Chihiro und Kohaku von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Einleitung --------------------- Einleitung Es gibt ein Lied zu dem Film, natürlich auf Japanisch. Es wurde von Kristin Olsson ins Englische übersetzt: http://sekaiseifuku.net/shiroiryuu.html Diese englische Version habe ich ins Deutsche übersetzt, wobei ich an einigen Stellen, die mir merkwürdig vorkamen, die japanischen Vokabeln nachgeschlagen habe. Z.B. Aoi heißt Blau, kann aber auch Grün bedeuten. So kommen einige Unterschiede zur englischen Übersetzung zustande. Weisser Drache Heimlich fliegst über die See im Mondschein Mein bezaubernder weisser Drache Schnell, schnell, noch schneller Zu meiner Seite Silbrige Schuppen blutverschmiert Suchst deinen gestolenen Namen Ziellos umherirrend Schöner weisser Drache Geliebter weisser Drache Trink Sens Nächte Versink in Chihiros Wassern Rostfarbener Wind bläst von der Erde Mein Pochen in der weissen Brust Schnell, schnell, noch schneller Fließ reichlich über Grüne Mähne brennend wie Feuer Suchst deinen verschütteten Fluss Ziellos umherirrend Schöner weisser Drache Geliebter weisser Drache Komm zu dem quellenden Strom Der in mir verborgen war Trink Sens Nächte Versink in Chihiros Wassern Text: Miyazaki Hayao Musik: Hisaishi Joe Kapitel 2: Nach dem Versprechen ------------------------------- Vorwort: "Chihiros Reise ins Zauberland", sowie alle darin vorkommenden Charaktere sind geistiges Eigentum von Studio Ghibli und Hayao Miyazaki. Kein Teil dieser Geschichte erhebt irgendeinen Anspruch auf Wahrheit, sondern dient nur der Unterhaltung. Naja, ich hoffe, die Geschichte gefällt Euch und vielleicht fällt mir ja noch ein besserer Titel dafür ein, wenn ich weiß, wie es endet. Es ist immerhin meine allererste Geschichte, also seid nicht allzu streng. Ich hatte übrigens noch ein Paar kleine Änderungen gegenüber der allerersten Version. Nach dem Versprechen Haku blickte noch lange Chihiro hinterher, wie sie zuerst über die Wiese lief und dann am Abhang vor dem Tunnel verschwand. Er hörte noch einmal kurz die Stimmen ihrer Eltern und dann auch Chihiros Stimme, bevor auch diese endgültig verstummte. Die Sonne schien ihm warm in das Gesicht und es würde ein wunderschöner Tag werden, nach all dem Regen zuletzt, jedoch das einzige, was er empfinden konnte, war eine tiefe Traurigkeit. Traurigkeit darüber, dass er Chihiro vielleicht für immer verloren hatte und Traurigkeit darüber, dass er sie belogen hatte, über seine eigene Situation und über das Versprechen, welches er ihr gegeben hatte und wahrscheinlich niemals würde halten können. Er hatte es nur getan, um Chihiro zu beruhigen und ihr die Sorge um ihn zu nehmen, denn er fühlte, das sie dicht davor gewesen war, die Welt der Menschen für immer aufzugeben und Teil der Geisterwelt zu werden, um bei ihm zu bleiben. Einzig und allein die Sorge um ihre Eltern hatten sie noch davon abgehalten. Das aber konnte er nicht zulassen, denn es war einfach zu Gefährlich für ein kleines Menschenkind hier zu bleiben und sein Drang, sie zu beschützen, war nach all den Ereignissen über die sie ihm auf dem Rückflug von Zenibas Haus berichtet hatte, noch stärker geworden. Sie hatte doch tatsächlich ihr Leben riskiert, um seins zu retten! Aber er wusste, dass sie, sobald sie den Tunnel verlassen und auf der anderen wieder die Welt der Menschen betrat, alles vergessen würde, was sie hier erlebt hatte, wie einen Traum, der am Morgen langsam verblasst. Das war sein einziger Trost. Sie würde sich nicht an das Versprechen erinnern können und auch nicht an ihn. Er gab sich einen Ruck und zwang sich, sich umzudrehen und zum Badehaus zurückzukehren. Zumindest musste er versuchen, den Vertrag mit Yubaba zu lösen und das Versprechen zu halten, denn das war er Chihiro und seiner Ehre schuldig. Es würde schwierig werden, denn wie er Yubaba kannte, würde sie ihn