bitte, wer du bist"
Daran hatte Chihiro eine Weile lang zu knabbern, aber Manami zeigte keinerlei
Anzeichen der Ungeduld, während sie auf die Antwort wartete.
"Ich äh, ich bin Ogino Chihiro und ich bin ein Mensch", gab sie nach einer
Weile angestrengten Nachdenkens zurück. Was sollte sie auch sonst sagen?
"Siehst du. Ich kann zwar keinerlei Falschheit in deiner Antwort erkennen, aber
trotzdem kann ich das nicht glauben. Du scheinst selbst nicht zu wissen, wer
oder was du bist", entgegnete die Göttin ruhig, "lass uns doch mal versuchen,
zusammen etwas herauszufinden"
"Aber warum sollte das denn falsch sein?" fragte Chihiro kleinlaut und fuhr dann
trotzig fort: "Mein Papa ist Akio Ogino und meine Mutter ist Yuuko Ogino. Beide
sind Menschen, also ist das wahr, was ich gesagt habe!"
Daraufhin musste Manami lächeln. "Ich glaube dir ja, dass du glaubst, dass das
richtig sei, aber es gibt da so einige Punkte", führte sie aus. "Zunächst
einmal, du siehst aus wie ein Mensch, riechst wie ein Mensch, benimmst dich wie
ein Mensch und deine Eltern sind Menschen. Auf den ersten Blick scheint alles an
dir menschlich zu sein."
Dies sprach alles für Chihiros menschliche Abstammung, dann jedoch rückte
Manami mit ihren Argumenten heraus: "Aber: Du kannst die Tore benutzen, Chihiro.
Die lassen normalerweise keine Menschen passieren. Du verfügst zumindest über
rudimentäre magische Fähigkeiten, obwohl ich den Verdacht habe, dass sie
ziemlich ausgeprägt sind und es dir nur jemand mal richtig beibringen müsste"
"Was denn für magische Fähigkeiten?" Chihiro musste unwillkürlich an den
Papierschnipsel denken, den die durch den Raum hatte schweben lassen. Sie hatte
es nach dem ersten Mal noch mehrfach versucht und es hatte auch geklappt. Dann
hatte sie es aber irgendwann aufgegeben, weil es immer furchtbar anstrengend
gewesen war, und wegen der heftigen Kopfschmerzen, die sie bekam, wenn sie es zu
lange versuchte.
"Hihi, du merkst es ja nicht mal. Als wir vorhin über meinen See gegangen sind,
da habe ich dich bei der Hand genommen und mit meiner Zauberkraft dafür
gesorgt, dass du auf dem Wasser gehen konntest und nicht versinkst. Als wir an
meinem Haus angelangt sind, erinnerst du dich, da habe ich dich losgelassen.
Seitdem stehst du von ganz alleine auf dem Wasser! Glaub mir, ich helfe dir
nicht."
"Und was ist, wenn ich versunken wäre?" entfuhr es Chihiro erschrocken nach
dieser Offenbarung von Manami.
"Du kannst schwimmen, das habe ich doch gesehen. Außerdem hätte ich dich dann
wieder herausgeholt", entschuldigte sich Manami. "Ich glaube dir ist noch nicht
klar, dass du's noch immer tust. Was glaubst du eigentlich, woraus dieses Haus
ist, hm? Es ist aus Wasser! Und Wasser ist flüssig!" Zur Demonstration steckte
sie ihre rechte Hand in den Boden und rührte ein wenig in der
Wasser-Tatami-Matte herum.
Wie hypnotisiert glotzte Chihiro auf Manamis Hand, als sie diese wieder aus dem
Boden heraus zog und die Matte wie durch Zauberei, nein es war ja Zauberei,
erneut ihre alte Form annahm. Einer plötzlichen Eingebung folgend und um das
Gesehene zu überprüfen, steckte sie selbst ihre rechte Hand in den Boden.
Mit einem kleinen Spritzer drang die Hand problemlos in die Matte ein. Sie war
nass und flüssig und eben ziemlich wässerig. Wie konnte sie dann darauf
sitzen? In diesem Moment wurde ihre Hose auch schon nass. Mit einem Mal begann
sie in den Boden einzusinken, schneller und immer schneller. Es machte
"platsch", als sie letztendlich in den See ein- und untertauchte.
Überrascht sprang Manami auf und eilte zu Chihiro herüber, die sich gerade
strampelnd wieder an die Oberfläche zurückkämpfte. "Manamiii, Hiiiiilfee!",
brüllte sie, als sie die Oberseite der Tatami-Matte durchbrach.
Die Göttin packte Chihiro am Arm, hob das Mädchen spielerisch aus dem Wasser
und stellte es wieder auf den nachgiebigen Boden, der sich nun erneut fest
anfühlte unter ihren Füßen.
"Na du machst mir ja Sachen!" spöttelte Manami, "versinkst einfach. Da will ich
dich doch mal trocknen. Wasser zurück!" Sie machte eine energische Geste und
zeigte auf den Boden. Sofort sammelte sich das Wasser auf Chihiros Körper und
in ihrer Kleidung, bildete mehrere dünne Fäden, in denen es in den Boden
zurückfloss.
Nach nur wenigen Augenblicken war Chihiro wieder vollständig trocken. Völlig
verdattert schaute sie zu Manami auf. "Da-, Da-, Danke, Frau Manami Nushi",
stotterte sie, aber Manami winkte ab. "He, wir sind doch Freundinnen. Fang jetzt
bloß nicht an, mich anzubeten, oder so. Angebetet zu werden ist zwar ganz
lustig, bringt aber auch jede Menge Verantwortung mit sich."
Sie kniete sich direkt vor dem Mädchen hin, strich ihr durch das Haar und sah
sie aus ihren unglaublich blauen Augen direkt an. "Weißt du, Chihiro, ich bin
jetzt schon seit über 1500 Jahren die Göttin dieses Sees", fuhr sie fort,
"glaub mir, das ist manchmal ganz schön langweilig, und seit ich mich vor 300
Jahren mit dem Gott der Wälder hier verkracht habe, ist es auch ziemlich
einsam. Was glaubst du, warum der Wald nicht direkt bis an das Seeufer
heranreicht?"
Sie packte Chihiro zuerst an den Schultern und umarmte sie daraufhin. "Chihiro,
ich glaube du kannst die gar nicht vorstellen, wie einsam ich manchmal bin",
schluchzte sie, "darum wäre ich so froh, wenn du meine Freundin sein könntest"
"Manami, das habe ich doch nicht geahnt", sagte Chihiro leise und berührte die
Göttin leicht an der Wange, "ich möchte gerne deine Freundin sein. Das war,
glaube ich, nur etwas zu viel für mich. Und du bist wirklich 1500 Jahre alt? So
alt siehst du doch gar nicht aus"
"Das ist schön. Sag mir doch, wie alt sieht man denn mit 1500 Jahren aus?"
lächelte Manami sie glücklich an, "kannst du jetzt auch wieder alleine
stehen?" Sie ließ das Mädchen los, welches erneut problemlos und ohne
einzusinken auf dem flüssigen Untergrund stehen konnte.
"Du Manami, ich glaube, ich habe jetzt wieder richtig Hunger bekommen", bemerkte
Chihiro , nachdem sie sich gefangen hatte und die Aufregung nachließ.
"Hups, da hast du mich auf dem linken Fuß erwischt", musste die Göttin
diensteifrig eingestehen. "Eigentlich bin ich ja gar nicht auf Besuch
eingerichtet und zu Essen hab ich schon überhaupt nichts im Haus. Ich glaube,
ich könnte dir einen Fisch machen, mit Wald- und Wiesenkräutern, zum Beispiel
den Karpfen von vorhin."
Chihiro nickte zustimmend. Sie hatte jetzt richtig Kohldampf und der Rucksack
mit ihrem Reiseproviant war ja außer Reichweite in Yokohama.
"Also gut, dann lass mich doch mal schauen, was sich da so machen lässt.
Karpfen, bei Fuß!" Manami stand auf, streckte die Hände aus und der Karpfen
plumpste aus der Decke hinein. Er zappelte nicht einmal. "Du isst immer ziemlich
viel, nicht wahr? Ich hab das häufig beobachtest, wenn du mit Ichiyo und Ayaka
baden warst. Und trotzdem bist du so klein und dünn. Ist das nicht merkwürdig?
Ich glaube, da ist auch Magie im Spiel", stellte Manami fest, während sie
geschickt den Fisch ausnahm.
"Ja, es fing alles vor zwei Jahren an, nachdem ich mit meinen Eltern zwei Wochen
in der anderen Welt verschwunden war", erzählte Chihiro daraufhin, "seitdem
muss ich die ganze Zeit über futtern, sonst kann man mir beim Verhungern
zuschauen. Ich kann mich nur leider überhaupt nicht erinnern, was in diesen
zwei Wochen passiert ist"
"Ich weiß gar nicht, ob ich dir das erzählen sollte, denn ich hab's ja auch
nur aus zweiter Hand erfahren, aber auf jeden Fall bist du seit dem unter den
Göttern bekannt wie ein bunter Hund, hihi", deutete Manami fröhlich an,
während sie dafür sorgte, dass sich der Karpfen gewissermaßen von selbst
filettierte. "Jedenfalls stimmt etwas nicht mit dir. Dieses Etwas sorgt dafür,
dass du mit deinen Eltern in die Geisterwelt gelangen konntest und lässt mich
jetzt daran zweifeln, ob du wirklich nur ein Mensch bist."
"Aber was ist dieses Etwas denn?" verlangte Chihiro zu wissen.
"Wenn ich das doch so genau wüsste", gab Manami zu, während sie einige
Bambussprossen kurz in heißem Wasser ankochte, "aber weißt du, und das ist der
Hauptpunkt, warum ich nicht glaube, dass du ein Mensch bist, jedes Mal wenn, ich
dich berühre, spüre ich es ganz eindeutig: Du fühlst dich an wie ein Fluss!
Wie ein kleiner ruhiger, aber trotzdem kräftig strömender Fluss. Das ist sehr
angenehm und beruhigend für jemanden wie mich. Ich mag das sehr!"
"Wie ein Fluss? Aber das ist doch völlig widersinnig", zweifelte Chihiro. "Ich
bin doch ein Mensch und kein Fluss!"
"Tja, ich verstehe es ja auch nicht" Manami war jetzt fertig mit der Zubereitung
des Fisches und servierte ihn auf dem niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes,
wo Chihiro sich heißhungrig darüber hermachte. "Jedenfalls ist das der
Hauptgrund, warum ich nicht glauben kann, dass du einfach nur ein Mensch bist.
Ein Mensch fühlt sich nicht an wie ein Fluss!"
"Aber ich bin doch nicht flüssig, also bin ich auch kein Fluss", argumentierte
Chihiro, während sie sich mit Stäbchen aus Wasser den Fisch von einer Schale
aus Wasser, die auf einem Tisch aus Wasser stand, zu Gemüte führte. "Mmmh, das
schmeckt gut! Ich bin kein Gott, kein Geist und auch kein Dämon. Also muss ich
doch ein Mensch sein."
"Hahahahaha!" prustete die Göttin los, "deine Logik jedenfalls ist
überwältigend."
Wenig später hatte Chihiro den Karpfen und die übrigen Beilagen verdrückt und
fühlte sich soweit gestärkt, dass ihre Unternehmungslust erneut zunahm. Sie
dachte an ihre Freunde und Ayakas Vater, die sie in Yokohama zurückgelassen
hatte und die sie bestimmt schon vermissen würden. Sie war jetzt mindestens
schon eine halbe Stunde bei Manami in ihrem Schrein, wenn nicht länger.
"Du Manami, ich glaube, ich sollte so langsam wieder gehen", setzte sie deshalb
an, "ich glaube, die anderen warten schon auf mich, im Stadion in Yokohama."
"O schade", machte Manami, "aber ich verstehe, dass du gehen musst. Ich werde
dich bis zum Tor begleiten. Doch sollte ich dir, glaube ich, noch etwas darüber
sagen, über das Tor, meine ich, bevor du es erneut benutzt. Und über die Welt
der Götter und Geister"
Sie machten sich auf den Weg zurück zum roten Gebäude und Chihiro ging wie
selbstverständlich an Manamis Seite über die weite Wasserfläche des Sees,
nachdem sie sich ihren Ball von der Tischplatte geschnappt hatte.
"Zunächst mal solltest du wissen, dass die Zeit in der Welt der Götter und
Geister nicht nach physikalischen Gesetzen abläuft, sondern nach magischen.
Letztendlich bedeutet es, dass die Zeit dort genau so schnell läuft, wie die
Mehrzahl der Leute an einem Ort möchte, dass sie läuft"; erklärte sie.
"Wenn nun ein Mensch dort hineingerät, dann läuft seine persönliche Zeit
weiter nach dem Takt dieser Welt. Da die Zeit in der anderen Welt aber mit einer
anderen Geschwindigkeit läuft", erläuterte sie weiter, "mal schneller, mal
langsamer als die persönliche Zeit des Menschen, kann es bei einer starken
Laufzeitabweichung dazu kommen, dass der Mensch seinen physischen Zusammenhalt
verliert und beginnt sich aufzulösen"
Hierzu ergänzte sie: "Man kann sich jedoch mit der dortigen Zeit
synchronisieren, indem man etwas von dort isst, aber damit wäre ich vorsichtig.
Häufig werden die Nahrungsmittel dort in der einen oder anderen Weise von
lokalen Autoritäten mit Schutzzaubern versehen. Wenn es gar nicht anders geht,
würde ich es an deiner Stelle mal mit einem Büschel Gras versuchen, oder so.
Das sollte gefahrlos sein"
Bäh, sie sollte Gras essen, wenn sie längere Zeit dort bleiben wollte?
Trotzdem hörte Chihiro aufmerksam zu, denn dies waren die ersten wirklich
konkreten Informationen, die sie aus erster Hand von der anderen Welt bekam.
"Am besten solltest du aber in der Nähe der Tore bleiben und nach Möglichkeit
auch nur kurz dort verweilen, denn dort werden die Laufzeitabweichungen meistens
nicht so groß, dass man in Gefahr gerät, sich aufzulösen", sorgte sich
Manami um ihre kleine Freundin, "die Tore haben aber auch eine unangenehme
Eigenschaft. Weil die Zeit in dieser Welt so schnell läuft, wie eine Mehrheit
von Leuten an einem bestimmten Ort es wollen, passiert es, dass Zonen entstehen,
in denen die Zeit schneller läuft und solche, in denen sie langsamer geht"
"Boah, das hört sich ja richtig verrückt an!", warf Chihiro ein.
"Du hast Recht, das ist auch ziemlich verrückt", konstatierte die Göttin,
"wenn solche Zonen aneinander stoßen, kommt es zu einem Wirbel und es kann
passieren, dass die Zeit dort kurzfristig rückwärts läuft. Um jetzt zu
verhindern, dass man beim Durchqueren eines Tores sich selbst begegnet, falls
man in einen solchen Wirbel geraten war, wurde deshalb beim Übergang eine
Verzögerung eingebaut. Bei jedem Wechsel von einer Welt in die andere werden
deshalb gut 20 Minuten als Sicherheitspuffer eingefügt"
"Huch! Aber das bedeutet ja ...", entfuhr es Chihiro, die schlagartig die
Bedeutung erfasste. "Ich bin von Yokohama einmal nach drüben und von dort
wieder hierher. Dann habe ich ja nur für die zwei Tor-Passagen mindestens 40
Minuten verbraucht. Oje, da wird Herr Fukazawa aber sauer sein. ... Und für den
Rückweg werde ich ja noch mal 40 Minuten verbrauchen!! Mit der Zeit, die ich
bei dir verbracht habe, macht das dann zusammen ... O jemine!"
"Da sollten wir uns wohl beeilen" Manami legte einen Schritt zu. In der
einsetzenden Dämmerung hob sich der Wald dunkel vor dem klaren, orangeroten
Himmel ab. "Am besten ist, ich komme mal mit auf die andere Seite. Mich würde
doch wirklich interessieren, wo du da eigentlich herauskommst", schlug sie vor,
als sie das Ufer erreichten, "dazu sollte ich dir vielleicht noch etwas
erklären. Die Tore sind nämlich Teile eines weltweiten Transportsystems. Du
kannst im Prinzip von jedem Tor in dieser Welt direkt zu jedem Tor in der
anderen Welt gelangen und umgekehrt. Auf die Weise kann man um die ganze Welt
reisen"
Sie schaute sich nach Chihiro um, die nicht ganz mit ihr Schritt halten konnte,
und wartete kurz, bis das Mädchen sie eingeholt hatte.
"Das Problem ist nur, dass du den Zielort kennen musst, um das diesem
nächstgelegene Tor ansteuern zu können. Den muss man sich nur deutlich
vorstellen, damit das Tor einen dorthin bringt", ergänzte sie, "ach ja, und
wenn man ein Tor von der Geisterwelt in die Menschenwelt nicht korrekt benutzt,
also nicht an den Zielort denkt, während man hindurchgeht, dann wird einem jede
Erinnerung an die Geisterwelt auf magische Weise genommen. Nur so zur
Sicherheit, gegen unbefugte Benutzung oder wenn man Menschen wieder
hinausexpediert"
"Deshalb also haben ich und meine Eltern alles vergessen. Und Ayaka und Ichiyo
auch, als ich die beiden Mal mit hinübergenommen habe", überlegte Chihiro, als
sie fast am roten Gebäude angelangt waren, "meine Erinnerung ist aber teilweise
zurückgekommen, als ich erneut hinübergegangen war"
"Du hast die beiden auch mit herüber genommen?" Manamis Stimme klang leicht
missmutig. "Das solltest du nicht. Menschen haben dort nichts verloren! Meistens
gelangen sie sowieso nur dort hin, wenn so ein schusseliger Gott das Tor
benutzt, während gerade Menschen hindurchgehen. Einige schaffen es und kommen
wieder zurück, andere lösen sich auf und verschwinden auf nimmer Wiedersehen,
und manchen stößt Schlimmeres zu"
"Ich bin doch auch ein Mensch. Warum darf ich dann hindurchgehen?" fragte
Chihiro.
"Ich sage ja gar nicht, dass du dorthin gehen solltest. Am liebsten wäre mir
ja, du bliebest hier", meinte Manami daraufhin sanft, "du kannst die Tore aber
nun mal benutzen, wieso auch immer, und ich kann es dir nicht verbieten. Und
wenn ich es dir verbiete, benutzt du sie irgendwann trotzdem. Da ist es doch
besser, ich erkläre dir, wie es funktioniert und wo die Gefahren lauern. Dann
weißt du wenigstens, woran du bist und passt auf. Ich will doch nicht, dass dir
was passiert"
Sie standen jetzt direkt vor dem Eingang zum Tunnel und das andere Ende war in
der hereinbrechenden Dämmerung kaum noch zu erkennen. Chihiro und Manami
schauten einander kurz an, bevor sie dann, Chihiro vorneweg, hineingingen.
Im bereits beleuchteten Wartesaal unter dem Uhrenturm angelangt, bemerkte
Chihiro, dass sich dort bereits die ersten Gestalten sammelten. Es waren
Fährgäste, wie der Affe im Pagenanzug beim letzten Mal gesagt hatte, als sie
mit Ichiyo und Ayaka hier gewesen war. Wohin diese Fähre wohl gehen mochte,
überlegte sie.
Manami ihrerseits sah sich interessiert um, so als würde sie diesen Ort das
erste Mal betreten. "Also, hier kommst du immer heraus oder manchmal auch
woanders?" wollte sie wissen.
Chihiro schüttelte den Kopf. "Nein, ich komme immer nur hier heraus. Ich dachte
bis jetzt gar nicht, dass man noch woanders hingelangen könnte", antwortete sie
nachdenklich und fragte dann ihrerseits: "Weißt du denn, wo wir hier sind?"
"Nein, hier bin ich vorher noch nie gewesen", gab Manami zurück, "ich kann ja
einfach mal fragen." Damit ging sie zu einer Gestalt herüber, die auf einer der
holzbeplankten gussstählernen Wartebänke saß und konzentriert in einer
Papierrolle las, die sie von Zeit zu Zeit ein Stück weiter von der linken in
die rechte Hand weiterdrehte.
Die Gestalt trug einen weiten, mit großen Ornamenten bedruckten Baumwollumhang
und einen mit Blättern und Zweigen dekorierten geflochtenen Korb über den Kopf
gestülpt, weshalb man nicht erkennen konnte, ob sie weiblich, männlich oder
möglicherweise etwas anderes war.
Während Chihiro mit leicht mulmigem Gefühl zu Manami herüberblickte, die sich
der Gestalt vorstellte und offenbar Höflichkeiten mit dieser austauschte,
hörte sie plötzlich ein tiefes rumpelndes Brummen direkt hinter sich.
"O Entschuldigung", rief sie erschrocken, als sie gewahr wurde, dass sie noch
immer vor dem Tunnelausgang stand, durch den sie gekommen war und diesen so
versperrte. Schnell trat sie einen Schritt zur Seite und starrte dann mit
offenem Mund auf das Wesen, das jetzt in den Raum watschelte. Fast drei Meter
groß und den Durchgang komplett ausfüllend, war es dicht mit flauschigem,
dunkelgrauem Fell bewachsen, mit einer großen Blässe auf dem Bauch. *
*
http://myneighbortotoro.animexx.4players.de/fanarts/fanart.php4?id=16626&sort=thema
Es hatte zwei große Augen, ein Paar pilzförmiger Ohren oben auf dem Kopf und
einen scheunentorgroßen Mund mit einigen Schnurrbarthaaren darüber. Über dem
rechten Arm trug das Wesen einen ziemlich alten zerfledderten Regenschirm mit
Henkel.
"Totoro ...", flüsterte Chihiro erschüttert, "es gibt dich ja wirklich."
Das Wesen grinste sie an und deutete eine kurze Verbeugung an, die Chihiro
mechanisch erwiderte, bevor es weiter ging und sich einen Platz auf einer der
Bänke suchte. Manami hatte mittlerweile ihre Auskunft eingeholt und kehrte mit
leicht besorgtem Gesichtsausdruck wieder zurück, während Chihiro immer noch
mit großen Augen hinter dem Totoro herstarrte.
"Na, hat dich der Waldgeist erschreckt?", neckte Manami Chihiro, "die tun nur
so brummelig, sind aber meistens ganz nett. Es gibt 'ne ganze Menge von denen
und sie wohnen häufig in großen alten Bäumen. Dass heißt, wenn man ihnen
ihren Heimatbaum fällt, können sie auch schon mal grantig werden"
"Aber ich dachte, der wäre nur erfunden. Ich habe so einen zu Hause, aus
Plüsch", erzählte Chihiro, immer noch völlig fassungslos. "Du, ich glaube wir
sollten jetzt gehen. Ich muss wieder zu den anderen zurück ins Stadion. Kommst
du mit?"
"Nein Chihiro, ich kann leider nicht mitkommen. Du hättest nicht viel von mir,
wenn ich es versuchte. Aber lassen wir das besser", erwiderte Manami, "also, du
gehst jetzt durch einen der Tunnel und denkst fest an das Stadion in Yokohama
und ich benutze einen der anderen. Ach, und wenn du schon hierher kommst, dann
bleib am besten hier in dem Raum und geh nicht nach draußen. Hier drin kann
eigentlich nicht viel passieren. Nun geh, und komm mich bald wieder besuchen,
ja?"
Chihiro nickte. "Ja Manami, mache ich. Bis bald!" bestätigte sie der Göttin.
Sie drehte sich um, ging in den Tunnel hinter sich und winkte noch einmal, bevor
sie das Tor in die Welt der Menschen passierte und verschwand.
Manami ihrerseits verließ den Wartesaal nach draußen. Da sie ja gerade schon
mal hier war, konnte sie auch gleich den in der hereinziehenden Nacht langsam
erwachenden Ort erkunden. Eigentlich hätte sie sich ja denken können, dass
Chihiro hier an diesem Ort in die Geisterwelt gelangen würde und machte sich
deshalb einige Sorgen um ihre kleine Freundin. Über die Hexe Yubaba und ihr
Badehaus für die Götter hatte sie schon so einiges gehört, Gutes und auch
weniger Gutes. Gerüchte. Hörensagen.
Sie war eine ausgezeichnete Gastgeberin und äußerst geschäftstüchtig, wie
man hörte. Doch auch verschwanden immer wieder Personen auf nimmer Wiedersehen
in dieser Gegend. Zudem sollte auch dieser weiße Drache mit der grünen Mähne
immer wieder in der Nähe ihres Badehauses gesichtet worden sein.
Sie rief sich das Bild des Drachen in ihr Gedächtnis zurück, welches ihr einer
der Agenten der göttlichen Geheimpolizei in den Geist projiziert hatte. Er
hatte einige Zeit lang in ein paar Teilen der Geisterwelt Angst und Schrecken
verbreitet, immer wieder wie aus dem Nichts erscheinend, raubend und mordend,
bevor er dann wieder verschwand.
Die göttliche Geheimpolizei fahndete bereits eine Weile nach ihm, doch seit
fast zwei Jahren war dieser bösartige, aus der Art geschlagene Monsterdrache
wie vom Erdboden verschluckt. Aber man wusste ja nie. Sie wagte gar nicht daran
zu denken, was passieren würde, wenn Chihiro in die Fänge dieses Ungeheuers
geriete.
Es war wirklich am sichersten für die Kleine, wenn sie das Gebäude mit dem
Uhrenturm erst gar nicht verließ, damit sie in keine zu starke Zeitdrift
geriet, der Hexe Yubaba nicht zu nahe kam, die Manami nicht ganz geheuer schien,
und vor den Augen dieses gefährlichen Drachen verborgen blieb. Ja, sie sollte
Chihiro einen anderen, sichereren Ort hier in der Geisterwelt zeigen, den sie
gefahrlos für ihre Passagen benutzen konnte.
Es war dunkel, vollständig finster, aber trotzdem war sich Chihiro sicher, dass
sie wieder im Stadion in Yokohama war. Der Geruch war der gleiche, das Brummen
der Maschinen war das Gleiche und leise drang Musik von oben herunter. Jemand
musste wohl das Licht ausgeschaltet haben.
Verwundert entdeckte sie jetzt, dass der Kemari-Ball in der Dunkelheit schwach
leuchtete und, wenn sie ihn hin und her bewegte, eine schwache Funkenspur hinter
sich her zog. Ob das die Magie war, die in dem Ball steckte?
Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang, wechselte die Seite des Ganges
und tastete sich weiter. Dabei fiel ihr siedend heiß ein, dass sie Manami nicht
danach gefragt hatte, was das jetzt für ein Ort war, wo sie immer in der
anderen Welt heraus kam. Der Totoro hatte sie einfach zu stark abgelenkt. Sie
würde Manami dann beim nächsten Mal danach fragen.
Nach einiger Zeit fand sie im schwachen Glimmen des Balles einen Lichtschalter
und die Leuchtstoffröhren tauchten den Gang in ein diffuses Licht, was die
Sache erheblich vereinfachte. Sie nahm die erste Tür, die sie fand, und machte
sich auf den Weg nach oben, wo sie überrascht feststellte, dass die in dem
abgesperrten Bereich am Hauptzugang ins Stadion herausgekommen war.
Vor Schreck wollte sie schon wieder nach unten gehen und sich einen anderen Weg
suchen, aber dann dachte sie sich, dass ihr jetzt nichts Schlimmes mehr
passieren konnte und marschierte entschlossen zu einem der Polizisten an der
Barriere, bei dem sie am Uniformrock zupfte.
"Hallo, könnten sie mich bitte herauslassen?" lächelte sie den Beamten an.
Dieser schaute sich überrascht um und entdeckte dann ein kleines, vielleicht
acht- oder neunjähriges Mädchen ohne Ausweis, welches hier demnach absolut
nichts zu suchen hatte. Er hatte seine Instruktionen! Die besagten, niemanden
ohne gültigen Ausweis hereinzulassen und sei es der Kaiser höchstpersönlich.
Über kleine Mädchen ohne Ausweis, die heraus wollten, besagten die
Instruktionen nichts. So zuckte er mit den Achseln und hob Chihiro über die
Absperrung.
Dann fiel ihm plötzlich etwas ein. Das Mädchen entsprach genau der
Beschreibung. "Sag mal, bist du vielleicht die kleine Chihiro?" fragte er.
Chihiro nickte erschrocken. "Na, dann geh mal schnell zu deinen Eltern. Die
haben dich schon ausrufen lassen und suchen dich überall", forderte der Beamte
sie dann entschieden auf. "Husch, husch!"
Wenige Minuten später war Chihiro wieder oben im Stadion auf der Tribüne, wo
sie nur Ichiyo auf seinem Sitzplatz vorfand. Die anderen Plätze waren
verlassen. Unten im Stadion war die Abschlussfeier der Weltmeisterschaften im
Gange, man hatte einen riesigen Fujiyama aus Stoffbahnen über dem Mittelkreis
errichtet und formatfüllende Flaggen von Deutschland und Brasilien auf das
Spielfeld gebracht. Gleißendes Flutlicht beleuchtete die Szenerie.
"Hallo Ichiyo, ich bin wieder da. Wo sind denn die anderen?" meldete sie sich
mit klopfendem Herzen zurück und ließ sich neben dem Jungen auf ihren Sitz
plumpsen.
Der blickte sie überrascht, aber erleichtert an. "Mann Chihiro, wo bist du denn
nur gewesen?" entfuhr es ihm und dann umarmte er sie. Chihiro wusste gar nicht,
wie ihr geschah.
"Ayaka und ihr Vater suchen dich schon überall, nachdem du verschwunden warst",
informierte er sie, nachdem er sich ein wenig beruhigt und sie wieder
losgelassen hatte. "Wir haben dich sogar über Lautsprecher ausrufen lassen. Ich
sollte hier warten, falls du hier wieder auftauchst."
"Wie lange bin ich denn weg gewesen?", fragte sie, sich ein wenig dumm stellend,
denn auf der großen Anzeigetafel war die aktuelle Uhrzeit kaum zu übersehen.
Es war kurz nach halb elf Uhr, was bedeutete, dass sie mehr als zweieinhalb
Stunden fort gewesen war. Sie würde sich eine gute Ausrede einfallen lassen
müssen. Vielleicht könnte sie ja erzählen, dass sie Risa getroffen hatte,
ihre alte Freundin aus Tokyo, mit der sie sich dann verquatscht hatte.
Eine halbe Stunde später kamen dann Ayaka und ihr Vater zurück. Chihiro musste
sich einiges anhören, aber zu ihrer Erleichterung fragte niemand, wo sie denn
nun gewesen war und was es mit dem weißen Ball auf sich hatte, den sie auf
einmal besaß. Letztendlich waren alle nur froh, dass sie wieder da war.
Gemeinsam sahen sie sich die Abschlussfeier zu Ende an und verließen gegen
Mitternacht das Stadion. Sie gingen zum Bahnhof zurück, wo sie kurz vor 1:00
Uhr nachts den Shinkansen zurück nach Hause nahmen. Ayaka war völlig geknickt,
weil gerade ihr Olli Kahn einen großen Fehler gemacht hatte, sodass Deutschland
das Finale verloren hatte. Ausgerechnet Ronaldo hatte die beiden Siegtreffer
für Brasilien erzielt.
Aber dann erklärte sie allen, dass sie etwas daraus gelernt habe: Man gewänne
Spiele nicht, indem man Tore verhindere, sondern indem man Tore schieße. Und
sie wollte Spiele gewinnen, weshalb sie sich wieder voll auf das Stürmen
konzentrieren wolle. Trotzdem, erklärte sie, hätte es ihr fast das Herz
gebrochen, als Olli Kahn nach Spielende ganz alleine und traurig in seinem Tor
gehockt hatte.
Chihiro überlegte, ob sie Ayaka jemals erzählen sollte, was sie da unten auf
dem Spielfeld beobachtet hatte: dass nämlich der Gott Seidaimyojin Ronaldo eine
Überdosis Aufputschzauber verpasst hatte, weil sie, Chihiro, ihn abgelenkt
hatte. Sie entschied sich dagegen und schenkte Ayaka zum Trost den Kemari-Ball
des Fußballgottes. Vielleicht würde er ja bei Ayaka auch wirken.
Gegen fünf Uhr am Morgen, es war kurz nach Sonnenaufgang, setzte Ayakas Vater
Chihiro wieder zu Hause ab, die nur noch todmüde in ihr Bett schlich, wo sie
sofort einschlief. Aber sie musste ja nicht zur Schule, weil an diesem Montag
die Sommerferien begannen, sodass sie bis nach Mittag ausschlief.
Als sie endlich aufwachte, war sie alleine zu Hause. Ihre Mutter war im Konbini
kassieren und ihr Vater kümmerte sich bestimmt um die Häuser, die er
verwaltete. Sie fand in der Küche Frühstück und Mittagessen für sich
vorbereitet, wo sie sich erst mal darüber hermachte. Der ganze letzte Tag
erschien ihr jetzt wie ein einziger Traum und sie beschloss bei einem heißen
Bad, noch einmal darüber nachzudenken.
Wenig später ließ sie sich mit Wohlbehagen in das warme Wasser sinken, als ihr
plötzlich eine Idee kam. Ob es wohl gehen würde? Manami hatte gesagt, dass sie
ihr nicht helfen würde, sondern dass sie es von ganz alleine vollbrächte.
Chihiro stand auf und versuchte sich die Wasseroberfläche als fest
vorzustellen. Dann hob sie ihren rechten Fuß aus dem Wasser und stellte ihn auf
die Oberfläche. Zu ihrer Enttäuschung versank der Fuß ohne Widerstand erneut
im Wasser.
Wieso hatte es dann gestern geklappt, wunderte sie sich, war es nur ein Traum
gewesen oder hatte Manami ihr doch geholfen? Sie versuchte sich zu erinnern, wie
es gewesen war, an das Gefühl das sie hatte, als sie über das Wasser gegangen
war. Es war ganz selbstverständlich gewesen, mühelos und einfach.
Mit der Erinnerung an dieses Gefühl versuchte sie es erneut, stieg aus dem
Wasser heraus und lief auf dem heißen Badewasser hin und her. Sie konnte kaum
fassen, wie einfach es war. Warum hatte sie es nicht schon früher entdeckt?
Träumerisch legte sie sich schließlich auf das leicht federnde Wasser, wo sie
über Seegöttinnen, Fußballgötter, Dimensionstore, Karpfen, Zugfahrten und
Totoros nachsinnend in der angenehmen Wärme unter sich erneut einschlief.
Sie erwachte erst wieder, als sie spürte, wie jemand an ihr rüttelte.
Schlaftrunken drehte sie sich um und blickte in das ausdruckslose Gesicht ihrer
Mutter. Irgendwie war ihr kalt und dann entdeckte sie, dass sie im Badezimmer
war. Was machte sie denn hier im Badezimmer, versuchte sie sich zu erinnern, und
dann fiel ihr wieder ein, dass sie sich vorhin ein Bad eingelassen hatte. Sie
musste dann wohl im Wasser eingeschlafen sein.
Dann hatte sie so einen eigenartigen Traum gehabt, dass sie auf dem Wasser
herumgelaufen wäre. Sie drückte sich hoch, setzte sich auf und blickte sich
um. Dann stellte sie fest, dass sie noch immer auf dem mittlerweile kalten
Wasser saß. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus und vor Schreck versank
sie auf einmal in der kühlen Flüssigkeit.
Wortlos hob ihre Mutter sie dann aus der Badewanne, trocknete sie ab, kleidete
sie wieder an, ließ das Badewasser ab, machte die Badewanne sauber und begann
dann das Badezimmer zu putzen. Von dem Vorfall erwähnte sie weder gegenüber
Akio noch gegenüber Chihiro auch nur ein Wort. Für sie war das gar nicht
passiert.
Kapitel 14: Die Flucht
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Hallo ihr Lieben, endlich hab ich es geschafft, das vorerst letzte Haku-Kapitel
fertigzustellen.
Ist schon wieder so ein Monster mit mehr als 10000 Worten geworden, deshalb habe
ich auch so lange gebraucht.
Viel Spass beim Lesen,
Pazu
Die Flucht
Yubaba zog an der Klingelschnur neben ihrem Schreibtisch. In Kürze sollte sich
Aniyaku dann einfinden, um die Neuen in ihre Aufgaben einzuweisen. Die beiden,
die gerade ihre neuen Verträge unterschrieben hatten, kauerten auf dem Teppich
davor und warfen einander vielsagende Blicke zu, wenn sie sich unbeobachtet
glaubten, als hätten sie der Hexe ein Schnippchen geschlagen.
Dieser entging dies allerdings nicht und hämisch dachte sie: ,Den beiden wird
das Lachen schon noch vergehen.' Dann ärgerte sie sich wieder, weil Aniyaku
immer noch nicht auftauchte. Fast sehnte sie sich an die Zeit zurück, als diese
Aufgabe noch von Haku ausgefüllt worden war. Wie schnell, leise, pünktlich und
gehorsam ihr Lehrling immer gewesen war. Und vor allem wie "nützlich".
Der Entschluss ihn endgültig los zu werden war nicht etwa plötzlich gekommen,
sondern hatte sich über Monate hinweg entwickelt. So nach und nach hatten
nämlich die Agenten der Geheimpolizei angefangen bei ihr herumzuschnüffeln,
sodass ihr die ganze Angelegenheit langsam zu heiß zu werden begann. Die
Entdeckung von Hakus kleiner Eigenmächtigkeit mit diesem Menschenmädchen hatte
dann nur noch den letzten Ausschlag gegeben, ihn zu beseitigen.
Trotzdem sehnte sie sich wieder nach diesem Rausch zurück, wenn sie die
Kontrolle über den jungen Gott übernommen hatte, nach der Schnelligkeit und
unglaublichen Kraft des Drachen und dem Gefühl der Macht, dass dieser ihr über
das Leben anderer gab. Eine Macht und Freiheit, die sie hier im Badehaus
aufgrund dieses vermaledeiten Vertrages mit ihrer älteren Zwillingsschwester
Zeniba nicht hatte.
"Sie wünschen, verehrte Meisterin", vernahm sie in diesem Moment die leicht
unsichere Stimme Aniyakus, der geräuschlos den Raum betreten hatte.
"Äh ja, diese beiden hier haben einen Arbeitsvertrag unterschrieben", teilte
die ihm mit und kommandierte dann: "Weise sie ein und versorg sie mit Arbeit.
Und nimm sie ruhig ordentlich ran."
"Wie sie wünschen, Herrin", schleimte Aniyaku und bedeutete den beiden
Fröschen mit einem energischen Wink, ihm zu folgen.
Unterdessen rollte Yubaba leidlich gut gelaunt die Arbeitsverträge zusammen und
lies mit einem kleinen Wink ihrer Hand, kurze Bändchen Schleifen binden, um sie
zusammenzuhalten. Danach öffnete sie eine Schublade in der Kommode links vom
Schreibtisch, in der sie die Verträge der Froscharbeiter aufzubewahren pflegte,
und wollte die beiden Rollen hineinlegen, doch die neuen Verträge passten kaum
noch hinein.
Eigentlich war diese Schublade immer so halb gefüllt gewesen, da es ihr durch
gewisse administrative Maßnahmen ja gelungen war, die Anzahl der Frösche
nahezu konstant zu halten. Immer wenn ein Frosch verschied, löste sich auch
dessen Vertrag zu Staub auf. Sie wühlte ein wenig tiefer, konnte aber kaum
frischen Staub auf dem Boden der Schublade ausmachen. Das war doch schon sehr
merkwürdig.
Unwillkürlich musste sie an den Vertrag mit Haku denken, der in einer
gesonderten Schatulle auf dem Kaminsims einen Ehrenplatz einnahm. Mit einem Wink
lies sie die Schatulle zu sich herüberschweben, öffnete sie hastig und linste
hinein. Der Vertrag war fort und nur noch etwas Staub bedeckte den Boden. Das
konnte nur zweierlei bedeuten, dachte sie erschrocken. Entweder hatte Haku
endlich ebenfalls das Zeitliche gesegnet oder aber seine Lehrzeit bei ihr war
abgelaufen.
Die erste Möglichkeit war allerdings eher unwahrscheinlich, wie sie sich
eingestehen musste. Eine Zeit lang, zu Beginn seines Dienstes im Bergwerk, hatte
sich sein Zustand erfreulich schnell verschlechtert, doch dann hatte er sich
irgendwie gefangen. Er war zwar fürchterlich mager und hohlwangig geworden,
doch funkelte er sie aus seinen grünen Augen immer wieder forsch und
herausfordernd an.
Sie hatte versucht ihn von den anderen zu isolieren, in dem sie ihn in eine
Kiste sperren ließ, ihn vor den anderen zu diskreditieren, indem sie die
Verantwortung für ihr Elend auf ihn übertrug und es schien Erfolg zu haben.
Plötzlich wurden seine Augen stumpf und er wechselte mit keinem mehr auch nur
ein Wort. Dies hatte sie mit Hoffnung erfüllt, dass es doch mit ihm zu Ende
gehen würde und mehr oder weniger eingelullt, sodass sie nichts weiter
unternommen hatte, doch dann vor fast einem Jahr war es, als wäre Haku wieder
aufgewacht und das Funkeln war in seine Augen zurückgekehrt.
Vor einem halben Jahr war dann dieser Typ von der göttlichen Geheimpolizei bei
ihr vorstellig geworden, ohne sich ordentlich bei ihr vorzustellen, hatte
Andeutungen gemacht, ihr richtig Angst eingejagt, mit seiner kalten, arroganten
und fordernden Art. In feinste Seidenstoffe gehüllt und mit silbergrauer
Haarmähne hatte er sie aus leuchtend roten Augen angeschaut, als wollte er sie
im nächsten Moment zerreißen. Sein unwirklich gutes Aussehen hatte ihre Furcht
dabei nur noch verstärkt.
Irgendwie hatte sie es dann doch noch geschafft, ihn abzuwimmeln, aber die
Furcht war geblieben. Wenn es dem Jungen gelingen würde, aus dem Bergwerk zu
entkommen und dieser Typ von der Geheimpolizei Haku in die Finger bekam, würde
es wegen seiner "Verbrechen" zu einem Prozess gegen ihn kommen, was richtigen
Ärger für sie bedeuten konnte. Sie durfte ihn auf gar keinen Fall gehen
lassen, denn wenn es zu einer "Befragung" Hakus durch diesen Typ kam, würde
alles herauskommen.
Was nur konnte sie tun, um das zu verhindern? Sie konnte versuchen, Haku
weiterhin unten im Bergwerk fest zu halten. Das würde auf Dauer vermutlich
jedoch nicht funktionieren. Aber der Vertrag war ja abgelaufen. Das bedeutete,
dass Haku nicht mehr durch dessen Magie vor ihr geschützt wurde und die Sache
mit direkten Methoden würde angehen können.
Dieser verdammte Vertrag mit ihrer Schwester, auf den sie sich damals
eingelassen hatte. Wenn sie gegen irgendeine Bedingung in diesem Vertrag
verstieß, bedeutete dies, dass der gesamte Besitz am Badehaus an Zeniba
überginge und sie und Boh dann mittellos wären. Daher hatte sie auch versucht
vorzusorgen und sich durch "Nebeneinkünfte", genauer gesagt, durch Raub und
Mord, ein finanzielles Polster für den Fall des Eintretens dieser Klausel zu
schaffen.
Da war ihr damals der junge Drache gerade recht gekommen, mit seinem Ansinnen,
bei ihr das Zauberhandwerk zu erlernen. Wie einfach hatte der gutgläubige Junge
sich dazu bringen lassen, ihren Wurm zu schlucken, mit dem sie ihn kontrollieren
konnte. Doch jetzt war dies alles vorbei und Haku musste weg.
Kurz überlegte sie, ob sie Haku einfach überraschend attackieren sollte, mit
aller Wucht und Kraft, über die sie verfügte. So lange er dieses Halsband
trug, welches sie ihm in erster Linie gegeben hatte, damit er die Loren auch
wirklich mit eigener Kraft ziehen musste und keine Magie zur
Arbeitserleichterung einsetzten konnte, würde er ihr nicht wirklich gefährlich
werden können.
Wie oft war sie erstaunt und auch besorgt über die Auffassungsgabe des Jungen
in allen Bereichen gewesen, die Geschwindigkeit mit der er Wissen in sich aufsog
und sein enormes magisches Talent. Wenn sie daran dachte, wie wenig sie ihm
wirklich beigebracht hatte und wie viel er sich einfach bei ihr abgeschaut
hatte. Das war einfach erschreckend gewesen.
Sie musste sich eingestehen, dass dies auch ein Grund gewesen war, ihn los zu
werden: Mit der Zeit hatte sie einfach Angst vor seinem magischen Potenzial
bekommen.
Ein paar Mal hatte sie dieses ausprobiert. Als die die Kontrolle über seinen
Geist übernommen hatte, hatte ihre eigene magische Meisterschaft durch sein
Talent in die Praxis umsetzten lassen und die Wirkung war im wahrsten Sinne des
Wortes durchschlagend gewesen, herrlich und beängstigend zugleich.
Wenn ihm jemand mal wirklich das Zauberhandwerk auf einer soliden theoretischen
Grundlage beibrächte ... Yubaba wagte kaum sich vorzustellen, was dabei
herauskommen mochte.
Nachdenklich schaute sie auf die Ringe an ihrer rechten Hand. Ohne diese Klunker
konnte sie nicht einmal eine Fliege in einen Floh verwandeln. Pah, und wenn
schon. Sie musste ihn nur erwischen, bevor er seine Drachenform angenommen
hatte, denn seine Schuppen waren ein zu guter Schutz gegen alle Arten von
Attacken, physischen, als auch magischen.
Als Drache musste man ihn entweder an den Augen treffen oder ihn dazu bringen,
etwas zu verschlucken, dass ihn von innen her verletzte, ansonsten hatte man
kaum eine Chance gegen ihn.
Paff machte es und die Seitentür sprang in diesem Moment auf. Boh stand im
Türrahmen, in einen himmelblauen einteiligen Strampelanzug gekleidet und machte
ein unglückliches Gesicht. Der Yu-Vogel hockte auf seiner rechten Schulter und
die drei Kashira umhüpften seine Patschefüße, wobei sie ihr übliches "Oi,
oi, oi" von sich gaben.
In den letzten drei Jahren war er deutlich selbstständiger geworden und machte
Yubaba durch seine dauernden Eskapaden vor Sorgen fast wahnsinnig. Er hatte
nämlich herausgefunden, wie er sich alleine in die Mausgestalt verwandeln
konnte, wovon er reichlich Gebrauch machte, um immer wieder aus ihrer
unmittelbaren Aufmerksamkeit zu entfliehen und im Badehaus umher zu streunen.
Dies hatte zur Folge, dass er mittlerweile sehr gut gehen konnte und vor allem
auch gut 80 Kg abgenommen hatte, sehr zur Beunruhigung seiner Mutter. So hatte
er jetzt vielleicht nur noch 100 Kg Übergewicht. Weil Yubaba ihn aber weiterhin
abgöttisch liebte, verzieh sie ihm jede Flucht und mochte auch keinerlei
magische Mittel einsetzen, um seine Bewegungsfreiheit und seinen Tatendrang
einzuschränken. Sonst wäre er am Ende noch böse auf sie geworden.
"Baba, du hast doch versprochen, mit mir zu spielen!", quengelte er mit seiner
Babystimme los, "und wann kommt Chihiro mich endlich besuchen?"
Mist, schon wieder Chihiro, dachte Yubaba, werde ich dieses Gespenst denn
überhaupt nicht los. Am Liebsten, das musste sie sich eingestehen, hätte sie
die Kleine trotz aller Probleme sofort wieder eingestellt. Immer wieder fragten
hochrangige Badegäste nach ihr und waren bereit Unsummen für ihre Gesellschaft
zu zahlen.
Chihiro, beziehungsweise Sen, wäre eine Goldgrube für sie und die Kleine
würde nicht schwer zu arbeiten haben, müsste sich nur um diese besonderen
Gäste kümmern und in ihrer sonstigen Zeit hätte sie mit Boh spielen oder
sonst etwas tun können. Ja, wenn jemand wirklich von Nutzen für sie war, war
sie auch bereit Zugeständnisse zu machen.
"O, mein Kleiner, da habe ich dich doch fast vergessen", erwiderte sie schnell,
"du weißt doch, dass Chihiro dich nicht besuchen kann. Sie ist doch ein Mensch
und kann von alleine nicht in unsere Welt gelangen. Ich müsste sie abholen,
weiß aber nicht, wo sie wohnt."
"Buwäää!!", jaulte der Junge los. "Ich will aber, dass Chihiro mich besuchen
kommt. Und wenn Chihiro nicht kommt, dann soll Haku kommen. Haku ist doch hier."
Dabei kullerten große Tränen aus seinen Augen und tropften mit
nachdrücklichem Plitschen auf den Teppich.
"Aber Boh, Haku hat doch keine Zeit. Er muss doch für mich das Bergwerk
leiten", versuchte sie ihn abzulenken, nahm ihn bei seiner Patschehand und zog
ihn zurück in sein Kinderzimmer, "komm, wir gehen zusammenspielen."
Boh spielte eine Stunde mit seiner Mutter, bevor diese sich unter einem Vorwand
wieder von ihm verabschiedete und versuchte ihn ins Bett zu stecken. Diese
Prozedur ließ er widerstandslos über sich ergehen und wartete, bis sie aus dem
Zimmer gerauscht war. Dann stand er sofort wider auf, verwandelte sich in die
Mausgestalt und schlüpfte durch ein Loch in der Wandverkleidung hinter dem
Kissenstapel, dass er vor über einem Jahr entdeckt hatte, in die Tiefen des
alten Baues.
Die Idee, Haku zu besuchen, hatte sich in seinem Kopf festgesetzt und
folgerichtig machte er sich daran, nach einem Zugang zu dem Bergwerk zu suchen,
wo Haku sich aufhalten sollte.
Haku fühlte sich gut; mit spielerischer Leichtigkeit zog er die Loren den
Tunnel hinauf. Dies war die vierte und letzte Fuhre für heute, denn anstatt
fünf Loren, die er zu Anfang seiner Zeit hier im Bergwerk kaum ziehen konnte,
hatte er sich mittlerweile auf sieben Loren gesteigert.
Es war kein Ehrgeiz, der ihn dazu trieb, immer schneller immer größere Lasten
zu ziehen, sondern allein die Freude daran, seine eigene Kraft zu spüren und
das Blut durch die Adern rauschen zu fühlen.
In diesen Momenten konnte er das ganze Elend hier unten vergessen, die
trostlose, deprimierende Umgebung und seine mittlerweile fast übermächtige
Sehnsucht danach, Chihiro wieder zu sehen, die ihn manchmal so fürchterlich
quälte.
Und immer noch war da diese permanente, diffuse Sorge, dass Yubaba eines Tages
die tatsächlichen Verhältnisse hier unten entdecken könnte. Immerhin war die
Anzahl der Frösche hier unten auf immerhin 117 gestiegen und man hatte die
Zucht der Käferratten stark ausbauen müssen. Wenn er sich beim Lorenziehen
verausgabte, vergaß er diese Sorge für eine Zeit lang und fühlte sich besser,
als es ihm eigentlich ging.
117 Frösche hier unten bedeuteten, dass inzwischen gut ein Drittel aller
Froscharbeiter des Badehauses im Bergwerk schufteten. Haku erinnerte sich aus
seiner Zeit als Yubabas rechte Hand gut daran, dass die Belegschaft der
Froscharbeiter im Badehaus immer so um die 200 gelegen hatte.
Dazu kamen noch etwa 150 Yuna, also die Schneckenfrauen, und gut 80 andere
Beschäftigte, zu denen Füchse wie Lin, aber auch Kamaji, Torooru oder er
selbst gehörten, von den Susuwatari, den Rußmännchen einmal ganz abgesehen,
von denen es mehrere 1000 gab.
In diesem Moment schoss er mit großem Geschwindigkeitsüberschuss in die
Haupthöhle und hatte Schwierigkeiten, die Loren noch vor dem Ende des
Schienenstranges am Aufzug zum Stehen zu bringen. Eine Gruppe von
Froscharbeitern, die dort stand und offenbar einen Plausch führte, spritzte
erschrocken auseinander, als der Drache auf sie zustürmte.
Wiederholt hatte er versucht sich mit den Fröschen anzufreunden, aber es gab
eine Art unsichtbarer Barriere zwischen ihnen, die zu überwinden Haku
schließlich aufgegeben hatte, weil er durch das Belauschen verschiedener
Gespräche unter ihnen darauf gestoßen war, dass sie ihn einfach fürchteten,
ebenso wie Torooru.
In aller Ruhe entlud er danach die Loren in den Aufzug, woraufhin er sich auf
den Rückweg nach unten machte, um die Abbaumannschaft und Torooru abzuholen,
der dann wie immer mit der Kohlenladung nach oben fahren und mit dem Essen
zurück kommen würde.
Boh glaubte nun endlich eine Möglichkeit gefunden zu haben, nach unten in das
Bergwerk zu gelangen. Er brauchte nur dem Weg der Kohlen zu folgen.
Eine Weile hatte er versucht in den Raum am Ende des Flurs zu gelangen, der zum
Arbeitszimmer seiner Mama führte. Aus diesem kam immer dieser stinkende,
hässliche Troll und der hatte wohl etwas mit dem Bergwerk zu tun, aber es war
ihm einfach nicht gelungen, eine Möglichkeit zu finden, hinein zu gelangen.
Boh vermutete wegen des Trolls, der irgendwas mit den Kohlen zu tun haben
musste, weil er immer schwarz vor Kohlenstaub war, dass es in diesem Raum einen
Zugang zum Bergwerk geben müsse. Seine Mutter hatte aber wohl irgendwelche
magischen Siegel benutzt, um den Raum gegen den Zutritt von Unbefugten zu
schützen, zu denen offensichtlich auch er selbst gehörte.
Daher hatte er intensiv nachgedacht und war auf die Idee mit den Kohlen
gekommen. Wo wurden die Kohlen nun gebraucht. Bei Kamaji! Den Weg zu Kamaji
kannte er mittlerweile. Nicht nur den "Offiziellen" durch das Treppenhaus,
sondern den Weg durch die Lüftungsschächte, Zwischenwände und Mauerspalte des
riesigen, über hundert Jahre alten Baues.
Eine halbe Stunde später hatte Boh sich bis in den Kesselraum
heruntergearbeitet, wo er direkt unter Kamajis Podest herauskam. Dort gab es ein
loses Brett, dass er beiseite drücken konnte. Er quetschte sich an den Büchern
des alten Mannes vorbei, die neben seinem Podest gestapelt waren, und
orientierte sich in dem Raum. Kamaji war momentan stark beschäftigt, wie immer
in der Mitte einer Arbeitsnacht, sodass der alte Mann ihn nicht bemerkte.
Fleißig wuselten die Rußmännchen hin und her, jedes ein Kohlestück für den
stets gefräßigen Kessel schleppend. Diese Kohlestücke holten sie von irgendwo
hinter der Wand mit den unzähligen Schubladen, in denen Kamaji seine Zutaten
für die Kräuterbäder aufbewahrte. Die Löcher, in denen die Rußmännchen
immer wieder verschwanden, um neue Kohlestücke zu holen, mussten zu einem Ort
führen, an dem es einen Kohlevorrat gab.
Da dieser Kohlevorrat aber nicht ewig reichen konnte, würde er wohl von Zeit zu
Zeit aufgefüllt werden müssen. Von außerhalb, soviel wusste Boh durch das
Belauschen seiner Mama, kamen keine Kohlelieferungen, also wurde der Kohlevorrat
durch Kohle aus dem Bergwerk ergänzt. Daher nahm er an, dass es in diesem
Lagerraum auch einen Zugang zum Bergwerk geben könnte, denn was wäre
einfacher, als den Vorrat direkt aus dem Bergwerk nachzufüllen.
Boh krabbelte zum Rand des erhöhten Holzfußbodens und blickte auf den Estrich
herab, wo die Rußmännchen ihn noch nicht bemerkt hatten. Wenn er jetzt da
heruntersprang, würde es wahrscheinlich Tumult geben, wenn die kleinen
schwarzen Wesen ihn begrüßen. Dass heißt, falls sie ihn noch kannten. Also
verkroch er sich unter dem Sitzkissen vor Kamajis Tisch und wartete, bis dieser
eine Pause verordnete.
Als es schließlich soweit war, krabbelte unter dem Kissen hervor, bis zum Rand
des erhöhten Fußbodens an der Rückwand, vergewisserte sich noch einmal, dass
Kamaji, der in Seelenruhe gerade eine Zigarette paffte, ihn nicht bemerkte,
sprang die Stufe herunter und verschwand direkt im ersten Loch.
Da er nicht wusste, was ihn erwartete und es zudem noch ziemlich dunkel war,
tastete er sich vorsichtig vorwärts. Die Schnurrhaare, die er in dieser Gestalt
besaß, leisteten ihm dabei gute Dienste, auch dank der vielen Praxis, die er
beim Herumstreunen im Badehaus in allen möglichen und unmöglichen Ecken und
Winkeln gewonnen hatte.
Plötzlich war er von lauter kleinen Gestalten umrungen, die ihn berührten und
wild durcheinander quiekten. Die Rußmännchen hatten ihn bemerkt. Leider war es
so dunkel, dass er nur andeutungsweise ihre übergroßen Augen erkennen konnte.
Unter diesen Umständen konnte er sich auf keinen Fall mit ihnen verständigen,
weshalb er versuchte von hier fort an einen helleren Ort zu gelangen. Die
Rußmännchen jedoch ließen ihn nicht gehen.
Sie drängten ihn in eine bestimmte Richtung, quer zu dem Weg, den er zu nehmen
vorgehabt hatte. Kurz darauf gelangten sie in einen niedrigen, kleinen Raum,
dessen Größe er aufgrund der Dunkelheit nur ungefähr ausmachen konnte. Aber
soviel konnte er ausmachen, dass er, wenn er sich hier zurückverwandelte, es
ihn zerquetschen würde.
Dann brachte eines der Rußmännchen ein glimmendes Kohlestück herein, welches
den Raum in ein düsteres rotes Licht tauchte. Aber immerhin konnte man nun
wirklich etwas erkennen. Die Wände und der Boden bestanden aus Beton und die
Decke in vielleicht 50 cm Höhe aus rohen, unbehandelten Holzbrettern. Insgesamt
hatte der Raum vielleicht 2 Quadratmeter.
Auf etwa der Hälfte des Raumes war auf dem Boden eine Schicht aus Kohlestaub
ausgebracht, in der sich hunderte kleiner Kuhlen befanden. Einige Rußmännchen
ruhten sich in diesen Kuhlen aus. Links an der Wand war ein großer Vorrat an
Zuckersternchen aufgeschichtet, mit denen die Rußmännchen gefüttert wurden.
Alles hier war peinlichst sauber und ordentlich. Hier also wohnten die
Rußmännchen.
Nachdem sich die Rußmännchenmeute etwas beruhigt hatte, versuchte Boh sich
ihnen durch Zeichen verständlich zu machen, denn reden konnte er in dieser
Gestalt ja nicht. Dann erklang auf einmal ein leises, aber gut vernehmliches
Klopfen von draußen; Kamaji rief die Rußmännchen mit seinem Holzhammer wieder
zur Arbeit. Diese stürmten auch unter lautem Fiepen zum Ausgang des Raumes und
verschwanden um die Ecke, neue Kohlen zu holen.
Da ihn jetzt niemand mehr hinderte, hoppelte Boh hinter den Rußmännchen her.
Dort wo sie jetzt zuerst hinliefen, würde es auch die Kohlen geben. Als er den
Bereich außerhalb des Wohnraumes erreichte, kamen ihm die ersten Rußmännchen,
ein jedes einen schweren Kohlebrocken über Kopf tragend, wieder entgegen.
Zickzack bahnte Boh sich seinen Weg durch die geschäftigen Wesen hindurch, bis
er in einen großen Raum gelangte, wie er an den Hallgeräuschen durch das
Klackern der Kohlestücke hören konnte, die die Rußmännchen beim Aufnehmen
der Brocken erzeugten. Dieser Raum war deutlich kühler, als der Kesselraum oder
das Rußmännchenquartier, jedoch war er leider vollständig Dunkel, sodass Boh
nichts erkennen konnte.
Also machte er sich daran, sich den Raum mit seinen Schnurrhaaren zu ertasten.
Er hatte an der einen Seite, an der sich auch der Zugang befand, eine gerade
Wand und den Rest der Kammer schien ein großer Haufen Kohlestücke einzunehmen.
Außer dem niedrigen Zugang für die Rußmännchen, schien es dagegen keinen
weiteren Eingang zu geben.
Wenn die Kohlen also nicht hier unten aufgeschüttet wurden, dann musste es von
oben geschehen, dachte Boh bei sich, und begann, den Kohlenberg
hinaufzukrabbeln. Mehrfach rutschte er ab und setzte so kleine Lawinen aus
Kohlebrocken in Gang, die den Abhang herunterkullerten, schaffte es letztlich
jedoch, die Oberkante des Kohlehaufens zu erreichen.
Dort schloss sich ein etwa ein Meter breiter Betonsims an, der sich vielleicht
drei Meter nach rechts und links erstreckte und in dessen Mitte sich eine Tür
befand, wie Boh feststellte. Er konnte jedoch unter der Tür keinen Spalt
feststellen, durch den er sich hätte hindurchquetschen können. In der Mitte
wies die Tür allerdings einen senkrechten Spalt auf, wie die Aufzugtüren, die
er aus anderen Teilen des Badehauses her kannte.
Vielleicht war dies ja auch eine Aufzugtür? Um dies zu überprüfen, drückte
er sich zur Sicherheit dicht an die Rückwand neben der Tür, verwandelte sich
in seine Riesenbabygestalt zurück und tastete die Wand neben der Tür ab und
fand letztlich einen Lichtschalter, den er betätigte.
Eine einzelne, trübe Glühbirne, die an einem Draht in der Mitte des
quadratischen Raumes herunterhing, erleuchtete daraufhin die Szenerie. In der
Mitte der Wand auf dem oberen Sims befand sich tatsächlich eine fast drei Meter
breite Fahrstuhltür, wie von einem großen Lastenaufzug. Unter dem Sims gab es
eine etwa 5x5 Meter große und drei Meter tiefe Grube, in welche die Kohlen von
dem Aufzug aus hineingekippt wurden, wie man anhand der Spuren erkennen konnte.
Auf der anderen Seite, auf dem Boden der Grube gab es eine vielleicht 15 cm hohe
und 1 m breite Öffnung, durch welche jetzt wieder die Rußmännchen
hereinströmten, um Nachschub zu holen für den Kessel zu holen. Durch diese
Öffnung war auch er vor einigen Minuten gekommen. Zu seinem Verdruss musste er
feststellen, dass es keinerlei Knöpfe, Hebel oder Schalter gab, mit denen er
den Aufzug von dieser Seite aus steuern konnte.
Resigniert musste Boh am Ende feststellen, dass er von selbst hier nichts weiter
unternehmen konnte. Daher machte er das Licht wieder aus, verwandelte sich in
seine Mausgestalt zurück und wartete.
Leise hörte er nach einiger Zeit dann das Anlaufen von Elektromotoren und gut
zehn Minuten später öffneten sich die Aufzugtüren. Der hässliche Troll, den
er schon so oft im Büro seiner Mama beobachtet hatte, stapfte aus dem
erleuchteten Aufzug heraus, machte das Licht in dem Kohlesilo an und betätigte
dann einen Hebel im Aufzug.
Nun hob sich hydraulisch der Boden des Aufzugs, woraufhin die darin
aufgeschichteten Kohlen begannen, durch die Tür in das Silo zu rutschen. Wenige
Minuten später und unter Zuhilfenahme einer Schaufel und eines Besens hatte der
Troll den Aufzug weitestgehend geleert. Er betätigte erneut den Hebel, sodass
sich der Boden im Aufzug sich wieder senkte.
Boh huschte hinter dem Troll, der ihn die ganze Zeit über nicht bemerkt hatte,
in den Aufzug und versteckte sich hinter einigen Kohlebrocken, die ihren Weg
nicht in das Silo gefunden hatten. Da sein Fell mittlerweile vom Kohlenstaub
ganz schwarz geworden war, konnte man ihn auf den ersten Blick kaum von den
Kohlestücken unterscheiden und so harrte er in die vordere rechte Ecke des
Aufzugs gepresst, gespannt der Dinge, die da kommen mochten.
Geschwätzig durcheinander quatschend stiegen die Froschmänner aus den Loren
und machten sich auf den Weg in die Schlafhöhle, in der sie heute übernachten
mussten. Nichts desto trotz hatten sie gute Laune, weil sie heute wieder etwas
Vernünftiges zu essen bekommen würden und nicht die unvermeidliche
Käferrattensuppe, die es sonst tagein, tagaus zu kosten gab.
Heute würde es stattdessen Reis und eine Suppe geben. Einen Leckerbissen! Aber
sie hatten heute unten im Bergwerk geschuftet und sich diese Belohnung im
Schweiße ihres Angesichts verdient. Bis sie das nächste Mal wieder etwas
Vernünftiges zu beißen bekämen, würden sie wieder eine Woche im Terrarium
ausharren müssen.
Währenddessen schnallte Torooru Haku von seinem Zuggeschirr los und machte sich
dann auf den Weg, um die letzte Ladung Kohlen nach oben und das Abendessen nach
unten zu bringen. Als sich die Aufzugtüren schlossen, sah er noch kurz, wie
Haku wieder seine menschliche Gestalt annahm, bevor der Fahrstuhl gewohnt
energisch nach oben beschleunigte.
Haku setzte sich derweil auf seine Kiste, zog die Jacke seines ehemals weißen
Suikans aus und machte sich daran, mit einer plumpen Nadel und einem groben
grauen Garn, die Torooru ihm besorgt hatte, ein neues Loch zu stopfen. Trotzt
mehrerer Versuche, seinen Suikan zu waschen, war der Stoff durch den
allgegenwärtigen Kohlenstaub mittlerweile ebenso grau geworden, wie das Garn,
und die häufigen Waschversuche machten das Baumwollgewebe zudem noch brüchig.
Aber was sollte es? Wenn er hier unten nackt herumliefe, würde das auch
niemanden kümmern. Seine Holzsandalen waren bereits vor einem guten Jahr
zerbrochen und von den Ersatzsandalen, die er versucht hatte, aus einer alten
Holzbohle zu machen, hatte er sich immer Holzsplitter in die Füße getreten,
sodass er jetzt barfuß herumlief. Aber weder die Sandalen, noch der Suikan, den
er trug, gehörte wirklich ihm selbst. All diese Dinge gehörten dem Badehaus
und somit letztendlich Yubaba. Warum sollte er sich also darum kümmern, was
damit geschah?
Nein, so durfte er nicht denken! Die Sachen gehörten ihm nicht und waren in
seine Obhut gegeben worden. Es hatte sie also so pfleglich und sorgsam zu
behandeln, wie seine Situation es ihm erlaubte, ob die Sachen nun Yubaba
gehörten oder nicht. Also gab Haku sich noch mehr Mühe und stopfte das Loch,
so gut er nur konnte.
Die einzigen Sachen, die ihm gehörten, hatte er vor langer, langer Zeit bei
Kamaji in Verwahrung gegeben, und er bezweifelte, dass er in die Jacke und die
Hose von damals noch hineinpassen würde. Flüchtig schoss ihm der Gedanke durch
den Kopf, wieso er in den Suikan, den er jetzt schon so lange trug, immer noch
hinein passte. Hätte er nicht längst da herauswachsen müssen?
In diesem Moment jedoch kehrte Torooru mit dem Abendessen zurück, sodass Haku
diesen Gedanken nicht weiter verfolgte. Sorgfältig holte er seine Schüssel und
seinen Becher hervor, um seine tägliche Essensration in Empfang zu nehmen, die
er dann auf seiner Kiste hockend mechanisch und lustlos verzehrte. Wenigstens
brauchte er keine Käferrattensuppe zu essen.
Auf einmal fühlte er, wie etwas über seinen linken Fuß krabbelte, das kurz
darauf versuchte, an seinem Schienbein hinaufzuklettern. Verwundert blickte er
nach unten. War vielleicht eine der Käferratten entkommen? Nein, das konnte
nicht sein, denn hier war es doch viel zu hell für diese Tiere.
Haku erblickte ein schwarzes, etwa hamstergroßes Wesen, welches sich seltsam
vertraut auf ungeschickte Weise bewegte. Aus runden Augen blickte ihn das Tier
zuversichtlich an und machte "Chu". In diesem Moment fiel es Haku wie Schuppen
von den Augen und er strich über das Fell des Wesens, sodass der Kohlestaub
sich daraus löste und die hellgraue Farbe zum Vorschein kam. Es war Boh,
Yubabas Sohn!
Vorsichtig nahm Haku die kleine Gestalt auf die Hände und hob ich bis auf
Kopfhöhe. "Boh, was machst du denn hier? Willst du mich besuchen?", flüsterte
Haku. "Wehe, du verwandelst dich. Das könnte sonst Ärger geben."
"Chu", fiepste Boh erneut, ein Küsschen der Zuneigung andeutend.
Sachte reinigte er das Fell des Kleinen, gab ihm ein wenig von seinem Reis ab,
was dieser wie selbstverständlich annahm, bevor er Boh auf seine Schulter
setzte, aufstand und ihm das Bergwerk zeigte. Als sie aus dem Haupttunnel
zurückkehrten, war das Licht in der Schlafhöhle bereits gelöscht worden und
nur noch die Glühbirne direkt über dem Aufzug erzeugte eine dämmerige
Beleuchtung.
Die Aufzugtüren allerdings waren geschlossen, was bedeutete, dass der Aufzug
von jemandem aus den oberen Etagen benutzt wurde. Durch Boh abgelenkt, beachtete
Haku dies jedoch nicht und setzte sich erneut auf seine Kiste. "Boh, du solltest
jetzt wieder nach Oben gehen, sonst vermisst deine Mutter dich am Ende noch",
sagte er leise. Die Mausgestalt nickte beflissen.
In diesem Moment öffneten sich die Aufzugtüren und Haku sah unwillkürlich
hin. Niemand schien sich darin zu befinden. Trotzdem jagte ihm eine Gänsehaut
den Rücken hinunter und seine Nackenhaare stellten sich auf. Sämtliche
Alarmglocken in seinem Geist schienen mit einem Mal zu klingeln.
Er packte Boh, schob ihn in seinen Suikan, bevor er sich dann entschlossen zur
Seite und auf den Boden warf. Eine Feuerkugel löste sich aus dem Aufzug,
zischte durch die Luft und prallte gegen die Kiste, auf der er gerade eben noch
gehockt hatte. Die Kiste, in der er die letzten drei Jahre jede Nacht verbracht
hatte, explodierte in einem Hagel aus Holzsplittern, die von der Hitze der
Feuerkugel teilweise verkohlt waren oder sogar noch glimmten.
Wäre Boh ihn nicht besuchen gekommen, wäre er jetzt in dieser Kiste gewesen,
und Haku hatte keinen Zweifel daran, dass ihn die Feuerkugel zumindest schwer
verletzt, wenn nicht sogar getötet hätte. Er kannte diese Feuerbälle und
hatte schon öfters gesehen, wie Yubaba sie schleuderte.
Nur war niemand im Fahrstuhl zu sehen, was jedoch nichts bedeuten musste; Yubaba
kannte verschiedene Methoden, sich kurzfristig unsichtbar zu machen. Aus einem
weiteren Reflex heraus machte Haku geschmeidig eine weiten und hohen Satz in die
Mitte der Höhle. Gerade rechtzeitig, denn eine neuerliche Feuerkugel zischte
aus dem Fahrstuhl heraus, dicht an seinem Kopf vorbei und sengte ihm die Haare
auf der rechten Seite fort.
Das war knapp gewesen. Irgendetwas musste er unternehmen, sonst würde ihn bald
eine dieser Feuerkugeln erwischen. Am besten nahm seine Drachenform an, dann
würden ihm seine Schuppen einen guten Schutz geben. Nur musste er vorher Boh in
Sicherheit bringen, sonst lief er Gefahr, den Kleinen bei der Verwandlung zu
zerquetschen.
Haku spurtete in der Absicht los, in die Schlafhöhle der Frösche zu gelangen,
um Boh dort abzusetzen und eine Felswand zwischen sich und den Angreifer zu
bringen. In den Tunnel zu flüchten, der nach unten zum Kohleflöz führte,
wäre keine gute Idee gewesen, denn dieser Weg war schnurgerade und ohne
Deckung. Bis zum ersten Seitentunnel waren es zudem über 100 Meter. Bis dorthin
wäre er den Feuerkugeln schutzlos ausgeliefert gewesen.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine weitere Feuerkugel, die durch die Luft auf
ihn zuraste. Durch den Haken, den er schlagen musste, um dieser auszuweichen,
verfehlte er den Durchgang zur Nachbarhöhle, prallte schmerzhaft gegen die
Felswand, zimmerte mit der Stirn gegen eine vorspringende Felsnase, weil er mit
den Händen versuchte, Boh vor dem Zusammenstoß zu schützen, sodass er sich
nicht abstützen konnte, und klatschte dann zu Boden, wo er benommen liegen
blieb.
"Du hast keine Chance zu entkommen, Junge", ertönte Yubabas Stimme bedrohlich
aus dem scheinbar immer noch leeren Aufzug. Dann trat sie heraus,
materialisierte gewissermassen in dem Moment, da sie die Tür passierte. "Heute
werde ich dir den Garaus machen." Sie nahm ihre Hände hoch und erzeugte eine
neue Feuerkugel zwischen ihnen, wobei sich ein süffisantes Lächeln in ihrem
Gesicht abspielte.
Boh war derweil aus Hakus Suikanjacke herausgekrochen, wo es seine Mutter
erblickte, die sich gerade daran machte, seinen Freund Haku umzubringen. Das
machte ihn sauer! Sehr sauer!! Er sprang von Hakus Bauch herunter, der sich
gerade stöhnend an den Kopf fasste, und versuchte sich aufzusetzen, und
verwandelte sich in seine normale Gestalt zurück.
"Baba, du kannst doch ...", setzte er wütend an, kam aber nicht weiter, denn
hatte die Hexe hatte ihre Feuerkugel im Moment der Verwandlung geschleudert und
erwischte ihren Sohn, der jetzt direkt vor Haku stand, damit am linken
Unterschenkel. "Ieeeeek", machte dieser, seiner Mutter vorwurfsvoll in die Augen
blickend.
Yubaba hatte fassungslos ihre Augen vor Schreck weit aufgerissen. "Mein Baby",
brüllte sie los und stürmte zu Boh herüber, der jetzt mit erstauntem
Gesichtsausdruck zu seinem linken Bein herunterblickte. Seine rosafarbene Haut
war verkohlt und das Gewebe stellenweise bis zum Knochen weggebrannt, dort wo
ihn die Feuerkugel erwischt hatte. Ein süßlicher, Übelkeit erregender Geruch
nach verbranntem Fleisch breitete sich aus.
Obwohl es offensichtlich noch nicht weh zu tun schien, gab das Bein jetzt
allmählich nach, sodass Boh wie in Zeitlupe umkippte, noch bevor seine ihn
Mutter erreichen und stützen konnte.
"Was äst här los?", rumpelte Torooru, der von dem Lärm aufgewacht war und
sich jetzt im Durchgang zur Nebenhöhle aufbaute. Die meisten Frösche waren
mittlerweile auch wach und drückten sich, ängstlich und neugierig zugleich,
hinter dem Troll herum. "O Härrän, wälch Glanz än onsärär Höhlä",
säuselte er schließlich mit sarkastischem Unterton, als er Yubaba entdeckt
hatte.
"Mein Baby, mein Baby ist verletzt. So steht doch nicht herum, sondern helft
mir", jammerte Yubaba mit Entsetzen im Gesicht. Boh fing mittlerweile an hilflos
zu zappeln und begann vor Schmerzen herzzerreißend zu jaulen. Mit einem Grunzen
gehorchte der Troll und eilte an Yubabas Seite.
Haku hatte sich mittlerweile aufgesetzt. Blut rann aus einer Platzwunde an der
Stirn, dort wo er mit dem Kopf gegen den Felsen gestoßen war, und sein rechtes
Ohr schmerzte entsetzlich. Vorsichtig berührte er es und zuckte dann zurück.
Die zweite Feuerkugel, die ihm das Haar weggesengt hatte, hatte auch ihm auch
sein Ohr verbrannt.
Er beobachtete, wie die Hexe mit einem Wink ihres linken Zeigefingers die große
Wunde an Bohs Bein vereiste, während er überlegte, was er jetzt tun sollte.
Seinen Fluchtreflex unterdrückend und obwohl ihm klar war, dass die Hexe gerade
eben noch versucht hatte, ihn umzubringen, stand er auf und ging zu Boh, Yubaba
und dem Troll herüber, um zu sehen, ob er vielleicht helfen konnte. Er fühlte
sich schuldig, weil das große Baby, dass voller Vertrauen aus Freundschaft zu
ihm gekommen war, die Feuerkugel abbekommen hatte, die ihm zugedacht war.
Als Yubaba ihn erblickte, wurde sie schlagartig wütend. "Du, du, duuu bist
schuld!", tobte sie, wobei bereits einige Flammen aus ihrem breiten Mund
loderten. "Nur wegen dir war mein Junge hier unten. Na warte!" Damit holte sie
aus und zeigte mit wütendem Gesichtsausdruck in seine Richtung. Er versuchte
mit einem behänden Sprung ihrem Zauber auszuweichen, spürte dann aber, wie
sein Körper rasant eine neue Form anzunehmen begann.
Geistesgegenwärtig steuerte er dem entgegen, indem er seine eigene Verwandlung
in seine Drachenform einleitete. Kurze Zeit behinderten sich die beiden Zauber
gegenseitig, sodass weder die eine, noch die andere Verwandlung geschah, dann
aber gewann seine eigene Drachenmagie die Oberhand und er vollendete seine
Verwandlung als weißer Drache mit einer großen Lücke in der grünen Mähne
hinter seinen Hörnern.
Sofort jagte die Hexe vor Wut und Enttäuschung einen weiteren Feuerball hinter
ihm her, der ihn am Hals erwischte und ein weiteres Loch in seine Mähne
brannte. Durch die Schuppen drang die Hitze des Feuerballs jedoch nicht
hindurch, sondern hinterließ nur einen dunklen Brandfleck auf seinem ansonsten
makellos weißen Leib.
Ärgerlich knurrte er Yubaba an, einen Sprung in ihre Richtung andeutend.
Erschrocken zuckte die Hexe daraufhin zusammen, machte eine kreisende
Abwehrbewegung und erzeugte so eine Art magischen Schild, der die Luft wabern
ließ und den direkten Weg zu ihr versperrte.
"Da, da sehr ihr es", rief sie hysterisch in Verkehrung der Tatsachen aus, "der
Drache wollte mich und mein Baby umbringen. Aber glaubt mir, er wird nicht
davonkommen!" Der Schild dehnte sich weiter und immer weiter aus, bis er sich zu
einer Blase geformt hatte, die Yubaba, Boh, Torooru und einige Frösche
umhüllte.
Haku wurde klar, dass es zwecklos sein würde, zu versuchen da hindurch zu
dringen, und um die Situation zu entspannen, setzte er zum Rückzug an, zog sich
fliegender Weise in die dunklen Tiefen der Bergwerksstollen zurück, wo er sich
in Menschengestalt zurückverwandelte, verharrte und über die Situation
nachdachte.
Dieser direkte Angriff auf sein Leben hatte ihn überrascht und gleichzeitig
verwirrt. War nicht sein Leben durch den Ausbildungsvertrag mit Yubaba
geschützt? Er wusste, dass Yubaba immer peinlichst genau auf die wortwörtliche
Einhaltung der Verträge achtete und dass sie Konsequenzen zu befürchten hatte,
wenn sie ihre Teile der Abmachungen nicht erfüllte. Das hielt sie natürlich
nicht davon ab, die Verträge im Rahmen der Interpretationsmöglichkeiten zu
ihren Gunsten auszulegen.
Ein direkter Mordversuch ließ sich allerdings nicht uminterpretieren und Yubaba
tat solche Dinge nur, wenn sie keine Folgen zu fürchten hatte und der Nutzen
für sie größer war, als der absehbare Schaden. Dies bedeutet also, dass
entweder sein Tod einen sehr großen Nutzen für sie darstellte oder dass ihr
dadurch keine Nachteile entstehen würden.
Sie hatte schon vorher versucht ihn zu töten, dabei aber immer indirekte
Methoden verwendet, sodass er annehmen konnte, dass sein Tod für sie keinen
unmittelbaren, übermäßigen Nutzen für sie haben konnte. Dies implizierte,
dass sie also jetzt nichts zu befürchten hatte, wenn sie ihn offen und direkt
umbrachte. Hakus Herzschlag setzte für eine Sekunde aus. Es bedeutete also, es
musste besagen, es meinte: Sein Vertrag mit Yubaba war abgelaufen. Er war frei!
Gut eine Stunde später kehrte Haku vorsichtig in seiner menschlichen Gestalt
zurück in die Haupthöhle, wo Boh und Yubaba mittlerweile verschwunden waren.
Torooru saß neben dem Aufzug auf dem Boden, wo er trübselig vor sich
hinstarrte, und die Frösche waren wohl wieder in der Schlafhöhle verschwunden.
Haku selbst bot einen fürchterlichen Anblick: Aus seiner Platzwunde an der
Stirn war Blut über seine linke Gesichtshälfte gelaufen, wo es geronnen war,
und auf seinem Suikan hatten sich auch einige Blutflecke gebildet. Sein rechtes
Ohr hatte eine feuerrote Farbe angenommen, die Haut war geschwollen, begann sich
bereits zu pellen und seine an der rechten Seite und von dem letzten Feuerball
im Nacken weggesengten, nun asymmetrischen Haare verstärkten sein wildes
Aussehen.
Rasch eilte er zu Torooru herüber, der ihm stumpfsinnig entgegen sah.
"Was ist passiert, Torooru?", wollte er von dem Troll wissen.
"Sä äst förchtärläch wötänd gäwäsän", sagte er rau, "dann hat sä dä
Aofzogtör mät aänäm Bannfäld värspärrt, das nor mäch händorchlässt.
Sä wäll däch nämläch för ämmär här ontän gäfangän haltän."
"Aber Torooru, deswegen musst du doch nicht traurig sein. Ich komm hier schon
irgendwie heraus, und wenn ich mich durch den ganzen Felsen nach oben graben
muss", versuchte Haku den Troll aufzumuntern. "So lange bleibt doch alles wie
bisher."
"Naän, do värstähst nächt", entgegnete Torooru verzweifelt. "Sä hat
gäsagt, wänn äch däch tötä, dann lässt sä mäch gähän. Nach Haosä,
nach Norwägän zo maänär Frao Fräda ond maänär Tochtär Ängäborg."
Haku hockte sich rechts neben dem Troll auf den Boden. "So etwas Ähnliches hat
sie mit mir auch schon versucht", erzählte er dem Troll, der jetzt seinen
schweren Arm kumpelhaft über Hakus Schulter legte. "Du darfst ihr auf keinen
Fall über den Weg trauen. Sie versucht nur, Hass und Zwietracht zwischen und zu
säen."
"Aof jädän Fall äst sä sähr got darän!", entgegnete Torooru, schnaufte
einmal und presste den Jungen blitzartig mit seinem massiven, rechten Arm wie
mit einer Schraubzwinge gehen seinen vernarbten Körper. Haku bekam kaum noch
Luft und beide Arme waren so eingezwängt, dass er sie nicht mehr bewegen
konnte. Wollte Torooru ihn umarmen, dachte er verstört. Dann brauchte er doch
nicht so zuzudrücken.
Langsam drückte der Troll ihn um seinen Körper herum, bis Haku hilflos vor
seiner Brust hing. "Torooru, was tust du?", japste er völlig verwirrt. Dieser
antwortete jedoch nicht und sah Haku mit versteinertem Blick direkt ins Gesicht.
Dann griff der mit der linken Hand nach Yubabas Halsband, welches Haku noch
nicht abgenommen hatte, es fest packend und begann zu ziehen.
Schlagartig wurde Haku klar, war Torooru tun wollte. Er wollte ihn tatsächlich
umbringen, indem er ihm Yubabas magisches Halsband herunterriss. Da Haku es sich
selber umgelegt hatte, bewirkte die Magie des Bandes, dass auch nur er selber es
sich wieder abnehmen konnte. Wenn Torooru dies jetzt tat, würde die Magie des
Halsbandes ihn unmittelbar töten, zumindest wenn man Yubabas Worten Glauben
schenkte.
Aber Haku sah keine Veranlassung, es darauf ankommen zu lassen. Schnell
überlegte er, ob es Sinn machte, in seine Drachengestalt zu wechseln, um sich
aus Toroorus Umklammerung zu befreien, aber er kam zu der Überlegung, dass ein
Wechsel in die Drachengestalt Toroorus Chancen, ihm das Halsband herunter zu
reißen, eher noch erhöhte. Er saß in der Falle!
Immer weiter zog Torooru an dem Halsband, dehnte es so weit, dass Haku
problemlos den Kopf hätte herausziehen können, aber er bemerkte, dass dem
Troll die Hand vor Angst zitterte. Verzweifelt streckte er seinen Kopf so weit
vor, wie es seine Lage zuließ, um dem Zug am Halsband nachzugeben, so gut es
eben ging.
Dann auf einmal ließ Torooru das Halsband und wenige Augenblicke darauf auch
Haku los, der keuchend zu Boden sackte. Schnell rappelte er sich auf, bevor er
ein paar Schritte von dem Troll zurückwich, der jetzt förmlich in sich
zusammenzusinken schien und sich hilflos die Hände vor das Gesicht schlug.
"Äch kann äs nächt. Äch bän aän Värsagär!", schluchzte der Troll. "Äch
wärdä här ontän stärbän ond maänä Frao ond maänä Tochtär nä wädär
sähän."
Schockiert über das eben Geschehene blickte Haku zu dem Troll herunter. Wenn er
noch länger hier unten blieb, musste er damit rechnen, dass früher oder
später entweder Yubaba oder Torooru ihn erwischen und töten würde, oder
jemand anderes, den die Hexe hier unten einschleuste.
Mit Erschrecken stellte er fest, dass ihn diese Aussicht in keinster Weise
beunruhigte. Hätte er nicht beschlossen, sein Versprechen Chihiro gegenüber zu
erfüllen, würde er sich längst aufgegeben haben, um sich von Yubaba
abschlachten zu lassen. Doch jetzt er wollte leben und Chihiro wiedersehen.
Vielleicht gab es ja doch noch eine Zukunft für ihn und deswegen musste er hier
heraus. Schleunigst!
Fieberhaft überlegte Haku, was er tun konnte. Durch den Aufzug konnte er nicht
hinaus, doch probeweise ging er dorthin, wo er seine Hand nach dem Hebel
ausstreckte, mit dem man die Kabine herunterholen konnte. Doch kurz bevor er den
Hebel berührte, war es, als träfe ihn ein elektrischer Schlag, der fast sofort
Brandblasen auf den Fingerkuppen seiner rechten Hand verursachte.
Für einen erneuten Versuch verwandelte er sich in seine Drachengestalt, mit dem
Ergebnis, dass seine Krallen teilweise angeschmolzen waren. Seine bloßen
physischen Kräfte als Drache waren hier nicht ausreichend und über die Magie,
die hinter diesem Bannfeld stand, wusste er nicht genügend, um damit fertig zu
werden.
Es musste doch irgendeinen Weg hier herausgeben. Natürlich konnte er sich durch
den massiven Fels hindurchgraben, wie er es schon einmal getan hatte, als er die
Wasserader gefunden hatte. Allein mit dem Tempo von damals würde er dazu Monate
brauchen und seinerzeit waren seine Krallen nach 20 Metern graben durch den Fels
schon teilweise abgenutzt gewesen.
Wie tief sie hier waren, wusste er nicht genau, aber einen Kilometer waren sie
mindestens unter der Erdoberfläche, wenn er die Dauer und die Geschwindigkeit
einer Aufzugfahrt abschätzte. So lange würden seine Krallen niemals
durchhalten und er würde immer wieder warten müssen, biss sie nachgewachsen
waren. Bei dieser Methode würde Yubaba viel zu viel Zeit haben, um etwas gegen
ihn zu unternehmen.
Da fiel ihm ein, dass es doch außer dem Aufzugschacht noch weitere Schächte
gab, die bis zur Oberfläche führten: die Lüftungsschächte. Rasch blickte er
nach oben zur Decke, wo die beiden Ventilatoren des Zu- und Abluftschachtes
angebracht waren. Gegen die Strömung zu arbeiten konnte sich als ungünstig
erweisen, weshalb Haku sich für den Abluftschacht entschied, der die warme Luft
nach außen beförderten.
Er schnellte vom Boden hoch, krallte sich an die felsige Decke neben dem
Ventilator, den er dann entschlossen aus seiner Verankerung und zu Boden riss.
Von seiner Position unter der Decke blickte anschließend herunter und sah noch
einmal kurz zu Torooru. Der Troll beachtete sein Tun in keinster Weise, sondern
saß weiterhin an derselben Stelle auf dem Boden, wo er leise vor sich
hinweinte.
,Ich werde dich hier herausholen', schwor sich Haku, bevor er in die nur
freigelegte Öffnung tauchte und sich auf den Weg nach Oben machte.
Der Weg erwies sich als einfacher, als er gedacht hatte. Zwar hatte der
Luftschacht einen Durchmesser, der nur wenig größer war, als der seines
Drachenkörpers, aber dennoch kam er relativ problemlos voran, bis auf die
beiden Male, wo er stecken blieb und sich den Weg auf ein paar Metern
freischarren musste. Er hoffte nur, dass niemand direkt unter dem Schacht stand
und das Geröll abbekam, dass er weggekratzt hatte.
Lediglich kurz vor dem Ziel seiner Flucht kam er an einer seitlichen Zuführung
vorbei, aus der mehrere hundert Grad heißer Qualm in den Schacht strömte. Haku
musste die Augen schließen und die Luft anhalten, um seine Lungen nicht zu
verbrennen. Ansonsten schirmten seine Schuppen die Hitze in den wenigen
Augenblicken wirkungsvoll ab, die vergingen, bis er plötzlich direkt neben dem
Badehaus in die kühle Nacht hinaus schoss.
Ein paar Mal kreiste er über dem Badehaus, sich die Gegend von oben besehend.
Er war aus dem Schornstein herausgekommen, von dem er gedacht hatte, dass er nur
dazu, diente die Rauchgase aus Kamajis Kessel abzuleiten. Offensichtlich diente
er auch zur Entlüftung des Bergwerks.
Kamaji. Spontan musste Haku an Kamaji denken, den alten Mann, der ihn hier vor
so vielen Jahren hier freundlich aufgenommen hatte und ihm auch davon abgeraten
hatte, Yubabas Lehrling zu werden. Außerdem hatte Kamaji ja auch noch seine
alten Kleider. Wie Recht dieser damals doch gehabt hatte. Einem jähen Impuls
folgend flog er zu dem Treppenabsatz vor der Tür zum Kesselraum herunter, wo er
landete und in seine menschliche Gestalt wechselte.
Als er den Türknauf drehen wollte, stellte er fest, dass seine Hand vollkommen
schwarz geworden war. Über und über war er mit schwarzem Ruß bedeckt, den er
sich beim Flug durch das letzte Stück des Schornsteins eingefangen hatte. Sein
Suikan war mit schwarzem Puder bedeckt, sein Gesicht, seine Haare, seine Füße,
einfach alles. So gut es ging versuchte er das Zeug los zu werden, indem er sich
abklopfte, aber groß war sein Erfolg nicht.
So betrat er denn, schmutzig wie er war, den Vorraum mit den wichtigsten
Steuerventilen, eilte zielstrebig hindurch, bevor er den Kesselraum betrat. Der
alte Mann war stark beschäftigt mit verschiedenen Anforderungen von
Spezial-Kräutermischungen, dass er Haku zuerst nicht bemerkte. Die
Rußmännchen jedoch bemerkten ich sofort und stellten unaufgefordert ihre
Arbeit ein, was Kamaji seinerseits dann schnell auffiel.
"Was ist hier los", polterte er los und klopfte mit seinem Holzhammer auf die
Mauer. "Wollt ihr wohl weiterarbeiten oder muss ich euch wieder in toten Ruß
verwandeln?" In diesem Moment erblickte er durch seine unentwegt getragene
Sonnenbrille, mit dem er eigentlich nur das helle Licht abblocken wollte, wenn
er in das grelle Feuer des Ofens schaute, eine ihm völlig unbekannte und
entsetzlich abgerissene Person.
Die Gestalt hatte eine kleine annähernd menschliche Gestalt, wies jedoch im
wesentlich eine schmutzig graue Färbung auf und war entsetzlich abgemagert. Das
halb zerfetze Kleidungsstück, das die Person trug, war wohl irgendwann ein
Suikan gewesen und ihr Verfilztes, über Schulter langes Haar war auf der einen
Seite merkwürdig asymmetrisch weggeschnitten. Auf der Stirn war eine weißliche
Narbe auszumachen und vom rechten, feuerroten Ohr hingen Hautfetzen herunter,
die sich abgepellt hatten.
Kamaji war daran gewöhnt, dass ab und zu solche Gestalten bei ihm auftauchten
und nach einer Arbeit im Badehaus fragten. Nach bestem Wissen und Gewissen
versuchte er diese Leute von Yubaba fern zu halten, was ihm selten genug gelang.
Diese Gestalt jedoch schien irgendwie anders zu sein, als die sonstigen
Anwärter, die Lohn und Brot im Badehaus strebten.
Ruhig und nachdenklich blickte die Erscheinung ihn an, ohne jede Nervosität
oder Ängstlichkeit, die ihm so häufig entgegen geschlagen war. Unwillkürlich
erwiderte Kamaji diesen Blick, sah in die großen, grünen Augen. Schlagartig
wurde ihm dann klar, wer da vor ihm stand: Es war Haku, der Drache Haku, Yubabas
Lehrling.
"Haku, was ist denn mit dir passiert?", entfuhr es ihm bestürzt. Seine
Kräuterbäder hatte er in diesem Augenblick vollkommen vergessen; die konnten
warten!
"Nichts, aber danke der Nachfrage", entgegnete Haku. "Ich bin gekommen, um mich
von dir zu verabschieden. Meine Lehrzeit ist abgelaufen, ich werde fortgehen und
ich möchte mich bei dir für deine Freundlichkeit bedanken, die du mir erwiesen
hast." Formvollendet verbeugte er sich vor dem alten Mann und fügte dann
unsicher hinzu: "Hast du vielleicht meine Sachen noch, mit denen ich vor acht
Jahren hier angekommen bin? Wenn du willst, verschwinde ich auch wieder."
Hastig kletterte Kamaji auf seinen sechs Armen von dem Podest herunter und
stürzte zu Haku hin. "Meine Güte, nein Haku. Wer sagt denn, dass du wieder
gehen sollst. Bitte bleib hier und ruh dich aus. Bist du sicher, dass es dir gut
geht?", fragte Kamaji erneut, als er bei Haku angelangt war. "So sag mir doch,
was Yubaba mit dir angestellt hat."
Haku berührte den vor ihm stehenden Alten an der Schulter. "Also gut Kamaji,
wenn du willst, leiste ich dir noch ein wenig Gesellschaft. Über Yubaba möchte
ich nur ungern reden aber du kannst mir glauben, dass es mir nicht so schlecht
geht, wie ich gerade aussehe", sagte er, indem er mit Kamaji zu dessen Tisch
herüber ging. "Ich bin gerade aus dem Bergwerk unter uns geflohen. Durch den
Schornstein. Deshalb bin ich auch so schwarz vor Ruß."
"Das Bergwerk? Ich habe lange nichts mehr davon gehört", sagte der alte Mann,
als sie am Tisch Platz genommen hatten. "Du bist von dort unten geflohen? Wieso?
Hat das vielleicht mit dem Riesentheater vorhin um ihren Sohn Boh zu tun? Sie
hat das ganze Badehaus in Aufruhr versetzt, weißt du." Er griff zu seinen
Sachen herüber und holte eine Schachtel hervor, die Reisgebäck enthielt, wie
sich herausstellte. Dieses bot er Haku an, aber dieser nur der Höflichkeit
halber ein Stück, denn er hatte keinen Appetit.
In diesem Moment klingelte es wieder und einige neue Badeplaketten fielen aus
der Öffnung in der Decke, wo sie sich zu den Fünf bereits Vorhandenen
hinzugesellten. Jetzt waren bereits Acht da. "Kamaji, ich glaube du solltest
dich um deine Kräuterbäder kümmern. Wenn zu lange nichts passiert, kommt
bestimmt jemand nachschauen, was los ist", machte er aufmerksam. "Wir können
doch auch so weiterreden."
"Ja, ja, ich glaube du hast Recht", brummelte Kamaji daraufhin, bevor er wieder
auf sein Podest kletterte und eifrig anfing, die Plaketten abzuarbeiten.
"Yubaba wollte mich nicht gehen lassen", berichtete Haku. Ihre Mordabsichten
verschwieg er lieber. "Ich habe aber herausbekommen, dass mein Lehrvertrag
abgelaufen war und ich gehen konnte. Da bin ich durch den Lüftungsschacht
abgehauen, denn den Aufzug hatte sie mit einem Bann versiegelt. Dabei habe ich
mich ein wenig verletzt, es ist aber nicht weiter schlimm. Bis morgen, glaube
ich, ist bei mir alles verheilt. Ich bin ein Drache, bei mir heilt alles sehr
schnell."
"O Junge, das sieht Yubaba ganz ähnlich, dass sie dich nicht fortlassen will",
meinte der Alte, während er gerade getrocknete Blutegel zusammen mit Ginseng
für das nächste Kräuterbad zermahlte. "Aber du musst aufpassen. Du musst
alles hier lassen, was dem Badehaus gehört, außer Yubaba hat ausdrücklich
erlaubt, es mit fort zu nehmen. Ich glaube, das, was du da anhast, gehört auch
dazu."
Nachdenklich blickte Haku an sich herunter. Eigentlich hätte er das wissen
müssen, aber er trug die Sachen jetzt schon so lange, dass er nicht mehr daran
gedacht hatte. Alles was er gerade trug, hatte er aus dem Fundus des Badehauses
erhalten, sogar seinen Lendenschurz und seine jetzt kaputten Holzsandalen, die
er im Bergwerk zurückgelassen hatte.
Yubaba würde es ihm als Diebstahl auslegen und wer wusste, mit welcher Magie
die Kleidung geschützt war, was diese bewirken konnte, wenn er damit ohne ihre
Erlaubnis den Bannkreis des Badehauses verließ. Die Hexe war da sehr
einfallsreich. Er musste diese Sachen unbedingt los werden, weshalb er sich
schweigend auszuziehen begann.
Als Kamaji eine Zeit lang nichts von Haku hörte, drehte er sich nach ihm um und
ließ beinahe seine Mahlscheibe von der Mauer fallen, als er ihn unbekleidet am
Fuß der Rampe zur Öffnung der Ofenklappe stehen sah. Seine Sachen hatte er
zusammengeknüllt und er schickte sich an, diese kurzerhand dort hinein zu
befördern.
"Aber Junge, was tust du denn da!?", entfuhr es dem sechsarmigen Meister des
Kessels und er kletterte sofort vom Podest herunter, nicht ohne zuvor den
Mechanismus zu deaktivieren, der die Klappe zum Brennraum periodisch öffnete.
Etwas belämmert stand er jetzt auf dem Ausleger vor der Ofenklappe und blickte
sich hilfesuchend nach Kamaji um. "Du hast es doch selbst gerade gesagt, Kamaji.
Ich muss die Sachen los werden. Am besten ist es, sie zu verbrennen, dann kann
Yubaba ihre Spur nicht verfolgen. Dass heißt, falls sie es denn versucht",
sagte er, konsequent der Logik folgend. "Könntest du bitte die Klappe wieder
öffnen?"
"Ja willst du denn so von hier fortgehen?" Kamaji blickte Haku ungläubig an,
nebenbei registrierend, wie ausgezehrt der Junge war; man konnte jede Rippe
einzeln zählen. Zudem war seine Haut, dort wo unter seiner Kleidung kein Ruß
hingelangt war, von einem fast gespenstisch hellem Ton, der durch die lange Zeit
ohne Sonne im Bergwerk verursacht worden war.
"Mir bleibt doch nichts anderes übrig, Kamaji. Wenn du mir meine alten Sachen
gibst, werde ich damit schon irgendwie klar kommen. Es ist aber auch nicht
schlimm, wenn du sie nicht mehr hast; sie werden ohnehin zu klein sein. Dann
werde ich mir eben woanders etwas organisieren müssen", meinte der Junge
ernsthaft. "Bitte öffne doch die Klappe, damit ich dieses Zeug endlich los
werden kann."
"Also gut", lenkte Kamaji ein, griff mit seinen Teleskoparmen nach dem Hebel,
der die Ofenklappe aktiviert. "Trotzdem kannst du so nicht fortgehen. Ich werde
mal schauen, wo ich deine Sachen verstaut habe. Äh, was ist übrigens mit dem
komischen blauen Halsband, dass du da noch trägst? Willst du das nicht auch
loswerden?"
Haku schleuderte seine alten Sachen in die lodernden Flammen, bevor er den
Verschluss des Halsbandes öffnete, welches daraufhin seine Farbe von Blau zu
Grün zurückänderte und somit gewissermassen entschärft war. "Gut, dass du
mich darauf aufmerksam machst. Dieses Halsband habe ich von Yubaba bekommen und
es hat gewisse magische Eigenschaften. Es wäre schade, es zu zerstören. Ich
glaube, ich werde es verstecken", sagte er und trat vom Steg zur Klappe des
Ofens herunter. "Wenn du gestattest, gehe ich in den Vorraum und wasche mich
dort am Waschbecken."
"O ja, mach das ruhig", meinte Kamaji, während er sich am Kopf kratzte und zu
erinnern versuchte, wo er Hakus Sachen versteckt hatte. Dann fiel es ihm wieder
ein und er musste innerlich stöhnen. Kamaji fuhr seine Teleskoparme aus, um das
Tongefäß zu holen, welches in Einer von zwei Reihen hoch über den Schubladen
an der Seite mit der kleinen Schiebetür stand. Alle sechs Arme musste er zur
Hilfe nehmen, denn das Tongefäß war schwer und befand sich in mehr, als fünf
Metern Höhe.
Mit einem Rumms krachte das Gefäß auf den Holzfußboden und Kamaji musste
seinen müden alten Rücken durchstrecken, der ihm bei der Last eben fast den
Dienst versagt hätte. Nebenan hörte er, wie Haku den Wasserhahn aufgedreht
hatte, sich von den Geräuschen her wohl gerade einseifend. Dann schaute er in
das Tongefäß und war froh, dass er das Richtige erwischt hatte.
Unter mehreren Lagen alter Handtücher fanden sich Hakus fein säuberlich
gefalteter, blauer Yukata mit Gürtel, seine weiße Hakama und ein Paar
Sandalen. Das war alles, was der Junge damals mitgebracht hatte. Kopfschüttelnd
hielt Kamaji die Sachen hoch. Da würde Haku niemals mehr hinein passen, außer,
man nähte es um.
Aber er hatte ja noch etwas zum Nähen, fiel ihm wieder ein. Er eilte zu seiner
Kommode, in der er hastig kramte, bevor er ein altes, etwas löchriges,
grüngelb kariertes Betttuch hervorzerrte, welches, im Gegensatz zu den
Handtüchern, ihm selbst gehörte. Dann wühlte er noch eine Schere, einen
Bindfaden, Nähnadeln und Garn hervor. Vielleicht konnte man damit ja etwas
anfangen.
"Hier, sind deine alten Sachen", sagte er zu Haku, als dieser immer noch in
sichtbar schlechtem Zustand, aber zumindest sauber aus dem Vorraum
zurückkehrte. "Ich habe nichts Besseres, aber nichts davon gehört Yubaba."
Er gab Haku die Sachen und beeilte sich dann, mit dem Zubereiten der
angeforderten Kräuterbäder fortzufahren, bevor noch jemand auf die Idee käme,
nachzuschauen. "Danke Kamaji. Aber du hättest mir Bescheid sagen sollen, mit
dem Tongefäß. Dann hätte ich dir doch geholfen", sagte Haku, bevor er mit
einer Geste das Tongefäß zurück an seine Stelle hoch oben, über den
Schubladen.
Mit einem Seufzer setzte er sich dann an Kamajis Tisch, inspizierte seine
Sachen, begann die Nähte seiner Hakama aufzutrennen und das Betttuch
zuzuschneiden, um dann damit die Hose zu erweitern. Wegen der Brandblasen an den
Fingerkuppen seiner rechten Hand fiel ihm das Nähen sehr schwer, doch er
ignorierte den Schmerz und machte verbissen weiter.
Gut eine Stunde später hatte er sich aus einem Stoffstreifen und einem
Bindfaden einen neuen einfachen Lendenschurz gemacht, sowie Yukata und Hakama so
erweitert, dass sie ihm wieder passten.
Nicht jedoch die vielleicht etwas groben, aber zumindest geraden Nähte, sondern
die Farbzusammenstellung mit dem grüngelb karierten Stoff des Betttuchs in
Kombination mit dem Blau und Weiß seiner alten Sachen und die leicht
verbesserungsfähigen Proportionen, die Sachen waren nun zwar weit genug, aber
immer noch zu kurz, machten das Ergebnis etwas fragwürdig.
Kamaji konnte sich ein Lachen nur mühsam verkneifen, als er das Resultat von
Hakus Bemühungen erblickte. Der Junge sah einfach komplett idiotisch in diesem
Aufzug aus und es hätte sehr lustig sein können, wenn es nicht so traurig
gewesen wäre. "Ja, ich glaube das geht", äußerte sich Kamaji dann,
"jedenfalls ist es besser, als ganz ohne zu gehen."
"Vielen Dank nochmal, Kamaji, für alles. Ich sollte jetzt gehen, bevor noch
jemand kommt, oder Yubaba merkt, dass ich entkommen bin." Damit verbeugte er
sich noch einmal feierlich vor Kamaji, bevor er sich dem Ausgang zuwandte und
anschickte zu gehen.
"Ja Haku, die Nacht ist bald zu Ende und dann kommt Lin und bringt mir und den
Rußmännchen das Essen", murmelte der alte Mann mehr zu sich selber und fügte
dann laut hinzu: "Ich wünsch dir alles Gute und halt dich von alten Hexen fern!
Ach, und grüß mir Chihiro, wenn du sie wiedersiehst. Das ist es doch, was du
willst, nicht wahr?"
Haku drehte sich noch einmal zu Kamaji um und lächelte etwas verlegen, bevor er
durch den Vorraum mit den Hauptventilen und durch die Tür nach draußen
verschwand. War er denn so leicht zu durchschauen?
Nachdenklich steckte sich Kamaji noch eine Zigarette an, nachdem Haku eine Weile
verschwunden war und fragte sich dann, wo Lin mit dem Abendessen blieb. Dann
fiel ihm siedend heiß ein, dass er noch sein Geschirr nach draußen stellen
musste. Sonst würde Lin wieder mit ihm meckern.
Auf dem Treppenabsatz vor der Tür zum Kesselraum wechselte Haku zurück in die
Drachengestalt, wo er sich majestätisch in den Nachthimmel erhob und zu dem
Steinfrosch oben an der Landungstreppe der Fähre, flog der die Grenze des
Badehausbesitzes markierte. Im offenen Maul dieses Frosches versteckte er in
einer Nische, die er vor langer Zeit entdeckt hatte, Yubabas Halsband, bevor er
erneut losflog, um den Schienen der Unahara Eisenbahnlinie zu seinem Ziel zu
folgen.
So schnell, wie er konnte, viel schneller, als damals flog er, als er Chihiro
von dort zurückgebracht hatte, wohin er jetzt erneut reiste: zu Zeniba. Damals
hatte er nicht schneller durch die Luft sausen können, aus Rücksicht auf das
kleine Mädchen und die beiden Verwandelten, Boh und den Yu-Vogel. Aber jetzt
hinderte ihn nichts, auch Kamajis scherzhafte Warnung vor alten Hexen, so
schnell wie er wollte dorthin zu preschen.
Von Zeniba erhoffte er sich nämlich einen Hinweis darauf, wie er Chihiro in der
Menschenwelt wiederfinden konnte, und herauszufinden, welches Tor er in ihrer
Welt ansteuern musste, um in ihre Nähe zu gelangen.
Immerhin hatte Yubabas Schwester Chihiro dieses magische Haarband geschenkt und
besondere magische Gegenstände wie dieser hatten meistens eine starke magische
Ausstrahlung, die man über große Entfernungen hinweg lokalisieren konnte. Wenn
jemand wusste, wie man das Haarband in der Menschenwelt fand, dann Zeniba
Zu seiner großen Enttäuschung fand er bei seiner Ankunft dort anstelle von
Zenibas altem Bauernhof nur eine leere Wiese vor. Nichts deutete darauf hin,
dass hier vor wenigen Jahren mal einige eingezäunte Gebäude und Gemüsebeete
gewesen waren. Darauf, dass er hier richtig war, wies allerdings die Tatsache,
dass der Weg, der durch den Sumpf zur Haltestelle der Eisenbahnlinie führte,
immer noch noch vorhanden und in gutem Zustand war.
Die ganze Angelegenheit erschien Haku sehr merkwürdig, sodass er versuchte, die
Wiese eingehender zu untersuchen. Sobald er jedoch die Wiese betrat und sich der
Mitte zu nähern versuchte, bekam er plötzlich ausnehmend gute Laune und
irgendeine andere Stelle am Rand des Sumpfes wurde mit einem Mal sehr
interessant. Verließ er die Wiese dann, sich dieser Stelle zu erfreuen,
verflüchtigte sich dieser Effekt nach kurzer Zeit.
Mehrmals probierte er dann, sich dem Zentrum der Wiese zu nähern, wo damals
Zenibas Haus gestanden hatte, aber es passierte jedes Mal dasselbe und er
ertappte sich immer wieder dabei, wie er fasziniert einen Stein, einen Stock,
einen Grashalm oder eine Schnecke in einiger Entfernung von der Wiese
betrachtete.
Irgendwann wurde ihm das Ganze dann zu dumm und er dachte darüber nach. Dieser
Effekt, der ihn immer wieder von der Wiese ablenkte, war eindeutig auf Magie
zurückzuführen. Jemand wollte nicht, dass irgendwer die Wiese betrat. Dieser
Jemand konnte im Grunde nur Zeniba sein, schloss er, die ihr Haus vor
unliebsamen Gästen schützen wollte, ohne allerdings jemanden dabei zu
schaden.
Wenn man nicht gerade direkt zu diesem Haus wollte und einfach nur zufällig des
Weges kam, würde dieser Zauber jedermann ohne groß Verdacht zu erregen, von
dem Haus ablenken, welches wahrscheinlich immer noch dort stand und dem man sich
vermutlich nur genügend nähern musste, um es zu sehen. Und warum hatte sie das
getan? Vermutlich war sie abwesend und niemand sonst bewachte das Haus. Dass
hieß, er würde warten müssen, bis Zeniba zurückkehrte.
Gelassen suchte sich Haku einen nahen Baum, hockte sich im Schneidersitz
darunter und begann zu warten.
Kapitel 15: Chihiro und Kohaku, Teil 1
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Hallo ihr alle,
habe ich es endlich geschafft. Aber das ist eigentlich erst die erste Hälfte
des neuen Kapitels, aber ich habe es geteilt, weil es wohl sonst noch einen
Monat gedauert hätte. Ist aber auch so schon lang genug geworden ^^.
Viel Spass beim Lesen,
Pazu
Chihiro und Kohaku, Teil 1
Chihiro räkelte sich wohlig auf dem Sofa im Wohnzimmer ihres Hauses. Es war
etwa halb sechs Uhr am Abend und sie war erst vor wenigen Minuten vom Schulbus
heimgebracht worden. Ihre Eltern waren noch nicht nach Hause gekommen und für
die Hausaufgaben fühlte sie sich im Moment einfach zu gut. Dieses gute Gefühl
wollte sie jetzt genießen.
Vor etwas mehr als einem Monat hatte die Schule wieder begonnen und es war
zunächst alles wie zuvor gewesen, außer dass sie nun in die achte Klasse in
der Mittelschule ging. Aber vor fünf Tagen hatte sich dann doch etwas
geändert, etwas Entscheidendes: Sie hatte keinen Hunger mehr. Es war nicht so,
dass sie gar nichts mehr essen musste; sie musste nur nicht mehr andauernd etwas
essen.
Das war am Samstag passiert. Zunächst war es ihr kaum aufgefallen, bis ihre
Mutter sie darauf aufmerksam gemacht hatte, als sie von ihrem Mittagessen nicht
mal die Hälfte gegessen hatte. Mehr hatte sie einfach nicht herunterbekommen.
Nicht dass es ihr nicht geschmeckt hätte, sie war nur pappsatt gewesen, sodass
sie nichts mehr herunter bekam. So etwas war ihr seit drei Jahren nicht mehr
passiert.
Das nächste, was ihr dann auffiel, hatte sie am Sonntag entdeckt. Nach dem
Frühstück wollte sie auf ihr Zimmer hochgehen. Oben angekommen bemerkte sie
dann, dass ihr die Treppe überhaupt nichts ausgemacht hatte und die übliche
Schwäche ausblieb. Es war ganz leicht gegangen. Probeweise lief sie die Treppe
noch einmal hinunter, um erneut hinauf zu gehen. Es ging genauso leicht wie
zuvor.
Sie konnte zuerst überhaupt nicht glauben, dass ihr die Kraft nicht ausging,
sodass sie es wieder und wieder machte. Das Ganze artete schließlich darin aus,
dass die eine halbe Stunde lang immer die Treppe rauf und wieder herunter
rannte, bis ihre Beine anfingen zu schmerzen, die Lunge zu brennen begann, ihr
Herz raste und ihr die Knie zitterig wurden. Schließlich wurde ihre Mutter
darauf aufmerksam und stoppte sie. Viel länger hätte sie ohnehin nicht
durchgehalten, denn ihr begann von der ungewohnten Anstrengung übel zu werden.
Den ganzen Rest des Sonntags konnte sie sich wegen eines Ganzkörpermuskelkaters
kaum noch rühren, sodass sie sogar die Verabredung mit Ayaka und Ichiyo zum
Baden am Waldsee absagen musste. Trotzdem hatte ihr die Sache ungeheuren Spaß
gemacht und bereits am nächsten Morgen waren die Schmerzen wieder wie
weggezaubert, sodass sie mit einem leichten, ja fast euphorischen Gefühl in die
Schule ging. Jetzt konnte sie auch wieder richtig mit den anderen Kindern
spielen.
Am nächsten Morgen, dem Dienstag, wurde sie dann von ihren Eltern, wegen ihrer
Besorgnis erregenden "Appetitlosigkeit", in das Krankenhaus zu Dr. Ito
verfrachtet, der dann den ganzen Tag Untersuchung für Untersuchung an ihr
durchführte, sie piekte, durchleuchtete, vermass und sie zum Schluss sogar
wieder auf das Fahrradergometer setzte, um ihren Sauerstoffbedarf zu messen.
Das Ergebnis des ganzen Untersuchungsmarathons war, dass sie außer ihrem
drastischen Untergewicht und ihrem Minderwuchs in perfekter körperlicher
Verfassung war. Nur ihr abnorm hoher Kalorienverbrauch war verschwunden; er war
nur noch leicht erhöht, wie Dr. Ito sich ausdrückte, als wenn sie zwei
Persönchen wäre, aber auf jedem Fall noch im oberen Normbereich für ihr Alter
und Körpergewicht.
Wie sie nun alleine war, stellte sie jedoch fest, dass eine gewisse Leere in ihr
war, die zuvor immer von ihrem Dauerhunger überdeckt worden war. Sie spürte,
dass ihr etwas fehlte, etwas, dass sie nicht genau identifizieren konnte, als
wäre sie auf merkwürdige Weise unvollständig, und das führte zu einer
zunehmenden inneren Unruhe. Chihiro streckte sich deshalb noch einmal, bevor sie
zu Fernbedienung griff und die Glotze einschaltete, um diese Leere irgendwie zu
füllen.
"Sie sollten wissen, dass ich mich mit ganzer Kraft dafür einsetzen werde, dass
die mehr als berechtigte Forderung eines jeden nach Teilhabe am sozialen
Fortschritt, eine noch zielstrebige Hinwendung erfordert auf einen Plan, der
endlich den legitimen Forderungen aller gerecht wird", schmetterte der Politiker
mit pathetischem Gestus. "Übrigens kann ich heute mit voller Kenntnis der
Sachlage behaupten, dass die Dringlichkeit der Probleme des Alltagslebens sich
einfügen muss, in die globale Zweckbestimmung einer raschen Lösung, die den
großen sozialen Anliegen gerecht wird." *
* Georges Charpak (Nobelpreis Physik), Henri Broch; Was macht der Fakir auf dem
Nagelbrett; Piper; ISBN 3-492-04518-9, S. 43 (Baukastensystem für politische
Reden, die absolut Nichts sagen XD)
Schnell zappte Chihiro weiter. Auf Politiker hatte sie im Moment überhaupt
keinen Bock. Im nächsten Programm waren gerade die Sumoringer der
Juryo-Division zugange und wenn nachher die besten Kämpfer der
Makuuchi-Division, würde ihr Vater sicher wieder zusehen und hoffen, dass
dieser Ausländer, dieser Mongole, der neue Yokozuna Asashoryu, endlich aus dem
Ring geschubst werden würde. Einen Gefallen, den ihm dieser Asashoryu *
allerdings nur zu selten tat.
* Asashoryu hat die ersten beiden Turniere 2004 jeweils mit 15:0 gewonnen!!
Dann schwärmte ihr Vater immer von den Zeiten, als die Taka-Waka-Brüder immer
mit den hawaiianischen Panzern aufgeräumt hatten, diesen fetten Amerikanern,
Konishiki, Akebono und Musashimaru, den größten und vor allem dicksten Rikishi
aller Zeiten. *
* Konishiki: 284 kg, Akebono: 238 kg, Musashimaru: 236 kg; (+- 10 kg); oft genug
haben die japanischen Heldenbrüder, Takanohana und Wakanohana, aber auch gegen
die Hawaiianer verloren: siehe "Sumo: Kampf der Giganten"; Alexander v. d.
Gröben und Simone Mennemeyer; Verlag Dieter Born
Das wollte Chihiro aber auch nicht sehen, denn Sumo langweilte sie, weshalb sie
eine Weile weiterzappte, ohne jedoch ein Programm zu finden, welches ihr
zusagte. Sie blieb dann an dem Film "Das Millionending" * hängen, wie sie aus
dem Videotext erfuhr, von dem sie zwar nur das Ende sah, der sie aber dennoch
kurzfristig ein wenig aufheiterte.
* in stillem Gedenken an Sir Peter Ustinov, der immer ein großes Herz für alle
Kinder (und sicherlich auch für einen kleinen Drachen) gehabt hat; von 1968
(mein Geburtsjahr); mit Sir Peter, Karl Malden (die alte Kartoffelnase, Lt. Mike
Stone aus "Die Strassen von San Francisco"), Robert Morley (Edelkomparse und
lebendes Inventar des britischen Films) und Maggie Smith (-> Minerva McGonagall
aus Harry Potter); Drehbuch: Sir Peter; Regie: Eric Till
Nach Ende des Filmes kehre ihre innere Unruhe aber zurück und es wollte ihr
einfach nicht gelingen, ihr körperliches Wohlbefinden zu genießen, sodass sie
dann frustriert auf ihr Zimmer ging. Das hatte sie mit ihrem Vater zusammen
noch vor den Sommerferien so umgestaltet, dass sie sich nun viel wohler darin
fühlte.
Aus dem Umbau eines Hauses, welches ihr Vater verwaltete, hatte dieser nämlich
einige, fast neue Tatamimatten entsorgen sollen, die durch pflegeleichtes
Parkett ersetzt werden sollten. Doch anstatt sie wegzuwerfen, hatte er sie statt
dessen Chihiro geschenkt.
Damit hatte sie nun ihr Zimmer so eingerichtet, wie sie es seit ihrem Umzug
hierher vorhatte, nach traditioneller japanischer Art. Ihr altes Bettgestell
flog zusammen mit der Matratze heraus, ebenso wie die Stühle. Die Tischbeine
ihres Schreibtisches wurden so weit gekürzt, dass sie auch auf dem Boden
sitzend problemlos daran arbeiten konnte und von ihrer Mutter bekam sie einen
Futon geschenkt, den sie tagsüber in ihrem alten Kleiderschrank verstaute.
Auf diese Weise hatte sie nun viel mehr Platz in ihrem Zimmer und auf dem Futon
schlief sie auch deutlich besser, als auf ihrem Bett, genau so wie sie sich es
erhofft hatte. Ihre Freunde, Ichiyo und Ayaka, waren völlig baff gewesen, als
sie das Zimmer in dieser neuen Ausstattung erlebten.
Vor diesen Schreibtisch hockte sie sich jetzt hin, um die Hausaufgaben zu
machen, was sie jedoch auch nicht ruhig stellte. Noch vor einer Woche hatte sie
immer etwas knabbern, mampfen oder schlecken können, was sie dann abgelenkt und
befriedigt hatte.
Das entfiel jetzt glattweg, weil sie einfach nichts mehr herunter bekam und
dieses Gefühl, dass etwas fehlte, machte Chihiro fast wahnsinnig. Für die
Hausaufgaben brauchte sie weniger als eine hektische Stunde, bevor die wieder in
die Luft starrend dasaß. Wenn doch endlich der fünfte Harry Potter Band auf
Japanisch erscheinen würde, dann hätte ihr das sicherlich Erleichterung
verschafft, aber ihr Englisch war für die britische Originalausgabe, die vor
kurzem erschienen war, immer noch zu schlecht.
Eifrig schnappte sie sich daraufhin ihr Englischbuch und begann ungeduldig zu
lernen, doch auch das bewirkte keinerlei Verbesserung ihres Gemütszustandes.
Fast war sie zuguterletzt bereit, zum See zu eilen, Manami zu besuchen und
dieser ihr Leid zu klagen. Doch was sollte das ändern. Lieber sollte sie
glücklich sein, dass es ihr jetzt so gut ging.
Mit einer Geste ihrer Hand ließ sie die Schulbücher Pirouetten in der Luft
tanzen, genau so, wie Manami es ihr gezeigt hatte. Was hatte sie früher nur
für einen Unsinn gemacht, als sie versuchte die Flugbahn der Gegenstände
vollständig mit ihrem Willen zu kontrollieren, als würde sie so etwas wie
Telekinese benutzen. Magie funktionierte jedoch anders. Manami hatte sie dann
gelehrt, dass die den Sachen nur eindeutige Befehle zu geben brauchte, die diese
dann ohne ihr Zutun ausführten, weil sie ihrer Zauberkraft gehorchen mussten.
Kein Wunder, dass sie von diesem Versuch, Dinge auf eine Bahn zu zwingen,
Kopfschmerzen bekommen hatte, bedeutete es doch, wie Manami ihr erklärt hatte,
dass sie Millimeter für Millimeter dem Gegenstand, den sie bewegen wollte,
Befehle aufzwang und damit ihre eigene Magie immer wieder selber behinderte und
blockierte.
Lustlos nahm sie später am gemeinsamen Abendessen mit ihren Eltern teil, die
versuchten, sie über ihren Tag in der Schule auszufragen, ihre Freunde oder
ihre Interessen, aber sie blockte all dies ab, so gut sie konnte, und zog sich
danach in ihr Zimmer zurück. Spät in der Nacht versuchte Chihiro dann
einzuschlafen, doch ihre innere Unruhe verhinderte dies, sodass sie bis in die
frühen Morgenstunden wach liegend nachdachte.
Es regnete in Strömen. Haku ignorierte das, so gut es ging, bei dem Versuch zu
meditieren, um die Wartezeit nicht wahrnehmen zu müssen. Die äußeren
Umstände machten ihm nicht viel aus, zumal es ihm, seitdem er das Bergwerk
verlassen hatte, Tag für Tag immer besser ging. Sein Ohr war nach nur einer
Nacht narbenlos verheilt gewesen, ebenso wie die Platzwunde an der Stirn und
auch seine Fingerkuppen.
Dennoch störten ihn die Regentropfen, die auf ihn herniederprasselten, so sehr
in seiner Konzentration, dass es ihm nicht gelang, in die Versenkung zu
gelangen. Er würde noch viel üben müssen, aber er hockte ja auch bereits seit
sechs Tagen hier, langsam daran zweifelnd, ob Zeniba jemals wieder erscheinen
würde.
Yubaba musste seine Flucht längst entdeckt haben, sicherlich schnaubend und
tobend vor Wut. Dieser Gedanke verbesserte seine Stimmung kurzfristig, doch dann
musste er wieder an sein eigentliches Ziel denken: das Versprechen, das er
Chihiro gegeben hatte. Je länger er jedoch darüber nachdachte, um so größer
wurden seine Zweifel, ob ihn Chihiro überhaupt wiedersehen wollte.
Bestimmt hatte der Zauber des Tores ihr beim Verlassen der Geisterwelt damals
das Gedächtnis gelöscht, sodass sie sich nicht mehr an ihn erinnerte. Würde
sie ihn akzeptieren in einer Situation, in der sie nicht in Not war, nicht von
ihm abhängig? Wie würde die Begegnung mit Chihiro verlaufen, wenn er
plötzlich in ihr Leben hineinbrach?
Wenn sie ihn zurückwies, was dann? Nun, er hatte sich noch geschworen, Torooru
aus dem Bergwerk zu befreien, aber eigentlich musste er dieses ganze
Bergwerksunternehmen von Yubaba stoppen. Den Schlüssel dazu hatte ebenfalls
Zeniba in der Hand, denn auf dem Streit zwischen den Hexenschwestern beruhte die
ganze Miesere im Badehaus.
Und falls es ihm gelang, was danach? Ein großer Zauberer wollte er nicht mehr
werden, wie vor acht Jahren, als er zornig und wütend auf die Menschen, die ihm
seinen Fluss genommen hatten, zu Yubaba gegangen war. Seit Chihiro ihn aus
Yubabas geistiger Umklammerung befreit hatte, war Friede in sein Herz
eingekehrt; er wollte keine Rache mehr an den Menschen nehmen.
Gerade dieser Hass war es gewesen, der es der Hexe ermöglicht hatte ihn unter
ihre Kontrolle zu bringen, ihn letztendlich zu versklaven. Wie dumm war er
damals nur gewesen, zu glauben, man könne Probleme mit Magie lösen, wie ein
großer und mächtiger Gott. So war er zu einem kleinen Würstchen in Yubabas
Fängen geworden, die ihn benutzt hatte, um vielen Leuten zu schaden und weh zu
tun.
In der zweiten Nachthälfte hörte es allmählich auf zu regnen und der Himmel
klarte sogar auf, sodass die Sterne sichbar wurden, sodass der Sumpf in das
fahle Licht des fast vollen Mondes getaucht wurde. Leider wurde es dadurch auch
so kalt, dass sein Atem zu Wölkchen zu bilden begann und er, völlig
durchnässt, wie er war, zu Zittern anfing.
Erneut begann Haku zu meditieren, wobei er sich vorzustellen versuchte, dass in
seinem Inneren ein warmes Feuer brennt, das die Kälte vertreibt. Es
funktionierte zu seiner Erleichterung ganz gut, sodass er sich entspannen und
versonnen den herrlichen, klaren Sternenhimmel betrachten konnte.
Direkt über ihm war das Sternbild Orion zu sehen, mit den beiden hellen
Hauptsternen, oben links, dem tiefroten Beteigeuze, und unten rechts, dem
hellblauen Riegel. Darunter konnte man wunderbar den Hasen erkennen und links
davon den großen Hund mit dem gleißenden Stern Sirius. Doch dann erblickte
Haku etwas, was nicht dort hingehörte. Zuerst dachte er es wäre eine
Sternschnuppe oder so etwas Ähnliches, doch dazu bewegte sich das Objekt viel
zu langsam.
Vielleicht war es ja einer dieser närrischen Satelliten der Menschen, dachte
er, um dann zu bemerken, dass das Objekt rhythmisch blinkte. Also wohl doch nur
ein Flugzeug! Aber Moment mal, hier von der Geisterwelt aus, waren die
Satelliten und Flugzeuge der Menschen doch unsichtbar, fiel ihm dann mit einem
Mal ein. Es konnte demnach nichts Künstliches, von den Menschen Erschaffenes
sein!
Aufmerksam verfolgte er, wie das Objekt immer langsamer wurde, bis es
letztendlich am Himmel still zu stehen schien, nur noch heller werdend. Wenn
etwas still steht und heller oder größer wird, so bedeutet das in den
allermeisten Fällen, dass sich dieses Objekt direkt auf einen zu bewegt und man
besser den Beobachtungsort wechselt, wenn man nicht getroffen werden will.
Doch das mittlerweile brillant blinkende und blitzende Objekt faszinierte Haku
so sehr, dass er daran nicht dachte und still sitzen blieb. Inzwischen konnte er
erkennen, dass das Ding offenbar ein scheibenförmiges Aussehen hatte, mit
mehreren umlaufenden, bunten Lichterreihen, die ein farbenfrohes Spektakel
boten, indem sie schillernde Lichtstrahlen in den dunklen Himmel warfen.
Fast unmittelbar über seinem Standort verharrte das Ding kurz in der Luft, um
sich dann, die ganze Umgebung in flackerndes Leuchten tauchend, majestätisch
abzusenken und mit dem flachen Unterboden leise auf der Wiese aufzusetzen, die
mit dem Abwehrzauber geschützt wurde. Nun konnte er auch sehen, dass auf der
Oberseite des diskusförmigen Fluggerätes eine Halbkuppel mit darin
eingelassenen Bullaugen aufgesetzt war, aus denen ein leicht flackerndes,
gelbliches Licht herausdrang, wie von einer Kerze.
Schon öffnete sich in dieser Halbkuppel eine Luke mit dumpfem metallischem
Geräusch und eine verzauberte Laterne, mit einer einzelnen Kerze in sich,
hüpfte auf ihrer weißen Hand heraus, die sich am Ende eines langen Stiels
befand. Haku erinnerte sich, dass Chihiro ihm von dieser Laterne auf dem
Rückflug von Zeniba damals erzählt hatte.
Der Laterne folgte direkt das Ohngesicht, welches die Arme voll mit einem Stapel
Bücher hatte, dies es kaum tragen konnte. Leicht schwankend ging es zum Rand
des Diskus', wo nun mit einem hydraulischen Summen eine Treppe ausfuhr, die zum
Boden herunterführte. Diese Treppe wäre das Ohngesicht fast heruntergefallen,
weil es ja wegen der Bücher nicht nach unten sehen konnte, hätte es die
Laterne im entscheidenden Augenblick nicht gestützt.
Haku erwartete, dass nun auch Zeniba dem merkwürdigen Gefährt entsteigen
würde, aber Nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil. Die Luke schloss sich
automatisch, die ausgefahrene Treppe verschwand wieder in dem Diskus und die
Lichter erzeugten ein neuerliches Leuchtfeuerwerk, sodass Haku dachte, dass sich
das Gefährt erneut in die Luft erheben würde.
Doch zu seinem Erstaunen gingen die Lichte plötzlich aus, woraufhin das Gebilde
im hellen Mondlicht auf einmal zu schrumpfen begann. Das glatte, metallische
Silbergrau der nahtlosen Hülle verwandelte sich allmählich in etwas anderes,
nahm eine mehr strähnige Beschaffenheit an, die ihn eher an etwas Faseriges,
wie Fell erinnerte. Weiter und weiter schrumpfte das Gebilde, bis Haku dachte,
dass es bei diesem Tempo gleich verschwinden müsse.
Doch dann wurden Füße unter der sich nun labberig durchbiegenden Scheibe
sichbar und kurz darauf auch der Saum eines blauen Rüschenkleides. Flugs hatte
sich die Verwandlung auch schon vollendet und aus dem diskusförmigen,
metallischen Fluggerät war Zenibas Haarknoten geworden.
Sie machte eine gebieterische Geste, die kleine Funken von ihrer Hand springen
ließ, sodass es wie eine Welle ringförmig über die Wiese lief. Von der Mitte
ausgehend wurden nach außen hin zuerst ihr Bauernhaus, dann links die Scheune
und die anderen Nebengebäude sichtbar, ebenso wie die bereits abgeernteten
Gemüsebeete und der das gesamte Areal umschließende Zaun.
Dem Ohngesicht bedeutend, ihr in das Haus zu folgen, öffnete sie die Tür und
verschwand im innereren, wo rasch darauf die Beleuchtung anging und sich emsige
Aktivität entfaltete. Das Ohngesicht betrat ebenfalls das Haus, den
Bucherstapel balancierend. Im Inneren hörte man dann einen Rumms, als
Ohngesicht offenbar die Bücher ablud, gefolgt von einem lauten Gepolter und
Zenibas lautstarkem Ausruf: "Ohngesicht, du Tollpatsch. Kannst du nicht
aufpassen, die Bücher sind sehr wertvoll!"
Nachdem sich kurz darauf die Tür wie von alleine schloss, kehrte Ruhe im Haus
ein. Haku gab sich einen Ruck und versuchte aufzustehen, doch seine Beine
gehorchten ihm nicht, weil er sechs Tage still hier gesessen hatte. Nach
mehreren Versuchen und dank seiner Übung, jeden Tag mit eingeschlafenen
Gliedmaßen aus jener Kiste aufzustehen, schaffte er es schließlich doch, zu
Zenibas Haus herüber zu staksen.
Noch bevor er dort gegen die Tür klopfen konnte, öffnete sie sich plötzlich
und Zeniba erschien im Türrahmen, die Hände in die Hüften gestemmt,
abschätzig zu ihm herüberblickend. "Was bist du denn für einer? ... Wenn du
etwas zu essen willst, dann gebe ich dir etwas und schlafen kannst du in der
Scheune, wenn du magst", sagte sie in spontanem Mitleid zu der abgerissenen
mageren Gestalt, die sie erblickte. "Dann können wir weitersehen. Warte einen
Moment, ja!" Damit wollte sie nach innen verschwinden, wohl um das in Aussicht
gestellte Essen zu holen.
"Nein danke, ich möchte nichts zu essen", gab Haku sofort zurück, "ich wollte
sie nur etwas Fragen, verehrte Frau Zeniba."
"Nanu, du weißt ja, wie ich heiße." Sie drehte sich wieder zu ihm hin, diesmal
mit offener Neugier. "Du hast eine Frage, sagst du. Gut, dann stell sie mir.
Vorher sag mir aber, wer du bist."
"Mein Name ist Haku, verehrte Frau Zeniba", sagte er, sich höflich vor ihr
verbeugend, "und ich wollte sie fragen, wie ich Chihiro finden kann."
Vor Überraschung riss Zeniba weit ihre Augen auf, bevor sie einen Schritt auf
Haku zu trat und ihm skeptisch direkt in die Augen blickte. Konnte es wirklich
sein, dass dieses armselige Etwas der stolze Drache Haku war, der Lehrling ihrer
Schwester. Doch der Blick in diesen ruhigen und unglaublich grünen Augen sagten
ihr, dass es wahr sein musste. Es waren die gleichen Augen, in dies sie schon
mehrfach gesehen hatte, zuletzt als er das bezaubernde kleine Menschenkind
Chihiro von hier abgeholt hatte.
In seiner menschlichen Gestalt hatte sie ihn allerdings zuvor noch nie gesehen,
weshalb sie bei seinem Anblick nicht sofort geschaltet hatte, ebenso wie damals,
als sie die eigenartige Beziehung der beiden zueinander nicht erkannt hatte.
Doch jetzt hatte sie eine unerwartete Gelegenheit, Licht in die Sache zu
bringen. Hastig trat sie deshalb jetzt ins Freie, einen wachsamen Blick auf den
Himmel und die Umgebung werfend, um Haku dann in ihre Stube zu schieben.
"Los, komm schnell herein", drängte sie ihn, "man sucht nach dir. Ich hoffe,
niemand hat dich gesehen, wie du hergekommen bist."
"Sie suchen nach mir?", fragte Haku leicht verwirrt, als er von Zenibas Schubser
zum Stehen kam, "wer und warum?"
"Na du machst mir Scherze. Jahrelang hast du doch für meine Schwester
gearbeitet!", erwiderte sie ein wenig barsch. "Ich hoffe doch nur, dass nicht
sie dich hierher geschickt hat."
Haku musste schlucken. Was er unter Yubabas Kontrolle getan hatte, wusste er ja,
zumindest so ungefähr. Also war jemand auf diese Aktivitäten aufmerksam
geworden und wollte nun ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Sein erster Impuls
nun war, sich zu stellen, wer auch immer ihn da suchte. Tief atmete er einmal
durch, um einen klaren Gedanken zu fassen. Wenn er sich stellte und für Yubabas
durch ihn begangene Verbrechen mit dem Leben büßen musste, dann konnte er sein
Versprechen nicht mehr halten.