nicht ohne weiteres gehen lassen, auch wenn er seinen eigenen Namen jetzt wieder kannte. Da gab es ja immer noch den Vertrag zwischen ihm und Yubaba über seine Zauberlehre und er würde ebenso wie Chihiro eine Aufgabe lösen müssen, um die Magie des Vertrages zu brechen, oder eben warten, bis seine Lehrzeit abgelaufen war. Das würde dann erst in drei Jahren der Fall sein, in seinem sechzehnten Lebensjahr. Wenn er die Sache im nachhinein betrachtete, wunderte er sich sowieso, dass Chihiro es so einfach geschafft hatte, das Rätsel zu lösen, es sei denn, Yubaba hätte sie tatsächlich loswerden wollen. Auf jeden Fall würde sie unheimlich wütend sein auf ihn und Chihiro wegen der Sache mit Boh. Sie brauchte ja nur Eins und Eins zusammenzählen, dass es nicht Zeniba gewesen war, die Boh entführt hatte, sondern dass Chihiro ihn auf ihrer Fahrt zu Zeniba in Gestalt einer Maus mitgenommen und damit in Gefahr gebracht hatte. Chihiro war jetzt fort und in Sicherheit, also würde sie ihre Wut an ihm auslassen. Aber sein Herz war ruhig und er hatte keine Angst mehr vor Yubaba, auch wenn sie gedroht hatte, ihn in Stücke zu reißen. Das einzige, was ihm Sorge bereitete war, was geschehen sollte, falls es ihm tatsächlich gelänge, aus dem Vertrag zu kommen. Was konnte er dann tun? Seine einstige Heimat, der Kohakugawa war zugeschüttet worden und jetzt hatte er keinen Ort mehr an den er zurückkehren konnte und er eine physische Gestalt annehmen konnte, um dann sein Versprechen halten zu können und Chihiro wieder zu sehen. In der Welt der Menschen währe er so nur ein gestaltloses Gespenst, ohne die Fähigkeit irgendeine Form von Magie auszuüben und sich Chihiro irgendwie bemerkbar zu machen, selbst wenn er es schaffen würde, sie in dem Chaos der Menschenstädte irgendwie zu finden. Er würde jemanden um Hilfe bitten müssen, irgend einen mächtigen alten Gott oder jemanden anderen, der mehr Ahnung von diesen Dingen besitzt, als er selber. Aufgrund seines schlechten Rufes, den er sich nach Jahren des Stehlens für Yubaba erworben hatte, würde es nicht leicht sein, jemanden zu finden, der ihm hilft. Überall in der Geisterwelt kannten die Götter und Geister den weißen Drachen, der herumflog und schreckliche Dinge tat, scheinbar wahllos Leute überfiel und beraubte. Sie wussten nur nicht, wo er sich versteckte und kannten sein menschliches Erscheinungsbild nicht. Es waren Dinge an die er sich nur dunkel und wie aus einem Albtraum erinnern konnte, denn er tat sie ja nicht aus eigenem Antrieb, sondern wurde von Yubaba wider seine Natur dazu gezwungen. Haku war sich ziemlich sicher, dass er auf diesen Raubzügen auch mehrfach gemordet hatte, erfüllt und kontrolliert von dem habgierigen und mörderischen Selbst Yubabas. Er hatte sehr darunter gelitten und sein Herz war nahezu versteinert, bis Chihiro plötzlich aufgetaucht war und ihm wieder Hoffnung gegeben hatte. Im Moment jedenfalls fiel ihm eigentlich nur Zeniba ein, die er fragen konnte, aber er war sich nicht Sicher, ob sie ihm helfen würde oder könnte. Zielstrebig ging Haku durch den jetzt wieder verlassen erscheinenden Restaurantbezirk, die Treppe hinauf zu der großen Laterne und dann nach rechts über die Brücke zum Eingang des Badehauses. Dort hatte man inzwischen die Spuren von dem Test beseitigt und alle Angestellten und Gäste waren wohl mittlerweile schon schlafen gegangen. Es war ja auch schon spät genug. Lediglich Lin und Aniyaku warteten noch im Schatten des Eingangs auf seine Rückkehr. "Ah, Meister Haku, gut dass sie wieder zurück sind.", sagte Aniyaku geschäftsmäßig, "Die Herrin Yubaba erwartet sie zu einer kleinen Unterredung, wie sie sagte. Sie mögen sich bitte beeilen.". Er trat einen Schritt zurück, um den Weg für Haku freizugeben und verbeugte sich. Haku nickte zur Bestätigung in seiner üblichen kühlen Art, wandte sich dem Eingang mit dem Blauen Vorhang