Zuerst musste er Chihiro wiedersehen und sich bei ihr verabschieden, danach noch
dafür sorgen, dass Torooru freikam, dann konnte er sich immer noch stellen.
"Nein, Yubaba hat mich nicht zu ihnen geschickt. Im Gegenteil, ich bin vor ihrer
Schwester geflohen, aber ich bin bereit, für meine Untaten zu bezahlen. Doch
sie müssen wissen, dass ich Chihiro ein Versprechen gegeben habe, welches ich
zuerst erfüllen muss, auch wenn es mich mein Leben kostet! Danach muss ich noch
etwas anderes in Ordnung bringen und dann können sie mit mir machen, was sie
wollen."
"Na, nun mach aber mal halblang. Dass ihr jungen Leute aber auch immer gleich so
ungestüm sein müsst. Ich weiß doch, was meine Schwester mit dir angestellt
hat. Dazu kenne ich sie ja schließlich gut genug", beschwichtigte Zeniba.
"Jetzt setz dich erst einmal und trink eine Tasse Tee mit mir, wenn wir uns ein
wenig unterhalten. ... Ohngesicht! Würdest du uns bitte Tee machen?"
Aus dem Nebenraum erschien Ohngesicht, bereitwillig den Tee am Herd zubereitend,
während Haku sich mit leicht widerstreben auf einer der Holzbänke an Zenibas
Bauerntisch niederließ.
"Willst du mir erzählen, wie es passiert ist, dass du in diesen Zustand
gekommen bist?", begann sie das Gespräch. "War das meine Schwester oder jemand
anderes? Vor drei Jahren hat sie ja schon mal versucht, dich umzubringen."
Leicht überrascht blickte Haku daraufhin die Hexe an.
"Ich kann auch eins und eins zusammenzählen. Meine Schwester wusste von dem
Schutzzauber auf dem Siegel. Ich hab's ihr ja extra gesagt, damit sie auf keine
dummen Gedanken kommt. Wegen des Fluchs darauf konnte sie damit nichts anfangen.
Dass sie es dich hat stehlen lassen, kann nur bedeuten, dass sie wollte dass der
Fluch dich umbringt. Nur war ich damals zu wütend, um das zu erkennen. Ich
weiß nur bis heute nicht, wie du dem Fluch entgangen bist, denn selbst ich
kenne keinen Gegenzauber."
"Chihiro hat den Fluch gebrochen. Sie hat mir eine Kräuterkugel gegeben",
berichtete Haku. "Woher sie die hatte, weiß ich aber nicht; sie hat es mir
nicht erzählt."
"Eine Kräuterkugel? Ja, das könnte möglich sein. Ich habe davon gehört. Sie
sollen starke fluchbrechende Eigenschaften besitzen, aber nur sehr mächtige
Götter können sie herstellen", bestätigte Zeniba, "doch jetzt erzähl mir
doch, was du in den letzten drei Jahren gemacht hast."
Haku erzählte es ihr, woraufhin Zeniba mit der Zeit einen sehr ernsten und
traurigen Gesichtsausdruck bekam. Nachdem er geendet hatte, sank sie mit einem
Seufzer in ihrem Stuhl zurück, den Kopf schüttelnd. "Ich hätte nicht gedacht,
dass sie so weit geht. Aber nach dem, was sie mit dir angestellt har, war damit
wohl zu rechnen. Und das nur, weil sie nicht bereit ist, auch nur einen
fußbreit nachzugeben. Ich denke, ich werde sie wohl stoppen müssen."
Haku blickte sie fragend an, überlegend, was sie wohl damit meinen mochte.
"Aber lassen wir das jetzt. Ich habe sehr viel über dich und deine Chihiro
nachgedacht, seitdem du sie vor drei Jahren hier abgeholt hast, und je mehr ich
das tue, umso unmöglicher erscheint mir das alles. Dabei habe ich mittlerweile
den Eindruck, dass die ganzen Ereignisse von damals damit zutun haben, mit der
Beziehung zwischen dir und Chihiro. Deshalb erklär mir doch erst mal, warum du
Chihiro finden möchtest?", fuhr Zeniba fort, als der Tee fertig war.
Genießerisch schlürfte sie demonstrativ an ihrer Tasse.
"Ich hab es ihr versprochen", murmelte Haku nach einer Denkpause verlegen, mit
gesenktem Kopf lustlos in seinem Tee rührend.
"Ja wenn du es versprochen hast, dann musst du dein Versprechen auch halten",
meinte die Hexe, hakte dann jedoch nach, weil sie Hakus Zögern bemerkt hatte:
"Sag, findest du sie schön?"
Erschrocken musste Haku schlucken, denn er fühlte sich ertappt. Weshalb fragte
sie so etwas? "Wenn sie's genau wissen wollen: Chihiro ist das schönste
Mädchen der Welt!", entgegnete er deshalb trotzig.
"Ach so ist das. Ich habe es mir ja fast gedacht", erwiderte Zeniba gelassen.
"Weist du, wenn man ein kleines Kind fragt, ob seine Mutter schön ist, dann
antwortet es zweifelsohne, dass seine Mama die schönste Frau der Welt sei. Das
ist die übliche Antwort. Sie bedeutet letztendlich: Das Kind hat keine Ahnung,
ob sie schön ist, aber es liebt seine Mutter aus tiefster Seele!"
Zeniba stand von ihrem Stuhl am Kopf des Tisches auf und setzte sich direkt
neben Haku, der am liebsten im Boden versunken wäre, weil ihm bewusst wurde,
dass sie recht hatte. Ob Chihiro schön war, oder nicht, darüber hatte er nie
nachgedacht, und was noch schlimmer war, er hatte auch nicht die geringste
Vorstellung von menschlicher Schönheit. Allenfalls konnte er sagen, ob ein
anderer Drache schön war.
Er erinnerte sich da an einen Vorfall, als er für einen besonderen Gast die
schönsten Yuna des Badehauses aussuchen sollte. Das Ergebnis seiner Wahl war
sehr fragwürdig gewesen, der Gast indigniert abgereist und Yubaba
fuchsteufelswild geworden. Noch wochenlang hatten die Frösche sich hinter
seinem Rücken darüber lustig gemacht und die Yuna ihre Nasen gerümpft, wenn
er gerade nicht hingesehen hatte. Danach hatte er niemals mehr eine ähnliche
Aufgabe von Yubaba bekommen.
"Du liebst sie und weiß gar nicht, wieso eigentlich. Haku, du bist ein Drache
und du solltest dich für Menschen eigentlich kaum interessieren. Dass du
Chihiro liebst, ist vollkommen widersinnig und unlogisch. Deswegen kann ich nur
vermuten: Mit dir und Chihiro stimmt etwas nicht!"
"Warum soll das widersinnig sein? Und unlogisch? So ist das nun Mal, vollkommen
unlogisch! Und für Menschen habe ich mich schon immer interessiert, seit ich
ganz klein war. Was soll mit mir und Chihiro also nicht stimmen?", entgegnete
Haku widerborstig. "Könnten sie mir nicht einfach nur sagen, wie ich sie finden
kann? Bitte Frau Zeniba."
"Die meisten Götter bringen den Menschen bestenfalls so etwas wie freundliche
Indifferenz entgegen, aber dass jemand wie du sich in ein ganz normales Mädchen
verliebt, ist vollkommen ungewöhnlich, zumal du offensichtlich zu den Göttern
gehörst, die nichts mit menschlicher Schönheit anfangen können. Und das sind
die meisten!", holte Zeniba aus. "Dass du in sie so gerne hast, muss einen
besonderen Grund haben."
"Ist sie denn schön? Bitte sagen sie es mir", entfuhr es Haku.
"Naja, ich will dir die Wahrheit nicht verschweigen", antwortete die Hexe sanft.
"Sagen wir einmal so, Chihiro ist nicht unbedingt hässlich, aber eine große
Schönheit wird sie wohl nie werden. Vor einiger Zeit habe ich mich eingehend
mit Schönheits- und Liebeszaubern beschäftigt und daher weiß ich, wovon ich
rede. Du Haku, wirst dergleichen aber nie nötig haben, das kann ich dir
versichern."
Etwas verwirrt blickte er neben sich zu Zeniba. Dass Chihiro nicht schön sein
sollte, berührte ihn zu seiner Verwunderung nicht weiter, doch was meinte sie
damit, dass er keine Liebes- und Schönheitszauber benötigen würde? Und
außerdem, was sollte das Ganze? "Bitte Frau Zeniba, das ist doch alles völlig
unwichtig. Wichtig ist doch nur, dass ich zu ihr gelange", sagte er deshalb
flehentlich. "Wenn sie mir nicht helfen wollen, dann ist das auch in Ordnung,
aber dann möchte ich jetzt lieber gehen."
"Im Gegenteil, Haku, ich möchte dir helfen, aber ich glaube, dass es sehr
wichtig ist, diese Sache zuerst zu klären. Ich habe beobachtet, wie die Kleine
dich in deiner Drachengestalt erkannt hat, nachdem du mir das Siegel geraubt
hattest, obwohl sie vorher offensichtlich gar nicht wusste, dass du dieser
Drache bist. Intuitiv hat sie dann sogar gespürt, dass du von dem Fluch des
Siegels tödlich verwundet warst, woraufhin sie Kopf und Kragen riskiert hat, um
dich zu retten. Schließlich hat sie dich wie eine Löwin vor mir verteidigt",
antwortete die alte Frau. "Daraus und aus dem, was sie mir später erzählt hat,
muss ich schließen, dass du ihr vorher entscheidend geholfen hast."
"Worauf wollen sie denn hinaus?", wollte Haku verwundert wissen. "Aber sie haben
recht, ich habe Chihiro geholfen. Als ich sie damals auf der Brücke zum
Badehaus fand, konnte ich nicht anders. Ich musste ihr einfach helfen."
"Ja, siehst du. Eben gerade das ist so merkwürdig", sagte Zeniba. "Du standest
damals unter dem Einfluss des schwarzen Wurms meiner Schwester. Ich kenne den
Zauber, der dahinter steckt, sehr gut und weiß daher, dass du nicht in der Lage
hättest sein dürfen, dem Mädchen zu helfen! Du hättest dich niemals dem
Willen Yubabas widersetzen können, auch wenn du ein Gott bist, es sei denn, sie
hätte etwas verlangt, was deinem Wesen als Gott widerspricht, also zum Beispiel
dem Fluss Schaden zuzufügen, dessen Wächter du bist. Du bist doch ein
Flussdrache, oder doch ein Seegott oder etwas anderes?"
"Doch, ich bin, nein ich war ein Flussdrache", bestätigte Haku traurig. "Nur
gibt es meinen Fluss nicht mehr. Die Menschen haben ihn zugeschüttet, also
konnte Yubaba nichts von mir verlangen, was meinem Wesen zuwider handelt."
"Pffffft. Du bist ein Flussdrache ohne Fluss?", entfuhr es Zeniba überrascht
und sie ließ sich gegen die Lehne der Sitzbank sinken. "Wie kann es dann sein,
dass du hier neben mir sitzt und dich mit mir unterhältst? Du dürftest gar
nicht nicht mehr leben, wenn das wahr wäre. Deine Lebenskraft ist doch an den
Fluss gebunden und mit ihm, wäre auch dein Leben versiegt."
"Ich weiß, dass es besser wäre, ich wäre tot, denn ich habe es nicht
geschafft, meinen Fluss zu beschützen und verdiene es nicht anders. Aber
vielleicht gibt es unterirdisch noch eine Strömung oder die Quelle hat noch ein
wenig Wasser und ich bin deshalb noch am leben", sagte Haku, in sich
zusammensackend vor Scham.
Zeniba seufzte und dachte eine Weile nach, bevor sie fragte: "So langsam beginnt
die Sache, richtig interessant zu werden. Ich glaube allmählich, meine
Schwester hat doch etwas von dir verlangt, was deinem Wesen widerspricht. Anders
kann ich mir dein Verhalten nämlich nicht erklären. Sag mal, Haku, wie war das
damals, als du Chihiro an der Brücke zum Badehaus entdeckt hast?"
Haku war jetzt sehr betroffen, von dem, was Zeniba sagte und brauchte eine
Weile, um seine Gedanken zu ordnen. Seinem Wesen als Flussgott widersprochen?
Und was hatte denn Chihiro damit zu tun? Schließlich hatte er sich so weit
gesammelt, um mit seinem Bericht zu beginnen:
"Es war damals im Sommer, da gab es auf einmal eine große Aufregung im
Badehaus. Menschen waren in unsere Welt eingedrungen und hatten sich an den
Speisen für die Götter gütlich getan. Yubaba war sehr böse deswegen. Zwei
Menschen waren bereits durch ihren Zauber gefangen, in Schweine verwandelt, aber
da war noch ein Dritter, ein Kind. Ich erhielt von ihr den Auftrag, es zu fangen
und zu sich zu bringen. Da ich Yubaba kannte, wusste ich, dass das Kind entweder
in der Grube unter ihrem Büro verschwinden oder als Schwein im Stall landen
würde, zum Mästen und Schlachten freigegeben. Auf jeden Fall aber würden alle
drei Menschen sterben. Das war mir aber zu diesem Zeitpunkt egal, ich wollte nur
Yubaba gehorchen. Doch dann fand ich das Kind auf der Brücke und ich sah, dass
es Chihiro war. Es war, als würde ich plötzlich aus einem langen dunklen Traum
erwachen. Mein einziger Gedanke war nur noch, entgegen Yubabas Befehl, dass ich
das Mädchen retten musste, doch der Wunsch Yubaba zu gehorchen war immer noch
sehr stark in mir, sodass ich es zuerst nur schaffte, sie fort zu schicken, fort
aus Yubabas direktem Machtbereich. Dabei fasste ich sie an, um sie in die
notwendige Richtung zu stoßen, und in dem Moment, als ich sie berührte, war es
als wäre ein Blitz in mich gefahren, sodass mein Verstand auf einmal ganz klar
und ruhig wurde. Seitdem sehne ich mich immer stärker und stärker nach
Chihiro, immer nur nach ihr. Ich kann sie nicht vergessen."
"Das bestätigt meinen Verdacht", meinte Zeniba, die sah, dass es Haku große
Überwindung gekostet hatte, ihr dieses zu erzählen, nach einer kleinen Pause.
Wenn dieser Verdacht sich bestätigte, konnte es schlimm werden, für Haku und
Chihiro, viel schlimmer, als es jetzt bereits war. Aber nur, wenn jemand es
herausfand, jemand aus der Geisterwelt und es an die Behörden meldete. Doch
vorher musste sie sicher gehen.
"Also gut, Haku. Nichts von deinem Bericht lässt mich darauf schließen, dass
bei deiner Begegnung mit Chihiro an der Brücke, etwas wirklich Entscheidendes
passiert ist. Daher muss ich vermuten, dass es bei eurer ersten Begegnung
passiert ist, von der mir Chihiro erzählt hat. Was ist damals genau passiert?
Und lass bitte kein noch so unwichtig erscheinendes Detail aus! Das kann von
entscheidender Bedeutung für euer beider Zukunft sein."
"Nein Bitte, Frau Zeniba, das können sie nicht von mir verlangen. Das war
damals, äh, sehr persönlich und geht nur mich und Chihiro etwas an. Aber bitte
glauben sie mir, dass ich mich damals ganz bestimmt nicht in sie verliebt habe;
sie war doch noch ein kleines Kind. Wenn überhaupt, ist das auf der Brücke
oder kurz danach passiert", sträubte sich Haku, dem dieses ganze Gespräch
zunehmend peinlich wurde.
"Trotzdem muss ich darauf bestehen, Haku, und es müsste auch deinem Anliegen
zugute kommen. Wenn es so ist, wie ich jetzt vermute, dann kann es uns einen
guten Hinweis geben, wie du deine Chihiro finden kannst", drängte Zeniba den
Jungen weiter. "Und glaub mir, es kann lebenswichtig für dich und Chihiro sein,
dass wir Klarheit darüber bekommen."
"Lebenswichtig für mich und Chihiro? Und es kann mir helfen, sie zu finden?",
zweifelte Haku. "Können sie mir nicht einfach sagen, was sie für eine
Vermutung haben? Dann sage ich ihnen, ob sie richtig liegen, wenn ich kann."
"Lieber nicht Haku. Allein der Verdacht macht mir Sorge, sodass ich erst
Gewissheit haben will", erwiderte Zeniba sanft. "Erzähl mir von eurer ersten
Begegnung, bitte."
Jetzt seufzte Haku. So langsam bekam er den Eindruck, dass ihm Zeniba nichts
weiter sagen würde, wenn er ihr diese Sachen nicht berichtete. "Also gut, wenn
sie es unbedingt erfahren wollen. Werde ich es ihnen erzählen, auch wenn es
wirklich nicht glorreich von mir gewesen ist." Damit begann Haku seine
Erzählung.
Es war ein wunderbarer Spätsommertag vor gut zehn Jahren, und es war nun fünf
Jahre her, seitdem Kohaku in diesem Fluss erwacht war. An das, was vorher
gewesen war, falls vorher überhaupt etwas gewesen war, konnte er sich nicht
erinnern und soweit es ihn betraf, hatte er seine gesamte bisherige Existenz in
diesem Fluss verbracht. Alles was er wusste, war sein Name, Nigihayami Kohaku
Nushi, und dass er der Wächtergott dieses Flusses war, des Kohakugawa.
Allmählich begann er nun, sich in seine Aufgabe als Wächter des Kohakugawa
hineinzufinden, sich seiner Verantwortung bewusst zu werden, den Fluss, alle
seine Bewohner und alle die zum Fluss hinkamen, zu beschützen. Deswegen gab er
sich besonders große Mühe, dieser Verpflichtung gerecht zu werden.
An einer Biegung seines Flusses gab es eine große Zone ruhigen, seichten
Wassers, wo sich am Ufer eine große Wiese anschloss. Dort versammelten sich
häufig am Nachmittag viele Eltern aus dem nahen Tokyo mit ihren kleinen
Kindern, um das schöne Wetter bei einem Picknick zu genießen und ihren
Nachwuchs sich austoben zu lassen.
Kohaku sah es nun als seine Aufgabe an, zu verhindern, dass den Kindern am Fluss
etwas zustößt, aufzupassen, dass keines von ihnen darin ertrinkt. Zuerst hatte
er deshalb begonnen, das Treiben der Menschen an seinem Ufer zu beobachten, um
dann vor zwei Jahren damit zu beginnen, seit es ihm gelungen war, menschliche
Gestalt anzunehmen, sich unerkannt direkt unter die Kinder zu mischen.
Mit den Kindern zu spielen, die ihn vorbehaltslos als eines der ihren
akzeptierten, machte ihm immer großen Spaß, sodass er sich den ganzen Winter
hindurch wieder den Sommer und mit dem Sommer die Kinder zurücksehnte. Die
ganze Zeit über war es jedoch zu keinem schwerwiegenden Unfall gekommen, weil
die Eltern, wie Kohaku festgestellt hatte, ebenfalls gut auf ihre Kinder
aufpassten.
An diesem Tag spielte er gerade mit einigen Kindern Fangen, wobei er sich wie
immer stark zurückhalten musste, da die anderen Kinder sich so ungeschickt und
langsam bewegten. Mühsam hatte er am Anfang lernen müssen, dass die Kinder
viel schwächer waren, als er, viel zerbrechlicher und empfindlicher. Wenn es in
der Hektik des Spiels mal zu einem Puff oder Schubser kam, den er selbst kaum
registrierte, fingen die Kinder sofort an zu heulen, was dann sofort deren
Eltern auf den Plan rief.
Wenn diese dann ansetzen, um mit ihm zu schimpfen, verpuffte dann aber meistens
spontan ihr Ärger und vor Entzücken strahlten sie ihn an, direkt in seine
Augen blickend. Sie vergaßen dann unwillkürlich das Gejammer ihrer eigenen
Kinder, streichelten ihn am Kopf und sagten solche Sachen, wie: "Na, was bist du
denn für ein Hübscher?" oder "Schau mal Schatz, was für ein süßes Kerlchen.
Und er hat grüne Augen!" oder so etwas Ähnliches.
So war nie etwas passiert. Trotzdem wurde er vorsichtiger, um keine
Aufmerksamkeit zu erregen, zumal er nicht verstand, was die erwachsenen Menschen
an ihm fanden, was ihn von den anderen Kindern unterschied. Öfters betrachtete
er sein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche, aber er konnte keinen
signifikante Besonderheit bei sich erkennen. Vor allem aber wurde er deshalb
vorsichtiger, weil er den anderen Kindern nicht weh tun wollte, denn er hatte
sie sehr gerne.
Dann spürte er mitten beim Fangenspiel, dass etwas nicht stimmte. Jemand war in
großer Not, sich verzweifelt nach Hilfe sehnend. Erschrocken blickte Kohaku
sich um, den Ursprung dieses Hilferufs nachgehend, doch keines von den Kindern
hier auf der Wiese und keines der im flachen Wasser Badenden schien in
Schwierigkeiten geraten zu sein.
Er konzentrierte sich auf das Gefühl, um dann festzustellen, dass es seinen
Ursprung etwa einen Kilometer flussaufwärts nahm. Fieberhaft blickte er sich
um, um einen Weg zu finden, wie er sich möglichst schnell und unauffällig
verdrücken konnte. Schließlich konnte er ja nicht einfach ins Wasser springen,
untertauchen, seine Drachengestalt annehmen und dann den Fluss hinauf schwimmen.
Das hätte wohl für einen heftigen Aufruhr unter den Menschen gesorgt und er
hätte nie wieder mit den Kindern spiele können.
In diesem Moment fing ihn ein kleiner Junge, der vor Triumph kreischend
umherhüpfte, weil Kohaku nicht aufgepasst hatte. Jetzt war er an der Reihe,
musste bis 10 zählen, bevor er losstürmen durfte. Diesmal nutzte er seine
ganze Schnelligkeit, sodass er fast sofort ein anderes Kind gefangen hatte, um
sich dann, wären dieses an der Reihe mit zählen war, unauffällig in ein
Gebüsch am Ufer zu verdrücken, von wo er unbemerkt in den Fluss gleiten
konnte.
Im Wasser wurde die Empfindung, dass jemand um sein Leben kämpfte, so
übermächtig, dass Kohaku fast in Panik geriet. Schnell wechselte er in seine
Drachengestalt zurück, seine Gestalt konnte er nur im Wasser seines Flusses
wechseln, schoss die Strömung hinauf, nach der Quelle der Pein suchend.
Auf einmal fand er ein kleines rosa Schühchen, das unschuldig in der Mitte der
Strömung dahinschwamm. Kurz hielt Kohaku inne, um das Objekt zu untersuchen,
denn möglicherweise hatte es etwas mit dem Hilferuf zu tun, der nun Besorgnis
erregend rasch schwächer wurde.
So nahm er die Witterung von dem Schuh auf, folgte dem Geruch durch die
Strömung, bis sie an den Ursprung des Problems führte: Ein kleines Mädchen
trieb, Gesicht nach unten, etwa einen Meter tief unter der Wasseroberfläche und
schien nicht mehr zu atmen. Schleunigst eilte Kohaku zu dem Mädchen hin, dessen
Herz zwar noch schlug, wie er feststellte, das sich jedoch nicht mehr bewegte.
Mehrfach versuchte Kohaku, es an die Wasseroberfläche zu drücken, doch das
Mädchen wollte und wollte nicht mehr atmen, sank immer wieder leblos unter die
Wasseroberfläche zurück. Verzweiflung und Panik ergriffen immer mehr von dem
jungen Drachen Besitz, dem einfach keine Möglichkeit einfallen wollte, wie er
das Kind retten konnte.
Regelrecht konnte er fühlen, wie das Leben aus dem kleinen Körper strömte,
wie es schwächer und schwächer wurde, jeden verstreichenden Augenblick, wie
die Lebenskraft es verließ, doch er war hilflos und konnte nichts tun.
In seiner Ratlosigkeit versuchte er schließlich, ihre schwindende Lebenskraft
zu stärken, indem er probierte, die Kraft der Flussströmung durch sein Selbst
in Lebenskraft zu transformieren, um sie durch ihren kleinen Körper
hindurchzuleiten. Doch es war, als würde etwas in ihrem Inneren sich dagegen
sträuben, ein Widerstand, der seine Absicht vereitelte, den er, wie er fühlte,
nur durch Gewalt hätte überwinden können. Dann mit einem Mal verschwand
dieser Widerstand und es gelang.
Staunend öffnete das kleine Mädchen öffnete seine Augen, ihn unverwandt
anstarrend, spuckte eine große Luftblase aus und ließ sich danach mühelos zur
Oberfläche befördern. Wie selbstverständlich ergriff das Mädchen dort die
Hörner des kleinen Drachen, zog sich auf seinen Rücken, um sie sich von ihm an
das Ufer befördern zu lassen.
An der Uferböschung, vor einem kleinen Bambusgestrüpp angelangt, ließ sich
das Kind fröhlich giggelnd ins flache Wasser platschen, wo es sich hinsetzte
und mit seinen Patschehändchen Kohakus Kopf auf den Schoß zog. Intensiv begann
das Mädchen nun ihn hinter den Ohren und zwischen den Augen zu kraulen, wobei
es kichernd immer wieder "Dache, Dache!" rief.
Kohaku wusste nicht, wie ihm geschah. Es sah sich nicht nur völlig außerstande
sich gegen die Knuddelattacke des Mädchens zu wehren, sondern genoss dessen
Streicheleinheiten, die ihm eine wohlige Wärme im gesamten Körper
verursachten, ihn ganz schwach machend. Hinzu kam seine unendliche Erleichterung
darüber, dass es ihm in letzter Sekunde doch noch gelungen war, das Leben des
Kindes zu retten.
Er hatte nicht versagt, doch in Zukunft würde er wachsamer sein müssen. Viel
zu viel Zeit hatte er damit vergeudet, sich von dem Spiel mit den anderen
Kindern zu lösen und ins Wasser zu gelangen. Das durfte nicht wieder passieren.
Deshalb schwor sich Kohaku, die Wasser des Kohakugawa nie mehr ohne triftigen
Grund zu verlassen. Diesmal hatte er noch einmal Glück gehabt, doch beim
nächsten Mal konnte es auch anders ausgehen.
Wie lange er nun dort lag, verwöhnt von dem kleinen Mädchen, konnte er nicht
genau sagen, doch plötzlich hörte er leise die besorgte Stimme einer Frau, die
aufgeregt rief: "Chihiro, Chihiiiiiiiro, wo bist duuuuu. Komm her zu
Mamiiiiiii!" Näher und näher kam die Stimme, systematisch das Flussufer
absuchend, sodass Kohaku sich gut ausrechnen konnte, wann die Frau bei ihnen
anlangen würde.
Widerwillig entzog er sich dem kleinen Mädchen, in die Mitte seines Flusses
gleitend, von wo aus er den Rest der Szene beobachtete. Die Frau brach, dem
Gekicher des kleinen Mädchens folgend, letztlich durch das Schilfdickicht am
Ufer, wo sie das Kind im seichten Wasser sitzend vorfand.
"Chihiro, was machst du denn nur?", schimpfte sie los, "musst du denn immer
verschwinden? Ach du je, wo hast du denn nur deinen linken Schuh gelassen? Na
wenigstens ist dir ja nichts passiert." Damit hob sie das ziemlich nasse kleine
Mädchen ein wenig unsanft auf den Arm, welches seiner Mutter daraufhin mit
großem Ernst erklärte: "Mami, ich hab Dache sehen. Lieben weißen Dachen. Hat
mich reiten lassen."
Die Frau blickte das Kind ein wenig missmutig an. "Was erzählt du denn da nur
wieder für einen Unsinn, Chihiro. Wenn Papi davon erfährt, wird er bestimmt
wieder böse, also halt deinen Brabbel, ja?", motzte sie weiter, stapfte durch
das Schilfdickicht zurück, wo die Beiden letztendlich aus Kohakus Seh- und
Hörweite verschwanden.
Bevor er sich zurück auf den Weg zu der großen Wiese machte, verharrte Kohaku
noch eine Weile in der Mitte der Strömung an dieser Stelle. ,Chihiro, Chihiro
ist also dein Name, kleines Mädchen', dachte er. ,Chihiro, ich werde dich
niemals vergessen. Du wirst immer willkommen sein, an meinen Ufern.'
Hiermit endete Hakus Bericht und Zeniba schwieg eine Weile, das Gehörte
sortierend, während es draußen bereits hell wurde. Alle ihre Vermutungen
hatten sich bestätigt und zudem hatten sich noch einige weitere Fragen ergeben.
"Das war sehr aufschlussreich, Haku, oder möchtest du lieber, dass ich dich
Kohaku nenne?", sagte Zeniba, nachdem sie die Erzählung rekapituliert hatte.
"Schließlich ist das dein richtiger Name."
"Nein, lassen sie nur. Nennen sie mich ruhig weiter Haku", meinte er daraufhin
hastig. "An den Namen Haku habe ich mich so sehr gewöhnt, dass dieser andere
Name nicht mehr der Meinige zu sein scheint. Habe ich ihnen denn weitergeholfen,
mit meiner Schilderung, Frau Zeniba? Ich habe Chihiro mit viel Glück das Leben
gerettet und sie hat mich dafür gestreichelt. Weiter ist nichts passiert! Also
lassen sie uns das Ganze einfach vergessen, ja?"
"Nein Haku, du hast es immer noch nicht begriffen. Alles ist passiert! Weißt
du, du hast damals keineswegs Chihiros Leben gerettet. Bevor ich dir aber
erkläre, was damals mit dir und Chihiro passiert ist, möchte ich dir noch
einige Fragen stellen", entgegnete die Hexe schlicht. "Du bist wirklich erst
fünfzehn Jahre alt? Ich frage das, weil ich noch nie von einem Gott gehört
habe, den man gewissermassen schon als Baby mit einer Wächteraufgabe betraut
hätte. So etwas geschieht doch erst, wenn ein junger Gott von seinen Eltern
gründlich ausgebildet und zudem eine Position frei ist. Also frühestens, wenn
er 200 bis 300 Jahre alt ist und seine Eltern gute Beziehungen haben. Kennst du
eigentlich deine Eltern?"
Haku blickte die Hexe ratlos an. Über solche Dinge hatte er weder jemals
nachgedacht, noch sich mit einem anderen Gott darüber unterhalten. "Ich weiß
nur, als ich im Kohakugawa erwacht bin, war ich als Drache vielleicht so groß:"
er hielt zur Demonstration seine Hände etwa einen knappen Meter auseinander.
"Und nein, meine Eltern kenne ich nicht, und die können mir auch gestohlen
bleiben. Sagen sie doch bitte lieber, wieso ich Chihiro damals nicht gerettet
haben soll? Immerhin lebt sie ja noch, also muss ich sie doch gerettet haben!"
"Ach Haku, wenn deine Eltern oder meine Schwester dir ein wenig mehr über Magie
beigebracht hätten, dann wärst du ganz von alleine darauf gekommen.
Wahrscheinlich hättest du als erfahrener Wächtergott ganz anders gehandelt,
denn das was du getan hast, ist eigentlich streng verboten und unter den
Göttern allgemein geächtet, weil es mehrfach in böser Absicht gemacht worden
ist", sagte Zeniba. "Ich habe jedoch nicht gesagt, dass du sie nicht gerettet
hättest, ich habe nur gesagt, dass du ihr Leben nicht gerettet hast, denn in
Wahrheit hast du ihr nämlich ein neues Leben gegeben!"
Jetzt war Haku völlig perplex. Zweifelnd blickte er Zeniba an, die immer noch
neben ihm saß, gutmütig auf ihn hinabblickend. "Das kann doch nicht sein. Wie
soll ich ihr denn ein neues Leben gegeben haben? Ich weiß doch überhaupt
nicht, wie so etwas geht, noch hätte ich die Macht, etwas zum Leben zu
erwecken."
"O Haku, du hast es immer noch nicht begriffen. Du hast Chihiro nicht irgendein
neues Leben gegeben, du hast ihr dein eigenes Leben gegeben", entgegnete Zeniba.
"Lass es mich dir erklären. Du hast versucht, Chihiros versiegende Lebenskraft
mit der Energie aus deinem Fluss zu stärken. Doch ihre und deine Lebenskraft
sind nicht miteinander vereinbar, sie stoßen einander ab. Das war der
Widerstand, den du gespürt hast. Doch dann versiegte ihr Leben, Chihiro
starb."
Gequält blickte Haku zu Zeniba auf. "Sie sagen, dass Chihiro gestorben ist? Das
kann nicht sein, das darf nicht sein!"
Doch Haku, sie ist in dir ertrunken! In diesem Moment, dem kurzen Augenblick,
der das Leben vom Tor trennt, konntest du ihren noch lebensfähigen Körper mit
der Lebenskraft deines Flusses, die damals identisch war, mit der deines
Flusses, zu neuem Leben erwecken. Dies ist nur in diesen kurzen Augenblicken
nach Eintritt des Todes möglich, bevor sich die Seele verflüchtigt, oder unter
Anwendung von magischer Gewalt, wenn du dein Opfer in eine seelenlose Puppe
verwandeln möchtest, die deinem Willen bedingungslos gehorcht."
Es brauchte eine Weile, bis Haku das Gesagte verarbeitet hatte. Sein Kopf
schwirrte von sich überstürzenden Gedanken und sein Herz hämmerte wie
verrückt. Doch wenn er sich die Ereignisse in das Gedächtnis zurückrief,
ließ die Erinnerung keine andere Interpretation zu. Er hatte Chihiro mit seiner
eigenen Lebenskraft zurück ins Leben geholt. "Ich glaube, ich verstehe, Frau
Zeniba, doch was hat dies alles jetzt für konkrete Bedeutung? Ich meine,
ändert das etwas zwischen Chihiro und mir?"
"Du hast es noch immer nicht begriffen, nicht wahr Haku?", ächzte Zeniba.
"Mann, die Menschen haben deinen Fluss zerstört und damit deine Lebensgrundlage
vernichtet. Trotzdem stehst du hier quicklebendig vor mir. Das liegt daran, weil
ein Teil deiner Lebenskraft übrig geblieben ist, nämlich genau der Teil, mit
dem du Chihiro damals ins Leben zurückgeholt hast. Das bedeutet, Haku, dass du
jetzt kein Flussgott mehr bist, sondern gewissermassen der Gott von Chihiro; sie
ist die Trägerin deiner Lebenskraft. Man könnte auch sagen, Chihiro ist jetzt
dein Fluss! Ihr Beiden teilt euch ein Leben. So etwas Verrücktes!"
"Ja aber Chihiro. Ich meine, sie kann doch nicht ...? Aber wenn sie stirbst, was
...?", sabbelte Haku zusammenhanglos, dem das Herz vor Freude zu platzen schien.
Sein Leben hatte jetzt auf einmal wieder einen Sinn und dieser Sinn bestand
ausgerechnet in dem, was er ohnehin tun wollte: zu Chihiro zu gehen und sie zu
beschützen. "Warum hat mir das denn keiner ... Und Chihiro hat doch auch Nichts
gemerkt!"
"Haku, beruhige dich. Ich denke, du solltest jetzt ein Stück Kuchen essen",
sagte Zeniba verständnisvoll, bevor sie aufstand, um das Gebäck zuzubereiten.
Innerhalb nur weniger Minuten hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes aus den
Zutaten eine herrliche Sahnetorte gezaubert, die sie Haku vor die Nase setzte.
Dieser starrte den Kuchen ungläubig an. "Was soll das, Frau Zeniba, ich habe
keinen Hunger. Ich will jetzt nur noch möglichst schnell zu ihr."
"Na, mein Junge, an das Essen solltest du dich gewöhnen", meinte Zeniba leicht
spöttisch. "Ich habe davon gehört, dass insbesondere Flussgötter nur wenig
essen, weil sie ja genügend Energie aus ihrem Fluss bekommen. Aber was glaubst
du, wo die Energie herkommt, die du jetzt zum Leben brauchst? Von Chihiro!
Willst du vielleicht, dass Chihiro immer für dich mitessen muss? Schau dich
doch nur an, wie dünn du bist. Chihiro müsste genauso dünn sein, wie du!"
Ungestüm schnappte sich Haku eine Gabel, um den Kuchen in sich hinein zu
schaufeln, doch hatte er schon Mühe, überhaupt das erste Kuchenstück herunter
zu bekommen. Das lag daran, dass er die Jahre im Bergwerk nur sehr wenig
gegessen hatte und seit einer Woche überhaupt nichts, sodass Nichts mehr in
seinen Magen hineinpassen wollte. Vorher, als Flussgott, hatte er sowieso nie
etwas gegessen; es war einfach nicht notwendig gewesen.
Während Haku nun an dem Kuchenstück arbeitete, überlegte Zeniba weiter: "Lass
uns mal darüber nachdenken, was das Implikationen hat, diese Verbindung
zwischen dir und dem Mädchen. Chihiro jetzt ist also die Trägerin deiner
Lebenskraft, der Lebenskraft, an die auch deine magischen Fähigkeiten gebunden
sind. Daher sollte sie im Prinzip über dieselbe Zauberkraft verfügen, wie du.
Möchtest du noch ein Kuchenstück?"
Mit großen Augen glotzte Haku verzweifelt auf seinen gerade mühsam geleerten
Teller. Noch ein Stück Kuchen? Er war jetzt pappsatt, doch eingedenk Chihiros
mutmaßlicher Nahrungsmangels nickte er eifrig. Nachdem Zeniba ihm ein weiteres
Stück auf den Teller platziert hatte, fuhr sie fort: "Deine Drachenlebenskraft
sollte sie auch immun gegen nahezu jede Krankheit machen, ebenso wie sie für
eine schnelle Wundheilung sorgen sollte."
Sie schenkte sich eine weitere Tasse Tee ein, bevor sie weitermachte. "Wenn ich
es so recht überlege, glaube ich jetzt auch verstanden zu haben, wie Chihiro
mit ihren Eltern zusammen überhaupt in die Geisterwelt gelangen konnte. Das Tor
muss sie, mit deiner Lebenskraft in sich, für einen Gott gehalten und sie
deshalb zusammen mit ihren Eltern passieren lassen haben. Es passt alles
zusammen. Da Chihiro beim Durchqueren des Tors sich bestimmt kein vorgestellt
hatte, hat das Tor vermutlich die Verbindung zwischen euch erkannt und sie
dorthin gebracht, wo du dich gerade aufhieltest: zum Badehaus meiner Schwester.
Dass Chihiro dort auftauchte, war also letzten Endes kein Zufall!"
In diesem Augenblick durchzuckte Haku eine Idee. Wenn das bei Chihiro
funktionierte, warum nicht auch bei ihm? "Frau Zeniba. Wenn ich nun ein Tor in
die Menschenwelt passieren würde, ohne mir ein Ziel vorzustellen, könnte es
dann sein, dass mich das Tor ebenfalls in Chihiros Nähe bringt?", fragte er
deshalb hoffnungsvoll.
"Nun ja, das ist anzunehmen", meinte Zeniba, nach einer kurzen Denkpause, "nur
ergibt sich hier ein weiteres Problem. Wenn jemand ein Tor in die Menschenwelt
ohne Zielangabe benutzt, wird ein Gedächtnislöschzauber aktiv, der vermutlich
auch das Gedächtnis eines Gottes beeinträchtigt. Der Zauber wird jedoch erst
aktiv, sobald man den unmittelbaren Bereich des Tores verlässt. Du könntest
also hindurchgehen, dir merken, wo du herauskommst, zurückgehen und dann noch
einmal gezielt dorthin steuern. So könntest du den Löschzauber umgehen. Ja,
das müsste funktionieren."
"Dann wäre es ja ganz einfach, Chihiro zu finden. Nur durch das Tor gehen und
an nichts denken ... schon bin ich bei ihr", jubelte Haku, Zeniba vor Freude
anstrahlend.
"Nur Haku, so einfach ist das leider nicht. Vielleicht ist Chihiro mitten aus
einer der Riesenstädte der Menschen gekommen. Aus Tokyo, zum Beispiel",
bremste Zeniba seinen Überschwang. "Wusstet du, dass in Tokyo und Umgebung
mehr als 30 Millionen Menschen leben? Es ist die größte Stadt der Welt. Und in
ganz Japan leben fast 130 Millionen Menschen."
So rasch, wie sie gekommen war, verflog nun seine Hoffnung auf eine einfache
Möglichkeit, Chihiro zu finden und vor der möglichen Größenordnung seines
Problems wurde ihm bang. "Kann man denn da nichts machen? Vielleicht gibt es ja
eine Möglichkeit, Chihiro dort in der Menschenwelt zu orten. Sie haben ihr doch
diesen Talisman gegeben ..."
"Hm ja, möglicherweise geht das. Doch müssen wir uns auch um das Problem
kümmern, dass du nicht in der Lage sein wirst, deine physische Gestalt
beizubehalten, sobald du die Geisterwelt verlassen hast. Dein Körper wird sich
auflösen, sodass nur noch dein geisterhaftes Selbst übrig bleiben wird", gab
Zeniba zusätzlich zu bedenken. "Erst, wenn du Chihiro berührst, wirst du dich
wieder verwandeln und nur in ihrer Nähe deine Gestalt beibehalten können."
"Ich weiß, sonst wäre ich auch nicht zuerst zu ihnen gekommen", sagte Haku
leise. "Es wird genauso sein, wie damals, als ich meinen Fluss verloren habe.
Ohne Augen und Ohren bin ich dann auf meine magischen Sinne reduziert, die in
der Menschenwelt kaum von Nutzen sind, weil Magie dort so schlecht
funktioniert."
"Das liegt daran, weil in der Welt der Menschen die Dinge viel, ... äh, realer
sind, als hier in der Geisterwelt. Man benötigt einfach riesige Energiemengen,
um eine bestimmte Wirkung zu erzielen", erklärte Zeniba. "Hier in der
Geisterwelt, funktioniert die Magie ja einfach so." Zur Untermalung ihrer
Aussage schnippte sie mit den Fingern, woraufhin sich die Torte in einen
Apfelkuchen verwandelte.
"Hinzu kommt, dass das, was die menschlichen Wissenschaftler Raumzeit nennen,
magische Schwingungen nur sehr schlecht überträgt. Du wirst dich immer in
einem Umkreis von vielleicht 100 bis maximal 200 Metern um Chihiro aufhalten
müssen, sonst wird das Energieband zwischen dir und dem Mädchen zu schwach,
als dass du deinen Körper erhalten könntest", erläuterte sie weiter. "Einzig
die Tatsache, dass die Barriere zwischen dieser und der anderen Welt nur sehr
dünn ist und somit die Energie von ihr problemlos in diese Welt übertreten
kann, wo sie fast ohne Widerstand fließt, sorgt dafür, dass du hier
ausreichend mit Lebenskraft versorgt wirst. Aber lassen wir das, ich gleite ein
wenig zu sehr in die Theorie ab."
Dieser kurze, beiläufige Exkurs Zenibas machte Haku wieder einmal klar, wie
wenig er immer noch über Magie wusste und was Yubaba ihn alles nicht gelehrt
hatte. "Das bedeutet also, mein Hauptproblem ist immer noch, Chihiro zu finden",
stellte Haku sachlich fest. "Wenn ich in ihrer Nähe bin, hat sich das andere
Problem ja wohl erledigt."
"Du hast Recht, wir müssen deine Chihiro jetzt nur noch aufspüren. Ich
schätze am einfachsten würde es sein, es auf direktem Weg zu versuchen. Die
Menschen haben nämlich so genannte Telefonbücher, in denen sie ihre Adressen
und eigenartige Zahlenkombinationen hinterlegen, um sich gegenseitig zu finden",
bestätigte Zeniba. "Hach, aber ich fürchte ohne Körper wirst du diese
Telefonbücher kaum benutzen können. Da Chihiro in ihrem Alter vermutlich in
eine der Schulen der Menschen geht, könnte man zum Beispiel alle diese Schulen
in der Umgebung um das Tor absuchen, an dem du herauskommst. Das denke ich,
wäre eine einigermassen vielversprechende Taktik. ... Nein, um es ehrlich zu
sagen, es wäre reines Glück, das Mädchen auf diese Weise zu finden. Wir
werden wohl auf deine Idee mit dem Talisman zurückkommen müssen."
Zeniba stand von der Bank auf, öffnete die kleine Truhe neben der Eingangstür,
aus der sie eine kleine hölzerne Schatulle herausholte, welches sich als ein
Nähkästchen herausstellte. Aus diesem entnahm sie eine Garnrolle, auf der nur
noch ein wenig Garn aufgewickelt war, die sie vor Haku auf den Tisch stellte.
"Dies ist der Rest des Garns, welches Boh, der Yu-Vogel, das Ohngesicht und
meine Wenigkeit vor drei Jahren gesponnen haben, um daraus jenen Talisman Form
eines Haarbandes für Chihiro zu machen, von dem sie dir erzählt hat",
erklärte sie freundlich. "Durch die Mitwirkung von Boh und insbesondere des
Ohngesichts, ist der Zauber, den wir in das Garn hineingewoben haben, dann sehr
stark geworden, stärker als ich eigentlich beabsichtigt hatte. So stark, denke
ich, dass man aus diesem Rest tatsächlich eine Art Kompass machen könnte, der
die Richtung zu Chihiro, beziehungsweise zum Talisman anzeigt, zumindest wenn
man bis auf ein paar Kilometer an sie herangekommen ist."
Mit großen Augen schaute Haku auf das unscheinbare, beschfarbene Garn. "Es
wäre wundervoll, wenn das wirklich funktionieren würde. Chihiro hat mir von
dem Haarband erzählt, und ich habe auf dem Rückflug damals die Kraft gespürt,
die davon ausging. Dieser Talisman, sagen sie, warum haben sie ihn Chihiro
gegeben?"
"Ja warum habe ich ihn ihr gegeben. Ich konnte ihr damals nicht direkt helfen,
weil sie bei meiner Schwester unter Vertrag war, also habe ich ihr den Talisman
gegeben, damit Yubaba sie nicht einfach so in ein Tier oder etwas anderes
verwandeln, nur um ihre Macht auszukosten", seufzte Zeniba.
"Trotzdem haben wir immer noch ein Problem", fuhr sie dann fort. "Wenn dein
Körper sich in der Menschenwelt auflöst, dann kannst du diesen Kompass nicht
halten. Du kannst ihn also nur in unmittelbarer Nähe des Torausganges benutzen,
solange das Tor geöffnet ist. Solange es nämlich noch offen ist, durchdringen
sich ihre und unsere Welten teilweise, sodass du deine physische Gestalt
beibehalten und den Kompass benutzen kannst. Wenn du dort aber keinen Ausschlag
bekommst, ist sie nicht in der Nähe und wir müssen uns etwas anderes einfallen
lassen."
"Also gut, lassen sie mich zusammenfassen", sagte Haku wild entschlossen. "Ich
muss durch ein Tor in die Menschenwelt gehen, ohne an ein Ziel zu denken. Wenn
wir mit unserer Vermutung richtig liegen, sollte mich das Tor dann in die Nähe
von Chihiro bringen, weil es die Verbindung zwischen uns erkennt. Dort soll ich
mir den Ausgang einprägen, um dann sofort durch das Tor in die Geisterwelt
zurückzukehren, sodass der Gedächtnislöschzauber nicht aktiv wird. Dann muss
ich erneut das Tor benutzen, diesmal mit dem Ziel im Kopf, welches ich mir zuvor
gemerkt habe. Nun muss ich, ohne den Torausgang ganz zu verlassen, damit sich
mein Körper nicht auflöst, den Kompass verwenden und mir die Richtung merken,
in die er zeigt, bevor ich dann diese Richtung in gerader Linie nach Chihiro
absuchen kann."
"So in etwa sollte das gehen", pflichtete Zeniba, die aufmerksam zugehört
hatte, ihm bei. "Das Ganze hört sich doch ziemlich verrückt an, wenn ich
ehrlich bin. Tatsächlich würde es mich wundern, sollte das wirklich
funktionieren. Wer weiß denn, ob sie das Haarband noch hat? Trotzdem, ein
Versuch kann ja nicht schaden." Damit begann sie, aus dem Garnrest kunstvoll
eine kurze Schnur zu flechten, welche sie in ein kurzes hohles Bambussegment
applizierte, dass sie an einem Faden aufhing.
Weil das Flechten jedoch einige Zeit in Anspruch nahm, sah sich Haku derweil
neugierig die Bücher an, die das Ohngesicht vorhin in Zenibas Haus getragen
hatte und die nun einen Stapel auf dem Tisch rechts neben ihm bildeten. Das
oberste Buch, es war klein, mit sandgrauem Einband, ziemlich unscheinbar und
abgegriffen, hatte einen Titel, der mit Romajis in einer Sprache geschrieben
war, die Haku nicht kannte. Doch zumindest den Namen des Autors konnte er
entziffern: "Erich von Däniken".
Da er mit dem Buch nicht viel anfangen konnte, legte er es zur Seite, sich dem
nächsten Werk zuwendend, welches den vielversprechenden Titel "Handbuch der
Quantenmagie" trug. "Dieses Buch hat mich auf die Idee gebracht", sagte Zeniba
plötzlich, während sie den Faden flocht.
"Auf welche Idee? Dieses Buch?", fragte Haku, indem er auf das kleine sandgraue
Buch deutete.
"Ja genau. Das Buch!", bestätige die Hexe. "Ich meine vorhin, als ich von dem
Kongress über angewandte Zauberkunst zurückgekehrt bin. Du hast doch meine
Ankunft beobachtet, nicht wahr? Hast du dich nicht gefragt, als was ich da
gelandet bin? Die Menschen nennen so was ein UFO. Die Idee habe ich aus diesem
interessanten Buch von diesem Herrn v. Däniken, einem Schweizer, aber manchmal
frage ich mich, wie die Menschen mit derartig abstrusen Schlussfolgerungen eine
so fortgeschrittene Zivilisation errichten konnten. Hah, wenn die wüssten!"
Haku verstand zwar nicht ganz, was Zeniba meinte, dazu würde er wohl erst
schweizerisch lernen und dann das Buch lesen müssen, aber neugierig geworden
nahm er es erneut in die Hand, um ein wenig darin zu blättern und sich die
Abbildungen anzusehen. Eine davon zeigte tatsächlich ein solches Gebilde, wie
das, in welches Zeniba sich für die Reise verwandelt hatte.
Diese hatte mittlerweile ihre Arbeit fertig gestellt. Probeweise hielt sie den
"Chihiro-Kompass" an dem Faden vor sich in die Luft. Nun nahm sie das letzte,
nur einen Zentimeter lange Garnstück, es um den "Kompass" herumbewegend, der
dem Garnstück wie einem Magneten immer sauber folgte. Das Ende des Holzstücks,
welches auf den Garnrest zeigte, markierte sie mit etwas roter Farbe, damit Haku
wusste, in welcher Richtung er zu suchen hatte.
"Hier, es ist fertig" sagte sie schließlich, es vor Haku, der immer noch in dem
kleinen Buch blätterte, auf den Tisch legen.
Dieser legte das Buch sorgfältig auf den Stapel zurück, nahm den "Kompass" in
die Hand, ihn interessiert untersuchend. "Es sieht völlig unscheinbar aus",
bemerkte er, das Bambusstück träumerisch hin und her kreisen lassend.
"Haku, bevor du dich jetzt aufmachst, sollte ich dich noch einmal darauf
hinweisen, dass du gesucht wirst, zumindest du in deiner Drachengestalt",
ermahnte ich Zeniba, die seine Gedankenverlorenheit bemerkt hatte. "Vor nur
einem Monat war jemand von der Geheimpolizei hier und hat mir viele unangenehme
Fragen zu meiner Schwester und eben auch zu dir gestellt. Ich kann dir
versichern, dass mir diese Person richtig Angst eingeflößt hat und mir macht
normalerweise niemand so schnell Angst. Fast hatte ich den Eindruck ... Aber
nein, es gibt ja keine Großdämonen mehr. Jedenfalls solltest du dich hüten,
dich in Drachengestalt sehen zu lassen, auch in der Menschenwelt. Man weiß nie,
von wem man gesehen wird. Vielleicht möchtest du ja noch ein paar Tage bleiben
und dich ausruhen?"
"Nein, ich möchte mich lieber sofort auf den Weg machen", lehnte Haku ihr
Angebot voller Ungeduld ab; er wollte jetzt nur noch so schnell wie möglich zu
Chihiro. "Wenn sie mich in der Geisterwelt suchen, bin ich wohl in der anderen
Welt besser aufgehoben. Zeigen sie mir doch bitte, Frau Zeniba, wo sich das
nächste Tor in der Umgebung befindet."
"Na, na, na, du bist ja vielleicht stürmisch", sagte Zeniba nachsichtig.
"Willst du dich denn nicht ausruhen. So wie du aussiehst, machst du auf mich
nicht den Eindruck, als würde es dir besonders gut gehen und an deinem Aufzug
müssen wir auch etwas machen. So kannst du dich jedenfalls nirgendwo sehen
lassen."
"Nein bitte, Frau Zeniba", entgegnete Haku. "Wie ich aussehe, ist mir egal, und
ausgeruht habe ich mich schon in der Woche, die ich hier auf sie gewartet habe.
Es geht mir wirklich gut, bitte glauben sie mir doch. Wenn sie mir das Tor nicht
zeigen möchten, dann will ich mich herzlich bei ihnen für alles bedanken und
werde mir selber ein Tor suchen."
"Haku, jetzt stell dir doch mal vor, du tauchst in diesen Sachen bei Chihiro
auf", versuchte Zeniba es ihm auf andere Weise klar zu machen. "Als du vorhin
hier aufgetaucht bist, habe ich dich zuerst für eine Art Bettler gehalten und
weil du so jung und ausgemergelt warst, hatte ich sofort Mitleid mit dir. Wenn
du zu Chihiro gehst, wird es ihr vielleicht egal sein, aber auf Dauer wirst du
dein Vorhandensein ihrer Umgebung nicht verheimlichen können. Was werden ihre
Eltern von dir halten? Du wirst dich irgendwie mit Chihiros Leben arrangieren
müssen, wenn du bei ihr bleiben willst, oder dich für immer verstecken
müssen!"
Das gab Haku zu denken. Bis jetzt hatte er immer nur vorgehabt, sein Versprechen
gegenüber Chihiro zu halten, um danach zu sehen, wie es weitergehen konnte, um
Torooru und den anderen aus dem Bergwerk zu helfen und Yubaba in ihre Schranken
zu verweisen. Sein eigenes Leben war ihm dabei zuletzt völlig gleichgültig
gewesen, doch jetzt war die Situation eine ganz andere.
Sein Eigenes war gleichzeitig auch Chihiros Leben und das schon seit vielen,
vielen Jahren. Schlagartig wurde ihm seine ganze Verantwortung bewusst, sodass
ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief, als er an seinen
Selbstmordversuch im Bergwerk zurückdachte und die anderen Gelegenheiten, bei
denen er fast den Tod gefunden hatte. Wenn er damals umgekommen wäre, im selben
Moment wäre auch Chihiro gestorben, denn sie beide zusammen teilten sich eine
Lebenskraft, vereint im Leben, wie im Tod.
Machte das Chihiro für ihn nicht zu so etwas Ähnlichem, wie zu seiner
Schwester, oder war er doch mehr ihr persönlicher Schutzgott? Je mehr er
darüber nachdachte, desto verwirrender wurde das alles für ihn. Seine
Lebenskraft steckte in Chihiro, also hatte sie das Sagen und es war seine
Pflicht, ihr zu gehorchen, sie zu beschützen, was auch einschloss, sein eigenes
Leben zu erhalten, um jeden Preis.
Aber war es dann tatsächlich Liebe, die seine Sehnsucht nach dem Mädchen
erklärte, oder einfach nur der Instinkt eines Naturgottes, seine Wohnstatt zu
beschützen. Wenn es nun gar keine Liebe war, wenn Chihiro ihn nicht
akzeptierte, was dann? Haku kam zu dem Schluss, dass das Nichts ändern würde.
Er würde bei ihr sein müssen, so lange sie lebte, und wenn sie starb, würde
auch er vergehen.
"Also gut, Frau Zeniba", sagte er deshalb, "was meinen sie, sollten wir mit
meiner Kleidung machen, damit ich für die Menschen akzeptabel bin?"
"Du solltet auf jeden Fall etwas anziehen, womit du dich unauffällig unter
ihnen bewegen kannst", sagte Zeniba. "Junge Menschen tragen heutzutage häufig
etwas, dass man Jeans und T-Shirt nennt. Mal schauen, ob ich nicht irgendwo ein
Bild davon in meiner Bibliothek davon habe."
Sie ging durch die Tür neben der Küchennische in einen Nebenraum, in welchem
sich anscheinend diese Bibliothek befand, wie Haku an den Regalen darin erkennen
konnte, ging kurz die Regalzeilen durch, bis sie zielstrebig ein Buch
herausholte. Dann kehrte sie zurück an den Küchentisch, schlug das Buch auf
einer bestimmten Seite auf und legte es vor Haku offen hin.
"Hier, sieh mal", meinte sie zu Haku, auf das großformatige farbige Foto
deutend. "So scheinen sich junge Menschen momentan anzuziehen."
Neugierig nahm Haku das Bild in Augenschein, welches einen jungen Mann zeigte,
der rosa gefärbte Haare hatte, die ihm wild vom Kopf abstanden, wie die
Stacheln eines Igels. Durch die Augenbraue hatte der Junge einen Ring, ebenso
wie durch die Unterlippe und seine Ohrläppchen.
Die Kleidung, die der Junge trug, waren ein weißes T-Shirt, in welches wie
zufällig mehrere Löcher hineingeschnitten waren, und eine in Oliv- und
Grüntönen gescheckte Hose mit etlichen aufgesetzten Taschen, die an den Knien
ebenfalls aufgerissen war. Was für Schuhe er trug, war leider nicht zu
erkennen.
Nachdem er ein wenig in dem Buch geblättert hatte, die mehr oder weniger
fantasievollen Outfits der abgebildeten jungen Menschen betrachtend, kam er zu
dem Schluss, dass er am liebsten einen Sommerkimono oder wieder einen Suikan,
wie im Badehaus tragen wollte. Aber was er selbst wollte, war jetzt nicht
wichtig, denn die Kleidung, die er jetzt brauchte, musste dazu geeignet sein,
sich unauffällig unter Menschen zu bewegen.
"Meinen sie wirklich, dass ich so etwas tragen sollte, Frau Zeniba?", fragte er
ein wenig unsicher, "ich meine, was der Junge das trägt und wie er sich
zurechtgemacht hat, erscheint mir etwas eigenartig. Und sollte ich mir auch die
Haare bunt zaubern und die Ringe durch mein Gesicht bohren?"
"Nein, nein, Haku", gab die Hexe zurück, "ich dachte nur, wir könnten die
Kleidung auf diesem Bild als Vorlage, für deine Kleider verwenden. Ich gebe zu,
was die jungen Menschen heute so alles Tragen ist, naja, gewöhnungsbedürftig,
aber wir müssen ja auch nicht alles Nachahmen. Deine unfreiwillig asymmetrische
Haartracht hat mich allerdings auf den Gedanken gebracht, in genau diesem Buch
nachzuschauen."
Sie tippte kurz gegen Hakus umgenähte Jacke und seine Hose, die sich sofort in
exakte Kopien der dargestellten Kleider verwandelten, inklusive aller Löcher
und Flecken.
"Na, das sieht doch nicht so schlecht aus", meinte sie und beäugte Haku
kritisch von allen Seiten. "Es steht dir jedenfalls besser als dem Jungen auf
dem Foto, aber ich habe den berechtigten Verdacht, dass du in jeder Kleidung
besser aussiehst, als der. Wenn du willst, machen wir uns jetzt auf den Weg zum
Tor."
Haku stand auf, um an sich herunterzublicken. Die Kleidung fühlte sich
eigenartig an, ein Gefühl des Unwohlseins bei ihm erzeugend. Wenn junge
Menschen so etwas trugen, dann musste es wohl sein. Jedenfalls hatten die
Kinder, die früher an seinen Ufern gebadet und gespielt hatten, immer Anderes
angehabt, leichte Sommerkleider, wie sie auch Chihiro getragen hatte, und wenn
sie sich ausgezogen hatten, Badesachen oder manchmal auch gar nichts.
Probehalber bewegte er sich in den Sachen, zu dem Schluss kommend, dass ihn die
Hose, obwohl sie nicht eng anlag, weil er selbst so mager war, ihn in seiner
Bewegungsfreiheit einschränkte. Doch was sollte es. Wenn er in der Menschenwelt
nicht auffallen wollte, würde er sich an diese Kleidung gewöhnen müssen.
"Also gut, Frau Zeniba", meinte er letztendlich, "ich glaube, wir können jetzt
gehen."
Bevor sie das Haus verließen, instruierte Zeniba noch schnell das Ohngesicht,
bevor sie das Haus als Ganzes verschwinden ließ, ohne jedoch diesmal den
Ablenkungszauber zu aktivieren. Das Ohngesicht passte ja auf das Haus auf und
sie würde ja auch nicht lange wegbleiben.
Über den Feldern hatte sich durch den Regen in der Nacht ein leichter
Bodennebel gebildet, der aber bald von den Strahlen der gerade aufgehenden Sonne
aufgelöst werden würde. Unter dem lauten Gezwitscher der Vögel machten sie
sich auf den Weg in den Wald hinein, folgten kurz dem Pfad zur Haltestelle der
Eisenbahnlinie, um dann links abzubiegen und tiefer in den Wald vorzudringen.
Nach etwa einem halben Kilometer erreichten sie eine kleine Lichtung mit einem
riesenhaften Kampferbaum in der Mitte, der den umgebenden Wald Haushoch
überragte. Genau auf diesen Baum marschierte Zeniba zielstrebig zu, um ihn
dann, am Fuß des Baumes angelangt, zu umrunden.
Schon wurde das Ziel ihres Ausflugs sichtbar, denn der Baum hatte, was von der
Seite, aus der sie die Lichtung betreten hatten, zunächst nicht sichtbar
gewesen war, ein großes Loch in seinem Stamm, welches eine tiefe Höhlung
bildete, in der selbst Torooru aufrecht hätte stehen können.
"Hier, Haku, das ist das Tor in die Menschenwelt", sagte Zeniba auf die Öffnung
im Stamm weisend. "Ich werde hier eine Weile warten, falls du auf der anderen
Seite nichts erreichst. Und nun geh zu deiner Chihiro."
"Vielen Dank für ihre Hilfe und ihr Verständnis, verehrte Frau Zeniba",
erwiderte Haku, indem er sich vor der alten Hexe verneigte. Damit wandte er sich
der Öffnung zu, sich bereitmachend, für den Übergang.
"Warte noch einen Moment", sagte Zeniba dann mit einem Male. "Irgendwie fühle
ich mich mitverantwortlich für die Taten meiner Schwester und wie wenig sie dir
über Magie beigebracht hat, ist einfach unverantwortlich. Deshalb biete ich dir
an, bei mir die Magie zu erlernen, als mein Schüler und ohne jede
Verpflichtung. Ach ja, und Chihiro als meiner Schülerin selbstverständlich,
falls du sie findest. Überleg es dir, denn ich verstehe mindestens ebenso viel
von Magie, wie meine Schwester."
Haku nickte ihr zum Zeichen des Verständnisses kurz zu, bevor er seinen Geist
leerte, um dem Tor beim Durchgang kein Ziel zu geben. Dann betrat er
entschlossen vorangehend das Innere des Baumes, welches sich plötzlich immer
weiter tunnelartig in die Tiefe weitete und dessen Wände nach und nach von
Hölzernen in Steinerne wechselten.
Das andere Ende des Tunnels erreicht, hütete Haku sich davor, den Durchgang zu
verlassen, damit das Tor sich nicht verschloss. Bereits jetzt verspürte er eine
lähmende Schwäche, die durch die Magieunverträglichkeit dieser Welt
verursacht wurde. Schnell prägte er sich deshalb den Anblick ein, der sich ihm
nun darbot, den Anblick eines Laubbedeckten und friedlichen, gepflasterten
Waldwegs, und dem markanten Grinsenden, doppelgesichtigen Steingeist direkt vor
ihm, mit dem das Tor in der Menschenwelt gekennzeichnet wurde.
Zur Probe holte er dann noch Zenibas "Kompass" hervor, um zu sehen, ob Chihiro,
bzw. ihr Talisman sich irgendwo in der Nähe befand. Langsam, nervtötend
langsam drehte sich das Bambusstöckchen an dem Faden in eine bestimmte
Richtung, doch das konnte ja auch nur Zufall sein. Er verdrillte deshalb den
Faden ein wenig, gab dem Stöckchen einen kleinen Stups, sodass es rasch um sich
selbst rotierte.
Mit Spannung verfolgte Haku, wie sich die Bewegung des Kompasses verlangsamte,
schließlich zum Stillstand kam, um wieder in dieselbe Richtung zu weisen wie
zuvor. Was er auch ausprobierte, immer zeigte er nach einiger Zeit in diese
Richtung, etwas schräg nach links. Die Aufregung darüber ließ Haku seine
Vorsicht vergessen und er trat hinaus aus dem Torbogen auf das Kopfsteinpflaster
des Waldweges.
Im selben Moment schloss sich das Dimensionstor, die Verbindung zur Geisterwelt
wurde gekappt und Haku wurde mit einem Mal ganz schwindelig. Erschrocken blickte
er an sich herunter, um festzustellen, dass seine Füße bereits verschwunden
waren und auch seine Hände wurden bereits durchsichtig. Nur wenige Augenblicke
später hatte er seinen Körper komplett verloren, sodass der Kompass, nun nicht
mehr von einer Hand gehalten, kurz vor dem grinsenden Steingeist zu Boden fiel.
Nur auf seine magischen Sinne reduziert, denn Augen, Ohren oder jedwede andere
Sinnesorgane besaß er nun nicht mehr, versuchte er verzweifelt sich zu
orientieren und einen klaren Gedanken zu fassen. Er musste sofort wieder zurück
in die Geisterwelt, sonst würde bald der Gedächtnislöschzauber bei ihm
wirksam werden, fuhr es ihm siedend heiß in den Sinn. Am Rande seines
Wahrnehmungsradius', der vielleicht gerade fünf Meter groß war, konnte er noch
so gerade den Eingang zum Tunnel des Tors ausmachen, auf welchen er sofort
zuschwebte.
In seiner Panik und Verwirrung stellte er sich beim Durchqueren des Tors
allerdings das Ziel vor, welches ihm am vertrautesten war und deshalb als Erstes
in den Sinn kam: den Wartesaal von Yubabas Fährstation. Dort angelangt nahm er
sofort wieder seine menschliche Gestalt an, bevor er sich auf eine der Bänke
setzte, um seiner Aufregung wieder Herr zu werden.
Er hatte, in dem Moment als er festgestellt hatte, dass Chihiro in der Nähe
sein könnte, einfach alles vergessen, was Zeniba ihm gesagt hatte und er hatte
auch vergessen, wie unangenehm es war, ohne Gestalt zu sein. Diese Schwäche,
Hilflosigkeit und fast völlige Blindheit, die jede Orientierung stark
erschwerte. Wie hatte er das nur verdrängen können, wo er es doch, nachdem
sein Fluss zugeschüttet worden war, fast zwei Monate hatte erdulden müssen,
bevor er endlich einen Zugang zur Geisterwelt gefunden hatte.
Doch es half nichts, wenn er zu Chihiro wollte, dann würde er es erneut
durchstehen müssen. Entschlossen stand Haku wieder auf, ging energisch auf den
mittleren Durchgang zu, sich auf das Bild konzentrieren, welches er vom Ausgang
auf Chihiros Seite noch frisch im Kopf hatte.
Wieder dort angelangt, blickte er kurz auf den Kompass, der jetzt kaum von
anderen Aststückchen zu unterscheiden im Laub vor dem Steingeist lag. Doch ein
Versuch, den Kompass mit Magie zu ihm herüberschweben zu lassen, schlug wegen
der erneut einsetzenden Schwäche fehl. Das Bambusstückchen wollte einfach
nicht auf seinen Zauber reagieren.
Bald sah Haku ein, dass es zwecklos war. An den Kompass konnte er jetzt nicht
mehr herankommen, also würde er sich auf die Erinnerung an vorhin verlassen
müssen, als er den Kompass noch in der Hand gehabt hatte. Im Tunnelausgang
stehend, drehte er sich nach links, bis er genau in die Richtung blickte, in die
der Kompass vorhin gezeigt hatte, um dann ein paar Schritte auf das
Kopfsteinpflaster hinaus zu machen.
Schon setzte der Auflöseprozess erneut ein, doch diesmal war Haku darauf
vorbereitet. Als er seine physische Gestalt vollständig verloren hatte, begann
er nun in gerader Linie weiter zu schweben, in der Hoffnung auf diese Weise das
Mädchen, die Trägerin seiner Lebenskraft, in der Menschenwelt zu finden.
Es stellte sich alsbald als schwierig heraus, einen geraden Weg durch den Wald
zu nehmen, denn einige der Bäume, die auf seinem Pfad lagen, waren von
närrischen Baumgeistern bewohnt, die ihn partout nicht vorbeilassen wollten.
Diesen Bäumen auszuweichen und dann wieder die genaue Richtung zu finden war
fast unmöglich, insbesondere da seine Wahrnehmung gerade einmal von einem Baum
zum nächsten reichte.
Nachdem er zweimal von vorne beginnen musste, weil er deswegen die Richtung
verloren hatte, fand er einen Ausweg, indem er einfach über dem Wald
hinwegschwebte. Auf diese Weise gelangte er nach vielleicht einem Kilometer an
den Waldrand, an den sich eine abschüssige Wiese anschloss. Hier hielt Haku
kurz inne, um sich zu orientieren, doch er konnte nichts in seiner unmittelbaren
Nähe wahrnehmen, ebenso wenig, wie er in der Lage war, die Größe der Wiese
auszumachen. Das Einzige was er mit Sicherheit sagen konnte war, dass die Wiese
sich über mehr als als fünf Meter erstreckte.
Sein Gefühl allerdings sagte ihm, da er bereits über einen Kilometer weit
gekommen war, dass Chihiro nicht mehr weit sein konnte. Weiter seiner Richtung
folgend, schwebte er nun über die Wiese, bis er auf eine kleine Straße traf,
auf deren gegenüberliegender Seite sich ein Haus befand, welches er aufgeregt
zu untersuchen begann. Immerhin fand er den Briefkasten des Hauses, wo er den
Namen der Bewohner lesen konnte: Abe.
Chihiro trug den Nachnamen Ogino, also schien sie hier nicht zu wohnen. Etwas
enttäuscht schwebte Haku zum Nachbarhaus rechts daneben weiter, wo er ebenfalls
den Namen las: Shikishima. Auch hier wohnte Chihiro offenbar nicht und so machte
Haku weiter, bis er das Ende der Häuserzeile erreicht hatte, dass von einer
Querstraße begrenzt wurde. In keinem der Häuser wohnte eine Familie Ogino.
Verzweifelt wünschte sich Haku, den Kompass benutzen zu können.
Doch möglicherweise war sie ja bei jemandem zu Besuch, bei jemandem der nicht
Ogino hieß. Um das festzustellen, würde er jedes dieser Häuser einzeln
durchsuchen müssen. Mit einem geistigen Seufzer schwebte Haku zum Haus der Abes
zurück, um sich dessen Bewohner genauer anzusehen. Hier bemerkte er dann, dass
sich links von diesem Haus sich noch ein weiteres Gebäude befand, bei welchem
er noch nicht nachgesehen hatte.
Gerade wollte er auf den Briefkasten dieses Anwesens zuschweben, als die
Haustür aufging. "Schatz, willst du denn gar nichts zu essen mitnehmen", drang
eine weibliche Stimme heraus, die Haku merkwürdig vertraut vorkam.
"Nein Mama, ich habe keinen Hunger mehr", erwiderte Chihiro, "aber wenn es noch
lange dauert, verpasse ich den Schulbus! Auf Wiedersehen, Mama. Bis heute Abend.
Du weißt ja, Ayaka hat nach der Schule noch ein Ligaspiel und da muss ich hin."
Damit trat Chihiro rückwärts aus der Tür heraus und wurde für Haku
sichtbar.
Gerade zwei Meter von ihm entfernt stand sie in der Eingangstür ihres Hauses
und ihr ganzer Körper strahlte so hell vor magischer Energie, dass er hätte
blinzeln müssen, wenn er Augen gehabt hätte. Mit ihren Abschiedworten, die
Haku nicht direkt gehört, sondern mehr als geistige Schwingungen vernommen
hatte, wirbelte Chihiro herum, um den Gehweg von der Tür zur Grundstücksgrenze
herunterzustürmen, genau durch Haku hindurch, der dort unsichtbar schwebte.
Das Gefühl, das er in diesem kurzen Moment der Berührung mit Chihiro hatte,
war unbeschreiblich intensiv, als würde auf einmal alle Schwäche und
Hilflosigkeit von ihm abfallen. Er kannte dieses Gefühl, doch es schien lange
vergessen. Es war das Gefühl, das er früher immer gehabt hatte, wenn er in
seinem Fluss gewesen war, ein Gefühl unbeschreiblichen Glücks, das für immer
verloren schien.
Doch bei Chihiro war es anders, irgendwie noch viel lebendiger, schöner als er
es in Erinnerung hatte.
Nachdem das Mädchen durch ihn hindurchgerannt war, hielt es plötzlich inne,
sich verwirrt umblickend, als hätte es etwas gespürt. "Hallo, ist da jemand?",
rief sie verwirrt. Doch dann besann sie sich wieder und rannte weiter zu diesem
Schuldings.
Haku überlegte, ob er ihr folgen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Er
wollte Chihiro begegnen, wenn sie alleine war, sodass er sich entschloss Haku zu
warten, bis sie aus dieser Schule zurückkam.
Kapitel 16: Chihiro und Kohaku, Teil 2
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Chihiro und Kohaku, Teil 2
Die ganze Zeit über, die Busfahrt zur Schule, die morgendliche Schulversammlung
hindurch und auch den größten Teil der ersten Schulstunde, in der sie
Matheunterricht hatte, ging Chihiro das merkwürdige, und doch so vertraute
Gefühl nicht mehr aus dem Kopf, dass sie beim Verlassen des Hauses kurz gehabt
hatte.
Es beschäftigte sie so sehr, dass sie sich auf nichts anderes mehr
konzentrieren, weder ihre Freunde richtig wahrnehmen, noch dem Unterricht folgen
konnte, einzig in dem Versuch sich zu erinnern, was an dem Gefühl dermaßen
vertraut gewesen war.
Der Mathematiklehrer erläuterte gerade den Satz des Pythagoras an der Tafel,
wozu er ein formatfüllendes, rechtwinkliges Dreieck mit der Kreide auf der
dunkelgrünen Fläche platzieren wollte. Leider quietschte das Kreidestück
dabei so sehr, dass es Chihiro aus ihren Gedanken riss und wohl bei der Hälfte
aller anderen Schüler, eine Gänsehaut verursachte. Ayaka krümmte sich
übertrieben unter dem unangenehmen Geräusch, wohingegen Ichiyo sich nichts
anmerken ließ und emsig das Dreieck von der Tafel in sein Schulheft übertrug.
Bei der Hypotenuse wurde es Chihiro zu viel und sie beschloss, etwas zu
unternehmen. Dazu kam ihr eine Entdeckung zugute, die sie erst vor kurzem beim
Ausprobieren ihrer magischen Fähigkeiten gemacht hatte. Einen ganzen Nachmittag
hatte sie nämlich versucht, einen Kieselstein in eine Glasmurmel zu verwandeln,
die sie beim Murmelspiel auf dem Schulhof verwenden wollte.
Diese Umwandlung war ihr zwar nicht gelungen, so viel Mühe sie sich auch
gegeben hatte, aber als sie nach einigen Stunden enttäuscht aufgeben und den
Kiesel zu Seite schnippen wollte, zerplatzte der in einer Staubwolke. Nach
einigem weiterem Experimentieren gelang es ihr, diesen Effekt konstant zu
reproduzieren und hinterher sogar, den zu einem Häufchen zusammengeschobenen
Staub gewissermassen festzubacken und in der Form des Häufchens zu fixieren.
Genau das beschloss sie nun, an dem Kreidestück des Lehrers auszuprobieren.
Dazu deutete sie mit dem Finger kurz auf die Kreide, während sie sich den
notwendigen Vorgang vorstellte. Das Deuten mit dem Finger war zwar nicht
unbedingt notwendig, um den Zauber auszuführen, aber es half, wie ihr Manami
erklärt hatte, die Gedanken, und damit auch die Zauberkräfte, auf den zu
behexenden Gegenstand zu fokussieren.
Die Wirkung trat unmittelbar und drastisch ein. Eben noch zog der Lehrer, Herr
Mochizuki, mit großem Elan sein kreischendes Kreidestück an dem großen
Kunststofflineal entlang, welches er krampfhaft gegen die Tafel presste, um
nicht abzurutschen, als plötzlich die Kreide in ihrer Papierhülle nachgab und
als Pulver zu Boden rieselte.
Da Herr Mochizuki die Kreide relativ stark gegen die Tafel gedrückt hatte,
fasste er plötzlich ins Leere, prallte er mit der rechten Hand gegen das
Lineal, welches er dadurch zur Seite schob, bis er damit ebenfalls abrutschte
und haltlos mit der Schulter gegen die Tafel taumelte.
Überrascht fing er sich ab und nahm dann verwundert die mittlerweile leere
Papierhülle des Kreidestücks in Augenschein. Anschließend begutachtete er
noch sprachlos den Kreidestaub, der sich in einer dünnen Schicht auf den
Fußboden gelegt hatte. Nachdem er sein Jackett unständlich von einigen weißen
Flecken gesäubert hatte, nahm er achselzuckend ein neues Kreidestück aus der
Schachtel auf dem Lehrerschreibtisch. Dann setzte er das Lineal erneut an, ohne
weiter das Gemurmel der Schüler zu beachten, um seine Hypotenuse zu vollenden.
Das neue Kreidestück gab allerdings ähnlich lästige Kratzgeräusche von sich,
wie das zu Staub Gezauberte, sodass Chihiro, von ihrem Erfolg ermutigt, spontan
einen weiteren Zauber von sich gab. Diesmal wendete sie den entdeckten
Umkehrzauber an, der das Kreidestück so verfestigte, dass es die Härte von
Marmor annahm.
Ebenso unvermittelt, wie vorher das erste Kreidestück zerbröselt war, hörte
das Neue nun auf, sich auf der Tafelfläche zu verteilen und einen Strich zu
zeichnen. Aus dem Quietschen wurde dabei ein eher schrammendes Geräusch, das
Chihiro erschreckte, denn sie wollte nicht, dass die Tafel beschädigt würde.
Herr Mochizuki hörte mit dem Zeichnen auf, wobei er jetzt die Stirn kraus zog,
während er die funktionsuntüchtige Kreide nachdenklich betrachtete.
Gleichzeitig nahm die Unruhe in der Klasse für japanische Verhältnisse
ungewöhnliche Ausmaße an.
"Liebe Schüler", sagte er dann mit spürbarer Resignation, den die Situation
war ihm sichtlich peinlich, "mit dieser Packung Kreide scheint etwas nicht zu
stimmen. Ich muss wohl kurz in das Lehrerzimmer gehen und eine neue Packung
holen." Damit verließ er mit seinem charakteristisch schlurfendem Schritt den
Klassenraum.
Erleichtert dass sich auf der Tafel zum Glück kein Kratzer abzeichnete, sackte
Chihiro, ihren Kopf gedankenversunken mit den Händen stützend, auf ihr
Schreibpult, um sich abermals auf die Empfindung vom Morgen zu konzentrieren. In
diesem Moment wurde sie auch schon von Ayaka angestoßen. "Mensch Chihiro, was
ist denn nur los mit dir?", zischte sie. "Den ganzen Morgen bist du schon so
abwesend. Hast du das mit Herr Mochizuki denn gar nicht bemerkt? Das war doch
zum Schießen komisch."
Jetzt musste Chihiro lauthals losprusten, sodass Ayaka sie mit aufgerissenen
Augen verstört anstarrte. Ob die es bemerkt hatte, fragte Chihiro sich dabei?
Aber dass sie mit ihrer Zauberkraft das Missgeschick des Lehrers verursacht
hatte, konnte sie Ayaka ja kaum sagen. Als ihr das in den Sinn, erstarb ihr
Gelächter ebenso rasch, wie es ausgebrochen war. Jetzt bemerkte sie auch, dass
die ganze Klasse zu ihr hinüberstarrte, mit Ausnahme von Ichiyo, der sich in
sein Schulheft vergraben hatte.
"Du entschuldige Ayaka", flüsterte sie beschämt, "ich bin wohl heute ein wenig
Durcheinander. Vorhin ist mir was passiert ... du das hat mich abgelenkt ..."
"Echt, was denn?", wollte Ayaka erfahren.
"Das kann ich so genau nicht sagen", erwiderte Chihiro, der das Thema unangenehm
war. "Aber das ist es ja, was mich so ablenkt, dass ich es nicht weiß."
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Herr Mochizuki kehrte zurück, eine
frische Kreidepackung in der Hand. Das Getuschel der Schüler erstarb
augenblicklich und Ayaka tat auf der Stelle, als studiere sie intensiv ihr
Mathebuch.
Am Nachmittag, gegen 16:30, hockten Chihiro und Ichiyo auf der kleinen
Holztribüne des Fußballplatzes der Schule, um das zweite Ligaspiel der Saison
zu verfolgen, gegen die Mädchenmannschaft der Mittelschule von Fukuji. Nach dem
Fußballboom des vorangegangenen Jahres durch die WM hatte allerdings die
Begeisterung der Mitschüler stark abgenommen.
So saßen außer Chihiro und Ichiyo, die nur Ayaka zu liebe gekommen waren,
gerade einmal 20 weitere Schüler auf der Tribüne, um die Schulmannschaft zu
unterstützen. Nicht dass das Spiel besonders interessant gewesen wäre oder die
Mannschaft eine explizite Unterstützung benötigt hätte. Dafür sorgte allein
Ayaka, deren überdimensionale Adidas-Sporttasche sie bewachten.
Gerade eben hatte diese das 11:0 geschossen, ebenso wie zuvor das 10:0, das 9:0,
das 8:0 und all die anderen Tore vorher auch. Mit dem rechten Fuß lupfte
Chihiro vorsichtig die Abdeckung der Sporttasche, um auf den Ball darin zu
linsen, der unter der Autogrammkarte von Birgit Prinz hervorlugte, Ayakas
neuestem Schatz.
Den Ball allerdings, den Ayaka hütete als ihren Talisman wie den eigenen
Augapfel. Es war der Kemari-Ball aus Hirschleder, den der Fußballgott
Saidaimyojin Chihiro geschenkt und den sie dann an ihre fußballverrückte
Freundin weitergereicht hatte, was sie wohl besser nicht hätte tun sollen.
Seit sie den hatte, steigerten sich die Erfolge Ayakas als Stürmerin schier ins
Unermessliche. Sie brauchte nur jenseits der Mittellinie den Ball irgendwie zu
bekommen und auf das Tor der gegnerischen Mannschaft zu halten, schon landete
die Lederkugel wie durch Zauberei im Netz. Nein, korrigierte Chihiro sich. Es
war Zauberei! Nicht dass Chihiro den Eindruck hatte, dass Ayaka dadurch besser
spielte, als früher. Eher spielte sie schlampiger und verließ sich einzig auf
diese neue "Gabe". Doch sie traf und traf und traf und traf ...
Oft hatte Chihiro überlegt, ob sie Ayaka den weißen Hirschlederball wieder
wegnehmen sollte, doch ihre Freundin nahm die übernatürliche
Treffergenauigkeit hin, als wäre sie gottgegeben (was sie ja in Wirklichkeit
auch war) und sah darin keinen eigenen Verdienst, der sie zur Überheblichkeit
hätte verleiten können.
Stattdessen nutzte sie ihre Zuversicht, die anderen Mädchen der Mannschaft
aufzumuntern. Das nützte jedoch nicht viel, denn Ayaka entschied die Spiele
ohnehin alleine, egal, wie viel Mühe sich die Restmannschaft gab. Man gewann ja
sowieso.
Auf jeden Fall wurden die Ligaspiele dadurch sehr eintönig, was dem Zuspruch
durch die Zuschauer nicht unbedingt gut tat. Besser gesagt, sowohl die Gegner,
in Erwartung einer schmachvollen Niederlage, als auch die Fans der
Schulmannschaft, in Aussicht auf die Vergeudung eines erholsamen Nachmitttages,
enthielten sich der zunehmend unbeliebten Teilname an dem vorhersehbaren
Ereignis.
Die meisten anderen ihrer Mitschüler, die sich dennoch zum Spiel eingefunden
hatten, verfolgten allerdings das Spiel. Einige machten Hausaufgaben, ein Junge
hatte sich in ein Buch vertieft und eine Gruppe Mädchen spielte Karten. Einzig
Ichiyo bildete hier scheinbar eine Ausnahme, so begeistert, wie er mit dem Spiel
mitging, aber Chihiro hatte den begründeten Verdacht, dass er nicht der
Mannschaft, sondern einzig Ayaka zujubelte.
Endlich pfiff der Schiedsrichter das Spiel ab und die beiden Mannschaften
versammelten sich, um einander die Hände zu geben. Einzig die gegnerische
Torhüterin verweigerte Ayaka den Händedruck, sie gekränkt und herausfordernd
anfunkelnd. Danach kam sie fröhlich winkend auf ihre Tribüne zugerannt, wurde
aber am Aufgang von Kotaro Kamisaka abgefangen, dem Kapitän der
Baseballmannschaft. Er war der beste Schüler der neunten Klasse, groß
gewachsen und sah auch noch gut aus.
Ayaka wurde richtig gehend verlegen, grinste dümmlich und scharrte mit den
Füßen. Chihiro fand zwar auch, dass Kotaro gut aussah und bewunderte ihn für
seine Treffsicherheit mit dem Schläger, das war jedoch schon alles. Die
Hysterie jedenfalls, in die die meisten anderen Mädchen, auch aus ihrer Klasse,
bei seinem Erscheinen verfielen, konnte sie nicht wirklich nachvollziehen. Das
galt, wenn sie darüber nachdachte, für alle Jungen der Schule.
Schließlich hatte keiner von denen grüne Augen, hallte es aus ihrem
Unterbewusstsein, und plötzlich musste sie wieder zum Morgen zurückdenken, als
sie aus dem Haus gekommen war. Jetzt wusste sie, woran sie das vertraute Gefühl
erinnert hatte: als wenn sie jemand aus großen grünen Augen angesehen hätte.
Dabei hatte sie sich ganz wohlig, sicher und geborgen gefühlt. Wenn sie sich
doch nur erinnern könnte, wer das gewesen war.
Eines wusste sie jetzt jedoch ganz sicher: Sie hatte dieses Gefühl früher
schon einmal gehabt und wollte sie es wieder haben. Irritiert schüttelte
Chihiro sich. Was dachte sie da eigentlich gerade? Es gab ja doch einen Jungen,
der sie interessierte, fiel ihr ein. Ichiyo natürlich, und der hatte keine
grünen Augen. Welcher Junge in Japan hatte schon grüne Augen?
In diesem Moment ging ihr auf, dass sie von Ichiyo bisher gar nicht als Jungen
gedacht hatte; er war einfach nur ein Spiel- und Klassenkamerad gewesen. Rasch
spähte sie zu ihm hin und stellte fest, dass er mit hängendem Kopf wie ein
Häufchen Elend dasaß und die unter ihm liegende Sitzreihe anstarrte. Sie
blickte wieder zu Ayaka hinunter, die weiterhin von Kotaro bearbeitet wurde.
Dabei genierte sie sich offenbar, denn einige andere Mädchen waren auf den
Vorgang aufmerksam geworden und beobachteten das Geschehen neidisch. Chihiro sah
noch einmal zu Ichiyo herüber, der sich intensiv bemühte, nicht zu Ayaka zu
schauen, und erkannte den Zusammenhang.
Jetzt galt es, etwas zu unternehmen, und zwar rasch. Der schüchterne Junge
würde von alleine nicht trauen, etwas zu tun, also musste sie ihm einen Anstoß
geben. Ayaka war die ganze Situation offenbar selber unangenehm, also würde es
nicht viel benötigen, um sie von Kotaro loszueisen. "Du Ichiyo, lass uns zu
Ayaka gehen, sonst quatscht Kotaro sie noch endlos voll", dirigierte sie Ichiyo
deshalb, "und wir kommen gar nicht mehr nach Hause."
"Ist gut", murmelte er und schickte sich an, hinter Chihiro herzutrotten.
Chihiro drehte sich um und sah Ayakas Sporttasche, die unübersehbar immer noch
zwischen den Sitzreihen der Tribüne stand. Ichiyo schien im Moment nicht die
notwendige Geistesgegenwart zu besitzen, um sich die Tasche zu nehmen, also
machte sie kehrt und schulterte das Ungetüm mit der Zuversicht ihrer neu
entdeckten Kraft.
Die Tasche erwies sich jedoch als so schwer, dass Chihiro sie kaum hochwuchten
konnte und beinahe umfiel, als sie um ihren Rücken herum auf die Seite schwang.
Verdammte Ayaka, schimpfte sie in Gedanken auf ihre Freundin, was hatte sie
außer dem Kemari-Ball noch alles da drin? In diesem Moment wurde sie auch schon
von Ichiyo gestützt, der ihr die schwere Tasche spielerisch leicht abnahm,
bevor er die Tribüne herunter zu Ayaka zu stapfen begann.
"Wenn du an diesem Wochenende keine Zeit hast, dann können wir auch nächstes
Wochenende gehen", baggerte Kotaro unbeirrt, "glaub mir, das mach gar nichts."
"Äh, ich weiß nicht, Kotaro", stammelte Ayaka hilflos, "ich weiß doch nicht,
ob ich dann Zeit habe."
"Hallo Ayaka, hallo Kotaro", rief Chihiro mit aufgesetzter Fröhlichkeit. "Komm
wir müssen jetzt gehen, der Bus fährt gleich." Ichiyo stand derweil
bedröppelt, Ayakas Sporttasche geschultert, neben Chihiro, die er dankbar
ansah.
"Ja aber, ich wollte doch noch duschen", protestierte Ayaka.
"Das kannst du doch auch zu Hause", zischte Chihiro, nahm ihre Freundin bei der
Hand und begann sie von Kotaro wegzuziehen. "Tschüss Kotaro, und viel Glück
für dein Spiel morgen." Etwas irritiert sah Kotaro ihnen hinterher, sagte
jedoch nichts.
"Was ist denn los, Chihiro?", beschwerte Ayaka sich, als sie an der
Bushaltestelle angelangt waren. Der Schulbus war schon lange weg, sodass sie die
öffentlichen Verkehrsmittel würden nehmen müssen. "Du benimmst dich den
ganzen Tag schon so komisch."
"Och nichts", erwiderte sie, "ich wollte dich nur vor Kotaro retten. Er ist
übrigens nicht der einzige Junge, der sich für dich interessiert." Ichiyo
bekam einen Ausdruck des Entsetzens und sein Kopf wurde wieder feuerrot. Wenn
Ayaka nun begriff, dass Chihiro nur ihn meinen konnte?
Sie jedoch ging weder darauf ein, noch bemerkte sie seine Verlegenheit. "Ach, o
ja, vielen Dank", meinte sie dann. "Der Doofkopp wollte mich in Matrix, Teil 3,
schleppen. Mit hat aber das phisolophische Geblubber in Teil 2 schon nicht
gefallen. Sag mal, ist da nun 'ne Matrix in der Matrix, oder nicht .... Ich
meine, weil Neo ..." Und Ichiyo war höllisch erleichtert, weil sie sich nichts
aus Kotaro zu machen schien.
Nachdem Chihiro gegangen war, hatte Haku nichts weiter zu tun, sodass er begann,
sich umzusehen. Als Erstes das Haus Zimmer für Zimmer und hatte ihren Raum
rasch gefunden; es war der Einzige im Haus, der ihm wirklich gefiel, der
Einzige, der in japanischer Tradition eingerichtet war, während alle Anderen
sehr stark westlich geprägt waren. Er mochte besonders die drei Blumengestecke,
die Chihiro in ihrem Zimmer verteilt hatte und von denen er spüren konnte, dass
sie von ihr selbst arrangiert worden waren.
Eine Weile versank Haku im Betrachten der Gestecke, ließ jedes Einzelne auf
sich wirken. Nach einer Weile kam es ihm in den Sinn, dass es wichtig sein
könnte, wenn er etwas mehr über die nähere Gegend erfuhr. Also begann er, die
nähere Umgebung zu erkunden. Er entdeckte den uralten Baum am Waldrand
unterhalb von Chihiros Haus, doch er fand ihn verlassen. Kein Geist mehr wohnte
in ihm, obwohl er den schwachen Nachklang einer uralten, mächtigen Aura in
seinem hohlen Inneren wahrnehmen konnte.
Einst musste ein Waldgeist in dem Baum gewohnt haben, aber er hatte den Baum
wohl verlassen, als der umgebende Wald gerodet worden war und mit den
Bauarbeiten begonnen wurde, mutmaßte Haku. Von dem Baum ausgehend folgte er
dann dem Waldweg, sodass er nach kurzer Zeit wieder am Ausgangspunkt seiner
Expedition in die Menschenwelt anlangte: dem Tor in die Geisterwelt. Kurzweg
entschloss er sich, zu Zeniba zurückzukehren, um ihr zu sagen, dass er Erfolg
gehabt hatte.
Erneut in der Geisterwelt, bei ihrem Haus angelangt, musste Haku feststellen,
dass alle bereits schlafen gegangen waren. So hinterließ er nur eine Nachricht,
die er mit einem Stein in den Lehmboden vor Zenibas Haustür ritzte, bevor er
eilig wieder zu Chihiros Haus zurückkehrte, denn er wollte ihre Rückkehr auf
keinen Fall verpassen. Aber es war noch nicht einmal Mittag, als er am Haus der
Oginos anlangte, und so streifte er unruhig hin und her, glücklich, dass er
Chihiro gefunden hatte und voller Zweifel über die Zukunft.
Endlich ging die Sonne unter und es wurde Abend. Die einsetzende Dämmerung nahm
er in seinem Zustand nicht wahr, denn einzig und allein auf seine magischen
Sinne reduziert, gab es für ihn keinen Unterschied zwischen Hell und Dunkel,
aber das Verschwinden der Sonne konnte Haku erkennen. Nacheinander kehrten
Chihiro Eltern nach Hause zurück, die er bisher nur in Schweine verwandelt
kennen gelernt hatte und er beobachtete, wie Vater Ogino ein Gerät
einschaltete, das, wie Haku feststellte, eine sehr unangenehme Ausstrahlung
besaß.
Wozu es gut war, konnte er nicht ausmachen, jedoch die Art und Weise, wie Herr
Ogino gebannt das Gerät fixierte, ließ ihn vermuten, dass es etwas zu sehen
und vielleicht auch zu hören gab. Aber er hielt es in der Nähe dieses
Apparates nicht aus, sodass er in die Küche schwebte und Frau Ogino bei der
Zubereitung des Essen beobachtete.
Aus seiner Erfahrung in der Küche des Badehauses, deren Rezepte er alle
auswendig kannte, kamen ihm sofort etliche Verbesserungen in den Sinn, die man
bei der Zubereitung der Speisen machen konnte. Auf der Wiese und auch im Wald
hatte er vorhin eher unbewusst, gewissermassen im Vorbeischweben, viele Kräuter
registriert, die man hier zum Einsatz bringen konnte.
Möglicherweise hatten Menschen jedoch ein anderes Geschmacksempfinden, als
Götter, wenn sie so einfach zu beschaffende Zutaten ignorierten. Nein, das
konnte auch nicht sein, denn Chihiros Eltern hatten mit so großer Gier das
Essen für die Götter verschlungen ... In diesem Augenblick entdeckte Haku ein
helles Gleißen, welches sich dem Haus zielstrebig näherte. Chihiro kam heim.
Eine gute Stunde, nachdem sie vom Sportplatz in Nakaoka aufgebrochen waren und
sie von der Haltestelle unten an der Route 21 den Hügel hinauf geschnauft
waren, verabschiedete Chihiro sich von Ayaka und Ichiyo. Eine Minute später
gelangte Chihiro zu Hause an. Es war kurz vor acht Uhr am Abend und bereits
komplett dunkel. Bald würde der Herbst beginnen.
Sie wollte gerade die Haustür aufschließen, da fiel ihr wieder der Morgen ein
und sie blickte sich eingehend um, doch dieser überwältigende Eindruck
beobachtet zu werden, stellte sich nicht wieder ein. Da war Nichts. Kurz wartete
sie, ließ die Nacht auf sich wirken, bevor sie sich einen Stoß gab und doch
die Haustür aufschloss. "Hallo Papa, hallo Mama, ich bin wieder da."
"Und? Wie hoch habt ihr gewonnen?", wollte ihr Vater vom Wohnzimmer aus wissen.
"Gleich gibt es Abendessen!", rief ihre Mama aus der Küche.
"Wir ... Ayaka hat 11:0 gewonnen", brüllte Chihiro. "Ich geh nur eben nach oben
und leg meine Schulsachen ab." Damit stürmte sie die Treppe hoch in ihr Zimmer.
Haku schwebte hastig durch die Außenwand der Küche hinaus, eine Etage nach
oben, wo er vor dem Fenster von Chihiros Zimmer verharrte.
Sie legte ihre Schulsachen auf ihren Schreibtisch, ging dann zum Fenster und
starrte in die Nacht hinaus. Dabei leuchtete ihre Lebenskraft so hell aus ihr,
dass Haku es kaum aushalten konnte und fast sofort zu ihr hingeglitten wäre. Es
war dasselbe Leuchten, welches früher der Kohakugawa ausgesendet hatte, wenn er
ihn mit seinen magischen Sinnen wahrgenommen hatte. Doch dieses Leuchten war
sanft und milde gewesen. Bei ihr jedoch war es, als würde das Licht des ganzen
Flusses in ihrem Körper konzentriert sein, so gleißend, so strahlend.
Chihiro konnte es eindeutig fühlen. Dort draußen vor dem Fenster war
irgendetwas, etwas, das dort wartete. Der Eindruck war viel schwächer als heute
Morgen, aber eindeutig. Doch im Gegensatz zum Morgen hatte sie jetzt Zeit, um
den Eindruck au sich wirken zu lassen. Konzentriert blickte sie aus dem Fenster,
versuchte etwas zu erkennen, doch sie sah nur die Reflexe ihrer eigenen Gestalt
im Licht der Flurbeleuchtung in der Scheibe.
"Haku", flüsterte sie, was ihr in den Sinn kam, "Haku, bist du da?" Chihiro war
sich plötzlich ganz sicher, dass es ein Haku-Gefühl war, dass sie hatte, was
auch immer das sein mochte. Wer oder was um alles in der Welt war eigentlich ein
Haku?
"Chihiro, wo bleibst du denn?", ließ sich ihre Mutter laut von unten vernehmen.
"Das Abendessen ist fertig. Wir warten auf dich!"
Mühsam riss Chihiro sich von der Fensterscheibe los, von der sich fast
magnetisch angezogen fühlte. Kaum war sie wieder im Hausflur, wurde ihr
leichter ums Herz, und sie stürmte die Treppe mit frischem Elan herunter. Zu
ihrer Erleichterung merkte sie, dass sie jetzt wieder ein wenig Hunger hatte und
das vertraute Gefühl beruhigte sie. Wenn sie Hunger hatte, war alles in
Ordnung!
Haku beobachtete, wie Chihiro ihn direkt durch das Fenster ihres Zimmers
anblickte, ohne seiner jedoch gewahr zu werden. "Haku, Haku bist du da?",
vernahm er ein leises, unsicheres Echo direkt in seinem Geist. Es stammte
eindeutig von Chihiro. Schlagartig wurde Haku klar, dass Chihiro seine
Anwesenheit fühlen konnte, dass sie jedoch ihren eigenen Sinnen nicht traute.
Eilig schwebte er wiederum zur Küche herunter, von wo aus er der Familie Ogino
beim Abendessen zusah. Das unkontrollierte Schlingen, das zu dem Unfall in der
Geisterwelt geführt hatte, konnte er allerdings nicht beobachten. Die
unersättlichen Gierschlünde, als die die Menschen in der Geisterwelt
verschrien waren, konnten schienen sie gar nicht zu sein. Das Abendessen ging
doch sehr gesittet vonstatten.
Chihiro selber schien kaum Hunger zu haben, denn sie sah mehr aus dem Fenster,
genau in seine Richtung, anstatt zu essen. Er fragte sich nur, für wen die
riesige Schüssel mit Reisbällchen auf dem Tisch war, da offenbar keiner von
ihnen davon etwas nahm.
Nach dem Abendessen ging Chihiro hoch in ihr Zimmer, wo Haku beobachtete, wie
sie sich vor ihren Schreibtisch hockte und konzentriert immer das gleiche
Schriftzeichen in ein Heft schrieb, offenbar um es zu üben. Er überlegte, ob
er jetzt zu ihr hinschweben sollte, um sich dann bei ihr in seine menschliche
Gestalt zu verwandeln. Doch ihre Zimmertür stand offen, sodass ihre Eltern es
bestimmt bemerken würden, wenn er jetzt wie aus dem Nichts auftauchte und
Chihiro zweifellos erschrecken würde.
Er wollte zuerst alleine mit ihr reden, ohne dass die Eltern dazwischen funken
konnten. Vielleicht würde sie ihn ja wieder fortschicken, dann brauchten ihre
Eltern auch nicht zu erfahren, dass es ihn überhaupt gab, und erschrecken
wollte er Chihiro auch nicht. Am besten würde es sein, dachte Haku bei sich,
wenn er wartete, bis sie und ihre Eltern schliefen. Dann konnte er sich ihr
vorsichtig nähern, bis er sie berührte, um sich verwandeln zu können und sie
danach behutsam zu wecken.
Hinterher könnte er sich ungestört mit ihr unterhalten .... Abrupt blickte
Chihiro auf, kniff die Augen zusammen und spähte aus dem Fenster. Haku bemerkte
jetzt, dass er bis direkt an die Scheibe herangeglitten war, weniger als zwei
Meter von ihr entfernt, als wäre er hypnotisiert von der Helligkeit ihrer
magischen Aura. Sie konnte ihn bestimmt wieder seine Anwesenheit wahrnehmen und
so entfernte sich Haku ein wenig hinaus in die Nacht, wo er wartete.
Chihiro konnte sich kaum auf die Hausaufgaben konzentrieren, denn dieses
"Haku"-Gefühl -was ist ein Haku? - ging nicht mehr weg. Manchmal war es
stärker, manchmal schwächer und einmal hatte sie den Eindruck, dass sie nur
den Arm ausstrecken musste, um es zu berühren - was zu berühren? Was auch
immer es war, sie hatte den Eindruck, dass es direkt vor dem Fenster war.
Doch da war nichts zu erkennen und dann wurde es plötzlich wieder schwächer.
Chihiro seufzte in Gedanken. Die Leere, die sie in den letzten Tagen in sich
bemerkt hatte, seit sie plötzlich keinen Hunger mehr hatte, war zurückgekehrt.
Sie war nichts anderes als das Fehlen des "Haku"-Gefühls gewesen, wie sie jetzt
erkannte. Wenn sie sich doch bloß erinnern könnte, warum es ein "Haku"-Gefühl
war, denn sie fühlte, dass sie eigentlich wissen musste.
Mit einem erneuten Seufzer legte sie das Schulheft zur Seite und holte einen
Blumentopf aus Ton, den sie mit Granulat füllte. Einige Blumen, Gräser und
Farne, die sie gestern auf der Wiese vor ihrem Haus gepflückt und in einer Vase
in Wasser gestellt hatte, kamen noch hinzu, sodass sie beginnen konnte, ein
neues Blumengesteck zu machen. Es half ihr, die Leere in sich zu verdrängen und
als sie fertig und zufrieden mit dem Ergebnis war, verspürte sie nur noch eine
normale abendliche Müdigkeit.
So stellte sie das fertige Blumengesteck auf die Fensterbank, putzte sich kurz
die Zähne im Badezimmer, holte sie ihren Futon aus dem Schrank, breitete ihn
auf dem Boden aus und legte sich schlafen. Nur wenige Minuten später war sie
eingeschlummert.
Seltsam berührt beobachtete Haku, wie Chihiro ihre Blumen arrangierte. Die
Geschicklichkeit, mit der sie dabei vorging, ließ auf jahrelange Übung
schließen, doch der Sanftmut, den sie dabei ausstrahlte, löste eine derartige
Sehnsucht bei ihm aus, dass er beinahe die Beherrschung verloren und sich ins
Zimmer zu ihr gestürzt hätte, um ihr bei dem Arrangement zu helfen.
Als sie fertig war und das Gesteck auf die Fensterbank stellte, hatte Haku den
Eindruck, dass sie es nur für ihn dort hinstellt hatte. Sie verschwand dann
kurz nach Nebenan in das Badezimmer, sodass er kurz näher kommen und ihr
Gebinde bestaunen konnte. Er wich wieder vom Haus fort, während Chihiro ihren
Futon für die Nacht fertig machte und sich endlich schlafen legte.
Er schätzte, dass es noch gut zwei Stunden dauerte, bis letztlich ihre Eltern
auch zu Bett gingen, doch diese Zeit kam ihm endlos vor. Zur Sicherheit wartete
er noch mehr als eine weitere Stunde, bis alle, wie er hoffte, tief schliefen,
schwebte näher, glitt durch die Fensterscheibe und den Vorhang dahinter
hindurch, die ihm in seinem Zustand kaum einen Widerstand boten, und verharrte
einige Momente ungefähr einen Meter über der schlafenden Chihiro in der Luft,
unschlüssig, wie er vorgehen sollte.
Chihiros Atem ging ganz langsam und ruhig, doch wie sie jetzt aussah und ob sie
sich verändert hatte, konnte er kaum erkennen, so gleißend nahm er das
Leuchten seiner eigenen - und auch ihrer - Lebenskraft aus ihrem Körper wahr.
Vorsichtig dehnte Haku sich ein wenig aus, sodass er sie berührte und hatte
sofort wieder dieses beispiellose Glücksgefühl, dass er auch schon am Morgen
gehabt hatte, als sie durch ihn hindurchgelaufen war. Dieses Gefühl endlich
wieder zu Hause und vollständig zu sein.
Ohne groß nachzudenken, benutzte er die magische Energie, die ihn plötzlich
von Chihiro zu strömte, um wieder eine physische Gestalt anzunehmen, seine
menschliche Gestalt. Leise stöhnte Chihiro in diesem Moment auf und das
Leuchten aus ihr schien kurz zu flackern, bevor es scheinbar völlig verlosch,
weil er jetzt mit seinen Augen sah und nicht mehr mit seinen magischen Sinnen.
Doch da konnte Haku schon fast überhaupt nichts mehr erkennen, denn Chihiro
hatte die Vorhänge zugezogen, sodass es in ihrem Zimmer ziemlich dunkel war.
Haku schwebte immer noch fast einen Meter über der schlafenden Chihiro, den
rechten Arm ausgestreckt, mit dem er sie leicht an der Schulter berührte.
Gerade wollte er ihr Gesicht genauer betrachten, welches er nur vage erkennen
konnte, weil ihre offenen Haare darüber hingen. So nahm er seine Hand von ihrer
Schulter weg, um die Haare beiseite zu schieben, als plötzlich die Schwerkraft
ihr Werk zu verrichten begann und ihn abrupt zu Boden zog.
Nur mühsam konnte er sich abstützen und so verhindern, dass er mit seinem
ganzen Gewicht auf das Mädchen prallte, doch genügte es, um Chihiro sofort aus
dem Schlaf zu reißen. Mit einem leisen Quieken, das Haku so laut wie das Heulen
einer Sirene vorkam, riss sie die Augen auf und versuchte zu erkennen, was da
plötzlich auf ihr drauflag.
Während Chihiro versuchte, sich freizustrampeln, verfluchte Haku sich
innerlich, dass er so unbedacht vorgegangen war. Er hatte vergessen, dass er
hier nicht in der Geisterwelt war, dass die physikalischen Gesetzte sich hier
viel konsequenter verhielten und es viel größerer Anstrengung bedurfte, sie zu
überwinden. In dem Moment, da er seine Hand von ihrer Schulter genommen hatte,
war der direkte Körperkontakt zu ihr unterbrochen, sodass er ganz einfach nicht
mehr genügend magische Energie gehabt hatte, um sich in der Schwebe zu halten.
Mittlerweile hatte Chihiro sich unter Haku von ihrer Decke frei gekämpft, war
aufgesprungen und zur Tür gerannt, wo sie den Lichtschalter betätigte.
Irgendjemand war in ihr Zimmer eingedrungen, doch merkwürdiger Weise hatte sie
überhaupt keine Angst. Das "Haku"-Gefühl war war im Moment nahezu
überwältigend und sie wollte jetzt wissen, ob das dieses "Haku" war, woran sie
sich immer erinnert fühlte.
Ruckartig wirbelte sie nach dem Umlegen des Schalters herum, um endlich zu
sehen, wer oder was Haku war, denn sie war sich völlig sicher, dass es nur das
"Haku" sein konnte, was da in ihrem Zimmer war. Halb in ihre Decke gewickelt
hockte ein magerer Junge in abgerissenen Jeans und löchrigem T-Shirt auf ihrem
Futon und blickte sie hilfesuchend aus seinen leuchtend grünen Augen an. Er
hatte lange Haare, die ihm halb den Rücken herunterhingen, die aber auf der
rechten Seite seltsamerweise unsymmetrisch abrasiert waren, was den verwilderten
Eindruck noch verstärkte, den er machte.
Doch es war Haku, ganz eindeutig ihr Haku. Und er war gekommen, um sein
Versprechen einzulösen, das Versprechen, welches er ihr vor so langer Zeit an
der Treppe zu Yubabas Badehaus gegeben hatte. In diesem Moment, als wäre ein
Damm gebrochen, stürzten all die Erinnerungen an ihre Zeit in der Geisterwelt
lawinenartig auf sie herein, was dazu führte, dass sie mit einem
Gesichtsausdruck unsäglicher Dämlichkeit und gleichzeitig geistloser
Glückseligkeit auf Haku hinunterglotzte.
Haku seinerseits, voller Schuldgefühle, dass er sich so ungeschickt angestellt
hatte, konnte endlich Chihiro so sehen, wie sie war, ohne dass er von seiner
magischen Lebenskraft in ihr geblendet wurde. Sie hatte sich kaum verändert in
den drei Jahren, seit sie aus der Geisterwelt entkommen war, hatte immer noch
das gleiche runde Kindergesicht, an das er sich erinnerte, nur war sie viel
dünner geworden. Der rosa Schlafanzug, den sie trug, schlabberte weit um ihren
Körper herum, obwohl er in der Länge richtig zu sein schien.
Es war alles richtig gewesen, was Zeniba gesagt hatte. Er hatte die ganze Zeit
all seine Kraft von Chihiro bekommen und so war sie ebenso abgemagert, wie er
selbst. Und er hatte es nicht einmal geschafft, zwei Stücke Torte bei der Hexe
zu essen. Haku wagte sich gar nicht vorzustellen, wie viel sie hatte essen
müssen.
Dann erinnerte er sich an das Abendessen von vorhin und an die große Schüssel
mit Reisbällchen, die unberührt auf dem Tisch gestanden hatte, und ihm wurde
voller Schrecken klar, dass sie für Chihiro gedacht gewesen sein musste. Nur
musste sie im Moment nicht so viel Essen, weil er keine Loren mehr ziehen
musste.
Am liebsten wäre Haku vor Scham im Boden versunken und wie sie ihn ansah. Er
deutete Chihiros Blick als Missbilligung und in seiner Verzweiflung warf er sich
flach vor ihr auf den Boden. "Bitte, liebe Chihiro, verzeih mein unerlaubtes
Eindringen. Wenn du willst, werde ich wieder verschwinden und nie mehr wieder
kommen", schluchzte er mit gebrochener Stimme. Dann würde er eben den Rest
seines und ihres Lebens als Geist in ihrer Nähe bleiben.
Es dauerte eine Weile, bis das Gesagte in ihr Bewusstsein vordrang, nachdem
Chihiro ihre Gedanken sortiert und die Erinnerung an die Geisterwelt verarbeitet
hatte. Er wollte wieder verschwinden? Für immer? Aber er war doch gerade erst
gekommen. Eines wusste sie jedoch genau: Sie wollte, dass er bleibt. Für immer!
Deshalb trat sie zu ihm hin und versuchte ihn an den Schultern hochzuziehen.
Es ging doch nicht an, dass sich ein Gott vor ihr auf den Boden warf. Wenn das
jemand sah! "Haku, steh auf. Bitte. Du kannst doch jetzt nicht sofort wieder
gehen. Bitte steh auf und schau mich an", flüsterte sie eindringlich. "Ich bin
dir nicht böse, dass du gekommen bist. Ich freu doch so, dass du hier bist.
Bitte bleib doch noch."
Während sie versuchte, ihn hochzuziehen, berührte sie ihn, wobei das
"Haku"-Gefühl wieder so stark wurde, dass sie fast neben ihm auf den Boden
gesackt wäre, weil es sie so glücklich machte. Doch dann rappelte Haku sich
etwas unbeholfen auf und kam mit untergeschlagenen Beinen vor ihr zu sitzen, wo
er mit Tränen in den Augen zu ihr aufsah. Sie wollte ihn nicht fortschicken,
sie wollte, dass er bleibt!
Chihiro sah nur, dass Haku weinte, weshalb verstand sie nicht. Doch genau so,
wie er sie damals getröstet hatte, als sie vor den Erbsensträuchern im
Gemüsegarten des Badehauses geweint hatte, wollte sie jetzt für ihn da sein.
Also nahm sie ihn in die Arme und drückte seinen Kopf an ihren Bauch, bis er
aufhörte.
Dann ließ sie sich vor ihm nieder, sodass sie einender gegenüber knieten und
gegenseitig in die Augen blickten. "Chihiro, ich bin so froh, dass ich dich
gefunden habe", sagte er leise, als er seine Fassung wieder gewonnen hatte.
"Ich bin auch froh, froh, dass du gekommen bist, wie du es versprochen hast",
versicherte Chihiro. "Ach Haku, ich bin ja so glücklich! Bist du in deine Welt
zurückgekehrt, ja? Hast du deinen Fluss wiedergefunden?"
Jetzt nahm Haku Chihiros rechte Hand und lächelte sie an, wobei er erneut die
Kraft genoss, die bei der Berührung von ihr zu ihm herüberströmte. "Ja
Chihiro, ich habe meinen Fluss wiedergefunden", sagte er geheimnisvoll. "Und
wenn mein Fluss mich nicht zurückweist, bin ich auch in meine Welt
zurückgekehrt."
Verwirrt sah Chihiro auf ihre rechte Hand und genoss gleichzeitig die
berauschende Nähe von dem jungen Drachen. "Das verstehe ich nicht, Haku. Wie
kann dein Fluss dich zurückweisen? Aber es ist mir auch egal, solange du hier
bist."
"Du wirst es verstehen, Chihiro, und ich bin sicher, dass du es bereits fühlen
kannst", fuhr Haku fort. "Weißt du, mein Fluss, das bist du!"
Verständnislos starrte Chihiro ihn daraufhin an. Sie sollte sein Fluss sein?
Aber hatte Manami nicht auch so etwas Ähnliches gesagt? Dass sie sich anfühle
wie ein Fluss. Doch was sollte das bedeuten?
Haku erklärte es ihr, erzählte ihr, was damals wirklich passiert war, als sie
in ihn hineingefallen war, was geschah, nachdem Chihiro mit ihren Eltern aus der
Geisterwelt entkommen war und wie es ihm gelungen war, sie zu finden.
Tief in der Nacht schlief Chihiro in seinen Armen schließlich ein und Haku, der
seit gut einer Woche nicht mehr geschlafen hatte, dämmerte in wohliger
Glückseligkeit kurze Zeit später ebenfalls weg.
"Chihiro, aufstehen, Schule!", rief ihre Mutter, indem sie die Zimmertür
aufriss. Sie ärgerte sich ein wenig, weil Chihiro das erste Mal, seitdem sie
hier wohnten, verschlafen zu haben schien. Deshalb wollte möglichst lautstark
hineinpoltern, die Vorhänge aufreißen und das Sonnenlicht herein lassen, um
ihre Tochter aus den Federn zu scheuchen.
Doch zu ihrer Überraschung war das Licht bereits eingeschaltet und die
Futon-Decke lag unordentlich vor der Tür. Was sie jedoch am meisten erstaunte,
war Chihiro, die in ihrem rosa Schlafanzug mit "Hello Kitti"-Aufnäher in den
Armen eines erbärmlich mageren, unbekannten Jungen lag, der mit seinen
zerrissenen Jeans, dem löchrigen T-Shirt und seiner verwegenen Frisur einen
ziemlich abgerissenen Eindruck auf Yuko Ogino machte.
Ihr erster Impuls war, Chihiro von dem Jungen fortzuziehen, doch die unendliche
Seligkeit, die von den beiden ausging, so wie sie da lagen, hielt sie zurück.
Stattdessen trat in das Zimmer hinein, sah sich den Jungen genauer an und konnte
die Augen nicht mehr von ihm abwenden.
Irgendwo in ihrem Hinterkopf schrie eine moralische Instanz Zeter und Mordio,
während der einzige bewusste Gedanke war, den sie zustande brachte: "Bei den
Kami, ist der süß!" Es war der hübscheste Junge, den sie jemals gesehen
hatte, trotz seiner Kleidung und seiner Magerkeit. Als Frau konnte sie ihre
Tochter voll und ganz verstehen. Den hätte sie auch nicht weggeschickt. Aber
als Mutter wusste sie nicht, was sie jetzt denken sollte.
In dem Versuch, zu einer Entscheidung zu gelangen, was sie jetzt tun sollte, tat
sie das Einzige, was ihr einfiel. "Akio, Aakiooo. Komm doch mal her. Da gibt es
etwas, dass du dir ansehen solltest", rief sie, ohne den Blick von Haku
abzuwenden. Dieser öffnete, von dem Ruf geweckt, ruhig die Augen und schaute
Yuko Ogino wachsam an.
Während Chihiros Mutter wie paralysiert diese unglaublich grünen Augen
fixierte, hörte man bereits die schweren Schritte von Chihiros Vater die Treppe
hinaufstampfen. "Was gibt's denn so Wichtiges, Schatz, dass du mich vom
Frühstück wegholst?" In diesem Moment war er oben angekommen und schaute um
die Ecke durch die offene Tür in Chihiros Zimmer. Beim Anblick der Szene, die
sich ihm darbot, erstarrte er.
Dann begann sein Gesicht, vor Zorn rot anzulaufen. Mit einem Schnauber stapfte
er hinein zu diesem unverschämten Straßenbengel, der sich erdreistet hatte,
sich seiner kleinen Chihiro unsittlich zu nähern. Er bückte sich, packte Haku
am Hosenbund und warf ihn wie einen nassen Sack über die Schulter.
Haku seinerseits schimpfte wiederum innerlich mit sich, dass er erneut nicht
aufgepasst hatte. Wie hatte er hier nur mit Chihiro seelenruhig einschlummern
konnte, um dann so von ihren Eltern überrascht zu werden. Sollte er sich jetzt
gegen Chihiros Vater wehren, überlegte er, und er war ziemlich sicher, dass er
mit dem massigen Mann fertig werden konnte, denn der war ja nur ein Mensch.
Wenn er aber bei Chihiro bleiben wollte, musste er sich auch mit ihren Eltern
arrangieren, das hatte Zeniba schon gesagt. Also entschloss er sich, keinen
Widerstand zu leisten und alles hinzunehmen, was Herr Ogino mit ihm auch
anstellen mochte, um es sich nicht ein für alle Mal mit ihm zu verderben.
Der Blickkontakt mit Chihiros Mutter jedenfalls hatte ihm verraten, dass diese
ihn bereits akzeptiert hatte, auch wenn sie es noch nicht wusste. Sie hatte ihn
genau so angesehen, wie manchmal die Eltern der Kinder, die an seinem Fluss
spielten, ihn früher angesehen hatten.
Durch den Ruck, als Akio Ogino Haku von ihr fortriss war nun auch Chihiro
aufgewacht. Sie sah noch gerade, wie ihr Vater mit Haku auf der Schulter durch
die Tür marschierte, wodurch sie auf einmal einen riesigen Schreck bekam.
"Bitte Papa, tu ihm nicht weh", schrie sie voller Angst, sprang auf und wollte
hinter ihm herlaufen. Doch ihre Mutter hielt sie zurück. "Nicht Chihiro. Dein
Vater ist gerade sehr wütend. Mach ihn nicht noch wütender."
Keuchend vor Zorn stürmte Akio Ogino die Treppe hinunter, wobei er unbewusst
stolz darüber war, wie leicht er den stinkenden Straßenjungen hochgehoben
hatte. Vielleicht sollte er es nochmal mit Sumo versuchen? Die nötige Kraft war
offenbar noch da. In der Absicht seine Wut noch einmal zu steigern und sein
Handeln innerlich zu rechtfertigen, roch er mit einem tiefen Atemzug an dem
Jungen. Doch entgegen seiner Annahme stank er überhaupt nicht, sondern hatte
einen nicht zu definierenden, aber angenehmen Geruch.
Endlich war er an der Haustür angelangt, die er aufriss, bevor er Haku an der
Hüfte packte und mit aller Kraft, die er hatte, in hohem Bogen
hinausschleuderte. Am liebsten hätte er das Bürschchen ja direkt aus dem
Fenster des Kinderzimmers geworfen, aber da hatte er sich gerade noch
beherrschen können. Ja das Fenster, das Fenster, das musste er sichern.
Dennoch hoffte er jetzt, dass es das Jüngelchen ordentlich auf den Gehweg
klatschen möge, damit es ihm so richtig weh täte. Den Gefallen tat ihm Haku
jedoch nicht, sondern wirbelt mit fast verächtlicher Lässigkeit in der Luft
herum, sodass er geschmeidig wie eine Katze auf seinen bloßen Füßen landete.
"Hau bloß ab, du Penner", brüllte Chihiros Vater, "und wehe du näherst dich
noch mal meiner Tochter. Ich will dich hier nie wieder sehen, sonst setzt's
was!"
Haku öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch alles was er hätte sagen
können, wäre nur dazu angetan gewesen, den Zorn von Chihiros Vater zu
vergrößern. Also schwieg er und verbeugte sich so artig und formvollendet, wie
er konnte, bevor er sich umdrehte, über die Straße rannte, über den Zaun auf
die Wiese sprang und den Abhang hinunter lief, auf den großen alten Baum zu.
Nebenan schaute Bunzo Abe aufmerksam aus dem Fenster seines Zimmers. Durch
Zufall hatte er die ganze Szene an der Haustür der Oginos mitbekommen und
überlegte, ob er es in der Schule herumerzählen oder doch lieber für sich
behalten wollte. Nein, das sollte er wohl besser keinem erzählen, dachte er bei
sich, vielleicht konnte er es benutzen, um sich irgendwann doch an Chihiro zu
rächen.
Das passive Verhalten den Jungen und seine höfliche Verbeugung hatten den Zorn
von Akio Ogino weitestgehend verrauchen lassen, obwohl er sich das nicht
eingestehen wollte und versuchte, an seiner Wut festzuhalten, indem er die
Haustür mit Gewalt zuschmiss. Auf eine eigenartige Weise war es angenehm
gewesen, ihn auf der Schulter getragen zu haben, doch das mochte er sich nicht
eingestehen. Trotz seiner Wut hatte er sich so zufrieden und stark gefühlt, wie
schon lange nicht mehr. Chihiro würde er dennoch jetzt etwas erzählen.
"Los Tochter, ab in die Küche, wir müssen reden", schnauzte er vom
Treppenabsatz nach oben, setzte sich an den Tisch und kippte in hektischer Folge
mehrere Tassen Tee herunter, wobei er unruhig mit den Füßen wippte. Dann kam
auch schon Chihiro mit hängendem Kopf in die Küche geschlichen, immer noch im
Schlafanzug, dicht gefolgt von seiner Frau Yuko.
"So Schätzchen, was hast du dazu zu sagen", sagte er mit ernstem Nachdruck,
nachdem Chihiro sich ihm gegenüber hingesetzt hatte. Yuko Ogino war stehen
geblieben, die Arme verschränkt, und sah ihren Mann ermahnend an, nicht zu
streng zu sein.
Mit gesenkten Augen kauerte Chihiro auf ihrem Stuhl und wusste nicht, was sie
sagen sollte. Sie fühlte sich schrecklich, weil ihr Vater so böse war und sie
nicht wusste, ob Haku jemals wiederkommen konnte. Wie sollte sie ihren Eltern
auch erklären, dass Haku ein Drache war und wen man so sagen konnte, ihr
persönlicher Gott. "Ich habe keine Erklärung", hauchte sie verschüchtert.
"Bitte sei nicht böse, Papa."
"Ist irgendwas passiert?", wollte ihr Vater weiter wissen. "Ich meine, hat er
dir etwas getan?"
Chihiro schüttelte den Kopf. Was sollte auch schon passiert sein?
"Also gut. Trotzdem wirst du mir jetzt sagen, wie der Junge heißt und wo er
wohnt", sagte Herr Ogino mit strenger Mine. "Außerdem will ich wissen, wie er
in dein Zimmer gekommen ist! Ich werde mich dann mit seinen Eltern in Verbindung
setzen und sie über den Vorfall informieren. Also los, sag schon! Wie heißt er
und wo wohnt er?"
Chihiro setzte mehrfach an, darauf zu antworten, aber ihr fiel nichts halbwegs
Plausibles ein. Alles, was sie da sagen konnte, war gleichermaßen
unglaubwürdig, also sagte sie am Ende trotzig die Wahrheit: "Sein Name ist
Haku, nein, äh, ich meine Nigihayami Kohaku Nushi und er wohnt hier!" Mit
unmissverständlicher Geste patschte sie sich dabei demonstrativ gegen den
Brustkorb. "In mein Zimmer ist er gekommen, indem er aufgetaucht ist."
"Wie, was, Nigihayami Kohaku Nushi", schalt Akio Ogino seine Tochter erbost. "So
heißen doch höchstens Götter, aber keine Jungen. Und was meist du damit, er
würde hier wohnen und wäre einfach aufgetaucht. Erzähl mir nicht so einen
Unsinn!" Er fuhr hoch, beugte sich über den Tisch uns schüttelte das Mädchen,
damit es endlich die Wahrheit sagte.
Wie vor den Kopf geschlagen riss Yuko Ogino in dem Moment, wo Chihiro den Namen
nannte, die Augen auf. Sämtliche Alarmglocken schrillten in ihrem Kopf und sie
erinnerte sich an ein Gespräch, dass sie vor mehr als zwei Jahren mit Dr. Ito
geführt hatten. Der Fluss in den Chihiro damals gefallen war, war doch der
Kohakugawa gewesen und hatte Dr. Ito nicht gesagt, dass, wenn man Shintoist
wäre, man zu dem abwegigen Schluss kommen müsste, dass Chihiro dem Gott dieses
Flusses begegnet war.
Nigihayami Kohaku Nushi, würde das das nicht genau der Name sein, den man für
den Gott des Kohakugawa erwarten sollte? Auf einmal kam ihr diese
Schlussfolgerung gar nicht mehr so abwegig vor. Dann musste sie wieder an den
Jungen zurückdenken, dessen Anblick sie trotz seiner extremen Magerkeit und
seines geschmacklosen Aufzuges, tief berührt hatte. Eigentlich war er genauso
dünn gewesen, wie Chihiro, kam es ihr erschrocken in den Sinn, und der
Verdacht, dass ihre Tochter die Wahrheit sagte.
Energisch packte sie ihren Mann an den Schultern und riss ihn auf seinen Stuhl
zurück, sodass er aufhören musste, Chihiro zu schütteln. Dann ging sie neben
Chihiros in die Hocke, drehte sie zu sich und sah ihr in die Augen. "Willst du
damit etwa sagen ... der Kohakugawa?" Chihiro, der von dem Geschüttel noch ganz
wuschig war, nickte eifrig.
"So Akio, Chihiro muss sich jetzt für die Schule fertig machen, sonst verpasst
sie noch den Bus", sagte sie bestimmt. "Du gehst jetzt nach oben, Schatz, und
ich mach das Frühstück für dich fertig." Sie nahm Chihiro bei der Hand und
zog sie vom Stuhl hoch, in Richtung Hausflur.
"Aber Schatz", wollte Akio Ogino protestieren. "Wir können sie doch nicht
einfach damit durchkommen lassen. Dass sie uns so hintergeht und dann auch noch
anlügt."
"Jetzt beruhige dich doch, Schatz", meinte Yuko Ogino sanft, "womit hat sie uns
denn hintergangen, hm? Und glaube auch nicht, dass sie gelogen hat. Aber ich
weiß auch noch nicht, was die Wahrheit ist." Damit ging sie zum Schrank und
begann das Frühstück für Chihiro zu machen.
Haku hatte sich unten am Baum auf eines der Steinhäusschen gesetzt und
beobachtete von dort das Haus der Oginos, sodass man ihn von dort aus nicht
sehen konnte. Er fühlte bereits ein starkes Ziehen in seinem Bauch, das daher
rührte, dass er fast zu weit von Chihiro entfernt war. Noch ein wenig weiter,
und sein Körper würde sich wieder auflösen.
Vielleicht eine halbe Stunde nachdem ihn Chihiros Vater im wahrsten Sinne des
Wortes herausgeworfen hatte, erschien sie vor dem Haus und blickte sich suchend
in alle Richtungen um. Dann kam noch ihre Mutter, nahm das Mädchen bei der Hand
und brachte sie die Straße hinab. Bereits, nachdem sie wenige Meter gegangen
waren, wurde Haku ganz schwach zumute und ehe er sich's versah, war er nur noch
ein unsichtbarer Geist.
Einem Impuls folgen, jagte er hinter dem Baum hervor, zur Straße hinauf, hinter
den beiden her. Chihiro würde sich bestimmt Sorgen machen und deshalb musste er
ihr sagen, dass es ihm gut ging. Als er sie erreichte, umhüllte er Chihiro mit
seinem Selbst, woraufhin sie abrupt stehen blieb und umherschaute. ,Chihiro, hab
keine Angst, es ist alles in Ordnung mit mir. Ich werde hier warten und heute
Abend werden wir uns wiedersehen', projizierte er direkt in ihren Kopf hinein,
was viel müheloser ging, als er gehofft hatte.
,Haku? Haku, bist du da? Wo bist du denn?', hörte er Chihiros bewusste Gedanken
und antwortete: ,Ich bin hier, direkt bei dir. Aber ich gehe jetzt und werde
beim Haus auf dich warten. Mach dir keine Sorgen, mir geht's gut.' Noch bevor
Chihiro antworten konnte, zog er sich zurück, was ihm jedoch sehr schwer fiel,
da er von Chihiros Lebenskraft, die ja auch seine Eigene war, angezogen wurde,
wie die Motte vom Licht.
Mit einiger Mühe schaffte es ihre Mutter, Chihiro zum Weitergehen zu bewegen
und endlich in den Schulbus nach Nakaoka zu verfrachten. Ichiyo saß darin und
Ayaka stieg kurz darauf zu. Der ganze nun folgende Schultag fand für Chihiro
irgendwie nicht statt. Die ganze Zeit konnte sie an nichts anderes denken, als
an Haku. Nachdem sie der Bus gegen 17:00 Uhr wieder zu Hause abgesetzt hatte,
hätte sie nicht sagen können, was sie im Unterricht durchgenommen hatte.
Ebenso wenig hätte sie sagen können, über was sie in den Pausen mit ihren
Freunden geredet hatte, ob sie überhaupt mit ihren Freunden gesprochen hatte.
Sie hatte nicht einmal wahrgenommen, wie der Lehrer sie in der Kalligrafiestunde
mehrfach ermahnt hatte, weil sie die ganze Zeit über unruhig auf ihrem Stuhl
gekippelt hatte, ohne auch nur einmal das geforderte Kanji zu pinseln.
Stattdessen hatte sie immer nur "Haku" geschrieben.
Endlich zu Hause angekommen, waren weder ihr Vater, der anscheinend noch Häuser
verwalten war, noch ihre Mutter zu Hause, die die mittlerweile die Filialleitung
des Konbini hatte und deshalb viel Büroarbeit machen musste. In ihrem Zimmer
stellte sie fest, dass ihr Vater das Fenster mit einer verschließbaren
Einbruchsicherung versehen hatte, sodass sie es nicht mehr öffnen konnte. Er
hatte wohl vermutet, dass Haku durch das Fenster gestiegen war und gedachte das
wohl in Zukunft zu unterbinden.
Plötzlich wurde das "Haku"-Gefühl wieder überwältigend stark. Sie versuchte
heraus zu finden, aus welcher Richtung es kam, aber sie konnte nichts entdecken.
Mit einem Mal wurde ihr derart schwindelig, dass sie beinahe umgefallen wäre.
Doch Haku stand plötzlich neben ihr und stützte sie.
"Nicht umfallen, Chihiro", flüsterte Haku direkt in ihr Ohr. "Entschuldige,
dass ich so plötzlich auftauche. Ich glaube, wenn ich mich verwandele, brauche
ich sehr viel Energie von dir."
Chihiro drehte sich herum und fiel Haku sofort um den Hals. "Haku, wie schön
dass du da bist", jubelte sie. "Mein Vater war ganz schön böse, wegen dir. So
böse habe ich ihn vorher noch nie gesehen. Wir müssen aufpassen, dass er dich
nie mehr erwischt, ich glaube sonst haut er dich windelweich. Er war mal ein
guter Sumo-Ringer, weißt du, und ist sehr stark."
Haku schüttelte den Kopf, musste aber lächeln. "Nein Chihiro, das ist der
falsche Weg. Wir dürfen deinen Eltern nicht verheimlichen, dass es mich gibt.
So etwas funktioniert vielleicht in Geschichten und für eine Zeit lang auch in
der Realität. Aber wenn wir nicht mit einer Lüge leben wollen, müssen deine
Eltern über uns Bescheid wissen. Das hat auch Zeniba gesagt."
"Aber was sollen wir dann tun", wollte Chihiro wissen. "Mein Vater wird dich bei
uns wohnen lassen, jedenfalls nicht nachdem, was gestern passiert ist. Ich hab
solche Angst, dass er dich nicht mag und dass er dir was tut."
"Aber deine Mutter mag mich, dass habe ich in ihren Augen gelesen", entgegnete
Haku. "Vielleicht hilft sie uns ja mit deinem Vater. Aber glaub mir, dein Vater
kann mir so leicht nichts tun, Chihiro. Ich bin doch ein Drache."
"Hm, da sollte ich ja wohl eher Angst haben, dass du ihm was tust, oder?",
grinste sie und dann fiel ihr etwas ein: "Einen kleinen Jungen kann er
vielleicht rauswerfen, aber mit einem Drachen das soll er doch mal versuchen. Du
aber ich habe auf einmal so furchtbar Hunger, ich glaube von deiner Verwandlung.
Ich muss kurz in die Küche, mir etwas zu essen holen."
Sie ließ den überraschten Haku los, rannte aus dem Zimmer, hinunter in die
Küche. Dort riss sie den Kühlschrank auf, schnappte sich einige Reisbällchen
aus der noch vollen Schüssel von gestern Abend, die sie gierig in den Mund
stopfte. Da hörte sie, wie jemand das Türschloss betätigte. "Chihiro, ich bin
wieder da", rief ihre Mutter prophylaktisch in den Hausflur hinein, ohne zu
wissen, ob ihre Tochter nun tatsächlich zu Hause war, oder nicht.
Oh jemine, ihre Mutter kam und Haku war doch noch oben in ihrem Zimmer, erschrak
Chihiro. Schnell rannte sie aus der Küche, durch den Flur, "Hallo Mama", die
Treppe hoch in ihr Zimmer. Haku war jedoch weg, einfach fort, genau so, wie er
vorhin aufgetaucht war. Um sicher zu gehen, suchte sie alles ab, schaute in alle
Schränke in ihrem Zimmer, durchsuchte das Gästezimmer und auch das Bad, aber
Haku war nirgendwo zu finden.
Auf einmal wurde das "Haku"-Gefühl wieder überwältigend stark. ,Chihiro, du
brauchst nicht nach mir zu suchen', hörte sie laut und deutlich Hakus Stimme in
ihrem Kopf, ,ich bin doch hier. Hör mir zu, ich werde jetzt noch einmal zu
Zeniba gehen, um mit ihr zu sprechen. Wir sehen uns heute Nacht, ja. Und hab
keine Angst.'