und dem Schriftzug "Badehaus" zu und ging hindurch. Lin folgte ihm und marschierte ebenfalls an Aniyaku vorbei, der ihr daraufhin einen finsteren Blick hinterherschickte, aber nichts zu dieser Unbootmäßigkeit sagte. Lin hatte sich bisher noch nie viel aus Haku gemacht und war aus verschiedenen Erfahrungen die sie gemacht hatte, ihm gegenüber vorsichtig und reserviert. Dass Haku Chihiro offensichtlich auch zu mögen schien hatte sie völlig überrascht und machte ihr Hoffnung. Schließlich hatte er sich zuvor nie irgendjemandem sonst im Badehaus freundlich gegenüber gezeigt und war bei allen als ausführendes Organ und Zuträger Yubabas gefürchtet. "Haku. Äh, Meister Haku.", sprach sie ihn an, als sie ihn fast eingeholt hatte, "Wie...Ist alles gut gegangen? Ich meine, geht es Sen... Äh Chihiro gut?". Sie hatte jetzt Haku eingeholt und ging neben ihm her, wobei sie ihn fast um Haupteslänge überragte. Er blickte sie eindringlich und traurig-ernst aus seinen flaschengrünen Augen an, während er weiterhin auf den Aufzug an der gegenüberliegenden Seite der Halle zuhielt, der ihn direkt zu Yubaba in das oberste Stockwerk bringen würde. "Ja, Chihiro ist wohlbehalten mit ihren Eltern in der Welt der Menschen angekommen.", sagte Haku mit leiser und doch fester Stimme, "Du hast sie auch gerne gehabt, nicht wahr?". Er wandte seinen Blick wieder nach vorne, zum Aufzug hin, und fügte dann nach einer kurzen Pause hinzu: "Ich glaube, zum Schluss hat sie fast jeder hier gerne gehabt. Ich danke dir, dass du dich so gut um Chihiro gekümmert hast. Wenn wir alleine sind, darfst du mich Haku nennen!" Völlig baff und mit offenem Mund blieb Lin abrupt stehen und sah Haku hinterher, wie der den Aufzug betrat und nach oben entschwand. Wenn sie sich nicht vollkommen täuschte, war das eben ein offenes Freundschaftsangebot seinerseits gewesen, und das war das Letzte was sie erwartet hatte. Kurze Zeit später betrat Haku Yubabas Büro. Sie saß geschäftig hinter ihrem Schreibtisch über irgendwelchen Papieren und beachtete ihn zunächst nicht, während sie von Zeit zu Zeit an einer Zigarette zog. Er wusste, dass sie es nicht mochte, wenn man sie jetzt ansprach und damit störte, weshalb er geduldig warten würde, bis sie ihn schließlich von sich anspräche, wie es schon so häufig vorgekommen war. Letztendlich hatte sie ihn ja herbeordert, um mit ihm zu sprechen. "Ah, Haku, da bist du ja endlich!". Sie blickte von ihren Papieren auf und steckte sich theatralisch eine neue Zigarette an. " Ist die kleine Göre mit ihren verfressenen Eltern endlich fort? Eigentlich müsste ich ihr ja fast dankbar sein, dass sie mir die Augen über Boh geöffnet hat. Dass der Junge schon stehen kann." "Ja. Sie sind nicht mehr böse auf Chihiro?", fragte Haku verwundert über ihre ausgeglichene Stimmung. "Böse auf dieses kleine dumme Menschenkind? Warum sollte ich böse darauf sein? Sie hat mir zwar eine Menge Ärger bereitet, aber eigentlich kann ich sie dafür nicht verantwortlich machen. Was wusste sie schon über unsere Welt. Und Boh hat es ja offensichtlich auch gut getan, auch wenn ich mir schreckliche Sorgen gemacht habe. Deshalb habe ich sie ja auch letztendlich gehen lassen, oder glaubst du vielleicht, Chihiro hätte das Rätsel von ganz alleine gelöst? Nein, ich habe ihr die Antwort in ihren ungezogenen kleinen Kopf gezaubert. Das ganze war doch eine prima Show vor all den Gästen, glaubst du nicht? Und eine super Reklame für das Badehaus. Die Götter und insbesondere dieser fette Rettichgott werden herumtratschen, dass ein süßes kleines Mädchen die alte Schreckschraube Yubaba ausgetrickst hat, und umso lieber hierher kommen. Außerdem war ich damit diese kleine Göre endlich los, die mit ihrer zunehmenden Beliebtheit und ihrer Uneigennützigkeit tatsächlich so etwas wie Solidarität unter meinen Arbeitern entstehen ließ. So etwas kann ich nun wirklich nicht