Diese Sache, dass er Chihiro immer berühren musste, um genügend Energie zu
bekommen für die Verwandlung, war doch sehr störend, und er in einem Radius
von vielleicht 150 m um das Mädchen bleiben musste, um seine Gestalt nicht zu
verlieren. Vielleich wusste die Hexe ja Rat.
,Nein Haku, bitte geh nicht weg', flehte Chihiro, die Angst davor hatte, dass
das leere Gefühl der letzten Woche zurückkehren würde. Doch das
"Haku"-Gefühl verblasste rasch und hinterließ die befürchtete Leere.
Unglücklich hockte sich Chihiro hinter ihren Schreibtisch und versuchte
Hausaufgaben zu machen, bis ihr auffiel, dass sie gar nicht wusste, was sie
heute in der Schule gemacht hatte, denn sie hatte nur an Haku gedacht.
Irgendwie musste sie sich jetzt ablenken, sonst würde sie noch wahnsinnig
werden, bis Haku zurückkam. Deshalb ging sie in die Küche, um ihrer Mutter mit
dem Abendessen zu helfen. "Sag mal, Chihiro, der Junge von heute Morgen", fragte
ihre Mutter zögerlich, während Chihiro einen Rettich wusch, "wo hast du den
kennen gelernt?" Mittlerweile waren ihr nämlich starke Zweifel an der
Schlussfolgerung gekommen, zu der sie am Vormittag gekommen war. Es erschien ihr
mit zunehmendem Abstand alles so unwirklich.
"Ach, so richtig kennen gelernt, habe ich ihn vor drei Jahren", erzählte
Chihiro vorsichtig, "als wir alle für zweieinhalb Wochen verschwunden waren. Da
hat er uns allen geholfen, sonst wären wir nämlich wohl für immer
verschwunden. Aber wir sind uns schon vorher einmal begegnet."
"Soll das heißen, du weißt, was während dieser zwei Wochen passiert ist?",
entfuhr es ihrer Mutter. "Und was meinst du damit, wir wären beinahe für immer
verschwunden?"
Chihiro schüttelte den Kopf. "Nein Mama, wenn ich dir das erzähle, glaubst du
mir sowieso nicht und wirst am Ende auch noch böse."
"Also gut, dann lassen wir das. Du sagtest, sein Name wäre Nigihayami Kohaku
Nushi", hakte Yuko Ogino nach, in dem Versuch an einer anderen Stelle weiter zu
kommen. "Das heißt doch, so rein namenstechnisch, er ist der Wächter des
Kohaku *). Soll das bedeuten, er ist ein Kami, der Gott des Kohakugawa? Der
Kohakugawa ist doch nicht mehr vorhanden, er wurde zugeschüttet. Wie kann er
dann der Gott davon sein?"
*) Der Name Nigihayami Kohaku Nushi stellt ein Wortspiel dar, welches sich nur
jemandem mit guten Japanisch-Kenntnissen erschließt. Kristin Olsson hat auf
ihrer Webseite den Versuch unternommen, das Puzzle auseinander zu nehmen:
http://www.sekaiseifuku.net/...
"Er war früher einmal der Gott des Kohakugawa", antwortet Chihiro leise, "aber
jetzt, jetzt ist er nur noch ... mein Gott."
"Wie, dein Gott? Meinst du, er ist dein Prinz oder so? Du bist in ihn
verliebt?"
Darüber hatte Chihiro noch gar nicht nachgedacht. Sie wollte ihn, dass er für
immer da bleibt und fühlte sich unendlich wohl, wenn er bei ihr war. Bedeutete
das, dass sie in ihn verliebt war? Gestern beim Fußballspiel hatte sie noch
gedacht, dass kein Junge der Schule sie interessierte, weil sie keine grünen
Augen hatten. Haku hatte grüne Augen und sie war sich ziemlich sicher, dass sie
die anderen Jungen nicht interessierten, weil sie nicht Haku waren. Aber besagte
das, dass sie Haku liebte. Das war alles sehr verwirrend.
"Nein Mama, das meinte ich nicht", sagte Chihiro nach einer Denkpause, tat den
Stöpsel in den Ausfluss des Spülbeckens und ließ Wasser hinein. "Hier, schau
mal. Was glaubst du, warum ich das kann?"
Als das Becken voll gelaufen war, legte sie unter den erstaunten Blicken ihrer
Mutter den Rettich auf das Wasser, als wäre es gefroren. Zur Verdeutlichung
nahm sie noch einige Gläser, die Frisch gespült neben dem Becken standen, und
stellte sie ebenfalls auf das Wasser. Dann fasste sie in das Wasser hinein und
formte einen Bogen daraus, als würde sie mit Knete hantieren.
Im Laufe des letzten Jahres hatte Chihiro festgestellt, dass so beschränkt ihre
magischen Fähigkeiten auch waren, sie mit Wasser nahezu alles anstellen konnte,
was sie wollte. Ein paar Mal hatte sie sogar Manami mit ihren Fähigkeiten
verblüfft. Aber wenigstens wusste sie jetzt, wieso sie es konnte, und das
stärkte ihr Zutrauen darin viel mehr, als Manami das jemals gekonnt hätte. Sie
musste der Seegöttin unbedingt erzählen, was mit ihr los war, und sie musste
ihr unbedingt Haku vorstellen.
Yuko Ogino konnte nicht fassen, was ihre Tochter da tat. Mit großen Augen
beobachtete sie, wie die Kleine den Wasserbogen zu einer Art vierarmigen
Kerzenleuchter erweitert und auf jeden Arm ein Glas gestellt hatte. Plötzlich
erinnerte sie sich wieder an letztes Jahr, als sie Chihiro in der Badewanne
gefunden hatte, wo sie auf dem Wasser eingeschlafen war. Sie hatte das
vollkommen verdrängt, weil es nicht sein konnte, nicht sein durfte. Und jetzt
machte Chihiro wieder so etwas Verrücktes.
Leicht ärgerlich zog sie das Mädchen von dem Spülbecken weg. Das konnte doch
nicht real sein! Sie nahm eines der Gläser von der Spitze eines Armes fort und
versuchte es dann wieder darauf zu stellen. Das Glas fiel einfach durch den Arm
hindurch und landete mit einem Platscher im Spülwasser. Das war gut so, fand
Yuko Ogino! Genau so sollte sich ein Glas benehmen. Nur hatte der Arm des
Leuchters seine Form nicht verändert, schwabberte aber immerhin wassermäßig
leicht hin und her.
Durch diesen Erfolg ermutigt, versuchte sie den Stiel des Leuchters zu packen.
Das erwies sich jedoch als schwierig, weil er durch und durch flüssig war. Sie
schaffte es jedoch, den Stiel komplett zu durchtrennen, woraufhin das
Wassergebilde in sich zusammenfiel und in das Spülbecken zurückklatschte.
Dass dabei zwei der Gläser zu Bruch gingen, erhöhte ihre Befriedigung nur
noch. Dann stutzte sie. Der Rettich lag immer noch ganz friedlich auf dem
Wasser, als würde er dorthin gehören, während die Wellen des
zurückgeklatschten Wassers unter ihm hindurchliefen.
Verwundert, als würde sie gerade aus einem Traum aufwachen, nahm sie den
weißen Rettich von der Wasseroberfläche herunter und betrachtete das Gemüse
angestrengt. Was hatte Chihiro noch mal gesagt? Warum sie das hier tun könne?
Das musste also etwas mit diesem Jungen zu tun haben, mit diesem, ... diesem
Kohaku!?
In diesem Moment öffnete sich die Haustür und Papa Ogino kam von der Arbeit
nach Hause. Sein erster Weg führte ihn in die Küche, denn er hatte wie immer
mächtigen Kohldampf, wenn er Heim kam. "Was ist denn hier passiert?", wollte er
wissen, als er das Tohuwabohu an der Spüle sah, wobei er dann misstrauisch zu
Chihiro linste. Die Art jedoch, in der seine Frau einen Rettich anstarrte,
gefiel ihm gar nicht.
"Schatz, geht es dir gut?", fragte er vorsichtig, "hat Chihiro wieder etwas
angestellt?"
Als ob sie schon einmal groß etwas angestellt hätte, ärgerte sich Chihiro.
Mit einem leichten Schreck löste sich Yuko Oginos Blick von dem Rettich und
wandte sich ihrem Ehemann zu. "Nein Schatz, Chihiro hat nichts gemacht. Mir ist
da nur ein kleines Missgeschick passiert, nichts Ernstes", meinte sie. "Komm
Schatz, setzt dich schon mal ins Wohnzimmer. Sumo fängt gleich an. Ich mach dir
derweil etwas zu essen und Chihiro hilft mir weiter mit dem Abendessen."
Den ganzen Rest des Abends sah Chihiro zusammen mit ihren Eltern Sumo im
Fernsehen, wobei sie unruhig die ganze Zeit hoffte, dass Haku endlich
zurückkommen würde. Spätestens alle fünf Minuten warfen entweder ihr Vater
oder ihre Mutter einen prüfenden Blick nach ihr, was ihre Nervosität nicht
gerade verringerte.
Bald, nachdem die Sonne untergegangen war, erreichte Haku die freie Fläche vor
Zenibas Haus, doch als er dort die prächtige Kutsche sah, mit Intarsien und
Gold verziert, jedoch von einer Art plumper, grüner, zweiköpfiger Echse
gezogen, stutzte er. Vorsichtshalber blieb er am Waldrand, wo er sich
versteckte, um abzuwarten und zu beobachten.
Nachdem ungefähr eine Stunde vergangen war, öffnete sich die Tür und ein
hochgewachsener Mann trat heraus, in luxuriöse und farbenprächtige
Seidengewänder gehüllt, wie man sie in früheren Jahrhunderten am kaiserlichen
Hof getragen hatte. Der Mann hatte langes silbergraues Haar, das überhaupt
nicht zu seiner ansonsten jugendlichen Erscheinung passen wollte. Als er in der
Kutsche platzgenommen hatte und er den Blick aufmerksam in die Runde kreisen
ließ, sah Haku kurz im Schein der Laterne am Tor, dessen emotionslose
orangeroten Augen. Einige Momente schien dessen Blick genau in seine Richtung zu
gehen und holte tief Atem, als würde er Haku riechen können.
Obwohl er noch mehrere hundert Meter entfernt war, konnte er die Gefährlichkeit
des Mannes fühlen, dessen starke dämonische Ausstrahlung. Mit einer affektiert
wirkenden Geste nahm dieser die Zügel in die Hand und zupfte einmal daran,
woraufhin sich das Echsentier mit erstaunlicher Behändigkeit auf flammenden
Füßen in die Luft erhob.
Noch mehrere Minuten beobachtete Haku, wie das eigenartige Gefährt in der Weite
des nächtlichen Himmels immer kleiner wurde. Als es ganz verschwunden war,
rannte er sofort zu Zenibas Haus herüber, wo er die Hausherrin mit
kreidebleichem Gesicht sitzend am Tisch vorfand.
Blicklos drehte sie den Kopf in seine Richtung, als er in der Türöffnung
erschien. "Haku, gut, dass du da bist", krächzte sie. "Hast du ihn gesehen?
Hast du ihn gesehen, diesen aufgeblasenen Gockel?"
Haku nickte ernsthaft. "Hatte ein Schreiben dabei, dass ihn als Agenten der
Geheimpolizei im untersten Dienstrang auswies", schnaubte Zeniba, die sich jetzt
etwas zu fangen schien. "Unterschrieben vom Chef der Geheimpolizei persönlich,
dieser unfähigen kleinen grünen Kröte. Wer's glaubt, wird selig."
"Hat er sie bedroht", fragte Haku besorgt. "Ich meine, weil sie so, so ..."
"Meinst du, weil ich mit meinen Nerven so am Ende bin?" Zeniba ließ sich im
Stuhl zurücksacken. "Nein, jedenfalls nicht direkt. Er war sogar sehr
freundlich und von ausgesuchtester, vornehmer Höflichkeit. Aber diese ganze
Person an sich ist eine Bedrohung. Wenn du in seine Augen gesehen hättest ..."
"Ich habe seine Augen kurz gesehen", sagte Haku leise. "Er ist sehr gefährlich,
nicht wahr?"
"Wenn du sie gesehen hast, dann solltest du sie dir merken", grunzte die Hexe.
"Er ist nämlich einer von denen, die nach dir suchen. Deswegen war er auch
hier. Man hat dich bei deiner Flucht in der Nähe des Badehauses gesehen. Und er
hat mich über Yubaba und ihr Aktivitäten befragt; insbesondere ob du,
beziehungsweise ein gewisser weisser Drache, etwas damit zu tun haben
könntest."
"Sie meinen, ich wäre in Gefahr gewesen?" Haku trat noch einmal vor die Tür
und schaute in den Nachthimmel hinaus, aber es war Nichts zu sehen.
Zeniba stand auf und kam ebenfalls vor die Tür. "Nein, ich glaube nicht
wirklich. Er sucht nach einem weißen Drachen. Wie du als Mensch aussiehst,
weiß er nicht, und meine Schwester wird dich sicher nicht verraten. Dann wäre
sie selber in Schwierigkeiten. Trotzdem ist es gut, dass er dich hier nicht
gesehen hat. Er hat dich doch nicht gesehen?"
"Nein, ich habe mich im Wald verborgen", versicherte Haku. "Trotzdem hatte ich
kurz den Eindruck, dass ..."
"Das war richtig von dir", meinte Zeniba besorgt. "Jetzt komm erst mal herein
und setzt dich. Ich muss dir nämlich etwas Wichtiges erzählen, was dich und
Chihiro betrifft."
Zeniba erzählte Haku die Geschichte eines Bergdrachen, der vor mehr als 1000
Jahren herausgefunden hatte, wie er Menschen beliebig unter seine Kontrolle
bekommen konnte. Er hatte eine Methode gefunden, wie er deren eigene Lebenskraft
durch einen Teil seiner ersetzte.
Die so umgewandelten Menschen waren scheinbar unversehrt und benahmen sich auch
im Großen und Ganzen normal, es sei denn, der Bergdrache übernahm die
Herrschaft über sie. Nach und nach gerieten so immer mehr Menschen in seine
Gewalt, was das magische Potenzial des Drachen stetig vergrößerte. Es erlaubte
ihm auch, sich weit von seinem Berg zu entfernen, da ihn jederzeit kontrollierte
Menschen überall hinbegleiten und mit Energie versorgen konnten.
Nach einiger Zeit hatte er heimlich die gesamte Bevölkerung der Insel Kyushu
derartig unter seinen Einfluss gebracht, dass er die Insel vollständig
beherrschte. Schließlich begann er in seinem Machthunger, die Sonnengöttin
Amaterasu herauszufordern. Doch diese ließ sich das nicht bieten, bekämpfte
und besiegte schließlich den Drachen. Als Strafe wurde der Drache in einem
großen Schauprozess verurteilt und mit der Auslöschung bestraft.
Durch die Auslöschung wird die Existenz eines Wesens vollständig eliminiert
und aus der Zeit entfernt, erläuterte Zeniba, was letztendlich bedeutet, dass
es diese Person niemals gegeben hat.
"Nur dank der Tatsache, dass die Prozessakten, in einem speziellen Archiv
aufbewahrt werden, das gegen die Manipulation der Zeit gesichert ist, wissen wir
heute überhaupt davon. Aus den Akten wurde zur Sicherheit jedoch der Name des
Drachen getilgt. Seit dem steht auf das, was der Drache getan hat, die Strafe
der Auslöschung", beendete Zeniba ihren Vortrag mit bedrücktem
Gesichtsausdruck.
"Aber was ist denn mit den ganzen Menschen passiert, die mit dem Drachen die
Lebenskraft teilten?", wollte Haku sichtlich erschrocken wissen, als ihm klar
wurde, was das für ihn und Chihiro bedeutete. "Im Moment seines Todes müssen
sie doch alle gestorben sein."
"Nein Haku, du hast das nicht ganz richtig verstanden", erklärte Zeniba. "Durch
die Auslöschung hat es den Drachen nie gegeben und das alles ist niemals
passiert. Die Menschen brauchten also nicht zu sterben, weil sie ja nie in die
Gewalt des Drachen geraten waren, nie ihre Lebenskraft mit seiner geteilt
hatten."
"Aber wenn man mich auslöscht, würde das doch bedeuten, Chihiro wäre als
kleines Kind im Kohakugawa ertrunken, weil ich ihr kein neues Leben hätte geben
können, denn hätte mich ja nie gegeben." Haku schlug die Hände vor dem
Gesicht zusammen und sackte vornüber mit dem Kopf auf die Tischplatte, wobei er
ein Schluchzen nur mühsam unterdrücken konnte.
"Haku, wir wissen nicht, was passiert wäre. Wenn du nicht der Gott des
Kohakugawa gewesen wärst, wäre es jemand anderes gewesen", versuchte Zeniba
ihn zu trösten. "Dieser Jemand hätte Chihiro vielleicht ebenfalls gerettet.
Außerdem müssen sie dich erst einmal finden, das mit Chihiro herausbekommen
und dich verurteilen. Trotzdem dürfte es sicherer sein, wenn sie dich nicht
kriegen. Aber jetzt erzähl mir von Chihiro, wie du sie gefunden hast. Die
Nachricht von dir habe ich nämlich gefunden."
Kurz dachte Haku über das nach, was Zeniba gesagt hatte und kam zu dem Schluss,
dass es keinen Sinn machte, sich über die Zukunft sorgen zu machen. Gefasst
berichtete er der Hexe, wie er Chihiro in der Menschenwelt aufgespürt hatte und
als er erzählte, wie er von Chihiros Vater aus dem Haus befördert worden war,
musste Zeniba laut lachen, was auch Hakus Stimmung wieder etwas verbesserte.
"Es ist nur so entwürdigend, dass ich in der Menschenwelt völlig von Chihiro
abhängig bin. Wenn ich sie nicht berühre, kann ich kaum etwas zaubern, und
wenn ich zu weit von ihr entfernt bin, löse ich mich einfach auf. Sie hatten
mich ja darauf vorbereitet, aber dass es so unangenehm sein würde, hatte ich
nicht erwartet."
"Du bist halt ein Drache, Haku, und hier in der Geisterwelt gewohnt, immer deine
Zauberkräfte zu benutzen. Versuch dich einmal in die Lage eines Menschen zu
versetzen, der gar nicht zaubern und auch seine Gestalt nicht wechseln kann",
wandte Zeniba ein. "Menschen müssen damit ihr ganzes Leben zurechtkommen. Aber
du hast Glück, denn ich habe ein wenig nachgeforscht und vielleicht eine
Lösung gefunden, für dein, ... äh euer Problem."
"Sie haben vollkommen Recht, Frau Zeniba", meinte Haku, "ich muss damit
klarkommen, wenn ich bei Chihiro bleiben will. Wenn ich unter Menschen leben
will, muss ich auch wie ein Mensch leben. Nur wenn ich mich immer auflöse ...
wie kann ich dann als Mensch leben?"
Zeniba stand auf und holte aus dem Nebenraum einen kleinen Lederbeutel, dessen
Inhalt sie auf den Tisch schüttete. Es befanden sich dutzende von Edelsteinen
darin, die funkelten und glitzerten. "Im Prinzip müssen wir nur dafür sorgen,
dass es einen direkten Energiefluss zwischen euch gibt. Die Tore, die es
zwischen dieser und der Menschenwelt gibt, wären eigentlich dafür geeignet,
einen solchen Fluss zu unterhalten, aber sie sind in ihrer Form natürlich
völlig ungeeignet für diesen Zweck."
"Wofür haben sie die Juwelen geholt?" Haku betrachtete neugierig die Steine.
Solche und ähnliche hatte er schon häufiger bei Yubaba gesehen.
"Das ist eigentlich mein Anteil an den Einnahmen des Badhauses, den mir meine
liebe Schwester regelmäßig schickt", erklärte Zeniba und fischte dann einen
glitzernden weißen Stein heraus. "Das hier ist ein Phenaktit, oder auch
Betrüger. Es ist nur Beryllium-Silikat, nicht besonders wertvoll, weshalb
Yubaba immer wieder versucht, ihn mir unterzujubeln. Aber sag, sieht er nicht
aus, wie ein Diamant?" Haku nickte zustimmend. Yubaba liebte Diamanten.
"Nun jedenfalls basiert die gesamte Tor-Technomagie auf diesem Mineral und mit
ein wenig Geschick könnte es gelingen, mithilfe dieses Edelsteins, eine Art
direkter magischer Brücke zwischen Chihiro und dir herzustellen", fuhr Zeniba
fort, dem staunenden Jungen zu erläutern. "Das wäre dann so, als würdet ihr
euch immer berühren. Bring sie nur her zu mir, dann können wir es versuchen."
"Meinen sie wirklich, das könnte klappen?", fragte Haku hoffnungsfroh, nahm den
Phenaktit in die Finger und beäugte ihn eingehend.
"Doch, ich denke schon", bestätigte Zeniba, "aber garantieren kann ich für
Nichts. Der Zauber ist ein wenig kompliziert und ihr werdet für immer jeder
eine Hälfte des Steins in euch herumtragen müssen. Du wirst es ja sehen."
Haku und Zeniba unterhielten sich noch etwa für eine weitere Stunde, bis der
junge Gott sich auf den Rückweg in die Menschenwelt machte. Es war immer noch
weit vor Mitternacht und er musste eine Weile warten, bis endlich alle Oginos zu
Bett gegangen waren. Chihiro lag zwar auf ihrem Futon, doch er konnte spüren,
dass sie nicht schlief. Aber jetzt brauchte er sich auch nicht mehr zu
verbergen.
Haku glitt durch das verriegelte und einbruchgeschützte Fenster hindurch,
ebenso wie die Vorhänge, die nicht den Hauch einer Regung dabei zeigten.
Diesmal brauchte er sich nicht zurückzuhalten, tauchte ein in das Leuchten
seiner Lebenskraft, die aus ihrem Körper strömte. Überlegter als beim ersten
Mal, materialisierte er allerdings nicht über Chihiro, sondern vorsichtshalber
so, dass er direkt neben ihr zu Knien kam.
Das Mädchen, das sein Auftauchen schon längst gefühlt hatte, drehte sich in
aller Ruhe um und lächelte ihn an, wie er in der Dunkelheit des Zimmers so
gerade erkennen konnte. "Hallo Haku, ich habe schon so auf dich gewartet",
begrüßte sie ihn flüsternd.
"Ich bin auch froh, dass ich wieder bei dir bin", erwiderte er, ebenfalls
flüsternd. "Jetzt müssen wir überlegen, was wir wegen deiner Eltern machen."
Über eine Stunde diskutierten sie das Für und Wieder verschiedener Szenarien,
wie sich ihr künftiges Zusammenlegen gestalten konnte und am Schluss hatten sie
sich einen, zugegebener Massen etwas drastischen, Plan zurechtgelegt, wie sie
Papa und Mama Ogino von der Notwendigkeit von Hakus Anwesenheit überzeugen
konnten.
Am nächsten Morgen kam Yuko Ogino erneut nach ihrer Tochter zu schauen, da
diese wiederum nicht pünktlich zum Frühstück erschien. Fast erwartete sie,
dass der Junge von gestern wieder aufgetaucht war und sich in Chihiros Zimmer
geschlichen hatte. Sie öffnete die Tür, doch diesmal konnte sie nicht viel
erkennen, denn das Licht war aus und die Vorhänge zugezogen.
Mit einem Seufzer, weil Chihiro offenbar verschlafen hatte, schaltete das Licht
an und dann sackte ihr der Unterkiefer herunter, denn mit dem, was sie jetzt
sah, hatte sie im Leben nicht gerechnet. Chihiro lag friedlich schlafend auf
ihrem Futon auf der Seite, was ja an sich nicht außergewöhnlich war. Dass sie
dabei ihren rechten Arm auf den Körper eines weißen Drachen gelegt hatte, der
sich fast zweimal um sie herumkringelte und ebenfalls zu schlafen schien,
allerdings schon.
Was sollte sie jetzt nur tun, überlegte Yuko Ogino. Möglicherweise war der
Drache ja gefährlich, obwohl er einen friedlichen Eindruck machte. Erst dieser
Junge und jetzt ein Drache. Und dann noch, was Chihiro gestern mit dem Wasser im
Waschbecken gemacht hatte. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Vielleicht
hatte sie sich das ja doch nicht eingebildet, dass Chihiro einmal auf dem Wasser
in der Badewanne geschlafen hatte.
Leise machte sie das Licht wieder aus, schloss die Tür und blieb einige Momente
regungslos stehen. Dann rief sie: "Akio, Aakiooo. Komm doch mal her. Da gibt es
etwas, dass du dir ansehen solltest!"
"Was gibt es denn jetzt schon wieder, Yuko?", regte sich Chihiros Vater auf,
während er die Treppe hochschnaufte. "Ist dieser Junge wieder da? Na diesmal
wird der nicht so einfach davon kommen. Ich werde die Polizei holen."
Chihiro und Haku ihrerseits hatten allerdings nur so getan, als würden sie
schlafen, während sie voller Nervosität darauf warteten, was passieren würde.
,Hi, hi. Ich wette meine Mutter hat ein total dämliches Gesicht gemacht',
giggelte Chihiro in Gedanken zu Haku, nachdem sie deren Ruf nach ihrem Vater
gehört hatte. Gemeinsam hatte sie im Laufe der Nacht festgestellt, dass sie
problemlos Gedanken und Bilder austauschen konnten, die ihnen durch den Kopf
gingen, solange sie einander nur berührten.
Es war genau wie damals in dem kleinen Garten am Badehaus, als Haku ihr den Weg
zu Kamaji gezeigt hatte. Diese Fähigkeit war jedoch nicht nur einseitig,
sondern Chihiro konnte es genauso gut, wie Haku, nachdem sie einmal begriffen
hatte, wie es ging. ,Du darfst dich nicht über sie lustig machen', kam Hakus
ernste Antwort. ,Sie ist immerhin deine Mutter und sie hat noch nie zuvor einen
Drachen gesehen.'
In diesem Moment riss ihr Vater die Tür auf, machte das Licht wütend
schnaubend wieder an. Das Schnauben wurde dann immer leiser, bis Chihiro hörte,
wie er die Tür sachte zuzog, ohne allerdings wie ihre Mutter das Licht
auszumachen.
"Da ist ein Drache, Yuko", flüsterte Akio Ogino zu seiner Frau. "Und er scheint
Chihiro in seiner Gewalt zu haben. Was machen wir denn jetzt?"
"Dass da ein Drache ist, sehe ich selbst, schließlich habe ich Augen im Kopf.
Ich dachte, du wüsstest, was wir jetzt machen können", zischelte Yuko Ogino
zurück, wobei sie ihm auf die Brust tippte. "Wir müssen Chihiro jedenfalls
unbedingt aus dem Zimmer heraus bekommen. Dann können wir weiter sehen."
"Ich könnte die Feuerwehr rufen, die Polizei, die Nationalgarde oder die
Armee", raunte Akio unsicher zurück. Einen Jungen hinaus zu werfen, war eine
Sache, aber einen Drachen ... "Ich werde da jedenfalls nicht nochmal
hereingehen. Hast du seine Klauen gesehen? Vielleicht will er Chihiro ja
fressen. Nein, da sollten Profis herangehen."
"Ach du alter Feigling", blökte Yuko Ogino entrüstet los. "Bei kleinen Jungen
kannst du den Starken markieren, aber wenn mal etwas Unvorhergesehenes passiert,
ziehst du gleich den Schwanz ein. Auf mich hat der Drache nicht besonders
gefährlich gewirkt. So ich werde jetzt Chihiro da rausholen."
Damit riss sie die Tür auf und wäre fast mit ihrer Tochter zusammengeprallt,
die selber gerade die Tür öffnen wollte. "Guten Morgen Mama, guten Morgen
Papa", sagte sie und gähnte demonstrativ. Dann marschierte sie, in ihrem rosa
Schlafanzug mit dem "Hello Kitti"-Aufnäher, zwischen den beiden hindurch vorbei
in das Badezimmer, wo sie seelenruhig begann, sich die Zähne zu putzen.
Verstört sahen Chihiros Eltern ihrer Tochter hinterher und danach wieder in ihr
Kinderzimmer. Der Drache war noch da, hatte sich nicht von der Stelle gerührt,
sah sie jetzt aber neugierig aus seinen grasgrünen Augen an. Genau dieselben
Augen hatte der Junge gestern auch gehabt, dachte Yuko Ogino unwillkürlich, und
ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter.
Rasch lief sie zu Chihiro, die gerade gurgelte. "Chihiro, da ist ein Drache in
deinem Zimmer, ein ziemlich großer, wie ich meine", sagte sie in vorwurfsvollem
Tonfall. "Kannst du mir das bitte erklären. Wie ist der da hereingekommen? Hast
du ihn rein gelassen?"
"Mama, if putf mir gerade die Fähne", sagte Chihiro mit Schaum vor dem Mund.
"Können wir daf nift befprefen, wenn if fertif bin?" Mit sauber kreisenden
Bewegungen fuhr sie fort, ihre Zähne zu bearbeiten.
Immerhin säuberte Chihiro gerade ihre Zähne. Nicht alle Kinder taten das
freiwillig, dachte Yuko Ogino. Wenn sie es schon von alleine tat, sollte man sie
auch nicht davon abhalten! Sie ging zurück zu Akio. "Sie putzt sich die
Zähne", meinte sie zu ihrem Mann. "Wir sollten warten, bis sie fertig ist."
"Ich sehe selber, dass sie die Zähne putzt", schimpfte Akio. "Ist das denn
jetzt so wichtig? Da ist immer noch der Drache!" Er deutete energisch in das
Kinderzimmer.
Angestrengt nachdenkend zog Yuko Ogino ihre Stirn kraus, was sie nicht häufig
tat, denn davon konnte man ja Falten bekommen. Chihiro war im Badezimmer und der
Drache lag im Kinderzimmer. Vielleicht hatte das ja etwas zu bedeuten? Wenn
Chihiro im Badezimmer war und der Drache im Kinderzimmer, dann bedeutete das ...
ja, der Drache hatte Chihiro aus dem Kinderzimmer gelassen!
"Ich glaube nicht, dass der Drache gefährlich ist", sagte sie deshalb. "Er hat
Chihiro ja gehen lassen." Chihiro war jetzt mit dem Zähneputzen fertig,
gurgelte noch einmal und trocknete sich dann den Mund ab.
"Vielleicht ist der Drache gefährlich, vielleicht ist er es auch nicht",
argumentierte Akio Ogino entnervt. "Ich finde, wir sollten es nicht darauf
ankommen lassen."
"Könntet ihr Mal Platz machen", sagte Chihiro, die aus dem Badezimmer gekommen
war. "Ihr versperrt ja die Tür." Reflexartig trat ihr Vater einen Schritt
zurück, sodass Chihiro in ihr Zimmer zurückgehen konnte.
"Warum hast du sie wieder zu dem Drachen gelassen", meckerte Yuko. "Jetzt wo sie
gerade in Sicherheit war."
"Aber du hast doch gemeint, der Drache wäre nicht gefährlich", versuchte sich
Akio Ogino zu verteidigen. "Da sieh doch. Er tut ihr nichts." Entgeistert
beobachteten sie, wie Chihiro ganz geschäftsmäßig über den Leib des Drachen
hinwegstieg, ihren Futon zusammenfaltete, erneut über den Drachen stieg, ihn im
Schrank verstaute und sich ihre Anziehsachen holte, bevor sie wieder aus dem
Zimmer herauskam.
"Was schaut ihr so? Das ist mein Drache und der bleibt jetzt hier", meinte
Chihiro schnippisch, als sie sich an ihren Eltern vorbeiquetschte, um wieder ins
Badezimmer zu gelangen, wo sie sich duschen und dann anziehen wollte.
Ihr Vater hielt sie diesmal aber an der Schulter fest. "Moment mal, was meinst
du damit: Er bleibt hier?", fuhr er sie an. "Ich glaube, Tochter, wir müssen
mal reden."
"Au Papa, du tust mir weh", jammerte das Mädchen. "Ich muss mich doch jetzt
anziehen und dann zur Schule. Lass mich bitte los." In diesem Augenblick knurrte
der Drache nachdrücklich aus dem Kinderzimmer, wobei er den Kopf zur Tür
heraussteckte und seine Zähne blitzen ließ. Mit einem Aufschrei des Schrecks
ließ Akio Ogino seine Tochter los und spurtete erstaunlich behände die Treppe
hinunter.
Chihiro trat zu dem Drachen hin, nahm seinen Kopf in die Arme und streichelte
ihn unter den schockierten Blicken ihrer Mutter. "Du darfst doch meinem Papa
nicht solche Angst einjagen", sagte sie vorwurfsvoll, schob ihn in das Zimmer
zurück und machte die hinter ihm zu. Dann ging sie mit zufriedenem
Gesichtsausdruck ins Bad.
Eine Viertelstunde später kam Chihiro fröhlich mit ihren Schulsachen in die
Küche, um sich ihr Frühstück zu holen. Ihr Vater saß mit leerem
Gesichtsausdruck am Tisch und stützte den Kopf schwer auf seine Hände. Ihre
Mutter stand mit verschränkten Armen am Kühlschrank und blickte Chihiro
skeptisch an. Als sie ihre Eltern so sah, bekam sie sofort ein schlechtes
Gewissen, setzte sich ganz still an den Tisch, wo sie begann, ein wenig Müsli
zu essen.
"Der Drache", fragte ihre Mutter nach einer Weile peinlichen Schweigens, "das
war doch ein Drache, oder? Ist der noch oben?" Chihiro nickte. "Wo hast du den
her? Wie ist der in dein Zimmer gekommen?"
"Ich, wir, ... der Junge von gestern ... ist der Drache", stammelte Chihiro
daraufhin.
"Du meinst, der Drache ist dieser, dieser ... Nigidings Kohaku Nushi?", hakte
Yuko Ogino nach. "Aber warum ist er denn jetzt auf einmal ein Drache?"
"Mama, er ist eben ein Drache, Nigihayami Kohaku Nushi", entgegnete Chihiro.
"Wir hatten uns nur gedacht, einen Drachen kann Papa nicht hinauswerfen und dann
müsstet ihr uns zuhören."
"Warum sollen wir euch zuhören?", schnauzte ihr Vater los. "Dieser
unverschämte Drache taucht einfach auf, will sich wohl bei uns einnisten und
macht sich dazu an meine Tochter ran. So etwas werde ich nicht zulassen."
"Papa bitte, du verstehst das nicht. Ich und der Drache, wir gehören zusammen,
ob es dir gefällt oder nicht", gab Chihiro trotzig zurück. "Wir teilen uns ein
Leben und das lässt sich jetzt nicht mehr ändern."
"Ihr teilt euch das Leben. Soll das heißen, du willst ihn heiraten?", zeterte
ihr Vater weiter. "Das kommt gar nicht in die Tüte. Dazu bist du noch viel zu
klein. Mit 13 darf man noch nicht heiraten."
Haku heiraten, dachte Chihiro verdutzt. Auf den Gedanken war sie noch gar nicht
gekommen, aber sie konnte ja mal darüber nachdenken, für später. "Nein Papa.
Ich meine das so, wie ich es sage. Wir beide zusammen haben nur ein Leben.
Deshalb hatte ich ja auch immer so einen furchtbaren Hunger, weil er die ganze
Zeit so schuften musste, im Bergwerk."
"Chihiro, du sprichst völlig in Rätseln." Yuko kam zum Tisch und stützte sich
neben Chihiro auf. "Soll das heißen, dieser Drache hat etwas mit deiner
Krankheit zu tun?"
"Dass soll heißen, Mama, der Drache ist meine Krankheit. Nur dass ich nicht
krank bin", sagte Chihiro und versuchte ihren konsternierten Eltern zu
erklären, was mit ihr und Haku los war. "Und deswegen muss er jetzt hier
bleiben. Wo soll er denn sonst hin", schloss sie ihren Bericht und sah dann
flehentlich abwechselnd ihre Eltern an.
"Das ist nur sehr schwer vorstellbar, was du uns da erzählst", brach ihre
Mutter das Schweigen. "Aber es passt mit allem zusammen, was uns Dr. Ito gesagt
hat. Vielleicht möchtest du uns deinen Nigihayami Kohaku Nushi ja vorstellen."
"Yuko, du kannst doch nicht diesem zusammenhanglosen Geschwätz einer
Dreizehnjährigen glauben", polterte ihr Vater los. "Götter und Drachen gibt es
doch überhaupt nicht. Das ist doch alles nur Einbildung. Sie sind nur eine
Erfindung dieser Shinto-Priester, um das Kaiserhaus zu legitimieren."
"Schatz, du übersiehst da eine Kleinigkeit", versuchte Yuko ihren Mann zu
beruhigen. "Da oben in Chihiros Zimmer ist ein Drache. Du hast ihn doch selber
gesehen. Wie kannst du dann sagen, es gäbe keine Drachen. Chihiro, geh doch
bitte nach oben und hol deinen Freund hierher, ja?" Akio Ogino starrte schwer
atmend seine Frau an, und setzte mehrfach an, etwas zu sagen, wusste jedoch,
dass das alles Unsinn war. Deshalb sagte er am Ende lieber Nichts.
Chihiro stand auf und machte sich schweigend auf den Weg in ihr Zimmer, wo sie
sich neben Haku auf den Boden hockte und seinen Kopf sanft in ihre Arme nahm.
Sie berichtete ihm über das Gespräch mit ihren Eltern, bevor Haku dann in
seine menschliche Gestalt wechselte. Im Moment der Verwandlung dann klappte
Chihiro beinahe zusammen, weil Haku dafür so viel magische Energie von ihr
brauchte, wie ihr kleiner Körper gerade noch in der Lage war, zu liefern.
Die Folge war, dass Chihiro fast augenblicklich eine Heißhungerattacke bekam,
die sie nur mit ihrer jahrelangen Hungererfahrung beherrschen konnte. Trotzdem
wäre sie fast Hals über Kopf in die Küche gestürzt, um irgendetwas zu essen
zu bekommen. "Komm mit", sagte sie stattdessen, nahm Haku bei der Hand und zog
ihn die Treppe hinunter zu ihren Eltern. Haku folgte ihr widerstandslos.
"Mama, Papa, darf ich vorstellen:", sagte sie dort angekommen, "der Drache
Kohaku, der einmal der Gott des Kohakugawa gewesen ist."
Kohaku, der immer noch die zerrissenen Jeans und das löchrige T-Shirt trug, die
Zeniba ihm verpasst hatte, verbeugte sich wohlerzogen vor Herrn und Frau Ogino.
Akio Ogino dachte nur: Und das soll ein Kami sein? Yuko Ogino dachte: Bei allen
Göttern! Er ist noch viel hübscher, als ich von Gestern in Erinnerung hatte.
Kapitel 17: Bei den Oginos
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Bei den Oginos
Es dauerte den ganzen Vormittag, bis Chihiro und Kohaku alle Fragen ihrer Eltern
beantwortet und erreicht hatten, dass Kohaku in Zukunft bei den Oginos wohnen
durfte. Er würde das Gästezimmer im ersten Stockwerk beziehen, direkt neben
Chihiros Raum, obwohl dort bis auf ein einzelnes Notbett nichts darin stand.
Auf Kohakus Bemerkung hin, eine Kiste wäre genug für ihn, um darin zu Wohnen,
runzelte Chihiros Vater nur verständnislos die Stirn. Noch immer tat er sich
schwer damit, Kohaku als neues Mitglied des Haushaltes zu akzeptieren und
lediglich ein inneres Schuldgefühl, weil er an der Trockenlegung des Kohakugawa
beteiligt gewesen war, für die er jedoch innerlich jegliche Verantwortung
ablehnte, liess ihn letztendlich sein Misstrauen vorläufig vergessen.
Um kurz vor Mittag wurde Chihiro ins Auto und mit einem fadenscheinigen
Entschuldigungsschreiben versehen, in die Schule verfrachtet. Chihiros Mutter
wollte sich derweil um vernünftige Kleidung für Kohaku kümmern, obwohl sie
sich eigentlich um ihren Konbini kümmern musste.
Da sie aber mittlerweile Filialleiterin war, hatte sie noch kurzfristig eine
Vertretung für sich organisieren können. Die betroffene Frau war nicht sehr
glücklich gewesen, denn sie hatte eigentlich die Frühschicht im Konbini gehabt
und wollte eigentlich Feierabend haben, aber sie konnte schlecht ihrer Chefin
absagen.
Nachdem nun Chihiro mit ihrem Vater weggefahren war, wollte sie sich um Kohaku
kümmern, seine Größe nachmessen und ihn fragen, was er denn gerne anzieht,
doch plötzlich war der verschwunden. Sie suchte im ganzen Haus nach ihm und als
sie ihn nirgendwo fand, wurde sie doch ein wenig ärgerlich. Jetzt musste sie
die Sachen für ihn auf Verdacht kaufen und das, wo sie das Konto schon wieder
überzogen hatten.
Kohaku versuchte derweil, sich Chihiros Mutter bemerkbar zu machen, denn er
hatte sich in dem Moment aufgelöst, als Chihiro mit ihrem Vater am Ende der
Strasse Richtung Nakaoka abbogen. Doch es gelang ihm einfach nicht, einen
geistigen Kontakt zu der Frau zu bekommen, so wie er es mit Chihiro tun konnte.
Wenn Chihiro nicht da war, waren seine magischen Fähigkeiten in der
Menschenwelt nahe Null, dachte er resigniert.
Zu Zeniba zu gehen machte Tagsüber keinen Sinn, denn die alte Hexe würde
tagsüber vermutlich schlafen. Fast wollte er sich schon aufmachen, um Chihiro
in ihrer Schule zu besuchen, doch hatte er keine Ahnung, wo diese lag und sah ob
des eingeschränkten Orientierungsvermögens in seinem jetzigen Zustand kaum
eine Möglichkeit, Chihiro erneut zu finden.
Letztendlich kam er zu dem Schluss, dass er Chihiro dort auch sicher eher
stören, als dass er ihr helfen würde. So zog er sich am Ende in sein neues
Zimmer zurück, wo er schwebend verharrte und wartete, bis Chihiro aus dieser
Schule zurückkommen würde.
Um kurz vor fünf Uhr am Nachmittag kam Chihiros Mutter vom Einkauf wieder
zurück, bepackt mit einer großen Plastiktüte, in der sie die neuen
Anziehsachen für den jungen Gott hatte und einem Flechtkorb, in dem sie
Lebensmittel für das Abendessen mitgebracht hatte. Da sie hoffte, dass der
Junge wieder aufgetaucht war, rief sie laut nach ihm, und seufzte, als niemand
antwortete.
Die Tüte mit den Kleidern legte sie auf den Küchentisch und stellte den Korb
daneben, bevor sie aufräumte, spülte und putzte. Kohaku hatte ihr Eintreffen
bemerkt und war durch die Decke nach unten in die Küche geschwebt. Gerne wäre
er Chihiros Mutter zur Hand gegangen, er war zur Untätigkeit verdammt, in
seiner jetzigen Form.
Eine knappe Stunde später war sie damit fertig und begann nun das Abendessen
vorzubereiten. Offensichtlich wollte sie einen guten Endruck auf das neue
Familienmitglied machen. Deshalb bereitete sie die Zubereitung von Sushi vor.
Nach einigen wenigen Handgriffen bemerkte Kohaku aber bereits, dass Yuko Ogino
keine Ahnung hatte, wie man Sushi richtig machte.
Zudem hatte sie ein Kochbuch zu Rate gezogen, aus dem sie Schritt für Schritt
die notwendigen Handgriffe entnahm. Als sie schließlich versuchte, den
mitgebrachten Aal zu filettieren, hätte Kohaku ihr am liebsten das völlig
ungeeignete Messer aus der Hand gerissen, wenn er das gekonnt hätte.
Irgendwie schaffte es Chihiros Mutter dann aber doch, sich nicht die Finger
abzusäbeln und den Fisch in annähernd gleichmäßige Scheibchen zu zerteilen.
Die weitere Zubereitung, das Kochen des klebrigen Reis', die Herstellung der
Sauce und der Häppchen erfolgten bemüht, aber fantasielos, strickt nach
Kochbuch. Wenn den Gästen im Badehaus so etwas vorgesetzt worden wäre, hätten
die sich bestimmt bei Yubaba beschwert und der Koch wäre im Bergwerk gelandet,
dachte Kohaku grimmig.
Er kannte die Küche im Badehaus in und auswendig, kannte alle Rezepte und
wusste auch, wo man die Zutaten herbekam und wie sie zu verarbeiten waren.
Chihiros Mutter bräuchte nur auf die Wiese vor ihrem Haus zu gehen, dachte er
bei sich, und fände dort genügend Kräuter, die die ganze Sache schon viel
annehmbarer machen würden.
In diesem Moment nahm Kohaku vor dem Haus ein helles Leuchten wahr: Chihiro kam
endlich von der Schule nach Hause.
"Hallo Mama, bin wieder da! Kohaku, wo bist du?" rief sie, nachdem sie die Tür
aufgeschlossen hatte.
Yuko Ogino unterbrach ihre Sushivorbereitungen und kam in den Hausflur. "Guten
Abend, Schatz. Hör mal, dein komischer Kohaku ist einfach abgehauen, nachdem
Papa dich zur Schule gebracht hatte. Ich bin ehrlich gesagt ein bisschen Böse
auf ihn. Das war nicht besonders nett, auch wenn er ein Drache ist. Immerhin
will er ja bei uns wohnen."
Chihiro schaute ihre Mutter entgeistert an und überlegte, wohin Kohaku wohl
gegangen sein könnte. Vielleicht zu Zeniba? Aber dann fiel ihr ein, was
passiert sein musste und sie begann zu lachen. In diesem Moment spürte sie auch
schon, wie Kohakus Präsenz sie einhüllte.
"Was findest du daran denn so lustig?" entrüstete ihre Mutter sich.
"Ach nichts, Mama. Kohaku war nie weg. Er war die ganze Zeit hier", giggelte
Chihiro.
"Wie meinst du das, Chihiro? Wo denn? Ich habe das ganze Haus nach ihm
abgesucht."
"Na hier!" Chihiro hob die Arme und machte eine Pirouette wie eine Ballerina.
"Er ist hier, hier, hier", jubelte sie glücklich.
"Mädchen, du sprichst in Rätseln." Yuko Ogino schüttelte verständnislos den
Kopf.
Gerade wollte Chihiro ihrer Mutter erklären, was mit Kohaku los war, da wurde
ihr plötzlich schwindelig und sie spürte, wie jemand ihre Hand hielt. Chihiros
Mutter aber konnte überhaupt nicht fassen, was sie da sah. Es war wie eine
Überblendung in einem Fernsehfilm und auf einmal stand der Junge Kohaku neben
Chihiro.
Er verbeugte sich vor Frau Ogino. "Entschuldigen sie, dass ich solche Umstände
mach. Ich hatte durchaus nicht die Absicht, zu verschwinden", bat er zögerlich
um Nachsehen, weil er sich dafür schämte, "ich hätte es ihnen heute Morgen
erklären sollen. Wenn ich zu weit weg bin von Chihiro, dann ... dann löse ich
mich auf."
Chihiros Mutter kam ein wenig näher und blickte Kohaku fragend an. Der ließ
Chihiros Hand los und wurde wieder zu einem Geist, diesmal aber absichtlich.
Frau Ogino sah, wie seine Gestalt blasser wurde, dann durchsichtig, und nicht
einmal eine Sekunde später vollständig verschwunden war. Kurz danach tauchte
er wieder auf, erneut Chihiros Hand haltend.
In dem Moment wurde Chihiro ganz blass, verdrehte ihre Augen und klappte
ohnmächtig zusammen. Kohaku konnte sie gerade noch so auffangen. "Chihiro,
Chihiro, was ist mit dir?" rief ihre Mutter erschrocken und eilte hastig zu ihr
hin. Sie wollte ihre Tochter dem Jungen abnehmen, aber Chihiro öffnete schon
wieder die Augen und stöhnte leise.
"Uuuh, ich glaube du solltest nicht zu oft deine Gestalt wechseln. Zwei mal kurz
hintereinander ist wohl zu viel für mich", meinte sie und stellte sich wieder
auf ihre Beine, "Mama, ich brauch jetzt was zu essen."
"Schatz, geht es dir auch wirklich gut?", wollte ihre Mutter besorgt wissen.
"Ja, Mama. Es ist alles in Ordnung", entgegnete Chihiro etwas genervt, "komm
mit, Kohaku, du bist schließlich schuld." Sie marschierte stracks in die Küche
und zog ihn an der Hand hinter sich her. Dort stopfte sie sich zwei der
vorbereiteten Sushi-Häppchen in den Mund und gab Kohaku ein weiteres. "Hier, du
kannst auch mal was essen", bestimmte sie.
Unsicher betrachtete Kohaku das angebotene Häppchen, denn er fand, dass es
unhöflich wäre, schon jetzt etwas von dem vorbereiteten Abendessen zu essen.
Gleichzeitig fühlte er sich schuldig, weil er durch sein unbedachtes Handeln
Chihiros kurze Ohnmacht und ihren jetzigen Heißhunger verursacht hatte.
Da er ohnehin zu dem Schluss gekommen war, dass er Chihiro beschützen musste,
konnte er in dieser Situation nur gehorchen, denn wenn es Chihiro half, wenn
etwas zu essen, dann musste er es eben tun, ungeachtet aller Konsequenzen. Also
aß er, so schwer es ihm auch fiel, das Sushi-Häppchen.
"Du Chihiro, sag mal, willst du mich jetzt immer Kohaku nennen?" fragte er nach
dem Herunterschlucken.
"Ja, ich dachte, das wäre besser, äh angemessener", meinte Chihiro daraufhin,
"warum fragst du, Haku ... Kohaku?"
"Es ist nur ... so ungewohnt", entgegnete er, "an den Namen Haku hatte ich mich
schon vollkommen gewöhnt. Eigentlich hat mich fast nie jemand jemals mit meinem
richtigen Namen angesprochen und so ist Haku zu meinem Namen geworden."
"Aber Haku ist der Name, den Yubaba dir gegeben hat, nachdem sie den Rest deines
Namens gestohlen hatte", erklärte Chihiro sich, "aber du bist doch ein Gott und
verdienst es, mit deinem richtigen Namen angeredet zu werden! Möchtest du
trotzdem lieber wieder mit Haku angeredet werden?"
Kohaku wusste nicht so recht, ob er irgendetwas verdiente, wenn er an seine
bisherige Existenz zurückdachte. "Nein, nein, Chihiro. So meinte ich das nicht.
Du darfst mich anreden, wie du willst. Ich bin jetzt dein Gott, nicht mehr der
Gott des Kohakugawa. Nenn mich so, wie du willst. Das ist dann mein richtiger
Name."
"O, Kohaku, was ist denn nur los mit dir", flüsterte Chihiro und nahm den
Jungen in den Arm. "Du bist so ganz anders, als ich dich in Erinnerung habe, so
... so traurig." Kohaku entgegnete dazu nichts, sondern hielt nur Chihiros Hand
fest und blickte zu Boden.
"He, ihr zwei, wollt ihr unser Abendessen jetzt schon aufessen?" fuhr Yuko Ogino
dazwischen, die die ganze Szene beobachtet hatte und sie das Ganze nicht länger
mehr ansehen konnte. "Komm her, Kohaku, ich habe etwas zum Anziehen für dich
besorgt. Schauen wir doch mal, ob es passt."
Sie holte die Tüte mit den neuen Sachen und legte sie auf den Küchentisch.
Irgendwie schaffte es Kohaku, sich von Chihiro zu lösen, bevor er sich
umstandslos seiner Kleidung entledigte. Erstaunt stellten Chihiro und ihre
Mutter fest, dass er keine Unterhose anhatte, sondern einen Lendenschurz unter
der kunstvoll durchlöcherten Jeans trug.
Darauf angesprochen wollte er sich auch von diesem Kleidungsstück trennen,
konnte von Mutter Ogino noch gerade davon abgehalten werden. An Unterhosen für
ihn hatte sie nämlich nicht gedacht, so dass sie noch einmal los musste, etwas
zu kaufen. Auf die Frage, ob er sich denn gar nicht genieren würde, schaute
Kokaku nur verständnislos zu Chihiros Mutter.
Nichts desto trotz stellte diese fest, dass Kohaku viel kräftiger war, als sie
gedacht hätte, ganz anders, als es bei seinen grazilen Händen, seinen dünnen
Handgelenken und seinen hervortretenden Rippen zu erwarten gewesen wäre. Jeder
seiner schlanken Muskeln war vollständig definiert, wie bei einem
Hochleistungsathleten. So etwas hatte sie noch ne gesehen.
Seine gespenstisch helle, samtglatte Haut, verstärkte den unwirklichen Eindruck
noch, den er erweckte. Dazu kam, dass er trotz allem einfach zu hübsch war,
für einen richtigen Jungen und sich auch nicht wie ein richtiger Junge benahm.
Aber das hatte er auch nie behauptet. Sie wusste nur, dass sie dieses
eigenartige Wesen bereits jetzt in ihr Herz geschlossen hatte.
Es stellte sich heraus, dass die Jeans und die T-Shirts, die sie gekauft hatte,
etwas zu groß waren. Der sicherheitshalber erstandene Gürtel fixierte das
Problem. Anschließend wandten sie sich Kohakus Frisur zu. Seine Haare waren in
den drei Jahren, die er im Bergwerk verbracht hatte, fast bis auf Hüftlänge
gewachsen, nur waren sie auf der einen Seite auf der sie von Yubabas Feuerball
abgesengt worden waren, in der kurzen Zeit nach der Flucht erst wenige
Millimeter nachgewachsen.
Kohaku mochte die Frage, wie es dazu gekommen sei, nicht antworten, denn er
wollte Chihiros Mutter nicht erschrecken. Aber er erklärte sich einverstanden,
sich die Haare gleichmäßig kurz schneiden zu lassen, wozu sie den Rasierer von
Chihiros Vater zweckentfremdeten. Wenn er sie irgendwann anders tragen wollte,
musste er eben warten, bis sie nachgewachsen waren.
Mit seiner neuen Kurzhaarfrisur wirkte Kohaku nun viel jungenhafter und auch
etwas älter, was Chihiro gar nicht gefiel. Das war einfach nicht der Kohaku,
den sie kannte. Dann sah er ihr in die Augen und lächelte. Das machte Chihiro
wieder glücklich.
Um acht Uhr am Abend kam endlich Chihiros Vater nach Hause. Er war völlig
geschafft, weil er nach der ganzen Diskussion am Morgen und dem Abliefern von
Chihiro in der Schule erst gegen zwei Uhr seinen Hausverwalteraufgaben
nachkommen konnte. So musste er alles unter Zeitdruck erledigen.
Sehr zufrieden zeigte er sich mit Kohakus verbesserter äußerer Erscheinung, so
dass er entschied, das Abendessen zur Begrüßung des neuen Familienmitgliedes
im Wohnzimmer einzunehmen.
Dort nahmen sie am Wohnzimmertisch platz, Herr und Frau Ogino nebeneinander auf
dem alten, sandfarbenen Sofa und Chihiro auf einem der beiden dazu passenden
Sessel. Etwas unsicher setzte sich Kohaku auf den anderen Sessel. Offenbar
sollte er dort sitzen, denn vor diesem Platz war das einzige noch freie Gedeck.
Chihiro blickte zwischen ihren Eltern und Kohaku hin und her. Dann nahm sie ihr
Gedeck, schob es neben Kohakus und quetschte sich neben ihn auf seinen Sessel,
wobei sie frech grinste. Der Junge blickte fragend zu Chihiro und die Eltern
waren etwas überrascht. ,Meine Eltern sitzen zusammen, wir sitzen auch
zusammen', begründete Chihiro ihr Verhalten bei Kohaku telepathisch, während
sie zufrieden in die Runde blickte. Als Antwort rückte Kohaku etwas zur Seite,
so dass Chihiro auch bequem sitzen konnte.
Beim anschließenden Essen selber gab sich Kohaku alle Mühe, aber bereits nach
nur zwei Sushihäppchen war er so voll, das er das Gefühl hatte, sich
übergeben zu müssen. Langsam fragte er sich, ob er es jemals schaffen würde,
für Menschen normale Essensportionen herunter zu bekommen.
Es war ja nicht so, dass ihm das Sushi nicht geschmeckt hätten, trotz mancher
Unzulänglichkeiten bei der Zubereitung, nur war er bereits nach dem einen, den
Chihiro vorhin in der Küche zu essen gegeben hatte, vollkommen satt gewesen.
Chihiro selbst allerdings und auch ihr Vater langten herzhaft zu, wohingegen
ihre Mutter sich eher zurückhielt, der schlanken Linie wegen.
"So, mein Junge", begann Chihiros Vater nach dem Essen. Er war nach dem Essen
nun viel entspannter und beschloss noch einmal zu versuchen, sich mit Kohaku
auseinander zu setzten, zu versuchen, sich daran zu gewöhnen, dass jetzt ein
Drache in Gestalt eines kleinen Jungen bei ihnen wohnen würde. "Ich habe da
noch eine Frage zu vorgestern. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich dich
rausgeworfen habe."
"Es ist ihr gutes Recht, mich hinauszuwerfen", entgegnete Kohaku, "ich bin ihnen
deshalb nicht zornig auf sie."
"Aber ich verstehe nicht, warum du dich nicht dagegen gewehrt hast", wunderte er
sich, "du hast es nicht einmal versucht."
"Aber sie sind doch Chihiros Vater. Wenn ich mich gewehrt hätte, hätte ich
ihnen vielleicht wehgetan. Dann währen sie jetzt böse auf mich und wir
könnten hier nicht sitzen und miteinander reden", gab Kohaku zurück.
Das war keine Antwort, die Herr Ogino von einem kleinen Jungen erwartet hätte,
der Kohaku zu sein schien. Dass Kohaku in Wirklichkeit ein Drache war, hatte er
immer noch nicht verinnerlicht. "Sag mal Junge, wie alt bist du eigentlich?"
wollte er deshalb wissen.
"Fünfzehn. Jedenfalls ungefähr", antwortete Kohaku.
"Schon fünfzehn. Ich hätte dich für jünger gehalten. Du bist ja kaum
größer als Chihiro. Wie solltest du mir wehtun können? Ich bin ein
ausgewachsener Mann und war einmal ein sehr guter Sumo Kämpfer. Du weißt doch
was Sumo ist?"
"Ich habe davon gehört, es aber noch nie gesehen. Die Kämpfer sollen sehr dick
und sehr stark sein", meinte Kohaku.
"Ja, das ist richtig", sagte Herr Ogino. "Möchtest du es einmal sehen?"
Eigentlich interessierte Kohaku das Sumo-Ringen nicht besonders. Am liebsten
währe er jetzt mit Chihiro alleine gewesen, aber die Höflichkeit gebot, dass
er auf Chihiros Vater einging: "Wenn sie es mir zeigen möchten ..." Kohaku
stand auf und verbeugte sich, bereit von Herrn Ogino im Sumo unterwiesen zu
werden.
"Nein, nein, nein, so meinte ich das nicht", beeilte Herr Ogino sich. "Bevor du
dich darauf einlässt, solltest du dir erst einmal ansehen, worum es dabei geht.
Die Rikishi sind nicht umsonst so groß und schwer. Jemand, der so klein und
leicht ist, wie du, müsste schon äußerst stark und auch geschickt sein, um
eine Chance zu haben."
Er griff zu einem kleinen schwarzen Kasten mit vielen Knöpfen darauf, den er
auf die merkwürdige Maschine richtete, die ihn bei Kohakus erstem Besuch in
diesem Haus so in den Bann gezogen hatte. Damals hatte er nicht ergründen
können, was Herrn Ogino so an diesem Apparat faszinierte. So war er jetzt umso
neugieriger, was geschehen würde und sah aufmerksam hin.
Im nächsten Moment brach für ihn die Hölle los. Das Gerät erwachte zum
Leben, in einer unerträglichen Kakophonie aus jaulendem Gepiepe, untermalt von
einem dumpfen Brummen und Rauschen. Unwillkürlich presste Kohaku die
Handflächen gegen seine Ohren.
Dann begann die vordere glatte Glasfront des kastenförmigen Dings in einem
unerträglichen Geflimmer zu leuchten. Blinzelnd lugte Kohaku kurz hin und
konnte so etwas wie ein unscharfes Bild erkennen, welches sich ruckartig
veränderte. Das Bild setzte sich aus einzelnen Zeilen zusammen, die aus roten,
grünen und blauen Punkten bestanden, wie Kohaku bemerkte.
Mühsam gelang es ihm aus dem Geflimmer den Eindruck einer Abfolge von Bildern
zu gewinnen, doch es erforderte seine ganze Aufmerksamkeit und Konzentration,
bis er verstand, daß das Gezeigte dieser Bilder offenbar Sumo sein sollte. Nach
nur wenigen Augenblicken war es soweit, dass er Kopfschmerzen bekam und seine
tränenden Augen schließen musste.
Nicht nur, dass seine Ohren von dem kreischenden Geräuschen des Kastens
malträtiert wurden und seine Augen das undeutliche Geflacker nicht mehr
aushielten. Die sonstigen übertragenen Geräusche waren so unnatürlich dumpf
und schal, dass er nur mühsam in ihnen eine menschliche Stimme entdecken
konnte, welche die Geschehnisse kommentierte. Hinzu kam noch das eigenartig
prickelnde Gefühl, welches von der Glasfront der Kiste ausging und ihn sehr
irritierte.
,Haku, was ist denn los mit dir?', drangen Chihiros besorgte Gedanken auf einmal
in seinen Geist. ,Du bist plötzlich ganz blass geworden.'
,O, es ist nicht so schlimm', gab er zurück, ,sag deinem Vater nur, er soll
dieses fürchterliche Ding ausmachen. Aber, sag mal, wolltest du mich nicht
Kohaku nennen?'
Kohaku blinzelte noch ein paar Mal und bekam so gerade mit, dass Chihiro auf
ihren Vater einredete, wovon er wegen des Getöses kaum ein Wort verstand.
"Papa, mach die Glotze aus!", kommandierte Chihiro energisch. "Du tust ihm
weh!"
Enttäuscht sackte Akio Ogino im Sofa zurück. Wie gerne hätte er dem Jungen
sein geliebtes Sumo gezeigt. Und gerade jetzt wurde doch die Wiederholung der
Makuuchi-Division der Kämpfe der besten Rikishi vom Nachmittag gezeigt. Das
musste man doch sehen!
Kohaku, dieser vorgebliche Drachengott, saß zusammengekauert neben Chihiro auf
dem Sessel und hielt sich mit verkniffenem Gesicht krampfhaft die Ohren zu.
Ziemlich erbärmliche Vorstellung für einen Kami, dachte Akio Ogino
enttäuscht. Damit hob er erneut die Fernbedienung und schaltete die Kiste aus.
"Sag mal Junge, als Gott scheinst du ja nicht viel auszuhalten", spottete er
daraufhin. "Ich glaube nicht, dass ein Gott stärker ist, als ein Mensch.
Deshalb fordere ich dich heraus!" Wenn er wirklich ein Gott war, musste ihn doch
etwas von einem Menschen unterscheiden.
Er erinnerte sich an das Märchen von der Drachenprinzessin, das er als Kind
gelesen hatte, in dem ein Drache in Menschengestalt um die Hand einer
Fürstentochter anhielt, um dann vom Fürsten betrogen zu werden. Dieser Drache
war auch als Mensch viel stärker gewesen, als jeder normale Mann und hatte
schwer verwundet noch ein Pferd überholen können.
"Akio, Schatz, was soll denn dieser Unsinn", entfuhr es Yuko Ogino, der langsam
dämmerte, worauf das Ganze hinauslief. "Du benimmst dich, wie ein kleiner
Junge. Wenn ich nicht genau wüsste, dass du schon einundvierzig bist, würde
ich glauben, du wärst zwölf, oder so."
"Nein, Schatz, dass siehst du völlig falsch. Du und Chihiro sagen zwar, er sei
ein Drache, aber glauben kann ich es trotzdem nicht, so wie er da sitzt, ein
kleiner, schwacher Junge, auch wenn ich heute Morgen so etwas wie einen Drachen
gesehen habe", verteidigte sich Chihiros Vater entrüstet. "Deshalb muss ich es
ausprobieren, um Gewissheit zu bekommen, um es verstehen zu können. Er hält ja
nicht mal aus, fernsehen zu gucken!"
Akio beugte sich vor, über den Wohnzimmertisch, stemmte seinen Ellenbogen auf
die Tischplatte, den Unterarm in 45° abgewinkelt. "Los, drück zu, Junge."
Fragend schaute Kohaku auf die hingehaltene, offene Hand von Chihiros Vater.
,Chihiro, was soll ich jetzt tun?' dachte er zu ihr herüber. ,So etwas habe ich
noch nie gemacht.'
,Och, das ist Armdrücken. Du musst deinen Ellenbogen auch auf den Tisch setzen
und deine Hand in seine legen', dachte Chihiro zurück. ,Dann drücken beide so
stark sie können und wer als erster die Hand des anderen auf den Tisch drückt,
der hat gewonnen.'
,Und wozu soll das gut sein? Er ist ein Mensch und ich ein Drache. Ich könnte
ihm den Arm auskugeln oder sogar brechen, wenn ich mit aller Kraft drücke.
Menschen sind nicht sehr widerstandsfähig', gab Kohaku zu bedenken.
Chihiro konnte sich noch gut an die enorme Kraft erinnern, mit der Kohaku sie
damals zum Badehaus gezogen hatte, nachdem er sie vor dem Auflösen bewahrt
hatte. Sie konnte sich auch sehr gut vorstellen, dass ihr Vater sogar noch
stärker war, als Kohaku, den er war ja so viel größer. Aber auf jeden Fall,
konnte er nicht so schnell rennen.
,Dann halt doch einfach nur dagegen', schlug Chihiro dann vor. ,Er wird dann
vielleicht müde und gibt auf. Oder gib nach und verlier.'
,Aber wenn ich verliere, dann werden seine Zweifel nur noch größer', erwiderte
Kohaku, ,ich glaube, es ist besser, wenn ich nicht verliere.'
"Na, was ist nun, Junge?" forderte Papa Ogino und öffnete und schloss seine
Hand ein paar Mal. "Traust du dich nicht?" Von dem kurzen Gedankenaustausch
zwischen den Kindern hatte er nichts mitbekommen.
Kohaku beugte sich vor und tat, was man von ihm erwartete. Seine feingliedrige
Hand verschwand fast in der Pranke von Akio Ogino. Wegen des
Gewichtsunterschieds - Chihiros Vater war nach Kohakus Schätzung viermal so
schwer, wie er selbst - verkeilte er seine Beine vorsorglich an den Füssen des
Sessels, in dem er saß.
"Bist du bereit?" fragte Herr Ogino, Kohaku angriffslustig anfunkelnd. Dann
drückte er zu und es passierte ... Nichts. Weder gab Kohakus Hand gab auch nur
einen Millimeter nach noch war in dessen Gesicht auch nur eine Spur von
Anstrengung zu erkennen.
Herr Ogino machte ein ziemlich dummes Gesicht, bevor er mit noch größerer
Entschlossenheit zu drücken versuchte. Erste Schweißperlen zeigten sich auf
seiner Stirn und bei jedem Ruck, mit dem er probierte, Kohaku zu besiegen,
grunzte er lauter. "Das gibt's doch gar nicht", entfuhr es ihm schnaufend, "ist
dein Arm aus Eisen oder benutzt du Magie? Der rührt sich ja überhaupt nicht."
Damit nahm er noch den linken Arm zur Hilfe, setzte sein ganzes Körpergewicht
von gut einhundert Kilo und all seine Kraft ein. Das reichte zwar nicht, um
Kohakus Arm von der Stelle zu bewegen, aber es reichte, um den viel leichteren
Jungen, samt dem Sessel, auf dem er und Chihiro saßen, aus dem Gleichgewicht zu
bringen und umzuwerfen.
Plötzlich war der jetzt Widerstand weg, woraufhin Chihiros Vater nun ebenfalls
das Gleichgewicht verlor und schräg nach vorne auf den Tisch krachte, der unter
der Belastung umstürzte, für die er nicht vorgesehen war. Die Teetassen, die
Chihiros Mutter nach dem Abendessen serviert hatte, zusammen mit der Teekanne,
landeten auf dem Fußboden und vergossen ihren Inhalt auf den Boden, wo dieser
sich mit dem aufgetragenen Reisgebäck vermischte. Zwei Tassen und die Teekanne
zersprangen.