gebrauchen.", antwortete Yubaba ungewohnt ausführlich, "Aber weißt du, auf wen ich tatsächlich böse bin und wen ich verantwortlich mache?" Haku blickte sie starr an, sagte jedoch nichts, denn er ahnte die Antwort bereits. "Dich! Ich mache dich dafür verantwortlich.", fuhr Yubaba nach kurzer Pause fort, jetzt mit offensichtlichem Zorn in ihrer Stimme, "Du hast ihr geholfen, zu mir zu gelangen, obwohl ich dich losgeschickt hatte, sie einzufangen und einzusperren, und sie instruiert, mich nach Arbeit zu fragen, wohl wissend, dass ich aufgrund meines Schwurs keine andere Wahl hätte, als ihr welche zu geben, was ihr dann ermöglichen würde, hier zu bleiben." "Sie wussten es!?!", rief Haku überrasch aus und fuhr dann resignierend fort: "Der Aufzug. Sie haben uns beobachtet." "Du hast völlig recht. Ich habe Chihiro beobachtet, um herauszufinden, wer ihr geholfen hat.", räumte Yubaba ein, "So wie sie dich vertraulich mit deinem Namen angeredet hatte, den sie eigentlich noch gar nicht wissen konnte, war mir sofort alles klar." "Ich hatte das damals befürchtet, aber als zunächst nichts passierte dachte ich .... Und dann haben sie mich losgeschickt, Zenibas mit einem Fluch belegtes Siegel zu stehlen. Nicht etwa um es selber zu besitzen, denn was hätten sie mit dem verfluchten Ding schon anfangen können, sondern um unseren Vertrag zu umgehen und mich so zu töten.", fiel es Haku wie Schuppen von den Augen. Und dann schlussfolgerte er eiskalt: "Schließlich hatte ich gegen keine der Vertragsklauseln verstoßen und sie konnten deshalb nicht direkt gegen mich vorgehen. Deshalb wählten sie diese Methode, mit der sie mich zwangen, mich gewissermaßen selbst zu töten. So konnten sie auch allem Ärger aus dem Weg gehen, der auf sie zugekommen wäre, wenn sie einen Gott getötet hätten und vorgeben, nichts mit der Sache zu tun gehabt zu haben. Das währe ja auch schlecht für den Umsatz gewesen." "He He He... und ich konnte meiner Schwester ein Schnippchen schlagen.", lachte Yubaba höhnisch, "So langsam beginnst du zu begreifen, wie die Dinge hier laufen. Du hast zwar nicht direkt gegen deinen Vertrag verstoßen, aber was denkst du dir eigentlich, was ich mit einem Lehrling anfangen soll, der mir gegenüber illoyal ist und sich mit Menschen abgibt? So etwas kann und werde ich nicht dulden! Ich verstehe nur immer noch nicht, wie es dir gelungen ist, den Fluch des Siegels zu überleben. Wie auch immer, ich bin jetzt müde und werde mich morgen eingehend mit dir befassen. Aber eines kannst du dir jetzt bereits abschminken, mein Junge: Deine Anrede als Meister Haku! Du bist entlassen." Sie steckte sich eine weitere Zigarette an und wandte sich wieder ihren Papieren zu, ohne ihn weiter zu beachten. Haku blieb jedoch stehen und blickte Yubaba weiterhin unverwandt und ärgerlich an. "Du bist ja immer noch da.", meinte sie schließlich nach einer Weile, als sie letztendlich alles sortiert hatte, "Was willst du noch?" "Ich will meinen Vertrag bei ihnen kündigen.", antwortete Haku entschlossen, "Ich will nicht länger ihr Zauberlehrling sein!" "Ha, du bist wohl wahnsinnig geworden?", schnauzte Yubaba überrascht, "Glaubst du ich würde dich nach all dem einfach so gehen lassen?" "Ja, das glaube ich.", sagte Haku einfach. "Ha, dann sag mir doch, wessen Vertrag ich kündigen soll?", spöttelte Yubaba, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. "Nigihayami Kohaku Nushi!", antwortete Haku ruhig. Jetzt war Yubaba zunächst einmal sprachlos und keuchte dann verblüfft: "Woher weißt du deinen Namen? Wer hat ihn dir verraten?" Um sie noch weiter aus dem Konzept bringen und weil er keine Gefahr mehr darin sah, die Wahrheit zu sagen, antwortete er nur: "Chihiro!". Yubaba schaute ihn überrascht an. "Chihiro, soso." , meinte Yubaba dann, nachdem sie sich schnell wieder gefasst hatte, "Ich glaube, ich habe sie doch etwas voreilig gehen