Chihiros Mutter sprang mit einem empörten Aufschrei hoch, stemmte die Arme in
die Hüften und raunzte: "Akio, was soll der Unsinn! Und wer darf das alles
wieder sauber machen?"
Der Sessel war auf der Seite zu liegen gekommen und Chihiro über Kohaku
gekullert. Besorgt sprang sie auf und zog ihn dann am rechten Arm hoch. "Haku,
ist dir was passiert?" wollte sie atemlos wissen. "Hast du dir wehgetan?"
"Nein Chihiro. Es ist nichts passiert. Dein Vater war wohl etwas ungestüm",
meinte er beschwichtigend, "wir sollten schauen, ob nicht er sich weh getan
hat."
Tatsächlich lag ihr Vater platt auf dem Bauch in einer Teepfütze und der Tisch
war ihm mit der Platte nach unten auf den Kopf geknallt. Mit einem Stöhnen
schob er den Tisch zur Seite und drückte sich hoch, wobei sich ein Bluttropfen
von seiner Nase löste und sich mit dem Tee auf dem Boden vermischte. Er
hustete, denn der Sturz hatte ihm die Luft aus den Lungen gedrückt.
,Komm Chihiro. Wir müssen ihm helfen', hörte sie Kohakus Stimme in ihrem Kopf.
Er nahm sie bei der Hand und zog sie zu ihrem Vater hin, der nun mit allen
Vieren auf dem Boden kauerte. Dort hielt Kohaku Papa Ogino die rechte Hand hin
und zog ihn auf die Beine. Dann tippte Kohaku kurz auf die Nase von Chihiros
Vater und sagte: "Im Namen des Wasser und Windes in dir, Schmerz weiche."
Verwundert berührte Herr Ogino seine Nase. "O, sie tut auf einmal nicht mehr
weh", staunte er und sah Kohaku dankbar an. Ein neuerlicher Tropfen Blut
allerdings löste sich von der Nasenspitze und tropfte auf sein Hemd. ,Du hast
ihn doch nicht geheilt, oder?' wollte Chihiro in Gedanken wissen.
,Nein, das kann ich nicht. Aber spürt es nicht mehr, bis die Wirkung des
Zaubers nachlässt. Bis dahin sollte das Nasenbluten aufgehört haben. Die Nase
ist jedenfalls nicht gebrochen', gab Kohaku in Gedanken zurück und sagte
weiter, "Verzeihen sie Herr Ogino. Es ist alles meine Schuld. Ich habe eben
nicht aufgepasst, bei diesem Armdrücken." Dabei verbeugte er sich vor Herrn
Ogino.
"Wieso deine Schuld, Junge", dröhnte Herr Ogino und klatschte mit seiner Hand
so stark auf Kohakus Schulter, dass der nach vorne stolperte. "Wenn ich zu blöd
zum Armdrücken bin, dann kannst du doch nichts dafür und schließlich bist du
der Gast in unserem Haus. Ich kann nur sagen: Alle Achtung. Dass jemand, der so
... , äh ... , jung ist, wie du, schon solche Kraft hat ..." Damit nahm er den
Tisch und stellte ihn wieder auf die Beine, während sich ein weiterer
Bluttropfen unbemerkt von seiner Nasenspitze löste und auf die Tischplatte
platschte.
Kohaku hoffte, dass die Nase ihren Flüssigkeitsverlust bald einstellen würde
und wünschte sich insgeheim, einmal richtige Heilzauber zu beherrschen. So
lange jetzt der Zauber anhielt, der die Schmerzen ausschaltete, bemerkte
Chihiros Vater nicht einmal, dass er noch immer blutete, was Kohaku sehr
unangenehm war. Abgesehen davon fand er jedoch, dass Chihiros Vater sich ihm
gegenüber reichlich merkwürdig benahm, so als ob er nicht wüsste, wie er sic
ihm gegenüber verhalten sollte.
Aber er war nun Mal Chihiros Vater und so beschloss Kohaku es zu ignorieren.
Endlich kam Frau Ogino mit einem Wassereimer und einem Aufnehmer, um das Malheur
zu beseitigen, sowie mit einem Taschentuch, dass sie ihrem Mann gegen die Nase
drückte, der dann das Blut darauf endlich bemerkte und die Flecken auf seinem
Hemd dann ganz erstaunt betrachtete.
Chihiro überlegte, ob sie helfen sollte, aber ihre Mutter war schon mit dem
Wischen fertig und hatte begonnen, die Scherben aufzusammeln. "Mama, Papa, ich
muss noch Hausaufgaben machen", kündigte sie dann an, denn sie wollte endlich
mit Kohaku alleine sein, "ich nehme Kohaku mit nach oben, und zeig ihm, was man
da machen muss."
"Ist gut, Schatz", gab ihre Mutter zurück, erleichtert, dass nichts wirklich
Schlimmes passiert war. Ihr Vater hatte sich mittlerweile in einen Sessel sinken
lassen, wo er sich das Taschentuch mit in den Nacken gelegtem Kopf gegen die
Nase drückte. Er grunzte zustimmend.
Chihiro nahm Kohaku an der Hand und zog ihn nach oben in ihr Zimmer, wo sie ihre
Schulsachen aus der Schultasche holte. Sie setzte sich im Schneidersitz vor dem
Schreibtisch auf den Boden und bedeutete Kohaku sich neben sie zu setzten. ,In
den letzen Tagen hab ich gar keine Hausaufgaben gemacht, wegen dir', erklärte
sie in Gedanken und grinste ihn an, ,du hast mich total abgelenkt.'
,Ich bin schuld? Das tut mir aber leid. Ist das sehr wichtig, diese
Hausaufgaben?', wollte Kohaku wissen. Er rückte noch etwas dichter an Chihiro
heran und beugte sich über ihr Japanisch-Heft.
,Doch, das ist sehr wichtig. Wenn ich später mal auf einer guten Universität
studieren möchte, muss ich sehr gut in der Schule sein', erläuterte Chihiro in
Gedanken, ,und vor allem muss ich gut schreiben und lesen können. Jedes Jahr
lernen wir in der Schule gut 300 Schriftzeichen und deren Bedeutung. Ich kann
jetzt etwa 1500 Kanjis, brauche aber mindestens 1900, besser aber 3000 - 4000,
um alles richtig verstehen zu können.'
,Du kannst nur 1500 Schriftzeichen?' wunderte Kohaku sich, während Chihiro
begann ein neues Schriftzeichen in die Kästchen in ihrem Heft einzutragen.
Danach wiederholte sie es mehrfach und notierte dahinter die Kun- und On-Lesung
in Katakana und Hiragana. Staunend sah Kohaku dabei zu und wunderte sich, wie
mühsam für Chihiro das Erlernen der Schriftzeichen war.
,Wieso, 1500 ist doch normal, für mein Alter', gab Chihiro zurück, ,wie viele
kannst du denn?'
,Yubaba hat mir zu Beginn meiner Lehrzeit mehrere Wörterbücher gegeben. Sie
meinte, wenn ich wirklich richtig zaubern können wollte, müsste ich erst
einmal perfekt schreiben und lesen können. Deshalb sollte ich sie auswendig
lernen und das habe ich getan', meinte Kohaku, ,darin waren alle chinesischen
Schriftzeichen und die daraus abgeleiteten japanischen. Ich kenne sie alle.
Über 50000. Jetzt kann ich sogar Chinesisch lesen und schreiben, sprechen oder
verstehen kann ich es aber leider nicht.'
,Du, du hast das auswendig gelernt?!' staunte Chihiro mit großen Augen. ,Und du
hast noch nichts davon vergessen?'
,Chihiro, Götter vergessen nie etwas, was ich jemals gesehen, gehört oder
gelernt haben. Ausser natürlich, sie wollen er vergessen, oder weigern sich, zu
erinnern', erzählte Kohaku und wollte dann wissen: ,Aber fällt es denn allen
Menschen so schwer, zu lernen?'
,Lernen ist immer mühsam. Manche lernen leichter und andere schwerer. Es gibt
bestimmt auch ein paar, die 50000 Schriftzeichen beherrschen', sinnierte
Chihiro, ,und du vergisst wirklich nie etwas? Ich meine, weil du doch auch ein
Gott bist. Ich jedenfalls vergesse andauernd Sachen. Das ist bei uns Menschen
nunmal so. Das meiste, was wir gesehen, gehört oder gelernt haben, vergessen
wir irgendwann wieder, sonst würde uns irgendwann der Kopf platzen.'
,Das macht mich irgendwie traurig, dass ihr so viel wieder vergesst', dachte
Kohaku, ,aber warte Mal, ich habe eine Idee. Halt mal still.' Er drehte sich
etwas zu Chihiro und berührte sie mit der Hand an der Stirn, genau so, wie er
es damals in dem kleinen Garten vor dem Badehaus getan hatte, als er ihr den Weg
die Treppe hinunter zu Kamaji gezeigt hatte. Und dann ertrank Chihiro in einem
Strudel aus Schriftzeichen.
Akio Oginos Nasenbluten hatte sich mittlerweit beruhigt und er hatte sich auch
ein neues Hemd, ebenso wie eine frische Hose angezogen, denn die andere war
voller Tee- und Blutflecken gewesen. Außerdem hatte Yuko darauf bestanden, sie
sofort einzuweichen, da sonst die Flecken nicht mehr herausgingen. Ohne
wirkliches Vergnügen schaute er sich die Zusammenfassung des Sumo-Kampftages
an. Die ganze Zeit konnte er nur an die verrückte Kraft des Jungen denken und
daran, wie lächerlich er sich gemacht hatte.
Gut, der Junge war klein, hatte dünne Ärmchen und schmale Hände, aber wenn er
nun wirklich ein Drache war, konnte er sich kaum beschweren, dass er verloren
hatte. Was zum Henker, wollte dieser Drache nur von seiner Tochter. Diesen
ganzen Krempel mit der geteilten Lebenskraft mochte ja glauben wer wollte ...
Nein, das war ganz bestimmt nur ein Vorwand, um sich bei ihnen einzunisten,
dachte er. Aber Drachen sollten ja auch Glück bringen ....
Seine Frau saß auf dem Sofa gegenüber und blätterte mit verschlossener Mine,
unzufrieden in einem Modemagazin. Was die beiden Kinder, falls man den jungen
Drachen überhaupt als Kind bezeichnen konnte, wohl da oben machten? So langsam
machte Herr Ogino sich Sorgen, denn seit über einer Stunde hatte er nichts von
oben gehört. Wenn zwei Kinder zusammen waren, musste man doch ab- und zu etwas
von ihnen hören, oder nicht? Da er sich nicht traute, nachzuschauen, brütete
er schlecht gelaunt vor sich hin.
"Sag mal Schatz, es ist so ruhig. Was meinst du wohl, machen sie oben?" fing er
nach einer Weile zögerlich an.
"Hausaufgaben. Sie machen Hausaufgaben", antwortete sie, ohne aus dem
Modemagazin aufzuschauen. "Das hat Chihiro doch gesagt."
"Glaubst du das wirklich? Ich meine, vielleicht machen die beiden etwas ganz
anderes?" Unruhig rutschte er in seinem Sessel hin und her.
"Ist ja gut, Akio, ich geh ja schon nachschauen." Seelenruhig blätterte sie
noch eine Seite weiter, legte das Modemagazin auf den Tisch und machte sich dann
auf den Weg die Treppe hinauf. Die Tür zu Chihiros Zimmer stand weit offen und
fast dachte sie, niemand wäre darin, weil es so still war. Aber als sie hinein
schaute, sassen die Beiden vor dem Schreibtisch, auf dem Chihiros Schulsachen
ausgebreitet waren.
Doch wie sie da hockten war schon sehr eigenartig. Einander zugewandt saßen sie
da, Chihiro im Schneidersitz und Kohaku mit untergeschlagenen Beinen direkt vor
ihr, wobei er sie mit der rechten Hand an der Stirn berührte. Beide hatten die
Augen geschlossen, wobei Chihiro einen etwas verkniffenen, angestrengten
Ausdruck hatte, wohingegen Kohaku so entspannt aussah, als würde er gerade der
Erleuchtung zuteil.
Yuko Ogino beobachtete die Beiden noch einige Minuten, wobei sie ein
eigenartiges Kribbeln in der Magengrube hatte. Im tiefsten Inneren wünschte sie
sich, dort an Chihiros Stelle zu sitzen und zu erfahren, was der junge Drache
gerade mit ihrer Tochter anstellte. Schließlich riss sie sich von dem Anblick
los und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo sie sich wieder auf das Sofa setzte
und das Modemagazin erneut zur Hand nahm.
"Und, was ist?" entfuhr es Akio Ogino, der es vor Spannung kaum noch aushielt.
"Sie machen Hausaufgaben, Schatz", schnappte Yuko Ogino, "was sonst?"
Nur wenige Augenblicke nachdem Kohaku begonnen hatte, sie mit Schriftzeichen zu
überfluten, hörte es auch schon wieder auf und mit einem Seufzer sackte
Chihiro nach hinten. Ihr war total schwindelig und leichte Kopfschmerzen hatte
sie auch.
,Was ...', dachte sie, wobei ihr plötzlich der Schädel zu explodieren schien.
Instinktiv stieg sie auf verbale Kommunikation um. "Was hast du mit mir
gemacht?" verlangte sie zu wissen. Das war schon viel besser so. Reden tat
längst nicht so weh, wie denken.
"Ich hab alle Schriftzeichen, die ich kenne, in dich hinein gespiegelt",
flüsterte Kohaku sanft, "wenn es funktioniert hat, kennst du jetzt auch alle
Schriftzeichen, die ich kenne."
Chihiro mochte das so einfach nicht glauben, denn bis auf die Kopfschmerzen
fühlte sie sich genauso, wie vorher. "Du meinst, ich kenne jetzt auch über
50000 Schriftzeichen?" Kohaku nickte.
Chihiro versuchte sich irgendwelche Schriftzeichen vorzustellen, die sie
eigentlich noch nicht kannte, aber es gelang ihr nicht. Es waren anscheinend nur
die 1500 da, die sie auch schon vorher gekannt hatte. Die aber ganz klar und
deutlich. Dann stutzte sie. Diese 1500 Schriftzeichen standen so klar vor ihrem
geistigen Auge, dass sie diese problemlos in genau der Reihenfolge hätte
niederschreiben können, in der sie sie erlernt hatte. Und auf einmal begriff
sie das System, nach dem die Schriftzeichen zusammengesetzt waren.
Etwas war anders als zuvor, aber noch konnte sie nicht genau sagen, was.
"Kohaku, es sind aber nur die Schriftzeichen da, die ich bereits kenne", stellte
sie zögerlich fest. "Woher soll ich wissen, ob ich jetzt all die anderen
Zeichen kann?"
"Schau nur in dein Schulbuch. Schau dir die Zeichen an, die du noch lernen
sollst", gab er leise zurück und schlug das Buch im Verzeichnis der Zeichen am
Anhang auf.
Chihiro erblickte die Schriftzeichen, die sie noch zu lernen hatte, und es war,
als würde sie sich nur an bereits gelerntes erinnern. So ein: Ach ja, das
Zeichen gab es ja auch noch. Wie konnte ich das nur vergessen? Sofort waren die
neuen Schriftzeichen präsent und sie wusste sowohl, was sie bedeuteten, als
auch, wie man sie schreiben musste.
Augenblicklich waren ihre Kopfschmerzen vergessen und aufgeregt sprang sie auf
und holte ein Buch, das sie bisher noch nicht hatte lesen können, weil sie
einfach zu wenige Schriftzeichen kannte. Sie schlug eine x-beliebige Seite auf
und konnte sie problemlos herunterlesen. Mehrere dutzend Schriftzeichen
wechselten dabei von ihrem passiven Sprachschatz in den aktiven.
"Kohaku, das ist ja so irre", jauchzte sie begeistert, "sobald ich ein
unbekanntes Zeichen lese, erinnere ich mich und dann kenne ich es, so als hätte
ich es schon immer gekannt. Glaubst du, es funktioniert auch noch morgen?" Sie
zog ihn hoch und begann ausgelassen um ihn herum zu hüpfen, während sie ihn an
den Händen haltend um die eigene Achse drehte.
"Ja bestimmt, Chihiro", erwiderte Kohaku und musste das erste mal seit vielen
Jahren wieder lachen, "jetzt wist du nie wieder ein Schriftzeichen lernen
müssen."
Nachdem sie eine Weile getobt hatten, stand plötzlich Chihiros Mutter im
Türrahmen. Sie lächelte ebenfalls, schaute dann jedoch demonstrativ auf ihre
Uhr. "Chihiro, du solltest so langsam ins Bett gehen. Denk daran, morgen musst
du auf jeden Fall wieder in die Schule."
"Ins Bett, jetzt schon?", protestierte Chihiro, "Wir haben doch höchstens kurz
nach Neun" Hilfe suchend sah sie sich nach ihrem Wecker auf dem Regal neben dem
Fenster um und erschrak. Er zeigte 23:08 Uhr abends, was bedeutete, dass der
Schriftzeichendownload von Kohaku nicht nur einige Augenblicke gedauert hatte,
wie es ihr Eindruck gewesen war, sondern mehr als zwei Stunden.
"Ja, jetzt schon. Und Kohaku wird auch in sein Zimmer gehen und dort
übernachten. Was sollen denn die Leute von uns denken, wenn wir wildfremde
Jungen bei unserer Tochter schlafen lassen." Ihr Tonfall ließ keinen
Widerspruch zu.
Chihiro und ihre Mutter ging mit Kohaku in das Gästezimmer herüber, welches
von nun an das Zimmer des jungen Drachen sein sollte. Sie zeigten ihm, wie das
Schlafen in einem Bett westlichen Zuschnitts gedacht war und danach kehrte
Chihiro allein in ihr Zimmer zurück, wo sie ihren Futon auf dem Boden
ausbreitete.
Gegen Mitternacht kam Chihiros Mutter noch einmal nach oben, um nach dem Rechten
zu sehen. Es war vollkommen ruhig und beide schliefen artig in getrennten
Zimmern und Betten, so, wie sich das gehörte. Was Akio sich nur immer
vorstellte?
Doch Kohaku konnte unter der Bettdecke keineswegs zur Ruhe gelangen. Wieder für
sich alleine kamen die Gedanken an das Elend der Frösche im Bergwerk hoch und
er fühlte sich schuldig, weil er hier jetzt so Glücklich bei Chihiro war. Was
wohl Torooru gerade machte? Lange konnte die Sache im Bergwerk nicht mehr gut
gehen und irgendwann musste Yubaba einfach entdecken, was dort los war.
Bei diesem Gedanken fühlte Kohaku sich sehr elend und wäre am liebsten in
seiner vertrauten Kiste verschwunden, an deren Totenstille und klaustrophobische
Enge er sich so lange gewöhnt hatte. Er musste sie einfach aus dem Bergwerk
befreien, sonst würde Yubaba am Ende noch alle umbringen und mit dieser Schuld
würde er bis ans Ende leben müssen. Er würde es bald tun müssen.
Doch auch Chihiro konnte nicht einschlafen. Die ganze Zeit überlegte sie, was
Kohaku gerade machte und jedes Mal, wenn sie wegdämmerte, schreckte sie wieder
hoch, mit einem Wirbel aus Schriftzeichen in ihrem Kopf. Kurz nach Mitternacht
bemerkte sie, wie ihre Mutter nach dem Rechten sah, wobei sie so tat, als wäre
gar nicht da.
Chihiro ließ sich nichts weiter anmerken und nach einer weiten Stunde, fühlte
sie plötzlich, wie Kohaku sich neben sie setzte. Er war dabei viel leiser
gewesen, als ihre Mutter zuvor. So leise, dass sie ihn nur deswegen bemerkt
hatte, weil das Gefühl seiner Nähe auf einmal viel stärker geworden war.
Irgendwann war Kohaku innerlich so unruhig geworden, dass er es nicht mehr
aushielt. Er musste Chihiro einfach erzählen, dass Zeniba ihnen Unterricht im
Zaubern geben wollte. Dann würde er wieder in die Geisterwelt kommen und mit
Zeniba darüber reden können, wie man Yubaba stoppen konnte. Zudem wollte die
alte Hexe mit diesem Phenaktit-Stein irgendwie dafür sorgen, dass er nicht
immer in der Nähe von Chihiro bleiben musste.
Gleichwohl war Chihiro das Wichtigste für ihn. Er durfte sie auf gar keinen
Fall in Gefahr bringen, bei dem Versuch, die Frösche und Torooru aus dem
Bergwerk zu befreien.
Vorsichtig berührte er das Mädchen an der Schulter. ,Chihiro, ich bin es',
dachte er zu ihr hinunter.
,Hallo Kohaku', gab Chihiro in Gedanken zurück, ,Mama hat doch gesagt, dass du
in deinem Zimmer schlafen sollst.'
,Wenn du willst, gehe ich wieder zurück', antwortete er.
,Nein, ich möchte lieber, dass du hier bleibst', gab sie nach, ,ich kann
nämlich nicht schlafen.'
,Ich kann auch nicht schlafen', dachte Kohaku. ,Die ganze Zeit wollte ich dir
schon sagen, dass Zeniba uns beide eingeladen hat. Sie ist bereit uns beiden das
Zaubern beizubringen.'
"Oma Zeniba?!", entfuhr es Chihiro und als ihr auffiel, dass sie laut geredet
hatte dachte sie weiter: ,Wir gehen sie besuchen, ja? Da freue ich mich aber
schon. Und sie will uns beiden das Zaubern beibringen? Ich dachte, du kannst
schon zaubern.'
,Ach Chihiro. Ich war zwar der Lehrling von Yubaba, aber alle was ich kann, habe
ich mir nur bei ihr abgeschaut. Beigebracht hat sie mir fast Nichts, jedenfalls
Nichts über Magie', erwiderte Kohaku, ,Kochbücher habe ich auswendig gelernt,
Bücher über Kräuter, Bücher über Viehzucht und über Landwirtschaft. Um die
Gäste unterhalten zu können, musste ich Gedichte lernen, Shamisen spielen und
sogar Tanzen wie eine Geiko. Selbst Buchhaltung habe ich von Aniyaku gelernt.
Jetzt weiß ich alles darüber, wie man erfolgreich ein Badehaus leitet, aber in
Zauberei wurde ich nicht ausgebildet.'
Chihiro drehte sich herum und blickte zu Kohaku auf. Gerade so konnte sie in der
Dunkelheit seine Umrisse erkennen. ,Für so gemein habe ich Yubaba gar nicht
gehalten. Als ich damals das Rätsel mit den Schweinen gelöst hatte - bis heute
weiß ich nicht, woher ich es wusste - fing ich sogar ein wenig an, sie zu
mögen. Aber ich glaube, sie hat wohl zu sehr an Zeniba erinnert.' Sie strich
ihm über die Haare.
,Weißt du Chihiro. So wichtig wie damals ist mir das Zaubern heute nicht mehr.
Ich war damals sehr wütend auf die Menschen und wollte die Zauberkraft
benutzen, um mich zu rächen und meinen Fluss zurück zu erlangen', meinte
Kohaku, ,aber jetzt habe ich ja dich. Du bist jetzt mein Fluss und ein Mensch
bist du auch. Wozu sollte ich da noch ein mächtiger Zauberer werden wollen?' Um
Yubaba zu besiegen und die Leute aus dem Bergwerk zu befreien, fügte er noch
hinzu, ohne diesen zu Chihiro dringen zu lassen.
,Ich glaube aber auch, du solltest lernen, wie man mit den magischen
Fähigkeiten umgeht, die du mit mir teilst. Sonst machst du irgendwann aus
Unachtsamkeit noch etwas Schlimmes, weil du deine Magie nicht beherrscht',
fügte Kohaku hinzu, ,und wenn ich noch etwas hinzulerne, kann das auch nicht
schaden.'
,Ja! Dann gehen wir beide zu Zeniba und lernen Zaubern', jubelte Chihiro in
Gedanken, ,morgen zeige ich dir, was ich jetzt schon Zaubern kann und am
Wochenende gehen wir zu Zeniba.'
,Wochenende? Was ist denn ein Wochenende? Und wie lange ist das noch hin?',
wunderte Kohaku sich. Eigentlich wollte er möglichst bald zu Zeniba.
,Du weißt nicht, was das Wochenende ist?' Chihiro war sehr erstaunt, aber dann
sagte sie sich, dass er ja die meiste Zeit seines Lebens in der Geisterwelt
verbracht hatte und sicher Vieles über die Menschenwelt nicht wusste. ,Das
Wochenende ist am Samstag und Sonntag. Dann haben alle Leute frei, außer denen,
die arbeiten müssen. Mama muss dann aber trotzdem in den Konbini und Papa macht
seine Abrechnungen und so. Also eigentlich müssen ziemlich viele Leute am
Wochenende arbeiten ....'
Chihiro stutzte. Irgendwie schien ihre Erklärung nicht so ganz stichhaltig zu
sein. ,Jedenfalls ist am Wochenende keine Schule und ich kann tun und lassen,
was ich will ... außer ich muss Hausaufgaben machen oder Lernen oder Mama im
Haushalt helfen.' Sie musste ganz unbedingt einmal genau darüber nachdenken,
warum das Wochenende eigentlich das Wochenende war, beschloss sie innerlich.
,Morgen ist jedenfalls Freitag und danach ist Wochenende und dann habe ich keine
Schule. Aber weil ich morgen zur Schule muss, sollten wir jetzt schlafen. Sonst
bin ich den ganzen Tag müde und kann nicht aufpassen. Legst du dich auch hin,
ja? Wenn du da so sitzt, dann muss ich immer daran denken, wie du da so sitzt
und ... und ...' So langsam fing sie an Blödsinn zu reden und dann merkte sie
auch noch, wie sie plötzlich gähnen musste. Deshalb verstummte sie.
Kohaku spürte die starke Müdigkeit, die von Chihiro ausstrahlte und
allmählich auch von ihm selbst Besitz ergriff. Ihre Nähe beruhigte ihn und so
streckte er sich neben Chihiro aus und ließ sich einfach treiben, wie seit so
vielen Jahren nicht mehr, seit er seinen Fluss verloren hatte.
Chihiro spürte das, kuschelte sich unwillkürlich an ihn ran und schlief
praktisch sofort ein. Wie eine Welle schwappte das Schlafbedürfnis von Chihiro
auch zu Kohaku hinüber. Fast erschrocken rollte er ein Stück zur Seite und in
dem Moment, in dem er sie nicht mehr berührte, verschwand seine
Schlaftrunkenheit und wich einer leichten Müdigkeit.
Einige Momente dachte er über diesen Effekt nach, bevor er wieder
zurückrollte, seinen Arm um Chihiro legte und sich fallen lies. Kaum berührte
er sie, wurde der Schlaf augenblicklich übermächtig und Kohaku schlief ein.
Nach weniger als zwei Stunden wachte Kohaku erfrischt wieder auf. Chihiro hatte
sich neben ihm zusammengerollt und seinen linken Arm umklammert. Vorsichtig und
ohne das Mädchen zu wecken, versuchte er sich von ihr zu lösen. Nach einer
Weile gelang es ihm auch, so dass er sich aufsetzen und die schlafende Chihiro
voller Glück betrachten konnte.
Im Gegensatz zu einem Menschen konnte er in der fast vollkommenen Dunkelheit des
Zimmers noch immer ausreichend sehen. Den ganzen Rest der Nacht hockte er neben
dem Mädchen, bewachte und betrachtete sie. Lange, unendlich lange hatte er sich
nicht mehr so Wohl gefühlt wie jetzt, und doch musste er immer wieder an das
Bergwerk, die gefangenen Froschmänner und Torooru denken.
Als er kurz vor Morgengrauen den Wecker von Chihiros Eltern klingeln hörte,
kehrte er ebenso leise, wie er gekommen war, in sein Zimmer zurück, wo er sich
in das Bett legte, als ob er dort geschlafen hätte. Dort wartete er, bist
Chihiros Mutter kam, um nach dem Rechten zu sehen und sie beide aufzuwecken.
Kapitel 18: Zenibas Plan
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Zenibas Plan
"Ihr wollt was?" brüllte Herr Ogino und sprang vom Küchenstuhl hoch. Frau
Ogino schaute etwas irritiert erst zu ihrer Tochter und dann zu Kohaku hinüber,
der Chihiro gegenüber sitzend, unbeteiligt wirkte. Sie waren gerade mit dem
gemeinsamen Abendessen fertig geworden, als Chihiro etwas kleinlaut ihre
Absichten für das Wochenende ankündigte. Zusammen mit Kohaku wollte sie zu so
einer Hexe, einer gewissen Zeniba, um dort Zauberunterricht zu nehmen.
Dazu beabsichtigten sie jeweils die Nacht von Freitag auf Samstag, sowie von
Samstag auf Sonntag in einem Sumpf verbringen, den sie irgendwie über den Weg
durch den Wald erreichen wollten. Jedenfalls erschien Yuko Ogino die ganze
Angelegenheit nicht geheuer.
"Das kommt überhaupt nicht in Frage!" polterte Akio Ogino weiter, die Arme in
die Hüften gestemmt. "Ihr werdet mal schön hier bleiben."
"Aber Papa, wir müssen doch zu Zeniba. Sie hat gesagt, sie könnte mir und
Kohaku helfen, damit er sich nicht immer auflöst", versuchte Chihiro zu
argumentieren, "Und außerdem müssen wir beide endlich richtig Zaubern
lernen!"
"Pah, zaubern. Dass ich nicht lache! Als ob dieser angebliche Drache da", er
zeigte auf Kohaku, "irgendwelche Zauberkräfte hätte. Er hat gestern ja nicht
mal mein Nasenbluten stoppen können. Und beim Armdrücken hat er bestimmt auch
getrickst. Na los, zeig uns doch deine Zauberkräfte, du Gott, du. ... duu
...."
Kohaku schaute etwas beschämt auf seinen Teller, Chihiro sass ihm gegenüber
auf der anderen Seite des Tisches und solange er keinen direkten Körperkontakt
zu Chihiro hatte, konnte er seine magischen Fähigkeiten in der Menschenwelt
nicht nutzen.
"Papa, du bist gemein zu ihm. Er kann doch jetzt nicht zaubern und das weißt du
ganz genau", versuchte sie ihn zu verteidigen.
"Er kann hier nicht zaubern, er kann jetzt nicht zaubern, er kann überhaupt
nicht zaubern!" echoffierte sich Herr Ogino weiterhin, "So etwas wie
Zauberkräfte gibt es nicht und darum braucht ihr auch keinen Zauberunterricht
und bleibt Zuhause. Basta!"
Chihiro war mittlerweile ziemlich angefressen. "Kohaku kann vielleicht gerade
nicht zaubern, aber ich!", rief sie und machte im Affekt eine Geste, als wollte
sie einen Ball hoch werfen. Mit einem Ruck wurde Papa Ogino aus seinem Stuhl
hochgerissen und klatschte mit einem dumpfen Aufprall gegen die Decke, als wenn
er von einem Trampolin emporgeschleudert worden wäre.
Hilflos ruderte er mit seinen Gliedmaßen, als wäre er eine Fliege in einem
Spinnennetz, denn genau so fühlte er sich auch. Es war keineswegs so, als
hätte sich die umgekehrt und würde ihn nach oben ziehen, sondern eher, als
würde er mit dem Bauch an der Decke kleben, während seine Arme und Beine zu
Boden gezogen wurden.
Erschocken quiekte Chihiro und schlug ihre Hände vor den Mund, denn eigentlich
hatte sie ihren Vater nur kurz anlupfen wollen, um ihn zu überzeugen, dass sie
doch Zauberkräfte hatte.
"Lasst mich sofort runter", brüllte ihr Vater aufgebracht, während er
versuchte, sich mit den Armen nach unten stemmen. Unterbewusst gehorchte Chihiro
augenblicklich, sodass sich der Zauber löste. Sofort setzte Kohaku, der den
Ernst der Lage begriffen hatte, geschmeidig und ansatzlos über den Tisch
hinweg, wo er Chihiros Vater mit beiden Armen auffing.
"Autsch!" grunzte der. "Musst du denn so grob zupacken, Junge? Das tut doch
weh!"
Vorsichtig stelle Kohaku den korpulenten Mann wieder auf die Beine und verbeugte
sich anschließend vor ihm. "Verzeihen sie bitte, Herr Ogino, aber hätte ich
weniger stark zugefasst, hätte ich sie fallen lassen", rechtfertigte er sich.
"Ja, ist ja schon gut. Danke, dass du mich aufgefangen hast", grummelte Herr
Ogino nach kurzem Zögern. Mittlerweile hatte er bemerkt, dass er ohne Kohakus
Eingreifen auf seinen Stuhl gekracht wäre, was sicherlich ernstere Folgen
gehabt hätte, als die mutmaßliche Rippenquetschung, die er jetzt hatte.
"Aber du, du machst, dass du sofort nach oben kommst! Ich will dich heute Abend
nicht mehr sehen!" Dabei deutete er mit durchgestrecktem Arm direkt auf Chihiro,
die sich am liebsten, wie Kohaku das so gut konnte, in Luft aufgelöst hätte.
"Ist gut, Papa, ich geh' ja schon", nuschelte sie und schlich mit hängendem
Kopf aus der Küche. Kohaku kam ihr augenblicklich nach, wurde aber von Papa
Ogino an der Schulter gepackt. "Dich habe ich nicht nach oben geschickt. Du
kannst hier bleiben", meinte er.
"Verzeihen sie bitte, Herr Ogino, aber ich gehöre zu Chihiro und möchte bei
ihr bleiben", entgegnete der junge Gott und blickte Akio Ogino ernsthaft an,
"außerdem ist das eben passiert, weil Chihiro mit eben ihren Zauberkräften
nicht richtig umgehen kann. Sie sollte es lernen, sonst könnten noch viel
schlimmere Dinge passieren, als eben."
Damit entzog er sich Herrn Oginos Griff und folgte Chihiro in ihr Zimmer.
"Akio, du hast dich mal wieder unmöglich benommen", begann Yuko Ogino erbost,
nachdem sie Kohakus Abgang abgewartet hatte.
"Ich soll mich unmöglich benommen haben? Und was sagst du zu deiner Tochter und
diesem Möchtegern-Drachen, der sich bei uns eingeschlichen hat?" explodierte
Chihiros Vater. "Jetzt will der auch noch meine Tochter nachts in den Wald zu
einer Hexe entführen, die dort wer weiß was für dämonische Experimente
anstellt. Das kommt überhaupt nicht in die Tüte!"
"Vielleicht solltest du dich erst einmal ein wenig ausruhen, Akio. Gleich fängt
Sumo im Fernsehen an und ich werde dir Reiswein warm machen", versuchte Yuko
Ogino ihn abzulenken, damit sein Ärger verrauchte. Sie wusste, dass mit ihrem
Mann in diesem aufgebrachten Zustand nicht zu diskutieren war und wie zur
Bestätigung dampfte er, ohne ein weiteres Wort zu sagen, missgelaunt ins
Wohnzimmer ab, wobei er, vor sich hingrummelnd, seinen rechten Rippenansatz
betastete.
"O, Kohaku, wie konnte mit das nur passieren. Ich wollte doch nur, ich wollte
..." Sie drückte Kohaku an sich und schluchzte: "Fast hätte ich meinen Papa
umgebracht."
"Nein, Chihiro. Dein Vater ist ein kräftiger Mann und ein Sturz von der Decke
hätte ihn ganz bestimmt nicht umgebracht", versuchte er Chihiro zu beruhigen,
"aber er hätte sich durchaus etwas brechen können."
"Etwas brechen? Ja, glaubst du? Das ist doch fast genauso schlimm. Nein, am
besten ist es, wenn ich nie, nie wieder Magie verwende. Dann kann sowas auch
nicht mehr passieren", erklärte Chihiro daraufhin entschlossen, wobei sie
Kohaku direkt in seine grünen Augen blickte.
"Chihiro, wenn du nicht lernst, mit deine Zauberkräfte zu benutzen, dann werden
sie irgendwann aus dir hervorbrechen", entgegnete Kohaku sanft, "und du lernst
sie nur zu beherrschen, indem du fleißig übst. Das ist so, wie bei allen
Dingen, weißt du. Wie beim Laufenlernen, wie beim Schreiben- und Lesenlernen."
"Aber Kohaku, wenn dabei doch manchmal so schlimme Sachen passieren... Nein, ich
glaube, du hast Recht. Manami hat auch einmal so etwas ähnliches über das
Zaubern gesagt", meinte sie daraufhin, drehte ihren Kopf weg und ließ Kohaku
wieder los.
"Wer ist denn Manami?" wollte er daraufhin wissen. "Und was weiß sie über
Magie?"
"Manami ist ...sie ist eine Freundin von mir. Ich werde sie dir eines Tages mal
vorstellen. Du wirst sie bestimmt sehr mögen", antwortete Chihiro, "wenn du
magst, können wir sie morgen schon besuchen. Sie wohnt nicht weit von hier und
ich habe sie schon seit ein paar Wochen nicht mehr besucht. Und was sie über
Zauberei weiß ... das wirst du ja sehen, wenn du sie kennen lernst, hihi."
"Aber noch viel wichtiger, als deine Freundin zu besuchen ist, dass wir zu
Zeniba gehen. Sie hat nämlich gesagt, sie hätte eine Lösung für unsere
Schwierigkeiten. Dann löse ich mich nicht mehr auf, wenn wir uns zu weit
voneinander entfernt haben und du wirst nicht mehr fast ohnmächtig, wenn ich
wieder eine Gestalt annehme", erwiderte Kohaku. "außerdem muss ich noch etwas
sehr Wichtiges mit ihr besprechen, etwas, das Yubaba angeht."
"Also gut. Ich möchte Oma Zeniba ja auch wiedersehen. Sollen wir nachher
einfach abhauen und so zu ihr gehen?", schlug Chihiro dann kichernd vor, "Wenn
wir uns heimlich fortschleichen, nachdem die eingeschlafen sind, dann werden
Mama und Papa bestimmt nichts merken."
"Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist." Kohaku schüttelte den Kopf.
"Vielleicht merken sie es, vielleicht auch nicht, aber auf jeden Fall haben wir
dann ihr Vertrauen missbraucht. Dein Vater ist ohnehin nicht besonders
glücklich mit meiner Anwesenheit hier, aber ich bin jetzt Gast in eurem Haus
und muss mit deinen Eltern auskommen. Wir dürfen sie nicht wieder vor
vollendete Tatsachen stellen, sondern müssen erreichen, dass sie uns vertrauen.
Dann erlauben sie uns vielleicht auch Dinge zu tun, auch wenn sie sich Sorgen um
uns machen."
"Ach Kohaku, ich glaube zwar, dass du Recht hast, aber du klingst jetzt so
furchtbar erwachsen, als wärst du schon 100 Jahre alt. Wenn wir nicht zu Zeniba
gehen, was machen wir dann" fragte Chihiro, "sollen wir vielleicht etwas
spielen?"
Das gab Kohaku einen Stich ins Herz, denn zuletzt hatte er am Ufer seines
Flusses mit den Kindern gespielt. Das war jetzt acht Jahre her. "Doch Chihiro,
ich glaube, ich möchte etwas spielen. Was sollen wir denn spielen?"
"Ich, ich weiß nicht genau. Was spielen Drachen denn so?" wollte sie wissen.
"Ich weiß nicht, was Drachen so spielen. Ich kenne doch nur ein paar Drachen,
die Gast im Badehaus waren. So richtig persönlich kenne ich keinen anderen
Drachen und vor allem auch keinen in meinem Alter", meinte Kohaku, "Als ich
klein war, habe ich häufig mit den Kindern gespielt, die an meinem Ufer
badeten. Wir haben zum Beispiel Fangen gespielt, aber hier im Zimmer macht das
nicht viel Sinn."
"Du hast Fangen gespielt? Da wär ich ja nie drauf gekommen. Aber ich glaube,
ich weiß was, dass wir hier drinnen spielen können. Wir spielen Ohajiki. Das
wird mit kleinen flachen Murmeln gemacht", entschied Chihiro, lief zum Schrank
und kramte eine kleine, bemalte alte Pappschachtel heraus. "Das habe ich zuletzt
mit Risa gespielt, meiner Freundin aus Tokyo. Hier komm, wir müssen den
Schreibtisch etwas ins Zimmer ziehen, damit wir einander gegenüber sitzen
können."
Kurz darauf hatte Chihiro die auf den Tisch gekippten Murmeln zwischen sich und
Kohaku aufgeteilt. Jeder von ihnen musste nun mit den Fingern seine Murmeln auf
die des anderen schnippen, die man behalten durfte, wenn man sie traf. Wer am
Ende die meisten Murmeln hatte, war der Gewinner.
Akio Ogino hatte dem Sake gut zugesprochen, was zu einer beträchtlichen
Verbesserung seiner Laune führte, die noch dadurch verstärkt wurde, weil Ozeki
Kaio diesem mongolischen Möchtegern Yokozuna Asashoryu, diesem Emporkömmling
und Betrüger*, gezeigt hatte, in welchem Land Sumo ursprünglich erfunden
worden war. Im nächsten Turnier würde Kaio dann bestimmt wieder gewinnen und
dann gäbe es endlich wieder einen japanischen Yokozuna, hoffte er mit großer
Zuversicht.
*Asashoryu war in einem Kampf disqualifiziert worden, weil er seinem
mongolischen Gegner Kyokushuzan, den er seit der Jugendzeit nicht leiden konnte,
an den Haaren zu Boden gezogen hatte. Das ist strengstens verboten und hat zu
einem beispiellosen Skandal geführt, denn noch nie war ein Yokozuna
disqualifiziert worden.
Yuko Ogino hatte derweil über das Anliegen der Kinder nachgedacht. Sie war zu
dem Schluss gekommen, dass Kohaku vielleicht Recht hatte und jemand Chihiro das
Zaubern richtig beibringen musste. Dabei musste sie daran denken, wie sie ihre
Tochter einmal auf dem Wasser in der Badewanne schlafend vorgefunden hatte, was
sie damals an ihrem Verstand hatte zweifeln lassen, oder was Chihiro erst vor
kurzem in der Küche mit dem Wasser gemacht hatte.
Nur hatte sie eher daran gedacht, dass Kohaku ihr die Zauberei beibringen
könnte und war etwas enttäuscht zu hören, dass er auch nicht richtig zaubern
konnte. Wenn da aber eine erfahrene Hexe war, der Kohaku und Chihiro vertrauten,
war es vielleicht nicht das schlechteste, dieser das Feld zu überlassen.
Insgesamt ertappte sie sich dabei, dass sie jungen Gott im Bezug auf ihre
Tochter am liebsten alles erlaubt hätte. Wider aller Vernunft hatte sie
vollkommenes Vertrauen zu dem Gott gefasst und obwohl ihr dass bewusst war,
versucht sie dieses Gefühl rational zu untermauern.
ließ sie Chihiro im Sommer nicht auch alleine mit Ayaka und Ichiyo an diesem
Waldsee baden gehen, wo diese geheimnisvolle Frau Manami lebte? War das wirklich
weniger gefährlich als Chihiro zusammen mit einem Drachen nachts eine Hexe
besuchen zu lassen? Eigentlich war das doch ganz schön leichtsinnig, die Kinder
alleine in den Wald zu lassen, überlegte sie zweifelnd Aber passiert war doch
auch nie etwas.
Vielleicht gab es ja dort auch irgendwelche Drachen, Götter oder Dämonen, aber
waren nicht die schlimmsten Monster, denen die Kinder begegnen konnten, andere
Menschen, Verrückte, Perverse? Mit denen würde Kohaku leicht fertig werden,
wie sie gestern beim Armdrücken gesehen hatte. Mit welcher Leichtigkeit der
Junge gerade vorhin ihren Akio aufgefangen hatte. War eine Hexe dann wirklich so
etwas Schlimmes. Wann hatte sie schließlich zuletzt von einer Hexe gehört, die
ein Kind gefressen hatte?
Kohaku und Chihiro schienen dieser Hexe zu vertrauen, also warum sollte sie sich
dann Sorgen machen? "Äh, Akio? Meinst du nicht auch, dass du vorhin etwas zu
heftig reagiert hast?" fragte sie unvermittelt.
"Wie, was? Zu heftig. Was meinst du, Schatz", entgegnete Papa Ogino leicht
verwirrt. "Sag mal, ist noch etwas Sake da?"
"Sake? Ach, die Kanne ist doch noch halb voll." Sie füllte seine Schale nach.
"Halb voll, hmmmm", brummte Herr Ogino zufrieden, "ich vertrag' wohl nicht mehr
so viel wie früher, was, hahaha?"
"Aber Schatz, natürlich verträgst du noch so viel wie früher, wenn nicht
sogar noch mehr!" schmeichelte Yuko Ogino fast mechanisch. Im Saufen musste
jeder Mann einfach der Beste sein, so lautete eine alte Regel, die sie noch an
der Universität gelernt hatte! Dann fühlten die Kerle sich groß und stark und
ließen sich leichter rumkriegen. Sie füllte also seine Schale erneut und Akio
kippte den Inhalt zufrieden mit einem Schluck herunter.
"Schatz, was meinst du? Sollten wir Chihiro und Kohaku nicht doch erlauben,
diese Zeniba besuchen zu lassen?" schlug sie dann scheinbar zusammenhanglos
vor.
"Ach dieser blöde Drache soll doch machen, was er will", ranzte Herr Ogino
daraufhin unwirsch, ohne wirklich zugehört zu haben, "Hauptsache, er vermiest
mir nicht meinen verdienten Feierabend! Ist noch was Sake da?" Damit wandte er
sich wieder dem Fernseher zu.
Yuko Ogino schüttete nach und frohlockte innerlich. Ihr Mann hatte nicht Nein
gesagt, was bedeutete, dass Chihiro und ihr Drache heute Nacht ihr Vorhaben
umsetzen konnten. Fast wäre sie sofort nach oben gelaufen, um die frohe sofort
Nachricht weiter zu leiten, doch dann besann sie sich und blieb noch ein wenig
bei ihrem Mann.
So richtige Freude bereitete Chihiro das Ohajiki-Spiel mit Kohaku nicht. Die
ersten beiden Spiele gewann er mit Leichtigkeit und danach entschied auf einmal
sie dann jedes Spiel ganz knapp für sich, so dass sich ihr der Verdacht
aufdrängte, dass Kohaku sie gewinnen ließ. Immer wieder zeigte er eine ganz
verblüffende Treffgenauigkeit, um dann wieder einfachste Murmeln im
entscheidenden Moment gerade so daneben zu schnippen.
Darüber hinaus war das Spiel schlicht nicht mehr so lustig, wie sie es in ihrer
Erinnerung hatte. Wie sehr hatten sie und Risa damals oft gelacht. "Lass uns
doch etwas anderes spielen", schlug sie nach einer Weile vor.
"Warum? Es macht mir gerade so viel Spaß", meinte Kohaku lächelnd.
"Es macht dir Spaß, mich immer gewinnen zu lassen?" wunderte Chihiro sich.
"Du hast recht. Es macht mir Spaß, bei dir zu sein. Ob ich gewinne oder
verliere ist doch völlig egal", antwortete Kohaku "Wenn du glücklich bist,
dann bin ich auch glücklich."
"Aber Kohaku, deshalb musst du doch nicht absichtlich verlieren. Ich weiß doch,
dass du ein Gott bist und wahrscheinlich alles besser kannst, als ich", sagte
Chihiro, "dann brauchst du dich vor mir auch nicht zu verstellen."
"Ich bin vielleicht ein Gott, aber ich möchte nicht besser sein, als irgendwer
sonst. Ich tue immer nur irgendjemandem weh, wenn ich mich nicht zurückhalte",
gab Kohaku nachdenklich zurück. Das Lächeln war aus seinem Gesicht
verschwunden. "Schon früher musste ich vorsichtig sein, wenn ich mit
Menschenkindern zusammen spielen wollte, weil ich ihnen sonst ganz leicht weh
getan habe. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin mit meinen Kräften ein
Monster und sollte besser alleine bleiben. Aber ich muss bei dir sein."
"Kohaku. Du bist doch kein Monster. Wie kommst du denn auf die Idee. Ich glaube
eher, du hast ein ähnliches Problem, wie ich. Ich kann mit meinen
Zauberkräften nicht richtig umgehen und bin deshalb vielleicht eine Gefahr für
andere. Du kannst nicht mit anderen Leuten umgehen, weil du zu wenig Übung
darin hast, und dann passieren immer Sachen, mit denen du nicht gerechnet
hast."
"Hallo, ihr beiden. Na, was macht ihr denn gerade", sagte Chihiros Mutter, die
im Türrahmen aufgetaucht war.
"Wie haben gespielt. Ohajiki", entfuhr es Chihiro, die dabei erschrocken
herumfuhr. "Mama, musst du dich denn so anschleichen. Und wie geht es Papa?"
"Papa geht es gut. Er ist gerade in seinem Sessel eingeschlafen", antwortete
diese lächelnd, wobei sie Kohaku anblickte. "Ohajiki? Seid ihr dafür nicht ein
wenig zu alt? Aber ist ja auch egal. Wenn ihr immer noch wollt, könnt ihr jetzt
diese Zeniba besuchen gehen. Es ist wohl am besten, wenn ihr die ganze Nacht
dort verbringt und erst morgen Früh wiederkommt."
"Juhu. Dürfen wir wirklich?" Chihiro sprang auf und fiel ihrer Mutter um den
Hals. "Und Papa ist schon eingeschlafen? Wir haben doch gerade mal Neun Uhr. Hat
er denn nichts mehr dagegen?"
"Hey, nicht so stürmisch, Schatz", rief Yuko Ogino, "was bist du auf einmal
schwer geworden." Chihiro ließ ihre Mutter los. "Dein Vater war sehr müde, er
hatte eine anstrengende Woche. Ich habe ihn gefragt und er war zwar nicht direkt
einverstanden, aber verboten hat er es auch nicht. Nun macht euch schon fertig,
sonst wird es noch später."
Eine Viertelstunde später waren Kohaku und Chihiro auf dem Weg zum Tunnel durch
den Wald. Es war für die Jahreszeit, Mitte Oktober, bereits sehr kühl und es
nieselte vor sich hin. Im Wald selbst war es Totenstill. Nahezu alle Lebewesen
schienen sich genauso wie der Wind in ihren Löchern verkrochen zu haben.
Kohaku hatte etwas Schwierigkeiten mit der Kapuze des alten Parkas, den Chihiros
Mutter ihm aufgedrängt hatte. Zwar hatte er ihr versichert, dass ihm das Wetter
nichts ausmachen würde, aber sie hatte darauf bestanden, dass Kohaku das viel
zu große Kleidungsstück anzieht, welches Herr Ogino bis vor drei Jahren auf
vielen Baustellen im Winter getragen hatte.
So rutschte die Kapuze immer wieder über seine Augen und weil die Ärmel viel
zu lang waren, konnte er sie kaum zurückschieben. schließlich half Chihiro
ihm, die Ärmel so weit umzukrempeln, dass er seine Hände wieder benutzen
konnte. Kohaku bedankte sich, indem er Chihiro zeigte, wie man die Regentropfen
mittels Zauberei daran hindern konnte, einen zu treffen.
Chihiro experimentierte auf ihrem Weg ein wenig, machte den Effekt des Zaubers
mal stärker, mal schwächer, und schaffte es am Ende tatsächlich den Zauber
umzupolen, sodass alle Regentropfen aus einem größeren Umkreis gezielt auf sie
einprasselten. Mit einem lauten Quieken versuchte sie, der von ihr erzeugten
Regenwand auszuweichen, doch erst nachdem Kohaku den Zauber wieder gelöst
hatte, entkamen sie durchgeweicht dem Tropfengewitter.
Patschnass verblüffte sie Kohaku dann, indem sie dem Wasser in ihrer Kleidung
einfach befahl, herauszufließen, so wie sie es sich bei Manami abgeschaut
hatte. Wieder trocken und mit einem mittelstarken Regenbann umgeben kamen sie
froh gelaunt am roten Gebäude an, welches sie unfreundlich und abweisend
empfing.
Ein paar Schritte von der grinsenden Steinstatue, die sich nur schemenhaft vor
dem Tunnelausgang abzeichnete, begann Kohaku dann Etwas unter dem feuchten Laub
zu suchen, das den gepflasterten Boden bedeckte. Chihiro konnte in der
Dunkelheit fast nichts erkennen, sodass sie sich wünschte, durch seine Augen
sehen zu können.
"Was suchst du den da?" fragte sie neugierig.
"Ich habe neulich hier etwas verloren, das ich Zeniba zurückbringen wollte",
antwortete er, "es sieht aus, wie eine kleines Bambusstöckchen an einem Faden,
wenn du mir suchen helfen willst."
"Aber ich seh doch gar nichts", gab sie zurück, "Wir hätten doch die
Taschenlampe mitnehmen sollen."
Kohaku machte eine kleine Flamme an der Fingerspitze und beleuchtete den Boden,
aber wegen der flackernden Schatten und dem durcheinander des Laubs konnte man
nicht viel mehr erkennen.
"Das machst du ja genau wie Yubaba!", meinte sie erstaunt.
"Was meinst du?"
"Na, das mit dem Feuer." Chihiro ahmte die Geste mehrfach nach, bevor sie ein
paar Schritte nähe kam, um Kohaku beim Suchen zu helfen. Plötzlich patschte
ihr irgendetwas gegen die Stirn, das sich in ihrem Haar festzukrallen schien und
schließlich an ihrem Haarband hängen blieb.
"Iiiieeeeeeeee", kreischte sie los, "da krabbelt was durch mein Haar!" Sie
begann einen wilden Tanz aufzuführen und versuchte mit wischenden Bewegungen
das Ding aus ihrem Haar zu entfernen, doch das dünne harte Ding schien am
Haarband festzukleben.
"Halt doch mal still, Chihiro" hörte sie seine beruhigende Stimme direkt an
ihrem Ohr und instinktiv gehorchte sie, sich noch leicht vor Ekel schüttelnd.
"Da haben wir es ja", sagte er nach nur einem Augenblick des Suchens. Er zog es
von Chihiros Haarband fort, auf das es offenbar eine Art magnetischer Kraft
auszuüben schien. "Das war es, was ich hier gesucht hatte. Dass die
Anziehungskraft auf kurze Entfernung so groß ist, hätte ich allerdings nicht
gedacht."
"Was... was ist das denn?"
"Das ist der Kompass, mit dem ich dich gefunden habe. Den habe ich von Zeniba",
antwortete er, erklärte ihr dann den ganzen Rest und zeigte ihr, wie es
funktionierte. Nachdem er damit fertig war, berührte er ihre Stirn und zeigte
ihr den Ausgang in der Nähe von Zenibas Haus. Kurz darauf kamen sie auf der
anderen Seite des Tunnels in der Geisterwelt heraus, wo sie bereits von Zenibas
Laterne erwartet wurden. Sie und die Laterne verbeugten sich wechselseitig
voreinander.
Danach erst kam Chihiro dazu, sich ein wenig umzusehen und sie stellte fest,
dass die Gegend ihr vertraut vorkam. Es war ganz Charakteristisch der Sumpfboden
mit all seinen Geräuschen und Gerüchen, wo sie hier angekommen waren. Nur war
es viel kühler, als beim letzten Mal, als sie hier gewesen war.
Da es in der Geisterwelt der Himmel klar war und der Mond schien, konnte man ein
wenig erkennen, insbesondere, dass sie sich in der Mitte einer Lichtung
befanden, die von mehreren flachen Tümpeln durchsetzt war. Ein wenig wunderte
Chihiro sich über den Tor-Ausgang in einem hohlen Baum.
Die Laterne hüpfte auf ihrer Stielhand quietschender Weise vor ihnen her und
wies ihnen einen trockenen Weg über die Lichtung hinweg und durch den Wald, bis
sie den Pfad erreichten, der von der Haltestelle der Eisenbahnlinie zu Zenibas
Haus führte. Insgesamt war es ein kleiner Marsch von etwa einer halben Stunde,
bis sie das Haus der alten Hexe erreichten, die in der Tür stand und sie
bereits erwartete.
Mit einem Jauchzer spurtete Chihiro los und fiel Zeniba um den Hals. "Oma
Zeniba, wie schön, dich wiederzusehen", rief sie voller Überschwang aus.
"Chihiro, ich bin froh, dass du hier bist", keuchte Zeniba unter Chihiros
Ansturm. Und nachdem das Mädchen sie wieder losgelassen hatte: "Kommt nur
herein, es gibt Tee und Kuchen."
Kohaku war nicht gerannt und kam deshalb etwas nach Chihiro bei der Hexe an, vor
der er sich verbeugte. "Hier, Frau Zeniba", sagte er dann und präsentierte den
Kompass mit beiden Händen.
Sie nahm das Bambusstückchen mit einem fragenden Gesichtsausdruck entgegen.
"Danke sehr. Das hättest du mir nicht zurückbringen brauchen, Junge", sagte
sie und gab es ihm dann zurück. "Behalt es lieber, falls du Chihiro noch einmal
suchen musst. Komm jetzt nur herein, gleich gibt es Tee."
Sie nahmen gemeinsam am Holztisch der Hexe platz, während das Ohngesicht den
Tee und den Kuchen anrichtete. Nachdem es damit fertig war nahm es neben Chihiro
platz und versuchte so artig zu sein, wie es nur konnte.
Während der nächsten halben Stunde unterhielten Chihiro und Zeniba sich
angeregt über die vergangenen drei Jahre, wohingegen Kohaku sehr still blieb.
Er betrachtete die meiste Zeit über den kleinen Lederbeutel, der unschuldig an
der Tischkante lag.
"Der Phenaktit... ich meine, haben sie eine Lösung gefunden?" verlangte es ihn
irgendwann zu wissen. Eigentlich wollte er mit Zeniba über deren Schwester
Yubaba sprechen, aber er wusste nicht, wie er das Thema ansprechen sollte. Weil
er Chihiro darüber nichts gesagt hatte, schämte er sich über sein mangelndes
Vertrauen in die Einsicht des Mädchens.
"Na, du bist aber ungeduldig, für einen Drachen", spöttelte Zeniba, "aber gut,
wenn du es so willst. Ohngesicht, hol doch bitte die Schachtel von Nebenan. Die
Lackschachtel, die ich von meinem Ausflug vorgestern mitgebracht habe."
Die Schachtel war fein mit chinesischen Schriftzeichen verziert und Chihiro
vermochte dank des Wissens, das ihr von Kohaku übertragen worden war, so etwas
darauf entziffern, dass wie "Edelsteinzange" zu lauten schien.
Zeniba öffnete die Schachtel und entnahm daraus einen Gegenstand, der so
ähnlich aussah, wie eine Zange, mit der man Nüsse knackt. Die Zange schien aus
einfachem Eisen zu bestehen, meinte Chihiro zu erkennen, weil sie mehrere
Roststellen hatte. Die Backen der Zange aber waren mit einem samtartigen, leicht
glitzernden, roten Überzug versehen, der so gar nicht zum sonstigen,
abgegriffenen Erscheinungsbild der Zange zu passen schien.
"Dies hier ist eine spezielle Zange zum Knacken von Edelsteinen", berichtete
Zeniba. "Ich habe sie von einem Dämon ausgeliehen, der mir noch etwas
schuldete." Sie nahm nun den Beutel und kippte dessen Inhalt auf den Tisch. Wie
Kohaku feststellte, befanden sich diesmal ausschließlich Phenaktit-Steine
darin, allerdings nur solche von ausgesuchter Qualität.
"So ihr Beiden, was wir nun tun müssen, ist ein wenig kompliziert, hat
allerdings mit richtiger Magie auch nicht allzu viel zu tun. Wie ich Kohaku
neulich bereits erklärt habe, wird der Phenaktit dazu eingesetzt, um
Dimensionstore zu erzeugen, er hat zudem auch die Eigenschaft, magische Energien
ohne Verlust zu leiten."
Sie nahm einen der funkelnden, diamantähnlichen Steine und zeigte ihn der
staunenden Chihiro. "Dieser Stein sollte in der Lage sein, euch beide so zu
verbinden, dass ein müheloser Austausch von sowohl magischer, als auch von
Lebensenergie zwischen euch beiden dauerhaft möglich wird."
Sie legte einen der Steine zwischen die Backen der Zange. "Der Stein leitet
derartige Energien auch durch Raum und Zeit, wenn er zerbrochen wird. Dazu
allerdings müssen die Bruchflächen völlig ohne jede Beschädigung sein und
Atom für Atom aneinander passen. Ach ja, und der Energiestrom muss während des
Spaltvorgang ohne Unterbrechung stattfinden. Sobald auch nur eine kleine
Störung auftritt, funktioniert es nicht und wir müssen wieder von vorne
anfangen."
Mit diesen Worten drückte Zeniba zu, woraufhin der Stein mit einem leisen Popp
in zwei Teile zersprang. Geschickt fing sie die Bruchstücke auf und hielt sie
auf ihrer Handfläche so vor Kohaku und Chihiro, dass diese sie ganz genau
betrachten konnten. Dann nahm sie die beiden Stücke und steckte sie vorsichtig
wieder zusammen, bis die Bruchflächen einander berührten.
Ohne ein Geräusch verschwand der Spalt zwischen den beiden Hälften des Steins,
als wäre er nie vorhanden gewesen. Er war wieder aus einem Stück. Staunend
beäugte Chihiro dieses Phänomen, nahm den Stein in die Hand und versuchte die
Bruchstelle zu finden.
"Da wirst du nichts entdecken. Die Zange erzeugt eine perfekte Spaltung des
Steins und nachdem die Bruchstücke erneut zusammengefügt wurden, verschwindet
die Bruchstelle auch wieder vollkommen. Aber nur, wenn auch wirklich jedes Atom
dabei an seiner Stelle geblieben ist" verdeutlichte die Hexe weiter. "Dafür
brauchen wir auch diese besondere Zange."
Zeniba nahm einen weiteren Stein aus dem Haufen und begutachtete ihn
fachmännisch auf Einschlüsse. "Wir müssen nun nur noch dafür sorgen, dass im
Moment der Spaltung ein konstanter magischer Energiestrom über den Stein geht.
Dieser sollte trotz des Bruches erhalten bleiben, so als wenn der Stein noch
heil wäre! so weit die Theorie und nun das Experiment."
"Ja aber, wie soll das denn gehen?" entfuhr es Chihiro, die das Ganze nicht
glauben konnte.
"Ich glaube, ich weiß, was sie vorhaben", sagte Kohaku. Er nahm Chihiro den
Stein aus der Hand, legte ihn zurück zwischen die Backen der Zange und gab sie
Zeniba zurück. "Chihiro, ich glaube, wir sollen jetzt beide den Stein
berühren", vermutete er und versuchte den Stein auf seiner Seite mit Daumen,
Zeige- und Mittelfinger zu fixieren, während dieser in der Zange eingespannt
war. Verständnislos drückte Chihiro ihren Daumen von der anderen Seite gegen
den Stein.
Ein vertrautes Kribbeln strahlte von dem Kristall in ihren Daumen aus und dann
begriff sie, dass es der Strom von Lebenskraft zwischen ihr und Kohaku war, den
sie spürte. Plötzlich knackte es leise, als der Stein dem Druck der Zange
nachgab, und ein scharfer Schmerz durchzuckte ihren Daumen, als hätte jemand
mit einem Lineal darauf geklatscht.
Vor Schreck zuckte Chihiro zurück und steckte den pulsierenden Daumen in den
Mund, sodass ihr Bruchstück des Phenaktit-Steins zu Boden kullerte. Kohaku
seinerseits hatte keine Mine verzogen und sein Bruchstück tapfer festgehalten.
Ohne große Enttäuschung schaute Zeniba zu Boden, während das Ohngesicht
dienstbeflissen das Bruchstück einsammelte.
Zeniba nahm Kohaku dessen Bruchstück weg und versuchte es mit dem anderen
Stück wieder zu vereinen, doch es gelang nicht. So sehr Zeniba es auch
versuchte, die Bruchflächen waren offenbar beschädigt und passten nicht mehr
exakt aufeinander.
"Na ja, ich habe auch nicht damit gerechnet, dass es gleich beim ersten Mal
klappt", seufzte sie, platzierte den anderen Kristall, den sie noch in der
anderen Hand hatte zwischen den Backen der Zange. "Chihiro, du musst dein Stück
richtig festhalten, auch wenn es etwas weh tut, sonst wird das nichts."
"Entschuldige, Oma Zeniba. Ich hatte mich nur etwas erschrocken." Chihiro packte
den in der Zange eingeklemmten Halbedelstein jetzt ebenso an, wie Kohaku und
nahm sich ganz fest vor, nicht loszulassen, ganz gleich, wie weh es beim Brechen
des Steins auch tun mochte. Diesmal klappte es und obwohl ihre Fingerkuppen
durch den Schlag beim Bruch fast Taub geworden waren, hielt sie mit verbissener
Mine ihre Hälfte des Steins fest.
Kohaku besah sich interessiert die muschelig glänzende Bruchfläche, während
Zeniba ein kleines Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit aufschraubte, das
sie plötzlich in der Hand hielt. Im Deckel des Fläschchens war ein kleiner
Pinsel angebracht und der Geruch der von der Flüssigkeit ausging, kam Chihiro
ebenfalls bekannt vor.
"Äh, Oma Zeniba", machte sie sich bemerkbar, "ist das eine besondere magische
Tinktur oder so etwas ähnliches?"
"Das?" Zeniba hielt das Fläschchen Chihiro vor die Nase. "Nein, das ist nur
Nagellack. So eine neumodische Erfindung von euch Menschen. Er ist aber ganz
hervorragend geeignet, um empfindliche Oberflächen zu versiegeln. Hier, halt
dein Stück mal hoch, aber lass es auf keinen Fall los. Wenn der Energiestrom
unterbrochen wird, müssen wir noch einmal von vorne beginnen."
Mit weit aufgerissenen Augen sah Chihiro dabei zu, wie die Hexe vorsichtig die
Bruchfläche mit Nagellack bestrich.
"Sagen sie, Frau Zeniba, wie eigentlich funktioniert das mit dem zerbrochenen
Phenaktit eigentlich?" fragte Kohaku neugierig, als seine Hälfte des Steins mit
dem Lackieren an der Reihe war.
"Das Ganze wirklich zu erklären ist ziemlich kompliziert und es stecken eine
Menge magiemathischer Herleitungen hinter dem Effekt, aber vereinfacht gesagt,
erfolgt beim Bruch eine Verschränkung magischer Potenziale in den
Bruchflächen, die eine verlustfreie Übertragung magischer Energieströme durch
Raum und Zeit ermöglichen. Für den Stein ist es quasi so, als wäre er gar
nicht zerbrochen. Allerdings verschwindet der Effekt sofort, wenn nur eine
winzige Störung vorliegt und kann dann nicht mehr wiederhergestellt werden."
Kohaku hörte aufmerksam zu und fragte dann: "Das bedeutet doch, dass wir die
Steine permanent berühren müssen. Sollen wir sie irgendwie am Körper
befestigen? Ich glaube nicht, dass das dauerhaft geht. Nein, wir müssten sie
irgendwie in uns haben."
"Na siehst du, da hast du ja schon deine Antwort", meinte Zeniba freundlich.
"Ihr müsst sie in eurem Bauch tragen."
"Wie, in unserem Bauch?" entfuhr es Chihiro entgeistert. Sie äugte misstrauisch
auf die scharfen Bruchkanten. "Sollen wir sie etwa herunterschlucken, oder
was?"
"Herunterschlucken?" Zeniba lachte kurz auf. "Das würde auch nicht viel
nützen. Nach einem Tag kämen sie ja hinten wieder heraus. Nein, ich meine
richtig im Inneren eurer Körper, unter der Haut."
"Ja aber, wie sollen sie denn dahin kommen?" flüsterte Chihiro.
"Na ja, durch die Haut eben. Am besten ist da wohl der Bauchnabel geeignet,
denke ich. Aber erst einmal muss der Nagellack richtig trocknen, damit das
Lösungsmittel nicht in eure Körper gelangt." Zeniba setzte sich mit einem
Seufzer auf einen Holzstuhl, während Chihiro es ganz mulmig wurde. Kohaku
setzte sich ohne große Rührung auf die Holzbank und Chihiro nach kurzem
Zögern neben ihn, wo sie ängstlich seinen Arm umklammerte.
"Du, Kohaku, darfst dich dann natürlich nicht mehr auflösen und in einen Geist
verwandeln", fügte sie noch schnell hinzu und blickte den Jungen Drachen
eindringlich an, der den Blick fragend erwiderte. "Der Stein macht die
Verwandlung nämlich nicht mit und würde dann aus dir herausplumpsen."