lassen." "Aber du wirst deinen Vertrag trotzdem nicht kündigen, sondern jetzt in deine Kammer gehen und dort bis morgen warten!", fügte sie bestimmt hinzu, schloss die Augen, berührte mit ihrer linken Hand die Brosche mit dem Rubin auf ihrer Brust, der daraufhin zu leuchten begann und konzentrierte sich, um ihm ihren Willen aufzuzwingen. Jedoch nichts geschah. "Waaah?!?", brüllte Yubaba los, indem sie ihre Augen weit aufriss und aufsprang, "Was geht hier vor? ... Der Wurm, der Wurm ist weg!?! Was hast du mit meinem Wurm gemacht?" Haku antwortete leise und wahrheitsgemäß: "Chihiro hat ihn zertreten. Und wissen sie was? Chihiro hat auch den Fluch des Siegels gebrochen und das Siegel dann wieder unversehrt zu ihrer Schwester zurückgebracht!". "Chihiro, schon wieder Chihiro. Immer nur Chihiro!". Yubaba wurde jetzt richtig zornig. "So langsam beginnt mir dieses Mädchen erheblich auf die Nerven zu gehen. Also gut, du willst deine Lehrzeit beenden?". Sie machte energisch eine winkende Geste, woraufhin sich eine Schublade in ihrem Schreibtisch öffnete und der Vertrag in ihre Hand flog. "Hier ist dein Vertrag, er läuft noch drei Jahre, also müssen wir die Auflösungsklausel beachten. Diese besagt, dass du eine beliebige, von mir zu stellende Aufgabe zu erfüllen hast, um den Vertrag vorzeitig zu beenden." "Ich kenne meinen Vertrag genau. Er besagt auch, dass sie mir an einem Tag in der Woche Unterricht geben müssen und das haben sie auch nicht immer eingehalten. Was ich hier bisher gelernt von ihnen habe, ist kaum der Rede wert!", sagte Haku mit leicht gepresster Stimme. "Was wagst du mich hier des Vertragsbruches zu bezichtigen! Ich habe mich immer ganz genau an die Vertragsklauseln gehalten. In dem Vertrag steht nämlich nicht, wie lange ich dich unterrichten muss und was ich dich unterrichte, sondern nur dass ich es tun muss.", entgegnete Yubaba, jetzt gefährlich ruhig, wobei sie sich schwer auf den Schreibtisch stützte, "Aber wie du willst. Hier ist nun deine Aufgabe: Nenn mir einfach die Namen aller weiteren Personen, die Chihiro geholfen haben, zu mir zu gelangen. Wenn du die Wahrheit sagst, auch wenn es tatsächlich niemand außer dir war, wird sich der Vertrag von alleine auflösen und du kannst gehen. Ich bin mir jedoch ziemlich sicher, dass du ihr nicht alleine geholfen hast, sondern zumindest einen Helfer hattest!" Jetzt war es Haku, der fassungslos ob ihrer Hinterhältigkeit mit offenem Mund dastand. Er konnte ihr auf gar keinen Fall von Lin und Kamaji erzählen, denn das währe auch deren Ende gewesen. "Was ist? Du bist ja auf einmal sprachlos.", lästerte Yubaba, jetzt grinsend, und kam hinter ihrem Schreibtisch hervor, "Findest du die Aufgabe unfair? Die Regeln besagen nur, dass die Aufgabe prinzipiell lösbar sein muss, ob sie schwer ist oder nicht, fair oder unfair, das ist ganz und gar meine Entscheidung. Und schwer ist die Aufgabe ja nun wirklich nicht, hehehe." Sie baute sich vor ihm auf, blickte direkt in seine Augen, zog an ihrer Zigarette und blies im dann den Rauch direkt ins Gesicht. Haku konnte ein Husten und Blinzeln nur mühsam unterdrücken. "Deinem Schweigen entnehme ich, dass ich recht hatte, mit meiner Vermutung. Gut denn, du wirst morgen eine neue Tätigkeit aufnehmen. Wie man mir Mitteilte, haben wir wieder zu wenige Arbeiter in unserer Kohlegrube.", sagte Yubaba, selbstzufrieden über ihren Sieg, und bohrte ihren Fingernagel direkt in seine Magengrube, "Du wirst dort ab morgen anfangen und bist zum Ablauf deiner Lehrzeit dort Loren mit Kohle ziehen. Das ist genau die richtige Aufgabe für einen Jungdrachen wie dich. Einmal pro Woche wirst du dich zum Unterricht bei mir einfinden, denn Vertrag ist ja Vertrag. Ach ja, wenn es dir dort unten nicht gefällt, dann denk daran, dass du bei dieser Gelegenheit einfach nur die Aufgabe lösen und die Frage beantworten musst und du wirst sofort gehen können!" Sie drehte sich um und ging in Richtung der Kinderzimmertür. "Ich werde noch mal nach Boh sehen, bevor ich schlafen gehe, und du gehst jetzt besser. Hach, der Ausflug zu meiner garstigen Schwester muss ja so anstrengend für den kleinen Süßen gewesen sein. Er schläft schon wie ein Stein." Haku musste sich die Niederlage eingestehen. Er hatte Yubaba unterschätzt. Mit gefasster Mine machte er sich auf den Weg zu seiner Kammer, ein Stockwerk tiefer, wo er immer auf Abruf für Yubaba bereit war, wenn er nicht anderweitig zu tun hatte. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er versuchen sollte zu fliehen. Aber das verwarf er schnell wieder, denn Yubabas Verträge beinhalteten auch immer einen Bannfluch, so dass jeder Versuch zu fliehen Yubaba Macht über Leben und Tod des Deserteurs verleihen würde. Sie konnte ihn dann einfach wieder herbeizaubern oder sein Leben auspusten, wie eine Kerze. Chihiro war überhaupt nur in der Lage gewesen, zu Zeniba zu fahren, weil sie nie auch nur die leiseste Absicht hatte wegzulaufen, was dann den Bannfluch zu aktiviert hätte. Er seufzte. Die Kohlegrube würde es also sein. Er selbst war noch nie dort gewesen, obwohl er bereits fast fünf Jahre lang Yubabas Lehrling war. In den meisten Dingen war das Badehaus autark. Es wurden nahezu alle Lebensmittel bis auf einige Gewürze selbst produziert, es gab Handwerker, die alles mögliche herstellen konnten und wo das nicht reichte, half Yubabas dann Magie weiter. Auch für die Energieversorgung des Badehauses mussten keine externen Lieferanten hinzugezogen werden, denn die enormen Mengen der für die Heißwasserzubereitung benötigten Kohlen wurden aus einem eigenen Bergwerk tief unter den Fundamenten der Anlage in einem weit verzweigten System aus Flözen gefördert. Der für die Beleuchtung des Badehauses und der Restaurants benötigte Strom wurde nebenbei durch einen mit dem Kessel verbundene Turbine und einen damit verbundenen Generator erzeugt. Die Arbeitsbedingungen in der Grube waren fürchterlich, es gab ständig schwere Unfälle und wer nicht durch einen Unfall umkam, der starb in der Regel innerhalb eines Jahres an Erschöpfung und Auszehrung. Haku wusste das nur, weil er ein paar mal den Berichten des Grubenaufsehers heimlich gelauscht hatte, einem fürchterlich hässlichen und gewalttätigen Trollgeist, den Yubaba irgendwie unter Kontrolle hielt. Dass dort wieder Arbeiter fehlten, bedeutete nur, dass wieder jemand gestorben war. Yubaba pflegte die fehlenden Leute dann durch Arbeiter aus dem Badehaus zu ersetzen, die entweder nicht gut genug arbeiteten, oder deren Nasen ihr nicht passten. So hielt sie einen ständigen Druck auf die Belegschaft aufrecht. Dass trotzdem ständig neue Leute bei ihr anheuerten lag einfach daran, dass diese Dinge außerhalb des Badehauses nicht bekannt waren und es selbst innerhalb des Badehauses unter den Angestellten nur Gerüchte darüber gab, was dort unten vorging, denn niemand war bisher von dort zurückgekehrt, um zu berichten. Drei Jahre würde sein Vertrag noch laufen und das bedeutete letztendlich sein Todesurteil, wenn er die ganze Zeit dort unten schuften musste. Dann muss es wohl so enden, dachte er ohne bedauern bei sich, über kurz oder lang hätte Yubaba ihn ohnehin zugrunde gerichtet. Letztendlich verdankte er seinen Namen, die Freihit sich zu entscheiden und sein Leben ohnehin nur Chihiro. Diejenigen an Yubaba zu verraten, die Chihiro geholfen hatten, währe Verrat an sich selbst und was viel schlimmer war, auch an ihr. Also würde er bald sterben und Yubaba würde gewinnen. Haku setzte sich in seiner Kammer an das Fenster, betrachtete stundenlang die vorbeiziehenden Wolken und spürte die frische Briese des Windes und die Wärme der untergehenden Sonne in seinem Gesicht. Kapitel 3: Ein neues Zuhause ---------------------------- Hallo zusammen. Das ist das zweite