Das machte ihm ohnehin keine allzu großen Sorgen, denn er wollte sich ohnehin
nicht mehr in einen Geist verwandeln, wenn es sich vermeiden ließ.
,Haku. Hat sie jetzt vor, uns zu operieren, oder so?' wollte Chihiro in Gedanken
wissen.
,Chihiro, du hast mich ja wieder Haku genannt', bemerkte der Drache und Chihiro
spürte so eine Art gedankliches Lächeln. ,Ich bin mir sicher, sie weiß, was
sie tut. Wahrscheinlich wird sie Magie benutzen. Auf jeden Fall brauchst du
keine Angst zu haben.'
Chihiro entspannte sich ein wenig, ließ Kohaku aber nicht los, während das
Ohngesicht sie anstupste und "Ah, ah, ah" machte. Dann schüttete es allen Tee
nach.
Sie schwiegen, während sie ihre Tee tranken und darauf warteten, dass der
Nagellack trocknete. Die ganze Zeit über hielt Chihiro krampfhaft ihr Stück
des Phenaktit-Steins fest, wobei sie auf das angenehme Kribbeln achtete, dass
davon ausging. Wenn sie Kohaku kurz losließ, wurde es sofort stärker.
,Kohaku, spürst du das Kribbeln auch?' wollte sie nach einer Weile wissen.
,Ja Chihiro, es ist sehr stark', meinte er und fuhr nach einer kurzen Pause
fort, ,ich, ich muss dir etwas sagen. Ich habe mit Zeniba abgesprochen, dass wir
Yubaba das Sagen über das Badehaus entziehen wollen. Wir wissen noch nicht, wie
wir vorgehen wollen, aber es könnte gefährlich werden.'
,Ihr wollt Yubaba aus dem Badehaus vertreiben? Ist sie denn wirklich so
schlimm?' Chihiro konnte sich das überhaupt nicht vorstellen. Wie sollte denn
das Badehaus ohne Yubaba funktionieren? Sie war vielleicht streng, aber dafür
hatte sie doch bestimmt ihre Gründe. Und die Sache mit Kohaku war doch bestimmt
auch nur ein Versehen. Immerhin war er jetzt bei ihr und es ging ihm gut.
,Doch Chihiro, glaub mir, es ist besser, wenn Yubaba das Badehaus nicht mehr
leitet. Sie hat schon so viele Leute umgebracht ...und tut es immer noch',
bestätigte Kohaku.
Chihiro wollte etwas erwidern, doch Zeniba meldete sich auf einmal zu Wort: "So,
der Lack sollte jetzt in etwa trocken sein und wir können fortfahren. Am besten
ist wohl, ich fange mit dir an, Kohaku. Damit Chihiro sieht, was passiert.
Könntest du bitte herkommen und deinen Bauch freimachen."
Kohaku stand auf und stellte sich vor Zeniba, wo er sein T-Shirt hochzog. Zeniba
murmelte etwas, während sie mit dem Zeigefinger auf den Bauchnabel wies. Ein
schwacher Lichtschein schien von der Spitze ihres Fingernagels auszugehen. "So,
jetzt sollte es gehen. Halt doch bitte mal dein Bruchstück hierhin", wies sie
den Jungen an.
Kohaku schaute neugierig an sich herunter, während Zeniba vorsichtig das
Phenaktit-Stück mit dem Fingernagel des linken Zeigefingers gegen seine Haut
drückte. Mit dem rechten Zeigefinger deutete sie auf den Bauchnabel. Eine keine
blaue Wolke löste sich davon, der von Kohakus Haut absorbiert wurde.
Dann ging alles ganz schnell. Mit einem kleinen Ruck drückte Zeniba den Stein
in den Bauchnabel hinein, wo er mit einem leisen, schmatzenden Geräusch
verschwand. Chihiro traute ihren Augen kaum, denn scheinbar war Kohakus
Bruchstück einfach durch die Haut geflutscht, ohne ihn zu verletzen, doch dann
sah sie, wie sich sein Nabel mit Blut füllte.
Mit einem eher erstaunten Gesichtsausdruck beobachtete er, wie sich ein Tropfen
löste und in Richtung seiner Hose zu fließen begann, wobei er eine rote Spur
auf der Haut zurückließ.
Zeniba beeilte sich, ihm ein sauberes Tuch zu holen, mit dem sie das Blut
abwischte. "Hier, halt das ein paar Minuten vor die Wunde, bis der Zauber
nachlässt und deine Haut wieder fest wird", wies Zeniba ihn an. "War doch gar
nicht so schlimm, oder? So, und jetzt zu dir, Chihiro."
Am liebsten wäre Chihiro jetzt weggelaufen. Aber das konnte sie nicht tun, denn
dann hätte sie Kohaku nicht mehr in die Augen sehen können. Er hatte weder
gezuckt, noch die Mine verzogen, also konnte es nicht allzu weh getan haben. Sie
gab sich einen Ruck und zog mit zittrigen Händen ihren Pullover hoch, wobei ihr
fast der Stein aus der Hand entglitten wäre.
Ganz sachlich, wie ein Chirurg, wenn er mit dem Skalpell den ersten Schnitt
ansetzt, verfuhr Zeniba genau so, wie sie es bei Kohaku gemacht hatte, nur dass
sie Chihiro bereits im Vorhinein ein Tuch gab. Als die blaue Wolke ihre Haut
berührte, fühlte sich das nur ein wenig kühl an, doch dann drückte die Hexe
den Stein in ihren Bauchnabel hinein. Es war, als bohrte jemand ein Stück
glühenden Stahls in sie hinein.
Chihiro hätte geschrien, wenn sie überhaupt noch Luft bekommen hätte, so weh
tat es ihr. Sie ließ sich unbewusst zu Boden plumpsen, wo sie sich
zusammenkrümmte und krampfhaft das Tuch gegen ihren Bauch presste.
Dann war der Schmerz auf einmal wie weggeflogen. Verwundert öffnete Chihiro
ihre Augen und blickte direkt in Kohakus, der neben ihr Kniete und seine Hand
ebenfalls auf ihren Bauch gelegt hatte. Um die Schmerzen zu blockieren, hatte er
den gleichen Zauber benutzt, den er am Tag zuvor bei ihrem Vater verwendet
hatte, als dieser sich die Nase gestoßen hatte.
Er half ihr wieder auf die Beine und blickte Zeniba ärgerlich an. "Sie hätten
durchaus etwas gegen die Schmerzen unternehmen können", fauchte er die Hexe
an.
"Junge, den Zauber den du da benutzt hast, kenne ich auch. Der wirkt aber nur,
wenn man bereits Schmerzen hat", gab diese entrüstet zurück, "und die Zauber,
die Schmerzen im Vorhinein unterdrücken, können ganz leicht dauerhafte
Nervenschäden verursachen. Jedenfalls bei Menschen."
So ganz war Kohaku von dieser Erklärung nicht überzeugt, aber er wusste auch
nicht genug über Magie, um dem etwas entgegen halten zu können. Chihiro
jedenfalls war noch ganz zitterig und so half er ihr, sich auf die Bank zu
setzen.
,Haku, tat es dir denn gar nicht weh?" hörte er Chihiros Gedanken in seinem
Geist.
,Doch Chihiro, ich habe nur gelernt, Schmerzen vollkommen zu ignorieren. Ich
spüre ihn zwar, aber er ist nur eine Wahrnehmung wie warm oder kalt, wie hell
oder dunkel', antwortete Kohaku, ,er berührt mich einfach nicht mehr. Ich habe
das damals gelernt, als mein Fluss trocken gelegt wurde.'
,Als dein Fluss zugeschüttet wurde? Meine Mama hat mir mal erzählt, dass ich
mehrere Wochen im Krankenhaus war, als ich fünf gewesen bin. Das muss genau
dann gewesen sein, als du deinen Fluss verloren hast. Ich weiß nur noch, dass
ich im Kindergarten gewesen bin und dann war es auf einmal, als würde mein
ganzer Körper zerquetscht werden. Als nächstes bin ich im Krankenhaus
aufgewacht und habe das Gesicht meiner Mutter geblickt.'
,Zerquetscht werden ...Ja so könnte man das Gefühl beschreiben. Offenbar bist
du dann bewusstlos geworden. Ich habe mich damals aufgelöst und bin zu einem
Geist geworden. Geister schlafen weder, noch können sie bewusstlos werden ...'
Kohaku war erschüttert, weil er nun erfuhr, dass Chihiro das Gleiche
durchgemacht hatte, wie er. Aber gleichzeitig war er auch froh, dass sie damals
ohnmächtig geworden war.
,Dass heißt, du musstest das die ganze Zeit aushalten? Über mehrere Wochen
hinweg?!' Chihiro war fassungslos und wollte sich das gar nicht vorstellen. ,O
Kohaku, das tut mir ja so leid.'
"Was ist denn los mit euch beiden. Ihr seid ja so schweigsam", meldete Zeniba
sich zu Wort. Sie fand, dass die Beiden jetzt genügend vor sich hingebrütet
hatten. Beide sassen sie da nebeneinander und starrten sauertöpfisch auf die
Tischplatte. "So Furchtbar ist es doch nicht gewesen und wenn ich euch vorher
gesagt hätte, was ich vorhabe, hättet ihr vielleicht Nein gesagt. Also nun
zeigt schon, wie es geworden ist."
Kohaku gab sch einen kurzen Ruck, stellte sich vor Zeniba hin und präsentierte
seinen Bauch. Genau wie die Hexe erwartet hatte, war die Wunde bereits beinahe
verheilt. Nur noch eine dünne rote Linie war zu sehen, dort wo das
Penaktitbruchstück durch die Haut gedrungen war.
Danach untersuchte sie Chihiros Bauchnabel und wie sie erwatet hatte, war auch
diese Wunde bereits geschlossen, obwohl gerade erst fünf Minuten vergangen
waren. Zwar war sie noch nicht so weit verheilt, wie bei dem Drachen, aber bei
einem normalen Menschen würde sie jetzt noch immer bluten.
"Woher sollen wir denn jetzt wissen, ob es funktioniert hat?" wollte Chihiro
dann wissen. "Und was ist mit dem Nagellack. Vielleicht ist der ja giftig!
Außerdem, sollte die Wunde denn nicht desinfiziert werden? Am Ende entzündet
sich das Ganze noch, oder so."
"Bla, bla, bla. Chihiro, du trägst die Lebenskraft eines Drachen in dir. Um
dich selbst zu vergiften, müsstest du vermutlich Blausäure Becherweise
trinken. Bis morgen früh ist alles Verheilt und vom Nagellack ist eh' nur das
Lösungsmittel ungesund", antwortete Zeniba, "Aber wie wir testen können, ob's
geklappt hat, weiß ich im Moment auch nicht. Ihr werdet es ja dann in der
Menschenwelt sehen, wenn Kohaku sich nicht mehr auflöst."
"Ich glaube, ich weiß, wie wir es testen können", meinte Kohaku auf einmal. Er
ließ Chihiros Hand los, die er de ganze Zeit gehalten hatte und ging auf die
andere Seite der Stube. ,Hallo Chihiro, kannst du mich hören', ertönte seine
Stimme in ihrem Kopf. Sie war etwas überrascht, denn bisher hatte der
telepathische Gedankenaustausch zwischen ihnen auch in der Geisterwelt nur
funktioniert, solange sie einander direkt berührten.
,Ja Kohaku, ich höre dich lauter und deutlicher als jemals zuvor. Denk doch
bitte ein bisschen leiser', gab Chihiro zurück, wobei sie die verdutzte Hexe
laut anlachte. "Oma Zeniba, ich glaube es funktioniert!"
"Na, jetzt möchte ich aber doch wissen, wie ihr das herausgefunden haben
wollt", interessierte diese sich, "verratet ihr's mir?" Chihiro und Kohaku aber
schüttelten synchron den Kopf, denn beide wollten nicht, dass jemand erfuhr,
dass sie direkt Gedanken austauschen konnten.
"Schön, wie ihr wollt", seufzte sie dann, "dafür können wir jetzt mit dem
Zauberunterricht beginnen. Dass heißt natürlich nur, wenn ihr noch immer
mögt." Sowohl Chihiro, als auch Kohaku mochten.
Um einen Überblick über ihre individuellen Fähigkeiten zu bekommen, ließ sie
beide erst einmal zeigen, was sie konnten. Chihiro versuchte sich erst darin,
ein Paar Gegenstände durch die Luft zu kommandieren, und als sie merkte, wie
leicht das in der Geisterwelt ging, nahm sie mehr und mehr, bis sie sich
verzettelte und alles zu Boden schepperte.
Mit einem Lachen und einem Wink mit ihrer beringten Hand brachte Zeniba alles
wieder in Ordnung und lobte Chihiro noch für die Skulptur aus Wasser, die sie
anschließend noch am Waschbecken machte.
Bei Kohaku war sie dann von der enormen Schnelligkeit und Durchschlagskraft
seiner magischen Fähigkeiten beeindruckt, die gepaart war, mit einer fast
unheimlichen Präzision. Er konnte blitzartig verschiedenartige Bannfelder
erzeugen, die nicht einmal Zeniba ohne weiteres überwinden konnte. Zu stark war
Kohakus Magie. Auf der anderen Seite waren seine Fähigkeiten relativ einseitig
auf seine natürlichen Begabungen als Flussgott beschränkt, die sich auch bei
Chihiro bereits zeigten.
Bei seinen Vorführungen erkannte sie auch eine Reihe von den einfachen Tricks,
mit denen ihre Schwester ihre Gäste so gerne beeindruckte. abschließend
forderte sie ihn noch auf, ob er denn nicht einen Apfel in eine Banane
verwandeln könne, aber jetzt zeigte Kohaku sich vollkommen hilflos. Der Apfel
wurde ein paar mal halb durchsichtig, bevor er letztendlich zu einer Art Brei
zerfloss.
"Also mit dir, Chihiro, sollten wir zunächst einmal die allgemeine Anwendung
deiner magischen Fähigkeiten üben. Du musst gewissermaßen erst einmal laufen
lernen. Aber krabbeln kannst du im übertragenen Sinn bereits sehr gut, was für
einen Menschen erstaunlich genug ist", analysierte die Hexe am Schluss.
"Aber bei dir Kohaku, weiß ich ehrlich gesagt gar nicht, was ich davon halten
soll. Einige deiner Fähigkeiten sind erstaunlich und sogar für einen einfachen
Flussgott enorm, aber in vielen Bereichen fehlen dir anscheinend die einfachsten
Grundlagen, von einer systematischen Ausbildung ganz zu schweigen", meinte
Zeniba zu ihm, "ich denke wir sollten erst einmal testen, ob du überhaupt in
der Lage bist, Verwandlungen durchzuführen, bevor ich entscheide, wie wir
weiter machen."
"Und ich? Wollen sie mich nicht testen? Ich habe doch genau die gleichen
Zauberkräfte, wie Kohaku." Chihiro fühlte sich in wenig übergangen.
"Also gut, wenn du möchtest. Weißt du, bei einem Menschen, so Leid es mir tut,
das zu sagen, ist das in der Regel hoffnungslos, ganz gleich, wie stark seine
Zauberkräfte sind", antwortete Zeniba, "aber du wirst dann gleich sehen,
wieso."
Sie holte eine Keramikschale aus dem Küchenschrank, die sie auf den Tisch
stellte, bevor sie verschiedene Gegenstände darauf platzierte: ein altes Buch,
ein paar Äpfel, einen Becher und eine getrocknete Päonienblüte. Aus dem
Nebenraum holte sie Papier, Tusch und zwei Pinsel, die sie den verdutzt
blickenden Kindern in die Hände drückte.
"So, du setzt dich hierhin und du dort und versucht mal, die Schale zu malen, so
genau, wie ihr könnt", wies sie die Chihiro und Kohaku an. Sie nahmen einander
gegenüber platz, so dass sie Schale von unterschiedlichen Seiten sahen. Chihiro
kam sich ein wenig vor, wie im Kalligrafieunterricht, wenn sie ein neues Zeichen
lernen musste. Sie wusste nicht so recht, wie sie beginnen sollte.
Als sie sich endlich dazu durchgerungen hatte die ersten Pinselstriche zu
machen, behauptete Kohaku bereits, dass er fertig wäre. Sofort wollte Chihiro
aufspringen, um sich sein Ergebnis anzusehen, aber Zeniba stoppte sie und hieß
sie weiterzumalen. Sie gab sich so große Mühe, wie sie nur konnte. Nach etwa
einer halben Stunde war sie so weit, dass nicht mehr wusste, wie sie ihr wenig
zufrieden stellendes Bild noch verbessern sollte. Am liebsten hätte noch einmal
von vorne angefangen.
Sie gab es Zeniba, die es neben Kohakus Werk legte, der gerade einmal fünf
Minuten dafür gebraucht hatte. "Hier schaut euch das an", kommentierte Zeniba
beim Vergleich ihrer Bilder, "Das ist der Grund, warum Menschen aus Prinzip
keine Verwandlungen durchführen können. Ihr Wahrnehmungs- und
Vorstellungsvermögen ist einfach zu schlecht." Chihiro und Kohaku kamen herum,
um beide Bilder nebeneinander sehen zu können.
Als Kohaku Chihiros Bild erblickte, war er fast erschrocken, wie wenig ihr Bild
mit der Schale zu tun hatte. Nur mit viel Fantasie konnte man darin die Vorlage
erkennen und die vielen Tuschekleckse und Schmierer verbesserten das Bild auch
nicht unbedingt.
Chihiro ihrerseits war völlig verblüfft von Kohakus Bild. Vorsichtshalber ging
sie noch einmal um den Tisch herum und besah sich die Schale von Kohakus Platz
aus an. Sie sah ganz genau so aus, wie auf dem Bild. Nein, korrigierte sie sich,
Kohakus Bild sah ganz genau so aus, wie die Schale von hier aus. Alle
Einzelheiten waren vorhanden. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte Chihiro
vermutet, dass jemand das Bild von einem Foto abgepaust hätte.
Mit ganz klaren, fehlerfreien Pinselstrichen hatte Kohaku die Umrisse
nachgezogen und es irgendwie auch geschafft, die Oberflächenbeschaffenheit der
Gegenstände einzufangen. Fast hatte sie beim Betrachten von Kohakus Bild das
Gefühl, man müsste nur noch Farben hinzufügen und könnte dann den Apfel
herausnehmen und hineinbeißen.
"Das, das ist toll", sagte sie schließlich bewundernd und mit Stolz über
Kohakus Fähigkeiten, "ich wusste gar nicht, dass du so gut malen kannst."
"Aber ich habe doch nur gezeichnet, was ich gesehen habe", versuchte der seine
Leistung herunter zu spielen. Es war ihm peinlich, dass Chihiros Bild so
schlecht geworden war und so wenig mit der Schale zu tun hatte. Hätte er das
vorher gewusst, hätte er viel langsamer und weniger genau gezeichnet, damit
Chihiros Bild nicht ganz so schlecht gewirkt hätte.
"Eben, genau darum geht es", sagte Zeniba dazu, "wenn du Dinge verwandeln
willst, musst du eine genaue Vorstellung von ihrer Form und Beschaffenheit
haben, sonst ist das Ganze Unterfangen von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Kohaku besitzt zumindest die Gabe der genauen Beobachtung. Dein Werk, Chihiro,
mag einen Gewissen künstlerischen Wert besitzen, doch es zeigt nicht die
notwendige Begabung, die es braucht, um sicher Transmutationen durchführen zu
können. Ob Kohaku sie letztendlich besitzt, will ich in einem zweiten Test
herausfinden."
Zeniba deckte ein Tuch über die Schale, sodass man sie nicht mehr sehen konnte.
Dann gab sie Kohaku und Chihiro jeweils ein weiteres Blatt Papier und wies sie
an, die Schale noch einmal zu Zeichnen, diesmal allerdings aus einer
Perspektive, die um ein Viertel gedreht war. Zudem sollten sie statt des Apfels
eine Banane auf die Schale malen.
Nur kurz versuchte Chihiro sich das Vorzustellen, doch sie konnte sich kaum
erinnern, wie die Schale von ihrer Seite aus ausgesehen hatte, geschweige denn,
in welcher Anordnung sich die Gegenstände darauf befanden. Und erst recht
konnte sie sich nicht Vorstellen, wie das Ganze mit eine Banane 90° von der
Seite aussehen würde.
Deshalb legt sie Papier und Pinsel zur Seite, um Kohaku beim Zeichnen
zuzuschauen. Mit unfassbar sicheren Pinselstrichen brachte er eine weitere
Ansicht des Motivs zu Papier. Sie schaute ihm ins Gesicht und sah, dass seine
Augen vor Konzentration fast glasig waren. Beinahe wünschte sie sich, sie
könnte in ihm sein, um zu fühlen, was jetzt gerade in ihm vorging.
Zeniba nahm das Blatt in die Hand und betrachtete es mit gerunzelter Stirn
Kohakus Zeichnung. Dann nahm sie das Tuch von der Schale, um sie aus der
gleichen Richtung zu betrachten, wie es in der Zeichnung dargestellt war.
Mehrfach blickte sie abwechselnd auf das Blatt Papier und auf die Schale, doch
sie konnte keinen Fehler feststellen. Dann wies sie auf den Apfel, der sich nun
artig in die Banane verwandelte, die auf dem Bild dargestellt war.
"Tja, ich glaube, so gut hätte ich selbst es nicht hinbekommen", sagte die Hexe
schließlich. "Jetzt verstehe ich nur nicht, warum du vorhin die Verwandlung des
Apfels nicht hinbekommen hast."
"Ich weiß leider auch nicht, was ich falsch gemacht haben könnte", sagte
Kohaku. "Ich habe mich voll auf die Banane konzentriert und dann habe ich dem
Apfel befohlen, sich zu verwandeln."
"Hah, siehst du. Genau das ist der Fehler. Du darfst bei der Verwandlung den
Apfel nicht vergessen, sonst funktioniert es nicht. Du musst gleichzeitig Apfel
und Banane in allen Einzelheiten im Sinn behalten, dann klappt die Verwandlung
auch. Aber das ist es gleichzeitig auch, was Verwandlungszauber so schwer macht
und für jemanden, der nicht das Gedächtnis und die Vorstellungskraft besitzt,
wie ein Gott, völlig unmöglich."
"Soll das heißen, ich werde nie etwas verwandeln können?" fragte Chihiro
enttäuscht. Zeniba nickte bedauernd. "Ich kann aber doch etwas verwandeln!"
sagte Chihiro trotzig, rannte zur Tür hinaus und kehrte kurz darauf mit einem
Kieselstein wieder zurück, den sie auf den Tisch legte. Dann führte sie ihren
Murmelverwandlungszauber vor und der Kieselstein wurde zu einem kleinen
Häufchen taub.
"Nun ja, das ist sehr interessant", meinte Zeniba lächelnd, "aber so eine
richtige Verwandlung ist das ja nicht, finde ich. Das ist Staub. Wir sollten den
armen Stein nicht als Staub enden lassen." Sie zeigte auf das Häufchen Staub
und wollte es in den Kiesel zurückverwandeln, der es vorher gewesen war. Doch
zu ihrer Überraschung passierte nichts.
Immerhin war sie eine sehr erfahrene Hexe und dass eine Verwandlung nicht
klappte, das gab es bei ihr nicht. Sie versuchte die Struktur des
Staubhäufchens zu erfassen, so wie es für eine ordentliche Transmutation
notwendig war, doch dabei hatte sie as Gefühl, als würde sie mit ihren
magischen Kräften ins Leere fassen, gewissermaßen abgleiten.
Weder konnte sie ein Gefüge des Staubhäufchens erfassen, noch war da
irgendeine innere Form, die sie erkennen konnte. Neugierig geworden, nahm sie
den Staub näher in Augenschein und rührte ein wenig mit ihrem Fingernagel
darin herum. Er war so fein, dass er fast breiig wirkte und sofort am
Fingernagel haftete.
"Also das ist jetzt wirklich interessant", sagte Zeniba zu Chihiro gewandt. "Ich
kann überhaupt nicht erkennen, in was du den Kieselstein da verwandelt hast. Es
ist, als hättest du ihn völlig atomisiert. So einen Zauber habe ich noch nie
gesehen. Kannst du mir erklären, wie du das gemacht hast."
"Na, ich hab nur versucht, ihn in eine Glasmurmel zu verwandeln. Dann passiert
jedes Mal so etwas. Ich kann das auch mit anderen Sachen machen", gab Chihiro
zurück, glücklich, dass sie die Hexe beeindruckt hatte. Sie drehte sich
deshalb herum und wandte den Zauber auf den Becher an, er sich auf der Schale
befand. Einen Moment noch behielt dieser seine Form, bevor er zu einem
entsprechend größeren Staubhaufen in sich zusammensank.
Zeniba untersuchte ihn gleichermaßen, doch auch hier konnte sie keine Struktur
mehr erkennen. "Das ist ja eine vollkommene Zerstörung des Gegenstandes",
bemerkte sie, jetzt mit deutlicher Besorgnis in der Stimme. Einige weitere
Minuten versuchte sie mit dem Staub irgendetwas anzustellen, ihn zu verwandeln,
oder auch nur ihn von der Stalle zu bewegen, aber Nichts funktionierte. Sie
wandte sich Chihiro zu und packte das Mädchen an den Schultern. "Jetzt sag
bloß, du kannst das auch mit belebten Dingen?"
"Ich, äh, ich weiß nicht", antwortete Chihiro überrascht über die
plötzliche Aufmerksamkeit, "das müsste ich erst ausprobieren." Sie riss sich
von Zeniba los und versuchte den Zauber an der Banane auf der Schale, die ja
kurz zuvor noch ein Apfel gewesen war. Doch diesmal war sie es, der der Zauber
nicht gelingen wollte. Die Banane ließ sich partout nicht in einen Staubhaufen
verwandeln, so sehr Chihiro es auch versuchte.
Vielleicht lag das aber auch daran, dass sie überhaupt keine Idee hatte, wie
aus einer Banane eine Murmel werden sollte. "Also, mit der Banane klappt es
nicht", sagte sie nach einigen weiteren Versuchen und setzte sich mit einem
Seufzer auf die Holzbank. Verwandlungszauber waren doch ziemlich anstrengend.
"Das beruhigt mich aber sehr", sagte Zeniba erleichtert. "Weißt du, ich dachte
schon fast, du hättest einen Zauber gefunden, der keine Umkehrung besitzt und
mit dem du Jedermann einfach umbringen könntest."
"Umbringen? Ich will doch niemanden umbringen. Außerdem kann ich den Zauber
umkehren, jedenfalls so ungefähr", gab Chihiro zurück. Sie wandte den
Umkehrzauber, den sie gefunden hatte, auf die beiden Staubhäufchen an, den vom
Kieselstein und den vom Becher. Beide wurden daraufhin sofort zu festen Klumpen,
die sich zu Zenibas Erleichterung dann wieder zurück in den Ausgangszustand
verwandeln ließen.
"Ist das denn so gefährlich, was Chihiro da gemacht hat?" fragte Kohaku
neugierig.
"Ob das gefährlich ist? Ich habe jedenfalls noch nie von einem Zauber gehört,
der Dinge in einen Zustand verwandelt, die normaler Magie nicht mehr zugänglich
sind. Ich müsste den Staub doch zumindest bewegen können, oder nicht ...",
erwiderte die Hexe und blickte dabei Kohaku an, "noch erstaunlicher finde ist
allerdings, dass Chihiro diesen Zustand teilweise wieder umkehren kann. Kannst
du mir eigentlich erklären, wie du das machst?"
"Wie ich das mache?" fragte Chihiro verdutzt. Das war doch ganz einfach. "Na,
sie müssen den Kieselstein, oder den Becher, oder was auch immer, in eine
Glasmurmel verwandeln. Dann wird er zu Staub. Und den Staub müssen sie dann
wieder in einen Kiesel verwandeln. Dann wird er wieder fest."
Zeniba versuchte kurz einen Sinn in dem Gesagten zu erkennen, doch dann besah
sie sich Chihiros Zeichnung und kam zu dem Schluss, dass sie wohl nie ergründen
würde, was im Kopf des Mädchens vor sich ging, bei der Ausführung diesen
Zaubers. "Chihiro, versprichst du mir, dass du diesen Zauber nie mehr anwenden
wirst. Ich befürchte nämlich, dass ganz furchtbare Dinge geschehen können.
Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, könntest du damit, in einer
Kettenreaktion, die ganze Erde in atomaren Staub verwandeln."
"Die ganze Erde?? Meinst du wirklich, Oma Zeniba?" Jetzt wurde Chihiro doch
wieder ein wenig mulmig. "Also gut, ich verspreche dir, dass ich diesen Zauber
nicht mehr benutze", erklärte sie feierlich.
"Das hört sich aber nicht besonders ernsthaft an", wandte Zeniba ein. Die
Formulierung "Also gut" gefiel ihr nicht besonders.
"Was soll ich denn sagen, Oma Zeniba? Soll ich bei meinem Leben schwören? Mein
Leben ist auch Kohakus Leben und ich kann doch nicht für ihn schwören",
verteidigte Chihiro sich und Zeniba sah ihr Dilemma unmittelbar ein.
"Ich werde dein Versprechen vorerst akzeptieren, aber wenn ich erleben sollte,
dass du es brichst, werde ich euch nicht mehr unterrichten", erklärte die Hexe
bitterernst, wobei sie sich Fragte, was für eine Aufgabe sie sich da wohl
aufgebürdet hatte.
Zeniba begann nun mit dem eigentlichen Zauberunterricht und es war viel weniger
lustig, als Chihiro sich das vorgestellte hatte. Die erste Lektion, die sie
lernen musste war, dass Zaubern harte Arbeit ist und viel, sehr viel Übung
erfordert.
Sie selbst konnte am Ende der Nacht Gegenstände viel präziser unter ihren
Willen zwingen, als sie das jemals zuvor gedacht hatte. Aber er war noch ein
weiter Weg dahin, wie sie feststellte, bis sie es schaffen würde, dass sich
Gegenstände automatisch sortierten und in ordentlichen Stapeln sammeln
würden.
Kohaku schaffte es nach einiger Zeit, den Apfel beliebig in eine Banane und
wieder zurück zu verwandeln. Er war noch begierig darauf, weitere Verwandlungen
zu erarbeiten, denn wie Zeniba ihnen beibrachte, konnte man in der Regel nicht
einfach jede Umwandlung durchführen, sondern im Ernstfall nur solche, die man
vorher gut eingeübt hatte.
Versuchte man eine neue Verwandlung aus dem Stehgreif, war die
Wahrscheinlichkeit groß, dass sie daneben ging. Wenn man sie allerdings oft
genug praktiziert hatte, konnte man gewisse Verwandlungen quasi im Vorbeigehen
bewerkstelligen. Als Beispiel nannte Zeniba hierfür ihre Schwester Yubaba,
gerne alles in ein Kohlestück verwandelte, einfach weil sie es am besten konnte
und es ihr am wenigsten Mühe kostete.
Zusätzlich merkte sie noch an, sahen die Kohlestücke ihrer Schwester immer
genau gleich aus, eben genau so, wie das Kohlestück mit dem sie vor über 100
Jahren immer geübt hatte.
Da es mittlerweile weit nach Mitternacht war, befand die alte Hexe, dass es Zeit
wäre, eine Pause einzulegen und etwas zu Essen zu machen. Sie machte daher mit
einem Fingerschnippen Feuer im Herd und setzte einen kupfernen Topf auf die
Feuerstelle, der bereits die ganze Zeit abgedeckt neben dem Herd gestanden
hatte. Kurz drauf bekamen sie dann vom Ohngesicht einen herrlich duftenden
Gemüseeintopf serviert.
Nach dem mitternächtlichen Imbiss begann Zeniba sie in die theoretischen
Grundlagen der Magie einzuführen. Zeniba ließ dazu das Ohngesicht eine Tafel
aufstellen, auf der sie zunächst einen kurzen Überblick über die Entwicklung
der Kongruenzmagie bis hin zu den Grundlagen der affinen Mathemagie durch den
Gott Okuni Nushi.
Dieser Gott musste laut Zeniba wirklich brilliant gewesen sein, hatte aber, wie
sie bedauernd hinzufügte, seit mehr als tausend Jahren keine bedeutenden
Beiträge mehr zur Magietheorie mehr geliefert hatte, weil er voll und ganz mit
der ihm betrauten Aufgabe ausgelastet war, die Geisterwelt zu administrieren.
Chihiro meinte, diesen Namen schon einmal gehört zu haben, aber weil sie
allmählich ziemlich müde geworden war, hakte sie nicht weiter nach. Zeniba
dozierte desweilen weiter vor sich hin und zeichnete eine detaillierte Zeittafel
der Magiehistorie an. Nach einer Weile wunderte sie sich, dass es hinter ihr
vollkommen ruhig geworden war und als sie sich umdrehte, sah sie, dass Chihiros
Kopf auf die Tischplatte gesunken war und das Mädchen fest schlief.
Kohaku blinzelte sie aus geröteten, winzig kleinen Augen an. Er konnte sich
offenbar auch kaum wachhalten. "Bitte verzeihen sie, Frau Zeniba", flüsterte
er, um Chihiro nicht zu wecken, "ich möchte nicht unhöflich erscheinen, denn
normalerweise werde ich ja kaum müde. Aber durch den Stein überträgt sich
ihre Müdigkeit irgendwie auf mich und ich würde jetzt auch am liebsten
schlafen."
So sagte er und ließ sich auch schon seitlich auf die Bank sinken, wo er sich
zusammenkauerte und sofort einschlief.
"Na so was", murmelte die Hexe, holte zwei Decken aus dem Nebenzimmer und
hüllte die beiden Kinder vorsichtig darin ein. Dann holte sie sich ein Buch aus
ihrer Bibliothek und begann darin zu lesen, während das Ohngesicht begann,
einen Pullover für Chihiro zu häkeln.
Wiederum zwei Stunden später wachte Kohaku auf. Blinzelnd blickte er sich um,
sah aber nur Chihiro, die sich neben ihm auf der Holzbank zusammengerollt hatte
und im Moment anscheinend träumte, wie er an ihren unter den Liedern hin und
her zuckenden Augen erkannte.
Weder Zeniba noch das Ohngesicht waren in der Stube. Leise stand er auf, ging
zur Tür, weil er Geräusche von draußen hörte, und schaute hinaus. Dort war
Zeniba dabei, einen Pflug hin und her zu dirigieren, der die Gemüsebeete vor
dem Haus durchfurchte, während das Ohngesicht einen Heuballen durch die Gegend
trug und damit hinter dem Haus in Richtung des Stalls verschwand.
"Ah, du bist ja wieder aufgewacht", rief Zeniba, als sie das Licht aus der
geöffneten Tür bemerkte. "Wenn du möchtest, kannst du mir ein wenig zur Hand
gehen und den Pflug für eine Weile übernehmen. Das ist bestimmt eine gute
Übung, auch für dich." Kohaku nickte nur und benutzte dann seine
Zauberkräfte, um den Pflug im Zickzack über das Feld zu schicken, während
Zeniba in den Stall ging.
Als er fast fertig war, steckte eine ziemlich verschlafen wirkende Chihiro ihren
Kopf zur Tür hinaus. Sie war noch immer in die Decke eingewickelt, weil ihr
ziemlich kalt war, und da sie beim Atmen kleine Dampfwölkchen erzeugte bemerkte
Kohaku jetzt, wie kalt es geworden war. Viel fehlte nicht mehr und würde
beginnen zu frieren.
,Chihiro, bleib drinnen. Es ist kalt hier draußen', sorgte er sich, ,ich bin
hier gleich fertig, dann komme ich rein.'
,Und was ist mit dir. Du stehst in einem T-Shirt. Wozu hat Mama dir denn Papas
Parka gegeben', gab Chihiro zurück, verschwand kurz im Inneren und tappte etwas
unbeholfen, weil sie, nachdem sie die Tür geschlossen hatte, kaum etwas sehen
konnte, mit dem Parka zu Kohaku hinüber, dem sie ihn dann überzog.
Nachdem Kohaku mit dem Feld fertig war, gingen sie beide zum Stall hinüber, wo
Zeniba und das Ohngesicht gerade dabei waren, die Schweine und die Ziegen zu
füttern. Chihiro freundete sich rasch mit einer der Ziegen an, der sie einen
Apfel aus einem Korb neben der Stalltür zu fressen gab. Von Kohaku aber
schienen die anderen Ziegen besonders fasziniert zu sein, denn sie drängten
sich alle zu ihm hin, obwohl es bei ihm nichts zu futtern gab.
"Chihiro, bitte verfüttere doch nicht alle Äpfel an die Ziegen", ließ sich
Zeniba vernehmen, als sie deren Tun bemerkte, "die waren eigentlich für den
Markt nächste Woche gedacht. Geht doch besser schon mal rein, denn bald wird es
wieder hell werden. Ich komme gleich nach."
Auf dem Weg zurück ins Haus bemerkte Chihiro dann auch, dass der Himmel im
Osten bereits heller wurde, weshalb sie sich zusammen mit Kohaku fertig für den
Rückweg machte.
Lächelnd kam Zeniba kurz nach ihnen zusammen mit dem Ohngesicht zur Tür
hinein. "Wie ich sehe, seid ihr schon fertig für den Heimweg. Ich würde mich
sehr freuen, wenn ihr morgen wiederkommen könntet", sagte sie zum Abschied,
während Chihiro sie umarmte. Kohaku war etwas zurückhaltender und begnügte
sich mit einer Verbeugung.
Begleitet von der Laterne, die vor ihnen herhüpfte, fanden sie in der
beginnenden Morgendämmerung problemlos den Rückweg zu der Lichtung im Wald, in
deren Mitte sich der hohle Baum mit dem Tor zur Menschenwelt befand.
Das erste, was sie auf dem Rückweg durch den erwachenden Wald taten, war zu
testen, ob der Phenaktit in ihren Bäuchen auch den gewünschten Effekt hatte.
Chihiro setzte sich auf die grinsende, doppelgesichtige Steinstatue. Kohaku ging
den gepflasterten Weg in Richtung von Chihiros Elternhaus, wobei er angestrengt
in sich horchte, ob das vertraute Ziehen einzusetzen begann, welches seinen
Auflösungsprozess einleitete.
,Kohaku, kannst du mich hören?', wollte Chihiro nach einigen Minuten wissen.
,Ja Chihiro, es funktioniert auch auf diese Distanz', hörte sie seine Gedanken
genauso Laut und deutlich in ihrem Kopf, als stünde er direkt neben ihr. ,Und
wie weit bist du jetzt?' fragte sie.
,Ich bin gleich am Waldrand angekommen", gab er zurück. ,Es sieht nicht so aus,
als sollte ich mich in einen Geist verwandeln. Zenibas Operation scheint
gelungen zu sein.'
,Wartest du auf mich, ich komme jetzt nach', hörte Kohaku Chihiros fröhlich
Gedanken und er beschloss ihr wieder entgegen zu kommen.
Es war fast ganz Hell, als sie Zuhause ankamen. Chihiros Eltern waren noch nicht
aufgewacht, sodass sie leise nach Oben in ihr Zimmer gehen konnten.
Eigentlich hatte Chihiro vorgehabt, sich sofort hinzulegen, sobald sie Daheim
war, doch durch die Bewegung in der kühlen Morgenluft, war sie wieder richtig
munter geworden und sie hatte zudem große Lust darauf, ihre magischen
Fähigkeiten noch ein wenig zu üben. So verstreute die ihre Bücher überall
auf dem Fußboden und versuchte zu erreichen, dass sie sich ordentlich im Regal
einsortierten.
Für Kohaku schien das ein Leichtes zu sein, denn er demonstrierte Chihiro
mehrfach, wie man es richtig machte, doch sie selbst tat sich sehr schwer damit.
Wenn sie es versuchte landeten die Bücher immer kreuz und quer im Regal und als
sie es einmal schaffte, sie einen wackeligen Stapel bilden zu lassen, ließ sie
es gut sein. Lieber schaute sie bei Kohaku zu, wie er Verwandlungen übte.
Chihiro hatte ihm einen ihrer alten Holzbauklötze gegeben, mit denen sie seit
Jahren nicht mehr gespielt hatte. Kohaku gelang bereits es nach kurzem Üben ihn
in einen Apfel, vom Apfel in eine Banane und wieder zurück in einen
Holzbauklotz zu verwandeln. Dieses wiederholte er immer wieder, bis Chihiro ihn
unterbrach. Inzwischen hatte sie wieder Hunger bekommen und der Banane, die der
Bauklotz gerade war, konnte sie jetzt einfach nicht widerstehen.
Die Banane war wunderbar goldgelb und verströmte einen verführerischen
Bananenduft. Als sie die Schale entfernt hatte und hineinbeißen wollte, war das
Fruchtfleisch aber immer noch aus Holz, in der gleichen Farbe und Maserung, wie
der ursprüngliche Klotz.
Kohaku war das sehr peinlich und er verwandelte das hölzerne Fruchtinnere in
eine neue, etwas kleinere Banane, wobei er sich mehr auf die inneren Werte
konzentrierte. Diese Banane gelang ihm wesentlich besser. Sie hatte zwar eine
rosafarbene Schale, doch sie schmeckte vorzüglich bananig.
Schnell holte Chihiro weitere Bauklötze, die Kohaku einen nach dem anderen in
Bananen verwandeln musste. Sie gelangen ihm dabei von Mal zu Mal besser, sodass
Chihiro nicht mehr aufhören konnte, sich die Früchte der Reihe nach in den
Mund zu stopfen.
"Na ihr beiden lasst es euch ja gut gehen", sagte Chihiros Mutter, die
plötzlich die Tür geöffnet hatte, um Nachzuschauen, ob sie schon
zurückgekommen waren. Sie hatte den Haufen Bananenschalen auf dem Schreibtisch
bemerkt und sich gefragt, woher das Obst wohl stammen mochten, denn sie hatte
gestern keine Bananen gekauft.
"Wenn ihr noch Hunger habt, gibt es jetzt unten Frühstück", sagte sie dann,
"und seid lieb zu Akio. Er hat einen dicken Kopf von gestern Abend, vom vielen
Sake."
Chihiro putzte sich nur schnell die Zähne und zog sich frische Sachen an,
während Kohaku das offenbar nicht brauchte. Er behielt einfach die Sachen an,
die er jetzt schon seit zweieinhalb Tagen trug. Er wirkte dabei unglaublich
sauber, adrett und wach, ohne dass er etwas dafür tun musste. Aber er ist eben
ein Gott und da ist das wohl so, dachte Chihiro bei sich und freute sich, dass
er jetzt bei ihr war.
Beim Frühstück erfuhr Herr Ogino, dass Chihiro und Kohaku in der Nacht doch zu
dieser Hexe in den Wald gegangen waren. Darüber erbost wollte er sofort
losbrüllen, doch ein dumpfer Schmerz explodierte hinter seiner Stirn, sodass er
sich nur mit einem Keuchen in seinen Stuhl plumpsen ließ. Kohaku kam zu ihm
hin, legte seine Hand auf die Stirn und wiederholte den Zauber, den er auch
schon bei der Nase angewendet hatte.
Danach fühlte Herr Ogino sich sehr viel besser. Seine Stimmung hob sich
schlagartig und er beschloss erst einmal kein Wort mehr über den nächtlichen
Ausflug zu verlieren. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass niemand in
diesem Haushalt das tat, was er wollte.
Nach Ende des Frühstücks fuhr Frau Ogino noch einmal in den Konbini, um noch
einigen Papierkram zu erledigen und um danach noch einzukaufen. Herr Ogino
musste sich um zwei neue Kunden kümmern, deren Häuser er zusätzlich Verwalten
sollte und so waren Kohaku und Chihiro kurz nach Neun Uhr Morgens alleine.
,Was sollen wir jetzt machen, Kohaku', fragte sie, ,sollen wir nach draußen
Spielen gehen?'
,Wenn du willst', gab Kohaku zurück, ,aber ich möchte dir vorher noch etwas
sagen, etwas das uns und Zeniba betrifft.'
,Also gut, lass uns ins Wohnzimmer gehen', schlug sie vor, ,da haben wir das
Sofa für uns alleine.'
,Zeniba und ich', begann Kohaku, nachdem sie sich auf das Sofa gesetzt hatten,
,Zeniba und ich, wir wollen dass Yubaba im Badehaus nicht mehr tun und lassen
kann, was sie will. Sie muss die Leitung des Badehauses abgeben, sonst wird sie
noch Leute umbringen.'
,Umbringen? Wen bringt Yubaba um?' wollte Chihiro überrascht wissen. Sie hatte
zwar mitbekommen, dass die Hexe Kohaku in das Bergwerk gesteckt hatte, und dass
es ihm dort nicht besonders gut ergangen war, aber den Hintergrund dessen nicht
begriffen.
,Chihiro, sie schickt die Leute, die sie im Badehaus nicht mehr gebrauchen kann
in das Bergwerk, damit sie dort sterben', antwortete er unwirklich sachlich,
,deswegen hat sie auch mich dorthin geschickt. Wenn ihr Plan gelungen wäre,
dann wärst du mit mir gestorben.'
Jetzt war Chihiro erst einmal sprachlos, denn solch eine Boshaftigkeit hatte sie
Zenibas Schwester nicht zugetraut. Wie konnte Yubaba denn so schlecht sein, wenn
Zeniba so gut war?
,Ja aber, du bist doch in Sicherheit. So schlimm kann das doch nicht sein, denn
sie hat dich ja gehen lassen, so wie sie mich auch hat gehen lassen',
argumentierte sie schließlich schwach.
,Damals hatte sie keine große Wahl, als dich gehen zu lassen, mit all den
Göttern als Zeugen. Sie hat die Aktion mit den Schweinen als Werbung für das
Badehaus genutzt', erzählte Kohaku dann, ,Sie hat es mir selbst ins Gesicht
gesagt, bevor sie mich ins Bergwerk schickte.'
Chihiro schaute ich nachdenklich an, während er fortfuhr: ,Überleg doch mal.
Sie schließt immer wieder neue Arbeitsverträge, so wie mit dir. Sie muss es
tun, weil sie es Zeniba geschworen hat. Dann nimmt sie den Leuten ihren Namen
weg, sodass sie nicht mehr kündigen können und sie die Kontrolle hat. Das tut
sie schon seit vielen Jahrzehnten so. Müsste dann nicht das ganze Badehaus
voller Arbeiter sein? Ist es aber nicht!'
Es brauchte eine Weile, bis Chihiro die Tragweite des Gesagten begriff. ,Meinst
du etwa, sie hat alle umgebracht, die sie nicht mehr brauchen konnte?' Chihiro
erschauerte bei dem Gedanken. Konnte Yubaba wirklich so böse sein? ,Und ...,
und warum wollte sie dich dann umbringen? Du warst doch ihre rechte Hand.'
,Sie hatte herausgefunden, dass ich es gewesen bin, der dir geholfen hat. Und
weil du auch den schwarzen Wurm aus mir entfernt hattest, hatte sie keine
direkte Kontrolle mehr über mich. Da hat sie beschlossen, dass sie mich
loswerden wollte. Wenn du die letzten drei Jahre nicht durchgehalten hättest,
dann ...'
,Jetzt wollen du und Zeniba also Yubaba aus dem Badehaus jagen', dachte Chihiro
trotzig, ,Und ich werde euch dabei helfen, wenn ich kann!'
,weißt du Chihiro, das ist genau der Grund, warum ich dir unbedingt sagen
musste, was wir vorhaben. Es wird sehr gefährlich werden, denn Yubaba hatte
Jahrzehnte Zeit, sich auf derartiges vorzubereiten', gab Kohaku zurück. ,Ich
habe mir geschworen, alle zu befreien, die noch im Bergwerk sind. Wenn es nur um
mein eigenes Leben ginge, würde ich es einfach tun, auch wenn es gefährlich
ist. Aber mein Leben ist auch dein Leben. Ich bin dein Gott und muss dich
beschützen. Chihiro, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.'
,Das ist mir egal, ob es gefährlich ist. Du bist mein Gott und genau deshalb
muss ich dir helfen. Wenn wir Yubaba nicht stoppen, dann kannst du deinen Schwur
nicht halten und dann wirst du nie glücklich sein. Wenn du nicht glücklich
bist, dann will ich auch nicht glücklich sein. Kohaku, wir werden wir den Rest
unseres Lebens zusammen sein. Wie sollen wir denn leben, wenn wir nie glücklich
sein können?'
Sie nahm Kohaku, der still auf den Tisch blickte, in den Arm und hielt ihn fest.
Es dauerte eine Weile, bis er etwas unsicher erwiderte: ,Chihiro, ich danke dir
für deine Worte, doch ich glaube, wir sollten Yubaba besser nicht
herausfordern. Vielleicht können wir es dennoch schaffen, ohne uns mit Yubaba
direkt anlegen zu müssen. Auf jeden Fall sollten wir zuerst mit Zeniba reden.
Sie weiß ohnehin besser, wie man mit Yubaba umgeht.'
,Ja, das sollten wir vielleicht. Heute Nacht werden wir mit ihr sprechen und sie
fragen, was man am besten tun kann, um die Leute aus dem Bergwerk zu befreien',
erwiderte Chihiro entschlossen und drückte Kohaku noch fester an sich.
Nach einer Weile sackte ihr Kopf auf seine Schulter und er wurde von dem Strudel
aus Müdigkeit, der von Chihiro ausstrahlte, fast hinfort gerissen. Doch diesmal
fühlte er sich so elend, dass er dennoch nicht einschlafen konnte. Vorsichtig
löste er ihren Griff um seine Brust, sodass sie sie sich auf dem Sofa
ausstrecken konnte, mit ihren Kopf auf seinem Schoss.
Um keinen Preis wollte er, dass sich dass Mädchen für ihn noch einmal in
Gefahr begab. Er hatte sich zwar geschworen, die Frösche und Torooru aus dem
Bergwerk zu befreien, doch zu dem Zeitpunkt hatte er noch nicht geahnt, dass
seine Lebenskraft in Chihiro steckte.
Jetzt musste er entweder sein Wort brechen, was bedeutete, dass alle im Bergwerk
über kurz oder lang sterben würden, oder er würde versuchen sie zu befreien,
was sein und Chihiros Leben zusätzlich in Gefahr bringen würde. Dabei hätte
er dennoch keinerlei Garantie, dass er im Endeffekt jemanden aus dem Bergwerk
würde retten können. Dass Chihiro mit der Rettungsaktion einverstanden war,
machte die Sache für ihn nicht leichter, denn sie war doch eben noch ein Kind
und damit nicht vollkommen Verantwortlich für ihr tun.
Angestrengt grübelte er weiter über ihre Situation nach, bis Frau Ogino
zurückkehrte und anfing, das Mittagessen zu bereiten. Er löste sich von
Chihiro, um ihr dabei zu helfen, denn er erhoffte sich, ein Paar andere Gedanken
zu bekommen. Frau Ogino war sehr erfreut, über seine Hilfe. Sie fragte ihn
über ihren Besuch bei Zeniba aus, wollte wissen, was die Hexe für eine Frau
war und wo genau sie im Wald wohnte, denn sie wollte Zeniba auch einmal
besuchen.
Es war mühsam für den jungen Gott all diesen Fragen soweit auszuweichen, dass
Yuko Ogino zufrieden war und doch nicht zu viel erfuhr. Mit einigen Tipps beim
Kochen, die er der Frau aus seiner Erfahrung im Badehaus geben konnte, gelang es
sie jedoch soweit abzulenken, dass sie nicht weiter nachhakte.
Schwieriger erwies es sich, Chihiro für das Mittagessen wieder aufzuwecken,
denn die Nacht war für sie sehr anstrengend gewesen. Sie ass nur wenig und nach
dem Essen wurde sie rasch wieder Müde, sodass sie ihren Futon aus dem Schrank
holte und innerhalb weniger Minuten eingeschlafen war. Nicht einmal die Sonne,
die zeitweilig durch das Fenster auf ihr Gesicht schien, konnte sie aufwecken.
Diesmal konnte sich Kohaku dem Sog ihrer Müdigkeit nicht entziehen und er
schlief kurz nach ihr auf dem Boden liegend einfach ein. Dieser Stein in seinem
und Chihiros Bauch, hatte sowohl Vor-, als auch Nachteile, dachte er noch kurz,
bevor er einschlief. Welche das alle waren, würde sich noch erweisen.
Am Abend durften Chihiro und er das Haus verlassen, noch bevor die Sonne
unterging. Chihiros Vater murrte zwar ein wenig, doch er sperrte sich nicht
gegen ihren erneuten Ausflug zu Zeniba. Auch diesmal nötigte Yuko Oginos Kohaku
den lächerlich großen Parka überzustreifen, den er allerdings kurz nach dem
Betreten des Waldweges entschlossen abstreifte und zu einem Bündel
zusammengeschnürt schulterte.
Es war noch nicht ganz dunkel, als die bei Zeniba eintrafen. Die Hexe war
offenbar gerade erst aufgestanden, denn sie empfing die beiden in einem
Bademantel und mit offenem, wirren Haar. Das Ohngesicht war allem Anschein nach
damit beschäftigt, größere Mengen heißen Wassers für ein Bad zu erzeugen,
denn es setzte den Kessel mehrfach auf, verschwand mit dem erwärmten Wasser und
kehrte mit kaltem Wasser wieder zurück.
Sie mussten mehr als eine halbe Stunde warten, bis Zeniba sich endlich
hergerichtete und ein spartanisches Frühstück eingenommen hatte. Ohne
größere Umstände wollte sie danach sofort mit dem Zauberunterricht
fortfahren, an der Stelle, an der sie in der Nacht zuvor hatten aufhören
müssen, doch sie wurde von Chihiro unterbrochen: "Oma Zeniba. Wir müssen
Yubaba aufhalten, oder nicht?" begann sie, "Sie haben doch bestimmt einen Plan
..."
Zeniba sah erstaunt zu Kohaku, doch der zuckte nur mit den Schultern. eigentlich
hatte sie Chihiro und Kohaku aus der Sache heraushalten wollen. "Wieso hast du
Chihiro davon erzählt?" fragte sie vorwurfsvoll den jungen Drachen, "Das war
ganz und gar unnötig. Ich und das Ohngesicht haben bereits einen Plan. Wir
müssen nur noch herausfinden, wo sich das Siegel meiner Schwester befindet,
dann können wir zuschlagen."
"Yubabas Siegel?" interessierte Chihiro sich. "Yubaba hat auch ein Siegel, so
eins, wie sie? Wozu ist das eigentlich gut?"
"Wozu das Siegel gut ist?" Zeniba ging in den Nebenraum und kehrte mit einer
kunstvoll verzierten Lackschachtel zurück, aus der sie das goldene Siegel mit
der Froschfigur an der Spitze nahm, dass Chihiro ihr damals zurückgebracht
hatte. "Wozu ist ein Siegel schon gut? Es dient dazu, Verträge zu besiegeln.
Dazu ist es gut! Deine Eltern haben doch bestimmt jeder auch ein Siegel. So ist
das doch auch in eurer Welt, oder?"
Jetzt fiel es Chihiro wie Schuppen von den Augen. In Japan hatte Jedermann ein
amtlich registriertes Siegel, das wie eine persönliche Unterschrift galt. Ohne
ein solches Siegel konnte man nicht einmal ein Bankkonto eröffnen oder einen
Scheck bezahlen. Das hatte sie in der Schule gelernt.
Wenn man das Siegel einer Person stahl, konnte man in deren Namen Verträge
schließen, ohne dass diese Person direkt etwas dagegen unternehmen konnte. Sie
musste zuerst amtlich das Siegel sperren lassen, sonst konnte der Dieb fast
Alles damit anstellen. Jetzt wurde ihr auch sofort klar, weshalb die Hexen ihre
Siegel mit Flüchen belegten, um sie vor unbefugtem Zugriff zu beschützen.
"Und wie wollen sie das Siegel stehlen? Wenn Yubaba es so verflucht hat, wie
sie, dann wird jeder sterben, der versucht es zu entwenden", meinte Chihiro
dann, "sie können Yubabas Siegel nicht benutzen, so wie Yubaba damals ihr
Siegel nicht benutzen konnte. Also wird ihr Plan nicht funktionieren."
"Doch, es wird funktionieren. Du selbst hast doch selber gezeigt, wie, Chihiro",
gab Zeniba zuversichtlich zurück, holte einen weiteren kleinen, umwickelten
Gegenstand aus der Lackschachtel und legte ihn auf den Tisch. Feierlich
entfaltete die Hexe das umhüllende Tuch und präsentierte den Inhalt: eine
kleine braune Kugel.
Chihiro erkannte sofort, was es war, während Kohaku interessiert schaute, weil
ihm der Geruch bekannt vorkam. Es war ein Kräuterkloß. Genau so einer, wie
der, den sie von dem Flussgott erhalten hatte. "Was willst du mit dem
Kräuterkloß, Oma Zeniba?", fragte sie alarmiert, "Soll etwa jemand das Siegel
stehlen, den Fluch dabei auf sich nehmen und dann mit dem Kräuterkloß gerettet
werden?"
,Ist das so ein Kloß, wie der, mit dem du mich gerettet hast?' hörte sie
Kohakus Gedanken in ihrem Kopf.
"Ich kann mir vorstellen, dass du dir ein wenig mehr Finesse von mir erwartet
hast, Chihiro", meinte die Hexe nachdenklich, "aber ich glaube, ein derart
direktes und plumpes Vorgehen wird meine Schwester nicht erwarten, sodass wir
ganz gute Aussichten auf Erfolg haben dürften."
"Ja, genau so einer", antwortete Chihiro auf Kohakus Frage und unterbrach damit
Zeniba.
"Was meinst du, Chihiro?" fragte die Hexe irritiert.
"Wenn sie bereits einen Kräuterkloß haben, dann wissen sie doch bestimmt, wer
das Siegel für sie stehlen soll?", erkundigte Kohaku sich.
"Ja, natürlich. Das Ohngesicht ist einverstanden, das Risiko auf sich zu
nehmen." Zeniba schaute zu der schwarzen, halbdurchsichtigen Gestalt mit der
weißen No-Gesicht hinüber. "Ah, ah, ah", machte es und nickte dabei
zustimmend.
"Es kann sich unsichtbar machen und kennt sich bereits im Badehaus aus", führte
Zeniba aus, "es verfügt über starke magische Fähigkeiten, die es in den
letzten drei Jahren noch vervollkommnet hat. Wer wäre besser geeignet, frage
ich euch?"
"Da gibt es nur ein Problem", warf Kohaku ein, "ich war fünf Jahre lang ihr
Lehrling, aber wo sie das Siegel aufbewahrt, habe ich nie erfahren. Es muss
irgendwo in ihren Privatgemächern versteckt sein."
"Damit hast du leider genau den wunden Punkt meines Plans getroffen", stimmte
Zeniba ihm zu. "Ich habe keine Ahnung, wo sie es verborgen haben könnte. Bevor
wir die Aktion starten können, müssen wir das zunächst auskundschaften. Am
schwierigsten wird es sein, hineinzukommen, ohne dass Yubaba es bemerkt. Sie hat
an allen möglichen und unmöglichen Stellen Alarmzauber abgebracht, die jedoch
von Leuten, die bei ihr unter Vertrag sind, nicht ausgelöst werden."
"Du meinst also, jemand müsste bei Yubaba im Badehaus anheuern, um sie
auszuspionieren?" So langsam wurde die Sache spannend, fand Chihiro.
"Ich hatte eigentlich gedacht, dass ich mich als Yubaba ausgebe und jemandem aus
dem Badehaus abkommandiere, nach dem Siegel zu suchen", entgegnete die Hexe,
"nur leider komme ich nicht besonders Nah an das Badehaus heran. Wenn ich das
Grundstück auch nur persönlich betrete, verliere ich, laut unserem Vertrag,
alle Rechte daran. Dann wäre alles umsonst und Yubaba hätte endgültig
gewonnen."
"Aber damals warst du doch auch da, in ihrem Arbeitszimmer", wunderte Chihiro
sich.
"Ach Kindchen, damals war ich doch bloß als magisches Ebenbild dort. Du wirst
dich doch erinnern, dass ich noch halb durchsichtig gewesen bin", erinnerte
Zeniba das Mädchen. Das stimmte. Chihiro hatte es nur vergessen.
"Aber was ist denn, wenn derjenige, der für sie sucht, weil er glaubt sie
wären Yubaba, dabei erwischt und von ihrer Schwester umgebracht wird?" fiel
Kohaku ins Wort. "Dann sind sie Schuld, an seinem Tod!"
"Tja, weißt du, darüber hatte ich auch schon nachgedacht und bin noch zu
keiner Lösung gekommen ...", sagt Zeniba nachdenklich, "aber wir müssen diese
Information bekommen, sonst ist dieser Plan bereits gescheitert, bevor wir
überhaupt begonnen haben. Die Alternative wäre, dass wir jemanden finden, der
einen Arbeitsvertrag im Badehaus annimmt. Dann könnte es allerdings Jahre
dauern, bis er sich bis in Yubabas Räume vorgearbeitet hat. Das Ohngesicht
kommt dafür leider nicht in Frage, denn es könnte keinen Arbeitsvertrag
verlangen, weil es nicht reden kann."
"Ich werde gehen. Ich weiß, wie das geht, wie man Yubaba zwingen kann, einem
Arbeit zu geben", rief Chihiro forsch, "und wie man in Yubabas Wohnung kommt,
weiß ich auch. Und Boh kenne ich auch. Der wird mir bestimmt helfen!"
Zeniba schaute das Mädchen erstaunt an. Vielleicht war das gar keine so
schlechte Idee, dachte sie, Chihiro für einige Zeit in das Badehaus
einzuschleusen. Wenn sie etwas herausfand, dann war es gut, wenn nicht, können
sie sich immer noch etwas anderes überlegen.
"Chihiro, das ist viel zu gefährlich. Bitte tu es nicht", sorgte sich Kohaku,
"Frau Zeniba, bitte lassen sie das nicht zu."
"Papperlapapp, gefährlich. Chihiro ist unter den Göttern viel zu bekannt, als
dass Yubaba es wagen würde, ihr etwas zu tun", gab Zeniba zurück. "Ich könnte
mir sogar vorstellen, dass Chihiro eine richtige Attraktion für das Badehaus
wäre. Yubaba wird genauso denken und sie schon allein deshalb einstellen."
"Torooru hat mir einmal erzählt, dass manche Gäste große Summen geboten
hätten, wenn sie von Sen, also Chihiro, bedient würden", äußerte Kohaku,
"aber das ist immer noch kein Grund, sie in Gefahr zu bringen. Ich kann das
nicht erlauben."
"Bitte, bitte, Kohaku. Ich möchte so gerne noch einmal das Badehaus
wiedersehen, Lin, Kamaji und die anderen treffen", bettelte Chihiro, "außerdem
muss ich doch auch noch mal mit Boh spielen. Ich verspreche dir, ich werde ganz
vorsichtig sein und nicht versuchen über alte Wasserrohre zu laufen oder
Außenleitern hochzuklettern."
"Nein Chihiro, trotzdem. Das ist Yubaba und wenn sie dir wieder deinen Namen
stiehlt, dann bist du im Badehaus gefangen und wir können dir kaum helfen",
versuchte er Chihiro von ihrer Absicht abzubringen.
"Junge, ich kenne den Zauber, den meine Schwester da benutzt, ganz genau.
Chihiro muss nur einen falschen Namen angeben, dann kann Yubaba den richtigen
auch nicht stehlen. Sie darf dann, wenn sie es merkt dann zwar den Vertrag
ablehnen, aber das wird sie bei Chihiro kaum tun", brachte Zeniba an, "und wenn
Chihiro einen Zeitlich befristeten Vertrag haben will, dann muss Yubaba ihr den
auch geben."
"Ja genau, das ist eine super Idee. Ich werde mit Sen unterschreiben und in den
Winterferien habe ich zwei Wochen frei. Da können wir es machen", begeisterte
Chihiro sich, froh darüber, dass sie auch etwas tun konnte. Kohakus Sorgen
wegen der Gefährlichkeit konnte sie zwar verstehen, aber es war doch auch sein
Wunsch, das Yubaba im Aburaya entmachtet wurde.
Zudem hatte Zeniba ihnen auch schon soviel geholfen, dass Chihiro glaubte, ihr
ebenfalls helfen zu müssen. Einzig wenn sie daran dachte, wieder zu Yubaba, in
deren Büro, hoch zu müssen, um dort eine Arbeit zu erbetteln, wurde ihr wieder
ein wenig mulmig. Doch richtige Angst hatte sie keineswegs. Am Ende würde doch
immer alles gut ausgehen, dessen war sie zutiefst überzeugt.
Kohaku kam jetzt zu ihr hin, nahm ihre rechte Hand in seine Hände und blickte
mit seinen grünen Augen direkt in ihre hinein. Sie hatte fast den Eindruck,
darin zu versinken. "Bitte Chihiro, überleg es dir noch einmal", beschwor er
sie, "wenn du bei Yubaba im Badehaus bist, dann kann ich dir diesmal nicht mehr
helfen, so wie damals. Und ich bin doch dein Schutzgott und muss dich
beschützen. Deshalb kann ich nicht gutheißen, wenn du dich in Gefahr
begibst."
"Ach Kohaku, du willst doch auch dass Yubaba keinen mehr ermorden kann", fragte
sie. "Dann müssen wir Oma Zeniba helfen. Wenn du uns nicht helfen willst, dann
ist das OK, aber trotzdem muss ich ihr helfen."
"Also gut Chihiro, dann werde ich euch ebenfalls helfen, so gut wie ich kann,
denn schließlich kenne ich das Badehaus von uns allen am besten", lenkte Kohaku
ein.
"Ob du das Badehaus am besten kennst, wage ich doch zu bezweifeln", schaltete
Zeniba sich wieder ein, "denn immerhin bin ich dort aufgewachsen, mein Junge.
Auf jeden Fall möchte ich euch danken, dafür dass ihr mir helfen wollt. Ich
sehe wirklich keine echte Gefahr, wenn Chihiro für zwei Wochen im Badehaus
arbeitet, es sei denn, sie fordert die Gefahr heraus."
"Aber meinen sie denn, dass Chihiro einfach so zu Yubaba gehen kann und einen
Vertrag über nur zwei Wochen erhält? Das kann ich mir kaum vorstellen",
zweifelte Kohaku.
"Sie muss jedem Arbeit geben, der sie darum bittet", erwiderte Zeniba, "aber
auch nur so lange, wie derjenige es will. Deshalb hat sie sich ja auch die Sache
mit dem stehlen der Namen ausgedacht. Dein Lehrlingsvertrag war auch befristet
auf acht Jahre, Kohaku. Wenn Chihiro aber nur einen Vertrag über zwei Wochen
will, dann muss Yubaba ihr den geben, ob sie nun will, oder nicht. Sie muss nur
auf ihren Namen aufpassen. Jetzt würde ich nur noch gerne wissen, wann du diese
zwei Wochen frei hast, Chihiro?"
"Ach, das sind die Winterferien. Die gehen dieses Jahr glaube ich vom 22.
Dezember bis zum vierten Januar", antwortete das Mädchen wie aus der Pistole
geschossen.
"Nun, wir haben jetzt den 19. Oktober 2003. Es sind also nur noch gut zwei
Monate. Wie müssen gut vorbereitet sein und ihr solltet eifrig eure magischen
Fähigkeiten üben, damit ihr meiner Schwester etwas entgegen zu setzen habt,
sollte doch etwas passieren", sagte Zeniba voller Zuversicht. "Lasst uns also
beginnen."
Den Rest der Nacht verbrachten Chihiro und Kohaku mit weiteren Zauberlektionen
von Zeniba. Diesmal schlief Chihiro beim theoretischen Teil des Unterrichts
nicht ein, sondern versuchte alles zu verinnerlichen und zu verstehen, was
Zeniba sagte.
Als sie im Morgengrauen des heranziehenden Sonntags nach Hause zurückkehrten,
war Chihiro so müde, dass sie sofort auf den Tatami-Matten in ihrem Zimmer
einschlief, ohne ihren Futon ausgerollt zu haben. Kohaku schaffte es noch, eine
Decke aus dem Wandschrank zu holen und sie zuzudecken, bevor auch er, von ihrer
Müdigkeit angesteckt, neben ihr einschlief.
So entdeckte Yuko Ogino die Kinder einige Stunden später. Sie ließ sie aber
weiterschlafen, bis sie erst am späten Nachmittag wieder erwachten. Den Rest
des Sonntags verbrachten sie gemeinsam mit dem Üben des Erlernten, bis Chihiro
am Abend siedend heiß einfiel, dass sie noch Hausaufgaben machen musste.