Kapitel und es ist noch nicht ganz fertig, denn ich muss noch ein paar Sachen nachschauen. Aber so im großen und ganzen wird es wohl so bleiben. Ich habe die Daten ändern müssen, denn offenbar beginnt in Japan das Schuljahr Anfang September und geht bis Ende Juni. Chihiro kommt übrigens am 18. (nur welchen Monats? Auf jeden Fall aber im Sommer!) ins Badehaus. Steht übrigens auf dem Kalender von Kamaji. Ein neues Heim Akio Ogino, Chihiros Vater, fuhr auf dem Rückweg etwas vorsichtiger, denn die fast Vollbremsung vor dem Stein am Tunnel hatte ihm zu denken gegeben, aber nur etwas. Schließlich erreichten sie den asphaltierten Teil der Straße, bis sie dann nach zweimaligem Linksabbiegen in die richtige Straße zu ihrem neuen Heim einbogen. Nach weiteren gut 200 Metern parkten sie dann direkt vor ihrem schmucken, neuen und hellblau angestrichenen Einfamilienhaus mit Vorgarten. "Komm, Chihiro, steig aus.", sagte Yuuko Ogino, ihre Mutter, bevor sie selbst die Beifahrertür öffnete. Chihiros Vater war natürlich als erster aus dem Audi gesprungen und wunderte sich jetzt über den bereits überquellenden Briefkasten: "Schau mal, wie viel Post wir bereits bekommen haben. Dabei habe ich doch erst gestern den Nachsendeantrag gestellt." "Ja, wirklich komisch. Genau wie vorhin die ganzen Blätter auf dem Auto und der Staub im inneren.", meinte Yuuko Ogino, indem sie zuerst auf den Briefkasten schaute und sich dann nach Chihiro umschaute, die jetzt neben dem Auto stand und Gedankenversunken ihren völlig vertrockneten Blumenstrauß in der Hand hielt, "Chihiro, was ist denn mit deinen Blumen passiert?" Chihiro zuckte leicht zusammen, als ob sie jemand aus einem Tagtraum geweckt hätte. Sie hatte das intensive Gefühl, als ob sie irgendetwas ganz entscheidendes vergessen hätte und versuchte sich daran zu erinnern. Aber da war einfach nichts. Langsam blickte sie nach unten auf ihren Blumenstrauß, konnte sich aber über seinen Zustand gar nicht wundern. Irgendwie schien mit den Blumen doch eigentlich alles in bester Ordnung zu sein. Sie konnte nur nicht sagen, wieso. Aber Chihiro war sich ziemlich sicher, dass es mit dem zu tun hatte, woran sie sich zu erinnern versuchte. "Sie sind verwelkt.", sprach sie deshalb einfach das Offensichtliche aus, ging zur Mülltonne hinüber und warf den Strauß ohne großes Bedauern weg. Das wichtigste, die Abschiedskarte, hatte sie ja noch. Zur Sicherheit tastete sie noch einmal in ihrer Hosentasche danach, aber sie war immer noch da. Danach ging sie einer plötzlichen Eingebung folgend entschlossen zum Auto zurück und holte so viele Taschen vom Rücksitz, wie sie tragen konnte, die sie dann in Richtung der Haustür schleppte. Vater Akio hatte mittlerweile die richtigen Schlüssel ausfindig gemacht, die Haustür geöffnet und anschließend auch noch den Briefkasten. Fassungslos ging er nun die Post durch, wobei er immer hektischer wurde. "Schau mal, Yuuko, das kann doch gar nicht sein.", sagte er konsterniert, wobei er seiner Frau einen Brief vor die Nase hielt, "Dieser hier hat einen Poststempel von übernächster Woche!?! Ich glaube, da will uns jemand übel mitspielen. Erst die Sache mit dem Auto und dann dies!" Yuuko Ogino betrachtete den Brief eingehend und schüttelte leicht zweifelnd mit dem Kopf. "Ich glaube, du hast Recht, Schatz, aber wir sollten uns jetzt erst einmal um unser Gepäck kümmern und nachsehen, ob die Umzugsfirma auch alle Möbel in die richtigen Räume gebracht hat. Ich hatte sie zwar eingehend instruiert, aber man weiß ja nie ... . Und dann müssen wir ja auch noch die ganzen Kleinteile einräumen.", meinte sie, praktisch wie immer. Sich nach Chihiro umdrehend, um sie aufzufordern mitzuhelfen, stellte sie verwundert fest, dass ihre Tochter bereits direkt hinter ihr in der offenen Eingangstür stand, voll bepackt mit Taschen. Normalerweise dachte Chihiro nicht besonders gut mit