In der Nacht konnte sie dann nicht einschlafen und lag die ganze Zeit wach,
wobei sie sich mit Kohaku ab und zu in Gedanken unterhielt. Montagfrüh endlich
war sie soweit, dass sie einschlafen konnte, aber schon klingelte der Wecker und
sie musste in die Schule.
Nur eine Stunde später war nur noch Kohaku alleine im Haus der Oginos. Er hatte
sich nicht aufgelöst und das erste Mal in seinem Leben keine richtige Aufgabe.
Schlussendlich ging er in die Küche hinunter, nahm sich einen Eimer und einen
Lappen und begann damit, das Haus von oben bis unten zu putzen.
Kapitel 19: Hausdrache
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Hausdrache
Kohaku fing mit seiner Putzaktion im Wohnzimmer an. Zuerst räumte er alle
Bücher und sonstigen Gegenstände aus den Regalen, die er zunächst auf dem
Boden aufschichtete. Dabei fiel ihm auf, dass es leicht staubte, als er einen
Stapel Bücher absetzte. Als beschloss er, zunächst die Teppiche zu reinigen,
wobei er entdeckte, dass es davon nicht wenige im Haus gab.
Die Perserteppiche in Yubabas Wohnung wurden monatlich von den Angestellten des
Badehauses über eine Teppichstange in der Nähe der Schweineställe gehängt,
wo sie dann ausgeklopft wurden. Yubaba hätte ihre Teppiche auch leicht mittels
Magie vom Staub befreien können, aber wozu hatte sie schließlich Angestellte.
Kurz überlegte Kohaku selber, ob er Magie zu Hilfe nehmen sollte, aber es
erschien ihm unfair. Die Menschen konnten ja auch keine Magie benutzen und wenn
er unter ihnen leben wollte, würde er auf Magie weitestgehend verzichten
müssen. Das bedeutete, er würde die Teppiche auf herkömmliche, mechanische
Weise vom Staub befreien müssen. Leider schien es keine Teppichstange im Haus
der Oginos zu geben, auch nicht im Garten hinter dem Haus.
Irgendwie würde er sich selber behelfen müssen, dachte er bei sich, und begann
zu suchen. In einer metallenen Kiste mit allerlei Werkzeug darin fand er dann
eine Schnur mit ausreichender Festigkeit. Er spannte sie vom Treppengeländer
hinüber zu den Garderobenhaken, wuchtete danach der Reihe nach alle Teppiche im
Haus über die Schnur, und bearbeitete sie mit einer Bratpfanne, die er in der
Küche gefunden hatte.
Nachdem er so alle Teppiche ausgeklopft hatte, arbeitete Kohaku sich
systematisch durch alle Räume des Erdgeschosses, indem er immer zuerst alle
offenen Schränke und Regale leerräumte und dann säuberte. Dabei entdeckte er
manche verborgenen Staublagerstätten hinter den Möbeln.
Soweit er das konnte, rückte er sie zusätzlich von den Wänden ab, um auch
dahinter wischen zu können. Zum Schluss rückte er die Möbel wieder zurück
und stellte sämtliche ebenfalls gereinigten Gegenstände wieder millimetergenau
an ihren Platz.
Nach den höheren Etagen der Wohnungseinrichtung nahm er sich dann die
Fußböden vor, deren vereinzelten, kaum sichtbaren Staubbelag er mit einem
Besen in den Flur beförderte, wo er ihn zu einem kleinen Haufen zusammenschob,
den er der Einfachheit halber zur Haustür hinaus bugsierte.
Zur Sicherheit wischte er dann sämtliche Böden noch einmal feucht nach, so wie
er es im Badehaus gelernt hatte, bevor er die Teppiche, die er zwischenzeitlich
im Wohnzimmer gelagert hatte, wieder an ihre ursprünglichen Stellen auslegte.
So ganz zufrieden war er mit dem Ergebnis nicht und im Geiste hörte er Yubaba
daran herummotzen. Aber die würde ja auch nicht kontrollieren kommen.
Ebenso wie im Erdgeschoss fuhr er danach in der ersten Etage fort, wobei er
versuchte, sich noch mehr Mühe zu geben. Da es hier nur drei Zimmer und eine
Toilette mit Dusche gab, war er mit dem ersten Geschoss trotzdem relativ schnell
fertig.
Nachdem er nun auf diese Weise eine komplette Grundreinigung des Hauses
vorgenommen hatte, nahm er sich sämtlicher Glasflächen und hier insbesondere
der Fenster an, die er zunächst mit einem Schwammtuch aus der Küche abwischte,
um sie danach mit einer Art aufgewickeltem Papier-Endlostuch trocken zu reiben,
das er auf der Toilette gefunden hatte.
Da dieses Papier nicht besonders saugfähig war und schnell zerfaserte,
benötigte Kohaku mehrere Rollen davon, bis er in der Toilette nichts mehr davon
fand. Die Fenster waren so zwar nicht alle zu seiner Zufriedenheit perfekt
streifenfrei sauber geworden, aber er befand, dass es immerhin ein Fortschritt
gegenüber dem Ausgangszustand war.
Da er nun schon einmal bei den Toiletten angelangt war, untersuchte er auch
diese. An der Sauberkeit war oberflächlich nicht viel auszusetzen, doch ein
Griff tief in den Siphon offenbarte alte Ablagerungen, denen Kohaku nach einigem
Suchen mit einem mit harten, roten Kristallen belegten Papier aus der
Metallkiste zu Leibe rückte, in der sich auch das Werkzeug befand.
Zufrieden sah er, wie sich hunderte bräunlicher Schwebteilchen im Wasser
sammelten, die er einfach herunterspülte. Nacheinander reinigte er alle drei
Toiletten im Haus der Oginos auf diese Art. anschließend stellte er fest, dass
auch er selbst eine Reinigung benötigte, denn seine Kleidung war voller Schmutz
und Staub und seine Hände hatten einen stark muffigen Geruch angenommen.
Wiederum in der Küche fand er eine weiche Flasche mit einem grünen,
zähflüssigen Inhalt*, die eine starke Reinigungswirkung zu besitzen schien,
wie ein kurzer Test ergab. Der Aufdruck wies explizit darauf hin, dass das
"Geschirrspülmittel" besonders hautschonend sein sollte. Er nahm sie mit in den
ersten Stock, wo sich die Einrichtung Namens "Dusche" befand, die Chihiro ihm
gezeigt hatte. Im Prinzip handelte es sich dabei nur um einen heißen
Wasserstrahl, mit dessen Hilfe jemand sich bequem reinigen konnte.
Kohaku stellte sich also unter die Dusche, hielt die Flasche über seinen Kopf
und drückte zu, bis ich etwa der halbe Inhalt über ihn und seine Kleidung
entleert hatte. Dann drehte der die Mischarmatur ganz nach links, dort wo sie
mit einem roten Pfeil gekennzeichnet war, und zog sie zu sich hin, bis fein
verteilte, heiße Wasserstrahlen ihn benetzten.
Diese Erfindung der Menschen, diese Dusche war einfach zu herrlich, wie er fand.
Als wenn man sich unter eines der Einfüllrohre im Badehaus stellte, aus denen
die Wannen befüllt wurden, nur besser. Doch das Wasser war so heiß, dass
bereits nach wenigen Augenblicken die Duschkabine so voller Nebel war, dass
Kohaku fast nichts mehr sehen konnte. Nicht dass das viel ausgemacht hätte,
denn dieses Spülmittel, wie der Aufdruck auf der Flasche verriet, brannte doch
erheblich in seinen Augen.
Doch er stellte auch beiläufig fest, dass die Temperatur des Wassers den
meisten Gästen im Aburaya bereits zu hoch gewesen wäre. Aber egal. Er genoss
das heiße Wasser, die Schaumwirkung der flüssigen Seife und das Zitrusaroma,
das ihn in seiner Intensität fast betäubte. Die Seife schäumte so stark, dass
es fast 10 Minuten dauerte, bis er alles wieder aus seiner Kleidung
herausgespült hatte.
Hinterher zog er sich, noch in der Duschkabine stehend aus, um zu verhindern,
dass seine tropfenden, nassen Sachen auf den gekachelten Boden troffen, den er
sonst erneut hätte trockenwischen müssen. Er wrang die Sachen im Waschbecken
aus, bis sie nur noch leicht feucht waren und zog sie dann einfach wieder an.
Es würde vielleicht ein bis zwei Stunden dauern, bis alles wieder trocken wäre
und so machte er sich keine großen Gedanken darum. Er hätte auch jetzt leicht
Magie einsetzen können, um sich zu trocknen, doch auch das erschien ihm unfair.
Die Menschen kamen ohne Magie aus, also konnte auch er ohne auskommen.
Langsam ging Kohaku die Treppe hinunter, zurück in die Küche, wo er sich auf
einen Stuhl setzte und nachdachte. Die Küchenuhr zeigte an, dass es gerade erst
kurz nach Mittag war und so würde es noch etwa fünf Stunden dauern, bevor
Chihiro von der Schule zurückkommen würde, fünf Stunden, die er jetzt
irgendwie füllen musste.
Chihiro Mutter hatte gesagt, dass sie etwas zu Essen gemacht hatte und in den
Kühlschrank gestellt hatte, der dieselbe Funktion erfüllte, wie die
Kühlhäuser am Badehaus. Eigentlich hatte er keinen Hunger, so wie er fast nie
Hunger hatte, aber ihm war bewusst, dass es Chihiro helfen würde, wenn er etwas
ass.
Im Kühlschrank fand er einen Teller mit Reis und saurem, eingelegtem Gemüse,
sowie eine Schale mit Miso-Suppe. Leider war alles kalt. Zwar hatte er
beobachtet, wie Frau Ogino einen Teller in den kleinen, metallenen Schrank mit
gläserner Klappe gestellt und auf einen Knopf gedrückt hatte. Die Speisen auf
diesem Teller waren danach wie durch Zauberei heiß geworden, doch das Gerät
hatte dabei eine sehr unangenehme Ausstrahlung gehabt, sodass Kohaku es lieber
nicht benutzen wollte.
So ass er die Sachen kalt. Besonderes Vergnügen bereitete es ihm nicht, weil
alles muffig und alt schmeckte. Besonders gelungen konnte man die Gewürze, mit
denen die Sachen abgeschmeckt waren, auch nicht bezeichnen. Sie waren vielmehr
... aufdringlich. Das schien die richtige Charakterisierung dafür zu sein.
Wenn man so etwas den Göttern im Aburaya vorgesetzt hätte, dachte Kohaku bei
sich, wäre der Betrieb innerhalb kürzester Zeit pleite gewesen. Er begann
deshalb die Küche nach Essbarem zu durchsuchen und stellte schließlich fest,
dass fast alle Nahrungsmittel in irgendwelchen Tüten, Dosen oder Beuteln
verpackt waren. Nur im Kühlschrank gab es einige frische Sachen.
Jetzt wunderte ihn der bescheidene Geschmack der Speisen nicht mehr sonderlich
und er verstand, warum sie so penetrant gewürzt waren: um die schlechte
Qualität der Lebensmittel zu überdecken. Gleichzeitig wurde ihm auch klar,
warum die Menschen so einen, für Dämonen, Geister und Götter so unangenehmen
Geruch verströmten. Es lag an diesen Gewürzen.
Nur warum merkten die Menschen denn nicht, wie schlecht das war, was sie da
täglich assen? Warum bereitete Frau Ogino denn nur keine frischen Speisen zu,
fragte er sich und dann fiel ihm auch schon die Antwort ein. Sie musste
arbeiten. Herr und Frau Ogino mussten beide arbeiten, um sich das Essen zu
verdienen.
Was wirkliche Müdigkeit war, hatte Kohaku erst in den letzen beiden Tagen
erfahren, seit er mit Chihiro über den Phenaktit-Kristall verbunden war.
Mehrfach schon hatte sich ihre Müdigkeit direkt auf ihn übertragen und ihn
fast handlungsunfähig gemacht. Genauso wenig wollten Chihiros Eltern, wenn sie
müde nach Hause kamen, noch groß etwas kochen, weshalb sie diese
vorgefertigten Nahrungsmittel verwendeten, die man einfach und schnell
zubereiten konnte.
Im Badehaus war letzten Endes es ja auch so gewesen. Alle mussten die ganze
Nacht hindurch hart arbeiten und holten sich am Ende eines langen Tages etwas
aus der Küche. Nur arbeiteten in der Küche nur Leute, die nichts anderes zu
tun hatten, als immerzu neue frische Speisen zuzubereiten. Für diese bedeutete
es keinen extra Aufwand, ein wenig mehr für alle anderen kochen.
Aber für Frau Ogino bedeutete es viel zusätzliche Arbeit. Sie hatte einen Job,
der sie den ganzen Tag außer Haus beschäftigte, musste zusätzlich noch das
Haus sauber machen und auch noch Einkaufen und das Essen kochen. Kohaku
beschloss, zukünftig die Hausarbeit und das Kochen zu übernehmen, erstens,
weil er es den Oginos schuldete, die ihn bei sich aufgenommen hatten, zweitens,
weil er die Zeit dazu hatte, und drittens, weil er es konnte.
Während er den Teller und die Schüssel spülte, überlegte Kohaku, was er
alles benötigen würde, um ein vernünftiges Abendessen zu kochen, ein
Abendessen, dass man auch einem Gott vorsetzen konnte. Er suchte eine Weile im
Haus der Oginos, bis er einen alten Korb fand, der aus Bambusstängeln
geflochten war, und nahm sich einen Haustürschüssel vom Schlüsselbrett.
Dann verließ er das Haus der Oginos, um auf dem Wiesenabhang davor einige
Kräuter zu sammeln, die ihm am Tag seiner Ankunft, noch als Geist, aufgefallen
waren. Zudem war jetzt, Mitte Oktober, die Zeit sehr günstig, um im nahe
gelegenen Wald einige Pilze zu lesen. Und wenn er in weniger als einer Stunde
zurückkehrte, dann hätte er noch ausreichend Zeit, um sich ein hervorragendes
Abendessen für die Oginos und insbesondere für Chihiro auszudenken.
Bunzo Abes Laune verdüsterte sich augenblicklich. Soeben war er von den Lehrern
für den Toilettenreinigungsdienst nach der Mittagspause eingeteilt worden.
Toilettenreinigung! Als ob er nichts Besseres zu tun hätte, als in der Scheiße
anderer zu schürfen. Das war doch einfach nur ekelhaft.
Bunzo beorderte seine persönlichen Vasallen, Hiroaki Matokai und Susumo
Takasugi, zu sich, um ihnen den Ernst der Lage klar zu machen. Wenn erst bekannt
würde, dass er, Bunzo, Toilettendienst verrichten müsste, wie jeder andere
gewöhnliche Schüler der staatlichen Mittelschule von Tochinoki, wäre es mit
seinem Ansehen nicht mehr weit her und sie könnten sich die bequemen
Nebeneinnahmen in den Wind schreiben.
Mit Grausen dachte er an jene Schmach zurück, die ihm dieses Mädchen, diese
Chihiro damals auf der Grundschule beigebracht hatte. Als die Schüler gemerkt
hatten, dass er nicht einmal in der Lage war, diese winzige Person in ihre
Schranken zu verweisen, war es sofort aus gewesen, mit seinem Image als fiesem
Typen und damit auch mit den Zusatzeinnahmen.
So etwas durfte nicht noch einmal geschehen und so durfte es auch nicht sein,
dass er, Bunzo Abe, jemals Toilettendienst abzuleisten hatte.
Au jeden Fall hatte er heute Tatsukichi abzukassieren. Tatsukichi war der Sohn
einer wohlhabenden, lokalen Bauernfamilie und gehörte nicht, wie die meisten
Schüler der Mittelschule, zu denen, die vor drei Jahren hergezogen waren. Eine
Weile lang hatte der gutaussehende, durch die sommerliche Feldarbeit kräftige
Junge sich für etwas Besseres gehalten und sich über die unsportlichen
Stadtkinder lustig gemacht.
Aber diesen Zahn hatte Bunzo ihm nach einer Weile gezogen. Zwar war Tatsukichi
möglicherweise sogar stärker als er, aber er war auf keinen Fall stärker als
er, Hiroaki und Susumo zusammen. Eine Weile hatte er sich ihnen wiedersetzt,
doch weil es ihm nicht gelang, jemanden auf seine Seite zu ziehen, hatte er sich
mehrfach blaue Flecken und einmal sogar eine blutige Nase geholt.
Bunzo wusste, wie wichtig sen Nimbus war und deshalb konnte er es sich im Falle
Tatsukichis nicht leisten, Gnade walten zu lassen, auch wenn dies ihm selbst
einigen Ärger und viel Rennerei verursachte. Schließlich aber gelang es ihnen
Tatsukichi niederzuringen und seitdem war alles viel leichter geworden.
Deshalb war es auch nun überaus wichtig, den Wochentribut des Jungen zu
kassieren, um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen, wer das Sagen auf dem
Schulhof der Mittelschule hatte.
So wartete er das Mittagessen ab und schlich sich dann mit seinen beiden
Faktoten, die ihn bereits seit der Grundschule begleitet hatten, vom Gelände
der Mittelschule.
Es waren nur etwa zehn Minuten Fußweg, bis er bei sich Zuhause angelangt war.
Dort kommandierte er Hiroaki und Susumo in sein Zimmer, um mit ihnen das
Vorgehen der nächsten Tage zu besprechen. Wer mit seinen Zahlungen überfällig
war, wer eine Abreibung benötigte, neue Taktiken zum Austricksen der Lehrer und
ähnlich wichtige Dinge. Dann war da auch noch ein Junge aus der neunten Klasse,
der damit gedroht hatte, seinen Vater einzuschalten, der Polizeibeamter war.
Doch glücklicherweise für Bunzo hatte Susumo ein Paar Fotos mit seinem
Kamerahandy gemacht, auf dem dieser Schüler zu sehen war, wie er in der
Besenkammer heimlich mit einem Mädchen aus seiner Klasse knutsche und Bunzo
gedachte, das auszunutzen.
Chihiro war fix und fertig, als sie endlich in der Schule angekommen war. Ihre
Augen brannten vor Müdigkeit und schon bei der allmorgendlichen
Schulversammlung in der Aula wäre sie beinahe eingenickt. Hinterher konnte sie
sich kaum auf den Unterricht konzentrieren. Sie würde Zeniba darum bitten
müssen, etwas gegen diese Müdigkeit zu unternehmen. Vielleicht gab es ja einen
Zauber, der da half.
Ayaka war gut gelaunt und nervtötend wach. In jeder Pause quatschte sie nur
über die neuesten Fußballergebnisse der J-Leage vom Wochenende. In der großen
Pause um 10:25 entdeckte Chihiro, dass sie vergessen hatte, den Aufsatz über
das Sengoku Jidai, die Zeit der streiten Reiche, und hier insbesondere über den
Aufstieg Oda Nobunagas zu schreiben.
Ayaka bot ihr sofort an, abzuschreiben, aber ein kurzer Blick auf den ebenso
kurzen, wie oberflächlichen Text genügte, um Chihiro davon zu überzeugen,
dass sie besser schnell selber etwas zusammenschustern sollte. Ihre Freundin
entschuldigte sich für den typisch schlampigen Aufsatz damit, dass sie ihn beim
Gucken der Fußballergebnisse verfasst hätte.
Zum Glück bot sich Ichiyo ebenfalls als Textquelle an und Chihiro schafft es
gerade vor Unterrichtsbeginn seinen Aufsatz, inklusive einiger Variationen in
der Formulierung, zu Papier zu bringen. Der Lehrerin jedenfalls fiel zu Chihiros
und Ichiyos Erleichterung nichts weiter auf.
In der Mittagspause hatte sie dann zu ihrer eigenen, sowie Ayakas und Ichiyos
Verwunderung überhaupt keinen Appetit. Sie stocherte auf ihrem Teller herum und
bekam nur einige wenige Bissen herunter. Ihre Appetitlosigkeit schob sie auf
ihre Müdigkeit. Auf die Idee, dass Kohaku etwas gegessen hatte, kam sie nicht.
Nach dem Mittagessen gelang es ihnen eines der beiden Beachvolleyballfelder zu
ergattern, wo sie mit drei Mitschülern zwei Mannschaften bildeten. Zur
Verwunderung Aller machte Chihiro ebenfalls mit, anstatt sich wie sonst irgendwo
hinzuzuhocken und zuzusehen.
Die körperliche Aktivität tat ihr gut und half die Müdigkeit
zurückzudrängen. Außerdem bereitete es Chihiro unheimliche Freude, dass sie
endlich etwas tun konnte, ohne dass ihr gleich schwindelig wurde. Sie stellte
sich zwar nicht sonderlich geschickt an, immerhin hatte sie sich drei Jahre kaum
bewegt, war jedoch mit großem Eifer bei der Sache. Wegen ihr hatten Ayaka und
Ichiyo keine große Chance gegen die andere Mannschaft, aber das war Chihiro
egal. Ayaka, die immer gewinnen wollte, hingegen fluchte mehrfach laut.
Sie gab aber weder ihr noch Ichiyo, der zwar flink, aber nicht besonders
zielgenau war, die Schuld daran, denn jedes Mal, wenn sie den Ball bekam,
versenkte sie ihn irgendwie problemlos. Sie bekam den Ball nur nicht oft genug,
weil die anderen schnell mitbekommen hatten, dass sie Ayaka besser nicht
anspielten. Und weder Ichiyo noch Chihiro gelang es oft genug, Ayaka adäquat
anzuspielen. Trotzdem gab sie sich selbst die Schuld daran.
Chihiro vermutete jedenfalls, dass Ayakas unheimliche Treffgenauigkeit auch beim
Volleyball auf den verzauberten Kemari-Ball zurückzuführen war. Sie würde
etwas dagegen unternehmen müssen und gedachte auch dazu Zeniba zu fragen.
Nach dem Ende der Mittagsfreizeit war sie diesmal zum Reingen der Toiletten
eingeteilt, was sie zwar ungern tat, aber ohne zu murren. Denn sie sah ein, dass
das Toilettenreinigen den Schülern auf einfachste Weise beibrachte, diesen Ort
auch so wieder zu verlassen, wie man ihn selber vorzufinden hoffte. So waren die
Toiletten auf japanischen Schulen penibel sauber, ob man sie nun extra reinigte,
oder nicht. Aber es ging dabei ums Prinzip.
Um Viertel vor zwei begann die fünfte Unterrichtsstunde, Japanischunterricht
Sie besprachen gerade die uralten Chroniken, das Nihongi und das Kojiki, und
erfuhren zum ersten Mal etwas über den alten Shinto-Glauben, der bis 1945
Staatsreligion gewesen war.
Diesmal passierte Chihiro jedoch etwas, dass ihr vorher noch nie passiert war.
Sie hatte es zwar schon öfter bei anderen Schülern gesehen, aber nie
verstanden, wie man sich so gehen lassen konnte. Sie schlief ein. Mitten im
Unterricht. Einfach so. Zwar fühlte sie, wie ihr Ayaka mehrfach mit dem
Ellenbogen in die Rippen stieß, doch das war ihr so vollkommen egal. Es störte
sie nicht einmal.
Wie schon einmal beim Unterricht von Zeniba sackte ihr der Kopf vornüber auf
die harte Tischplatte. Aber sie hatte den Eindruck, es wäre ein herrlich
weiches Kopfkissen. Das Nächste, was sie wahrnahm, war ein lautes Klatschen,
das sie hochschrecken ließ. Der Lehrer, Herr Shigemitsu, hatte mit dem großen
Tafellineal auf ihren Tisch geschlagen.
Herr Shigemitsu hatte gerade einen längeren Monolog über den japanischen
Götterglauben im Allgemeinen und über die Gottheiten von Izumo und Ise im
Besonderen gehalten, als ihm ein helles, violettes Aufleuchten aus den
Augenwinkeln aufgefallen war. Er blickt ein wenig verwirrt auf und fühlte sich
durch den Lichtblitz vorsätzlich gestört.
Sofort fiel sein Blick auf das Ogino-Mädchen, das offenbar eingeschlafen war.
Ihr Haarband, das ihren Zopf zusammenhielt, funkelte noch verräterisch violett.
Chihiro Ogino war eine seine liebsten Schülerinnen gewesen, seit sie auf die
Mittelschule gekommen war. Sie war ruhig, aufmerksam und fleißig, sodass er
auch nichts dagegen hatte, dass sie im Unterricht häufig Bonbons lutschen
durfte, aufgrund ihrer merkwürdigen Erkrankung.
Aber das winzige Mädchen beklagte sich nie und war auch sonst sehr angenehm. In
der letzten Zeit allerdings ließen ihre Leistungen zunehmend zu wünschen
übrig und sie schien im Unterricht ständig abgelenkt. Dass sie jetzt
eingeschlafen war, passte in dieses neue Bild des Mädchens. Er beschloss, ihr
einen Schuss vor den Bug zu geben. Wenn sie sich aber nicht bald wieder fing,
würde er mit ihren Eltern reden müssen.
"Ausgeschlafen, Frau Ogino? Könnten sie vielleicht wiederholen, was ich ihnen
gerade über die Shinto-Götter erzählt habe, oder waren sie gerade zu
beschäftigt?" fragte er mit einem sarkastischen Unterton, den Chihiro so gar
nicht von ihm kannte.
"Ich äh, o, äh, nein", stammelt sie verlegen, "also äh, die Shinto-Götter,
wie zum Beispiel der Daikon-Rettich-Gott, die müssen alle sehr hart arbeiten,
weil wir Menschen ihnen das Leben so schwer machen. Und dann sind sie irgendwann
sehr erschöpft und brauchen eine Pause. Dann gehen sie ins Badehaus und lassen
es sich für ein paar Tage gut gehen. Da werden sie von Fröschen, von Schnecken
und manchmal auch von Füchsen bedient. Und da gibt es Kräuterbäder und
Massagen und viel gutes Essen und Unterhaltung ... und .."
Chihiro blickte in die Runde und stellte fest, dass alle anderen Schüler sie
entgeistert anstarrten. Herr Shigemitsu schaute nachdenklich zu ihr hinunter.
"Nun, Ogino, sie scheinen ja einen interessanten Traum gehabt zu haben. Immerhin
scheint er im weiteren Sinne mit unserem Unterrichtsstoff zu tun gehabt zu
haben. Lassen wir es also dabei bewenden. Schlagt bitte alle das Japanisch-Buch
auf Seite 126 auf. Sie werden dort zwei Textpassagen finden, eine aus dem Kojiki
und die äquivalente Passage aus dem Nihongi. Ich bitte sie, diese Passagen
durchzulesen und die wesentlichen Unterschiede in der Beschreibung der Handlung
herauszuarbeiten."
Chihiro schlug das Buch auf und versuchte sich auf den Text zu konzentrieren. Es
ging da um so einen Gott namens Okuni Nushi, der die Herrschaft über die
Schilfgefilde übernahm, die Japan symbolisierten. Der Name kam ihr entfernt
vertraut vor, doch sie konnte sich nicht erinnern, wo sie schon einmal gehört
hatte.
Doch letztendlich war Chihiro das gleichgültig und sie versuchte bis zum Ende
des Schulunterrichts nicht noch einmal einzuschlafen, was ihr Mühe genug
bereitete.
Kohaku war guter Stimmung. Die meisten Kräuter, die er in Erinnerung hatte,
waren noch immer auf der Wiese zu finden. Er sammelte Perilla, Erekanpen,
Wasabi, Myoga und Zenmai. Alles Kräuter, die sich hervorragend zum Würzen
verschiedener Speisen eigneten und zum Teil sogar spezifische Heilwirkungen
besaßen.
Aber damit war Kohaku noch nicht zufrieden und er ging ein wenig in den Wald
hinein, um dort verschiedene Pilze zu sammeln. Er sammelte Enokidake,
Shiitakepilze und ein paar Affenkopfpilze.
Während er sich nach weiteren Stellen umsah, an denen er Pilze sammeln konnte,
würde Kohaku plötzlich von einem intensiven Müdigkeitsgefühl überrascht.
Aus der Erfahrung der letzten beiden Tage wusste er, das Chihiro entweder
eingeschlafen oder kurz davor war, einzunicken.
Schnell versuchte er geistigen Kontakt zu Chihiro aufzunehmen, um ihr Nickerchen
zu unterbinden, doch es war bereits zu spät. Kohaku hatte den Eindruck bei der
Kontaktaufnahme, als würde er in einen grauen Nebel hineinfassen. Chihiro war
also bereits eingeschlafen.
Ihre Schlaftrunkenheit dämpfte sein gesamtes Wahrnehmungsvermögen empfindlich
und Kohaku hatte den Eindruck, als wäre er leicht betrunken, so wie er es bei
den Gästen im Aburaya öfters erlebt hatte. Eilig machte er sich auf den Weg
zurück, zum Haus der Oginos, denn er wollte vermeiden, dass er irgendwo im Wald
einschlief, wo er wehrlos und für jedermann sichtbar gewesen wäre.
Mühsam und mitunter torkelnd stapfte Kohaku durch das Unterholz, während er
versuchte, nichts von den gesammelten Kräutern und Pilzen zu verlieren. Endlich
hatte er die Wiese erreicht, wo er sich mühsam nach oben in Richtung des Hauses
der Oginos kämpfte.
Fluchend schaute Bunzo Abe auf die Uhr. Es war bereits kurz nach 14:00 Uhr. Er
hatte die Zeit vergessen, und jetzt würde er zu spät zu fünften Stunde
kommen. Warum hatte Susumo ihn auch mit den Fotos so lange aufgehalten? Er gab
dem Jungen ohne Vorwarnung eine Kopfnuss.
"Autsch, warum haust du mich", empörte Susumo sich.
"Los, wir müssen auf der Stelle wieder in die Schule zurück", kommandierte
Bunzo ungehalten. "Du hast uns mit dieser Diashow aufgehalten. Wir sind zu
spät! Also gibst du mir deinen Anteil von den heutige Einnahmen."
"Aber Bunzo, das kannst du doch nicht ...", jammerte Susumo, doch dann fügte er
sich. Jedes weitere Sträuben hätte nur neue Schmerzen zur Folge gehabt und
sein Anteil betrug, wie auch der von Hiroaki, ohnehin nur 10 %.
Schnell liefen die Drei in den Hausflur hinunter und zogen sich dort ihre Schuhe
an, so wie es die Tradition vorsah. Sie stürmten dann auf die Straße und
wollten gerade in Richtung der Schule eilen, als Bunzo ein eigenartiger Junge
auffiel, der merkwürdig torkelnd über die Absperrung der Straße zum Abhang
hin kletterte.
Der Junge, der zwölf oder vielleicht 13 Jahre alt zu sein schien, trug eine
Jeans, ein leicht zerknittertes Hemd und Segeltuchschuhe ohne Socken. Seine
Haare waren kurz geschnitten und auf der rechten Seite eigenartig asymmetrisch
ausrasiert.
Mit größter Sorgfalt schien er darauf bedacht zu sein, den Bambuskorb, den er
mit sich herumtrug, nicht fallen zu lassen. Vorsichtig hatte er ihn deshalb auf
den Boden jenseits der Absperrung gestellt. Dann machte er sich daran, selbst
hinüberzusteigen, wobei Bunzo den Eindruck hatte, er wäre besoffen.
Bunzo erinnerte sich daran, dass er diesen Jungen bereits einmal gesehen hatte,
wie dieser Fettwanst von Chihiros Vater ihn aus der Wohnung geschmissen hatte.
Da hatte er allerdings viel abgerissener ausgesehen, als jetzt. Offenbar hatte
der Straßenköter irgendwie Gnade bei den Oginos gefunden, was Bunzos Sympathie
für ihn nicht unbedingt steigerte.
Jedoch wunderte es ihn ein wenig, das der Junge nicht in der Schule war. So
etwas konnte schnell Ärger geben, jedenfalls, wenn man es übertrieb, wie Bunzo
aus eigener Erfahrung wusste. Inzwischen hatte der Junge seinen Korb wieder
aufgenommen und schickte sich gerade an, die Straße zu überqueren, als Bunzo
einfiel, dass es etwas kostete, wenn jemand seine Straße überqueren wollte.
Er gab Hiroaki und Susumo einen kurzen Wink und zu dritt eilten sie, dem Jungen
den Weg zu versperren, wobei Susumo einen kleinen Bogen lief, um ihr Opfer von
hinten an der Flucht zu hindern. Sie hatten diese Taktik schon oft geprobt und
deshalb ging auch diesmal nichts schief.
Kohaku war froh, dass er fast am Haus der Oginos angelangt war. Am liebsten
hätte er sich sofort hingelegt, um dem überwältigenden Schlafbedürfnis
nachzukommen. Seine Umgebung nahm er nur noch verschwommen war. Zwar bemerkte er
beim Überklettern der Absperrung die drei Jungen auf der anderen Straßenseite,
doch er dachte sich nichts weiter dabei. Eigentlich war er eher froh, dass er
nicht gestürzt war, denn er hatte zweimal einfach ins Leere gegriffen, als er
sich auf der Absperrung abstützen wollte.
Beim dritten Mal zwang Kohaku sich genauer hinzuschauen und dann klappte es auch
sofort. Vielleich hätte er doch einfach hinüberspringen sollen, dachte er bei
sich, aber er hatte Sorge, dass er in seinem ungewohnten Zustand gegen ein
Hindernis hüpfte.
Den Korb unter den rechten Arm wollte er gerade die schmale Straße zum Haus der
Oginos überqueren, als ihm plötzlich zwei Jungen den Weg verstellten. Beide
trugen eine Schuluniform. Der eine Junge war sehr groß, mehr als zwei Köpfe
größer als er, und wirkte auch wegen seiner breiten Schultern sehr massig.
Der andere Junge war fast einen Kopf kleiner und war sehr schmächtig und dünn.
Alle paar Sekunden blickte er zu dem großen Jungen hin, so als wollte er keine
Äußerung des anderen verpassen. In dem Moment wurde Kohaku von hinten
geschupst und musste einen kleinen Sprung nach vorne machen, um nicht
hinzufallen, wobei er mit dem Korb den großen Jungen streifte. Der dritte
Junge, dachte er überrascht, den hatte er komplett vergessen.
"He, du kleiner Stinker. Was fällt dir ein, mich einfach anzurempeln", brüllte
der große Junge sofort auf Kohaku ein und trat mit einer kleinen Drehung nach
Kohakus Korb. Der flog in hohem Bogen durch die Luft und verteilte bei Aufprall
seinen Inhalt auf dem Asphalt. Der dritte Junge, den Kohaku noch immer nicht
gesehen hatte, zog ihn am T-Shirt zurück, bis er genau von dem großen Jungen
stand.
Vorwurfsvoll sah Kohaku ihn an. "Warum hast du das gemacht?" fragte er und
schaute auf die Straße, wo die gesammelten Kräuter und Pilze verstreut waren.
Er war weder beunruhigt, noch hatte er Angst. Im Wesentlichen ärgerte Kohaku
sich, dass er nicht aufgepasst hatte und so einfach überrumpelt worden war.
Doch jetzt war er wieder hellwach und hatte die von Chihiro ausgehende
Müdigkeit überwunden.
Einen Moment lang überlegte er, ob er sich gegen die Jungen wehren sollte. Er
kam jedoch zu dem Schluss, dass es keinen Sinn machte, gegen Kinder körperliche
Gewalt einzusetzen. So groß der eine Junge auch sein mochte, neben Torooru
wäre er immer noch winzig.
"Warum ich das gemacht habe?" knurrte der große Junge mit aufgesetztem Zorn.
"Du hast die Straße betreten. Meine Straße. Das kostet etwas. Los, mach deine
Taschen leer!"
Gehorsam griff Kohaku in alle seine Taschen und stülpte die nach außen.
Natürlich war nichts weiter darin, als die Haustürschlüssel. Als Bunzo das
begriff, hätte er vor Wut am liebsten aufgeheult. Jetzt hatte dieser Knilch
nicht mal Wertsachen bei sich, fluchte er innerlich.
"Hiroaki. Durchsuch ihn, ob er auch Nichts versteckt", wies er den schmächtigen
Jungen an, der neben ihm stand. Der dritte Junge trat von hinten an Kohaku heran
und hielt ihn fest, währen Hiroaki ihn abtastete. Doch Kohaku hatte außer dem
Schlüssel nichts dabei.
"Also gut, wenn du sonst nichts hast, dann behalte ich eben das", raunte Bunzo
und betrachtete grimmig den Schlüssel. "Du bekommst ihn zurück, wenn du mir
nachher 1000 Yen gibst, wenn ich von der Schule zurückkomme. Und wenn du den
Ogino etwas davon sagst, dann bekommst du morgen eine Abreibung!"
Kohaku schüttelte den Kopf. "Ihr könnt den Schlüssel nicht haben. Er gehört
mir nicht und ohne ihn komme ich nicht ins Haus. Tausend Yen habe ich auch
nicht", sagte er mit endgültigem Tonfall, wobei er Bunzo gelassen in die Augen
sah. Er könnte zwar einfach mit einem kleinen Zauber das Türschloss öffnen,
aber das durften diese Jungen auf keinen Fall erfahren.
"Es ist mir doch egal, wo du die Tausend Yen herkriegst. Beklau doch einfach die
Oginos", schlug Bunzo höhnisch vor, wobei der den Schlüssel zwischen Damen und
Zeigefinger hin und her schwenkte. "Ha. Da komm mir eine prima Idee. Wir haben
ja den Schlüssel und da könnten wir doch ein wenig im Haus der Oginos
renovieren. Ich würd ja zu gerne sehen, wie der alte, fette Ogino dich noch mal
rausschmeißt." Überheblich und selbstzufrieden grinste Bunzo in die Runde.
Das konnte Kohaku auf keinen Fall zulassen. Er musste den Schlüssel
zurückbekommen, sofort. Mit einem Ruck riss er seinen rechten Arm vom dritten
Jungen los, der ihn noch immer festhielt, und grapschte sich den Schlüssel aus
Bunzos Hand. Das Ganze ging so schnell, dass Bunzo zuerst überhaupt nicht
reagierte. Er hatte die Bewegung kaum wahrgenommen und nur einen Luftzug
gespürt. Wie blöd stierte er einige Sekunden lang in seine leere Hand.
Der Junge hinter ihm fing Kohakus Arm sofort wieder ein und nahm ihn jetzt
erheblich fester in den Schwitzkasten. Er fürchtete sich davor, was Bunzo mit
ihm machen würde, wenn er noch einmal zulassen würde, dass ihr Opfer sich
losriss.
"Los, rück den Schlüssel wieder raus", brüllte Bunzo Kohaku direkt ins
Gesicht, aber der schüttelte nur den Kopf.
"Den Schlüssel könnt ihr nicht bekommen", entgegnete Kohaku, scheinbar völlig
unbeeindruckt. Tatsächlich war er eher verwirrt über das Verhalten der
Jugendlichen und er wusste nicht, was er jetzt am besten machen sollte. Die
Menschenkinder, mit denen er früher an seinem Fluss gespielt hatten, waren ganz
anders gewesen, als diese Jugendlichen, nicht so aggressiv.
Als Nächstes versuchte der große Junge mit verkniffenem Gesichtsausdruck, ihm
den Schlüssel aus der Hand zu entwinden. Zu dessen Überraschung schaffte er es
aber weder das schmale Handgelenk Kohakus umzuknicken, noch die feingliedrigen
Finger aufzubiegen, die den Schlüssel fest umschlossen.
"Also gut, du hast es ja nicht anders gewollt", sagte er plötzlich mit ruhiger
Stimme, wobei er zufrieden grinste. Jetzt fand er, hatte er endlich Mal einen
Grund, richtig unangenehm zu werden. Seit dem Vorfall mit Chihiro Ogino drei
Jahre zuvor war er da sehr vorsichtig geworden, sodass er sich meistens
zurückhielt.
Ein kurzer Blick in die Runde zeigte ihm jedoch, dass er außer seinen beiden
Kumpanen kein weiteres Publikum hatte und Vorsicht im Moment nicht notwendig
war. Aus praktischer Erfahrung wusste Bunzo, dass ein Schlag in den Solarplexus
beim Gegenüber zu einer Erschlaffung der Muskeln führt, durch die er den
Schlüssel bekommen könnte. Gerade blickte Bunzo noch nach hinten, die Straße
entlang, bevor er im Zurückdrehen zu Kohaku seine Faust hinausrammte.
Kohaku sag den Schlag wie in Zeitlupe kommen, doch widerstrebte es ihm, Gewalt
gegen die Jugendlichen anzuwenden. Wie leicht wäre es, die Umklammerung des
Jungen hinter ihm zu sprengen, die Faust abzuwehren und aus dem Kreis der
Jugendlichen zu springen. Doch schnell konnte er dabei auch jemanden verletzen,
denn Kohaku konnte seine Kraft im Verhältnis zu den Jungen nur schlecht
abschätzen, weil er nur wenig Erfahrung mit körperlichen Auseinandersetzungen
hatte. Das wollte Kohaku nicht riskieren.
Dabei musste er an Torooru zurückdenken, der ihm auch schon einmal einen Schlag
in den Bauch verpasst hatte. Das hatte er auch ausgehalten und so würde er auch
diese Situation hier problemlos überstehen. Was konnten ihm die Jugendlichen
schon tun?
Kurz vor dem Auftreffen der Faust spannte er die Bauchmuskeln leicht an, doch
dann passierte etwas, womit Kohaku nicht gerechnet hatte. Der Schlag erreichte
ihn nicht und wurde kurz vor der Kleidung getoppt, wobei es violett um ihn herum
flackerte.
Die Faust wurde mit einem ziemlich lautem, unangenehmen Knackgeräusch
zurückgeschleudert und der Junge, der ihn von hinten umklammert hatte, einige
Meter weit weggeschleudert. Im ersten Moment zeigte sich nur Überraschung im
Gesicht des großen Jungen, bevor es sich plötzlich in eine schmerzverzerrte
Maske verzerrte.
Im ersten Moment konnte Kohaku sich nicht erklären, was gerade passiert war.
Wie in Zeitlupe zog der große Junge seine rechte Hand zurück, wobei er seine
andere Hand, zu Hilfe nahm, um den verletzten Arm am Ellenbogen zu stützen.
Kohaku benutzte seine magischen Sinne, um festzustellen, was mit der Hand
passiert war und erkannte, dass zwei Mittelhandknochen, ein Handwurzelknochen
und die Gelenkschale des Ellenknochens zum Teil zertrümmert waren.
Allmählich sackte der Junge auf die Knie herunter, während er dabei mit weit
aufgerissenen Augen auf seine Hand starrte. Sie begann jetzt bereits sichtbar
anzuschwellen. Sein Gesicht wurde kreidebleich und Schweißperlen bildeten sich
auf der Stirn.
Kohaku wusste nicht, was er tun sollte. Jetzt war genau das passiert, was er
hatte vermeiden wollen, als er sich entschlossen hatte, sich nicht zu wehren:
Jemand hatte sich ernsthaft verletzt. Irgendwie musste er dem Jungen jetzt
helfen. Er trat einen Schritt auf ihn zu. Sofort begann der Junge mit
angsterfülltem Blick auf den Knien rückwärts von ihm fortzurutschen.
Im selben Moment rannten die beiden anderen Jungen, die jetzt ihre erste
Schreckstarre überwunden hatten, laut schreiend weg. Kohaku schaute ihnen
verwundert hinterher, bevor er einen weiteren Schritt auf den verletzten Jungen
zutrat, der jetzt begann verzweifelt versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.
"Du, du brauchst keine Angst zu haben", sagte Kohaku freundlich, "ich bin dir
nicht böse und ich werde dir nichts tun. Ich möchte dir nur helfen."
"Nein, nein, bleib weg von mir", krächze Bunzo, aber Kohaku ließ sich nicht
zurückhalten. Er blickte dem verletzten Jungen direkt in die Augen und beugte
sich zu ihm herunter. Verwundert blickte der große Junge zurück und bemerkte
erst jetzt, dass Kohaku grüne Augen hatte. Dabei fühlte er, wie sich sein
Pulsschlag beruhigte und die Panik sich legte.
Vorsichtig griff Kohaku nach dem verletzten Arm und der große Junge versuchte
nicht mehr, ihm den Körperteil zu entziehen. Er fasste ihm kurz unterhalb des
Ellenbogen, was Bunzo dazu brachte, aufzustöhnen. Aber als wäre er
hypnotisiert, konnte er sich nicht rühren.
Dann sagte Kohaku: "Im Namen des Wassers und Windes in dir, Schmerz weiche."
Dazu pustete er auf die zerschmetterte Hand, die bereits auf die Größe einer
kleinen Melone angeschwollen war.
Augenblicklich verschwand der pulsierende Schmerz aus seiner Hand. Ungläubig
schaute Bunzo darauf. War sie etwa geheilt? Er versuchte vorsichtig die Hand zu
bewegen, doch es tat sich nichts. Überhaupt nichts. Probeweise berührte Bunzo
das Handgelenk mit seiner anderen Hand, doch er spürte nichts. Eigentlich war
es eher so, dass er die Hand gar nicht mehr fühlte.
Sie schien nicht mehr Teil seines Körpers zu sein. Mit dem Zeigefinger drückte
Bunzo etwas in die Schwellung hinein. Es fühlte sich heiß und ekelig weich an,
aber er hatte kein Gefühl mehr in der Hand. Panik begann in Bunzo
aufzusteigen.
"Was, was hast du gemacht", kreischte er, "meine Hand, meine Hand, die ist
tot."
"Nein, deine Hand ist nicht tot. Du spürst sie nur nicht mehr. Jetzt solltest
du einen Arzt aufsuchen", riet Kohaku ihm, "denn in zwei bist drei Stunden wird
das Gefühl in die Hand zurückkehren und damit auch der Schmerz. Wenn du
willst, bleibe ich bei dir, aber heilen kann ich die Hand nicht. Sag mir, was
ich tun kann, um dir zu helfen."
"Dann geh weg. Ich will dich nicht mehr sehen", brüllte Bunzo zornig und
ängstlich zugleich. Dabei sprang er wieder auf die Beine. In dem Maß, wie der
Schmerz gegangen war, war auch seine Kraft zurückgekehrt. Langsam zog er sich,
rückwärts gehend und Kohaku argwöhnisch beobachtend zurück. Als er einige
Meter Abstand gewonnen hatte, drehte sich um und rannte zu seiner Hautür, die
er umständlich aufschloss, weil er die rechte Hand nicht benutzen konnte.
Kohaku schaute ihm mit schlechtem Gewissen hinterher. Hätte er nicht noch mehr
tun sollen, nein müssen, um zu helfen? Hätte er nicht besser aufpassen
müssen, dass den Jungen nichts passiert, auch wenn sie es waren, die ihn
angegriffen hatten? Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass das Haarband, das
Zeniba Chihiro gegeben hatte, seinen Schutz auch auf ihn ausgedehnt hatte. Doch
es konnte nichts Anderes gewesen sein.
Durch den Stein, den er und Chihiro jetzt im Bauch hatten, wurde dem Haarband
offenbar vorgetäuscht, dass sie ein einziges Wesen waren. Nachdenklich drehte
Kohaku sich um, hob den Bambuskorb von der Straße auf und begann von den
gesammelten Kräutern und Pilzen das vom Asphalt aufzulesen, was noch zu
gebrauchen war. Das Meiste war noch in Ordnung, musste nur gewaschen werden.
Die akute Müdigkeit, die ihn vorhin überfallen hatte, war verflogen und Kohaku
überlegte, ob er noch einmal in den Wald zurückkehren sollte, um das zu
ersetzen, was diese Jugendlichen unbrauchbar gemacht hatten. Aber er entschied
sich dagegen. Wenn er für Chihiro und ihre Eltern ein vernünftiges Abendessen
machen wollte, dann musste er zuerst herausfinden, wie die verschiedenen
Küchengeräte funktionierten.
Jedenfalls kochten die Menschen nicht mehr auf Feuer, wie das im Badehaus noch
der Fall war. Wasser konnte er problemlos mithilfe von Magie zum Kochen bringen,
aber wenn er Öl erhitzen wollte, um darin etwas zu braten, wusste er nicht, wie
er das machen sollte. Vorher musste er aber noch die verschiedenen Kräuter
sortieren, einige klein schneiden, andere zum trocknen Aufhängen, sowie die
Pilze waschen und würfeln.
Zwischendurch sah er durch das Küchenfenster, wie vor dem Nachbarhaus ein
großes Automobil mit blinkenden blauen Lampen hielt. Zwei Männer in weißer
Kleidung gingen mit einer Trage in das Haus hinein und trugen nach einigen
Minuten den großen Jungen darauf heraus, bevor das Auto wegfuhr.
Gegen halb drei am Nachmittag war er fertig und begann nun die Küche nach
Hinweisen zu durchsuchen, wie man die Geräte bedient. In einem der
Küchenschränke fand er dann mehrere Kochbücher, sowie einige ziemlich
zerfledderte und vollgekleckste Broschüren, die offenbar zu den Geräten
gehörten.
Mehr als eine Stunde nahm Kohaku sich Zeit, die verschiedenen Druckschriften zu
studieren. Dabei stieß er immer wieder auf Begriffe, mit denen er nichts
anfangen konnte. So fragte er sich, was Volt, Watt und Ampere sind, was eine
Sicherung, ein Magnetron oder ein Wobbler.
Alles in allem waren die Erklärungen aber gut verständlich und die Bedienung
einfacher, als Kohaku sich das bei der vielfältigen Nutzung der Geräte gedacht
hatte. Er probierte alles einmal aus und als er glaubte, dass er alles bedienen
konnte, nahm er sich noch kurz die Kochbücher vor, lernte alle Rezepte darin
auswendig.
Dafür brauchte er gerade einmal eine gute halbe Stunde, denn zum
Auswendiglernen genügte es ihm, jede Seite kurz anzuschauen. Als er auf die Uhr
schaute, war es gerade einmal 16:00 Uhr. Es würde jetzt noch eine gute Stunde
vergehen, ehe Chihiro aus der Schule zurückkommen würde und noch etwa drei
Stunden, bis es Abendessen geben würde.
Unruhig ging Kohaku ins Wohnzimmer, setzte sich im Schneidersitz auf das Sofa
und versuchte zu meditieren, um die Zeit zu überbrücken. Die meiste Zeit
seines Lebens hatte er immer etwas zu tun gehabt, sodass es ihm schwer fiel,
diese völlige Freiheit bei der Zeiteinteilung zu haben. Nach nur wenigen
Minuten wurde seine innere Unruhe immer stärker. Er war jetzt bei den Menschen
und musste so viel über sie erfahren, wenn er wie einer von ihnen leben
wollte.
Vielleicht konnte man ja aus diesem Ding, diesem Fernseher etwas über die
Menschen erfahren. Er nahm die Fernbedienung genauer unter die Lupe. Wenn er auf
die verschiedenen Knöpfe des Geräts drückte, erzeugte eine kleine Lampe vorne
tiefrote Blinksignale ab. Als er sie auf den Fernseher richtete, gab es ein
knackendes Geräusch und dann brach die Hölle wieder los. Anders aber, als beim
ersten Mal, war Kohaku diesmal vorbereitet und konzentrierte sich auf das Bild
und die Geräusche, die er von sich gab.
Es wurde eine Art Bildergeschichte gezeigt, der einen kleinen, kräftigen Jungen
zeigte, der verschiedene Gegner völlig ohne Sinn und Verstand bekämpfte. Nach
nur wenigen Minuten bekam Kohaku von dem Flimmern, Piepen und Brummen, das der
Apparat erzeugte, starke Kopfschmerzen, und die Augen begannen, ihm zu tränen.
In seiner Not zog er schließlich den Stecker aus der Dose.
Die Menschen mussten schon sehr schwache Sinne haben, wenn sie dieses Getöse
ertragen konnten, dachte er, und wieder einmal fragte Kohaku sich, wie wohl
Chihiro ihre Umgebung wahrnahm. Da er gerade vor dem Bücherregal stand, schaute
er sich die Titel an, die dort standen. Da ihm die wenigsten Titel etwas sagten,
nahm er sich das erstbeste Buch heraus. Vielleicht konnte er ja aus
Menschenbüchern etwas mehr über die Menschen erfahren.
Das Buch trug den Titel "Physik für Bauingenieure" und auf dem Einband waren
mehrere interessante Diagramme und Zeichnungen abgebildet. Innen auf dem Einband
war der Name von Chihiros Vater geschrieben: "Akio Ogino" und die Jahreszahl
1982.
Kohaku begann sich in das Buch zu vertiefen und fand es bereits nach kurzer Zeit
sehr interessant. Die Betrachtungen, Berechnungen und Formeln folgen einfachen,
sehr strengen Formalismen, die ihn stark an die Einführung in die Mathemagie
erinnerten, die Zeniba ihnen gegeben hatte.
Wann immer er eine Herleitung nicht sofort verstand, vollzog er die Berechnung
im Geiste nach und ergänzte sie um die fehlenden Überleitungen. Die Logik war
kristallklar und derartig elegant, dass Kohaku davon so vollkommen fasziniert
war, wie ihn selten zuvor etwas in den Bann gezogen hatte.
Er versank so völlig in den physikalischen Betrachtungen, dass er vergaß, an
Chihiros Rückkehr von der Schule zu denken. Daher wurde er völlig überrascht,
als er hörte, wie jemand die Haustür aufschloss und hereinkam. Rasch legte er
das Physikbuch zur Seite und eilte in den Flur, um nachzusehen. Es war
natürlich Chihiro und er hatte ihr Kommen nicht einmal gespürt.
Das Mädchen ließ den Schulranzen fallen und fiel ihm sofort um den Arm, als
sie ihn erblickte. "Kohaku, ich bin ja so froh, dass du da bist." Dann legte sie
ihren Kopf auf seine Schulter und er spürte, wie ihr Körper in seinen Armen
schlaff wurde. Schlagartig wurde Kohaku klar, wie sehr Chihiro das Wochenende
bei Zeniba mitgenommen hatte und wie sie die langen Nächte erschöpft hatten.
Ihr Schlafbedürfnis übertrug sich augenblicklich auf Kohaku. Diesmal hatte er
jedoch weder eine Veranlassung ihm zu widerstehen, noch hatte er den Willen. So
setzte er sich vorsichtig auf den Boden, sodass Chihiro ihren Kopf auf seinem
Bauch legen konnte, um danach direkt neben ihr einzuschlafen.
Etwa drei Stunden später, gegen 8:00 am Abend, kehrte Chihiros Mutter nach
Hause zurück. Sie war gut gelaunt, obwohl sie an diesem Tag besonders lange
hatte arbeiten müssen. Gerade hatte sie ihre Schuhe abgestreift und wollte das
Licht einschalten, als sie über etwas stolperte, das auf dem Boden lag. Sie
stieß einen einem kleinen Fluch aus und versuchte zu erkennen, was dort lag.
Schemenhaft erkannte sie einen unförmigen Knubbel, der leicht zu pulsieren
schien. Vorsichtig stieg sie über die abstehenden Teile des Haufens hinweg,
wobei sie die Wärme spürte, die davon ausging und ein leises Atemgeräusch
vernahm. Dann hatte sie den Lichtschalter erreicht und umgelegt.
Kohaku schreckte hoch und blinzelte Frau Ogino verdutzt an, während Chihiro,
leise grunzte, sich auf die Seite drehte und seelenruhig weiterschlief. Ihr
Schulranzen lag neben ihr auf dem Fußboden und die Schuhe hatte sie auch noch
nicht ausgezogen. Sanft begann Kohaku das Mädchen jetzt zu rüttlen. "Chihiro,
Chihiro, wach auf. Deine Mutter ist da."
"He, ihr zwei. Was macht ihr denn da? Warum schlaft ihr denn auf dem Fußboden?"
fragte Yuko Ogino verwundert. Dann wurde es auch ihr auf einmal klar. Es war das
letzte Wochenende gewesen, dass die beiden Kinder so erschöpft hatte. Sie
würde ernsthaft überlegen müssen, ob sie die Beiden noch einmal zu dieser
Zeniba gehen lassen sollte.
Chihiro öffnete jetzt schlaftrunken ihre Augen und versuchte sich zu
orientieren. Als sie erkannte, wo sie sich befand, setzte sich abrupt auf und
rieb sich die Augen. Kohaku, von Chihiro befreit, sprang sofort auf. "Guten
Abend, Frau Ogino. Verzeihen sie, aber ich muss noch etwas erledigen." Knapp
verbeugte er sich vor Chihiros Mutter, bevor er eiligst in der Küche
verschwand.
Kopfschüttelnd blickte sie hinter ihm her. Sie war es kaum noch gewohnt, dass
Kinder sich vor Erwachsenen verbeugten. Aber da sie es unglaublich süß fand,
wie höflich der junge Gott immer war, dachte sie sich nichts weiter dabei. "Sag
doch mal, mein Kleines, ist Akio denn noch nicht da?" wandte sie sich dann ihrer
Tochter zu.
Chihiro, die mittlerweile aufgestanden war und sich verlegen die Schuhe auszog,
zuckte mit den Schultern. "Nein, Mama. Ich hab' Papa seit heute Morgen nicht
mehr gesehen."
Yuko Ogino blickte sich jetzt um. Alles um sie herum wirkte, als wäre es wie
neu und die Luft im Haus war frisch und duftend. Gleichzeitig vermeinte sie
auch, einen leichten Kräuterduft wahrzunehmen, der ihren Appetit anregte.
Neugierig geworden schaute sie ins Wohnzimmer. Auf den ersten Blick sah alles,
wie immer, doch andererseits wirkte es, wie ein Foto aus dem Prospekt eines
Möbelhauses. Sie sah genauer hin.
Alle Bücher waren entstaubt, sämtliche Bilderrahmen gesäubert, die
Türklinken gewienert, die Leisten gewischt und sogar hinter und unter allen
Möbeln war es nahezu beklemmend sauber. Fast augenblicklich bekam Frau Ogino
ein schlechtes Hausfrauengewissen, weil sie sich in den letzten drei Jahren
nicht so um den Haushalt hatte kümmern können, wie es notwendig gewesen wäre.
Aber sie wusste auch, um alles derartig perfekt sauber zu bekommen, musste man
den ganzen lieben langen Tag putzen. Und selbst dann war es kaum zu schaffen.
Mit widersprüchlichen Gefühlen kehrte sie in den Flur zurück. Einerseits war
sie beschämt, wie schlecht sie als Mutter und Hausfrau war und andererseits
wollte sie wegen der guten Nachrichten, die sie hatte, am liebsten in Jubel
ausbrechen.
Deshalb ärgerte sie sich ein wenig, dass Akio noch nicht zu Hause war. Sie
hatte nämlich geplant, heute Abend alle zum Essen einzuladen und ein wenig zu
feiern. Da sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, holte sie erst einmal die
Post aus dem Briefkasten, setzte sich in einen Sessel und begann zu lesen.
Wenige Minuten später hörten Chihiro und Kohaku einen Aufschrei aus dem
Wohnzimmer und kamen sofort herbeigelaufen. Sie fanden Yuko Ogino ungläubig auf
einen Brief starrend vor.
"Mama, ist was Schlimmes passiert?" fragte Chihiro besorgt aber breit grinsend
schüttelte ihre Mutter den Kopf. "Mama, was ist denn?" hakte Chihiro nach.
Kohaku seinerseits fand das Verhalten der Frau ein wenig merkwürdig.
"Ach Chihiro, Kohaku, etwas Tolles ist passiert", meinte Frau Ogino
freudestrahlend, "aber das sage ich erst, wenn Akio wieder da ist, damit alle es
zusammen erfahren. Sobald er wieder da ist, lade ich euch alle zum Essen ein,
denn ich habe heute keine Lust mehr, zu kochen."
In diesem Moment bemerkte sie den Essensduft, der jetzt allmählich von der
Küche aus über den Flur in das Wohnzimmer drang.
"Bitte verzeihen sie, Frau Ogino, aber ich muss zurück in die Küche", meinte
Kohaku abrupt, verbeugte sich erneut und zog sich zurück.
"Nanu?" stutzte Frau Ogino und blickte dem Jungen verwundert hinterher. "Macht
er etwa etwas zu essen?" Sie stand auf und folgte ihm in die Küche und Chihiro
begleitete sie. Dort erblickte sie zu ihrem Erstaunen, wie Kohaku gerade ein
knusprig braunes Hähnchen aus dem Ofen holte. Auf dem Herd standen mehrere
Töpfe, in denen es lustig brodelte und der Küchentisch war bereits für vier
Personen gedeckt. Alles duftete einfach herrlich.
Gut zehn Minuten später kam Akio Ogino endlich auch nach Hause. Auf der einen
Seite war er völlig geschafft, vom vergangenen Tag, andererseits war er aber
auch sehr zufrieden mit dem Verlauf.
"Schatz, warum kommst du denn so spät nach Hause?" drang Frau Ogino ungeduldig
auf ihn ein.
"Ach Yuko, ich bin den ganzen Tag durch die Gegend gerannt", seufzte er
erschöpft, aber auch zufrieden. "Ich haben nämlich alleine Heute fünf neue
Kunden dazu bekommen. Andauernd hat mein Handy geklingelt. Das bedeutet alleine
für Monat etwa 60000 Yen Mehreinnahmen. Bald muss ich jemanden einstellen, der
den ganzen Schreibkrams und die Buchführung erledigt, sonst schaffe ich die
Arbeit nicht mehr."
"Akio, das ist doch wunderbar. Aber hör doch erst mal, was mir passiert ist",
jauchzte Frau Ogino freudestrahlend, "So viel Glück hatten wir seit Jahren
nicht mehr." Als ihr Blick zufällig auf Kohaku fiel, der in der Küchentür
stand, stutzte sie. Hieß es nicht, dass Drachen Glück bringen würden?
"Genau Schatz! Und deshalb wollte ich euch heute alle zum Essen einladen", sagte
er enthusiastisch. "Aber, wie ich feststelle, hast du schon gekocht, Schatz.
Stell es einfach kalt. Wir können es morgen Abend aufwärmen."
"Nein Schatz, ich habe nicht gekocht. Kohaku hat gekocht", sagte sie daraufhin
kopfschüttelnd. "Ich bin doch zu neugierig, was er gemacht hat und es wäre
sehr unhöflich, wenn wir es nicht probieren würden."
Akio Ogino schaute verblüfft zu dem Jungen herüber. Es duftete zwar ganz
annehmbar, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass das Essen so gut wie im
Restaurant wäre. Mit Grausen dachte an Chihiros Versuch, ein Mittagessen zu
kochen, als sie sieben gewesen war. Damals hatte er auch gute Mine zum bösen
Spiel machen müssen. "Also gut, Schatz. Dann gehen wir eben Morgen essen.
Schauen wir doch mal, was Kohaku da Schönes fabriziert hat."
Kurz darauf waren alle zusammen in der Küche und Kohaku richtete an. Es gab,
wie üblich Miso-Suppe, dazu gebratene Nudeln mit Kräutern, Reis mit Gemüse
und Pilzen und das Hühnchen, dass Frau Ogino eigentlich kochen wollte, nun aber
knusprig braun gebraten war.
Alles in allem schien es ein recht normales Abendessen zu sein, wie Herr Ogino
befand. Er wünschte sich doch lieber ins Restaurant gegangen zu sein, aber nur
solange, bis er probiert hatte.
"Schatz, das ist ja fantastisch", brach es aus ihm hervor, aber Yuko Ogino war
so konzentriert mit Suppe schlürfen beschäftigt, dass sie nicht antworten
konnte. Das Leuchten ihrer Augen dabei sprach aber Bände. Auch Chihiro machte
ihren Teller voll, mit Begeisterung essend. Einzig Kohaku sass vor seinem leeren
Teller und schaute unsicher in die Runde.
"Irgendwann haben wir schon einmal etwa so Leckeres gegessen. Ich kann mich nur
nicht mehr erinnern, wo" meinte er weiterhin. Chihiro und Kohaku tauschen einen
raschen Blick. Ob sich ihre Eltern doch wieder erinnern würden? An der Art und
Weise, wie Herr Ogino zulangte, konnte man eine gewisse Begeisterung nicht
verleugnen. "Sag doch Schatz, was waren das für tolle Nachrichten, die du
vorhin erwähnt hast?"
"O, Akio. Es ist einfach nur fantastisch", legte seine Frau los, "ich bin zur
Bereichsleiterin des Bezirks Nakaoka ernannt worden. Damit verdiene ich jetzt
mehr als doppelt so viel, wie vorher und stell dir vor, einen Firmenwagen
bekomme ich auch. Damit ich alle Filialen besuchen kann. Das Tollste ist aber
der Brief von der Krankenkasse, den wir bekommen haben."
"Die Krankenkasse hat und geschrieben? Was soll da denn toll dran sein?" fiel
Akio ihr ins Wort. "Immer wenn die uns geschrieben haben, ist es teuer
geworden."
"Was daran toll ist, Schatz. Sie bieten und einen Vergleich an. Sie wollen und
10.000.000 Yen zahlen, wenn wir die Klage gegen sie zurückziehen. Weil es dem
Ruf der Kasse schade."
Akio Ogino zog die Augenbrauen hoch. Das war wirklich eine erstaunliche
Neuigkeit. Und 10.000.000 Yen. Vorsichtshalber ließ er sich von seiner Frau das
Schreiben der Kasse zeigen. Es schien tatsächlich echt zu sein. 10.000.000 Yen.
So viel hatte er sich nie erhofft. "Na dann herzlichen Glückwunsch, zu deiner
Beförderung, Schatz. Und gleich Morgen werde ich mir einen neuen Wagen
bestellen. Am liebsten hätte ich wieder einen Audi."
Dann machte er sich wieder über das Essen her und schaufelte den Gemüsereis in
sich hinein, als hätte er seit einer Woche nichts mehr gegessen.
Kohaku dachte schweigend über die Begeisterung von Chihiros Eltern für das
Geld nach. 10.000.000 Yen. Bedeutete das soviel, wie 10.000.000 Goldstücke?
Waren Chihiros Eltern am Ende genauso goldgierig, wie die Froschmänner und die
Schneckenfrauen? Von Yubaba ganz zu schweigen. Das bereitete ihm Sorgen und er
hoffte, dass Chihiro später einmal nicht genauso werden würde.
Für sein Essen erhielt Kohaku von Chihiros Eltern ein großes Lob. Alle war
aufgegessen worden und Herr Ogino erweckte durchaus den Eindruck, als ob er
gerne noch mehr gegessen hätte. Beide waren sie hinterher nicht enttäuscht,
dass sie nicht auswärts essen gegangen waren. Um ein ähnlich gutes Essen zu
bekommen, hätten sie wohl in einen der Gurmetttempel Tokyos oder Kyotos gehen
müssen, wie Chihiros Eltern bedeuteten.
Nach dem Essen wollte Kohaku auch sofort abspülen, doch Yuko Ogino verwahrte
sich dagegen. Ihr war mittlerweile klar geworden, wer im ganzen Haus geputzt
hatte. Es war ja den ganzen Tag über auch nur eine Person im Haus gewesen. Akio
hatte es natürlich noch nicht bemerkt, aber der Unterschied zu vorher zeigte
sich hauptsächlich in den kleinen Details, auf die wohl nur eine Hausfrau
achtete.
Wenn man vorher nach einem Krümel auf dem Boden suchte, konnte man auch einen
finden, wenn man wollte, obwohl es ansonsten sauber war. Wollte man jetzt einen
Krümel finden, dann würde eine Suche ergebnislos sein, dessen war sich Frau
Ogino sicher. Aber wer hatte auch schon eine, im wahrsten Sinne des Wortes
göttliche Reinigungskraft.
Als Nächstes zeigte sie Kohaku die Spülmaschine, wie sie zu bedienen war und
welche Tabs er benutzen sollte, zeigte ihm die Selbstreinigungsfunktion des
Backofens und die verschiedenen Reinigungsmittel, zum Säubern der Töpfe und
Pfannen.
Da sie schon gerade einmal dabei war, erklärte sie ihm auch noch gleich, wie
der Staubsauger funktioniert, welches Mittel für die Toilettenreinigung gedacht
war, mit welchem Mittel man Kalkablagerungen von Kacheln beseitigen konnte und
was man am besten für die Fensterreinigung benutzt.
Kohaku war am Ende eher verwirrt und verwundert darüber, dass die Menschen für
alles und jedes ein Mittel oder eine Maschine hatten. Wie faul die Menschen doch
waren, dachte er bei sich. Aber waren gewisse Leute in der Geisterwelt nicht
ebenso faul, wenn sie für alles und jedes Magie benutzen?
In diesem Moment wurden seine Gedanken durch gedämpftes Gebrüll von Chihiros
Vater unterbrochen: "Wieso ist das Klopapier schon wieder alle!!!!"
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