und tat auch sonst nur wenig von alleine. "Wo soll ich die hinbringen, Mama?", wollte sie wissen. "Das ist ja lieb von dir.", lobte Yuuko Ogino ihre Tochter, "Stell die Taschen einfach erstmal neben die Umzugskartons in den Flur." Chihiro marschierte an ihr vorbei und stellte die Taschen ordentlich vor den in der Mitte des Hausflurs sauber aufgereihten Kartons ab. Dabei fiel ihrer Mutter ein violettes Glitzern in Chihiros Haaren auf. "Chihiro, komm doch mal her.", sagte sie, neugierig geworden, und fragte dann, als sie das Haarband entdeckte, welches ihren Pferdeschwanz zusammenhielt: "Das ist aber hübsch, hmm. Wo hast du das denn her? Heute Morgen hattest du es doch noch nicht, oder?". "Ach das!", antwortete Chihiro fröhlich, "Das habe ich geschenkt bekommen, von ... von ... ?". Sie blickte ihre Mutter fragend aus großen Augen an und stellte dann erstaunt fest: "Ich weiß es nicht mehr!". Yuuko Ogino sah ihre Tochter kurz zweifelnd an, zuckte dann aber mit den Achseln. Ihr Mann kam jetzt mit zwei schweren Koffern aus dem Auto herein und sie machte sich daran, ihm zu helfen. Nach einigen Stunden hatten sie in einer gemeinsamen Anstrengung die wesentlichen Dinge erledigt, alle Kleidungsstücke, Bücher, das Geschirr und auch Chihiros Spielsachen eingeräumt, die Bilder aufgehängt, die Betten bezogen und sogar im ganzen Haus gesaugt und Staub gewischt, worüber sich Yuuko Ogino furchtbar geärgert hatte, weil sie die Umzugsleute dafür verantwortlich machte. Wie konnte schließlich auf allen Möbeln Staub liegen, wenn diese erst am Vormittag aufgestellt worden waren. Immerhin waren diese im wesentlichen in den vorgesehenen Zimmern und mussten nur ein wenig zurecht gerückt werden. Sogar der Fernseher war schon angeschlossen, funktionierte aber noch nicht, weil der Kabelanschluss noch frei geschaltet werden musste. Begeistert über die Größe des Hauses im Gegensatz zur Enge ihrer alten Wohnung in Tokyo, tobte Chihiro barfuss durch die Räume und ihre Mutter ließ sie entgegen ihrer sonstigen Einstellung gewähren, denn die Kleine hatte sich wirklich Mühe gegeben und sich richtig Nützlich gemacht, insbesondere zum Schluss beim Staubwischen. Sie mochte ihre Tochter kaum wieder erkennen, so anders gab diese sich. Besonders begeistert zeigte Chihiro sich über den Kabelanschluss in ihrem eigenen Zimmer im ersten Stock, konnte sie dann doch irgendwann ihren eigenen Fernseher haben, und über das zweite Badezimmer oben, dass sie dann morgens ganz alleine nutzen würde können. Schließlich kehrte am frühen Abend etwas Ruhe in die kleine Familie ein. Vater Akio setze sich in das Wohnzimmer auf das neue Sofa, um endlich den Berg an Post durchzusehen, und Mutter Yuuko ging in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten, denn inzwischen waren sie alle hungrig. Dort stellte sie mit Erstaunen fest, dass alle frischen Lebensmittel, die sie aus Tokyo mitgebracht hatte, schlecht oder verfault waren, und einfach nur Reis kochen wollte sie auch nicht. "Schatz, gibst du mir die Wagenschlüssel? Ich muss noch einmal einkaufen gehen.", sagte sie zu ihrem Mann, der inzwischen mit krauser Stirn über den Briefen brütete, "Ich glaube, ich hatte auf der Herfahrt in der Nähe einen Konbini gesehen (-> www.japanlink.de/ll/ll_land_konbini.shtml)." Dieser griff daraufhin ohne aufzusehen in seine Hosentasche, fingerte den Schlüssel heraus und brummelte so etwas wie: "OK". Nach gut einer halben Stunde kehrte sie dann zurück, bepackt mit Tüten voller Lebensmittel, ging in die Küche und machte sich daran, das Abendessen zu bereiten, freiwillig und voller Elan unterstützt von Chihiro, wie diese es vorher noch nie getan hatte. "Schatz!", rief sie, nachdem der Küchentisch gedeckt war, "Komm essen und hör auf die Post zu wälzen. Es gibt Miso-Suppe und Sushi.". Akio Ogino kam mit sorgenvoller Mine aus dem Wohnzimmer geschlichen und hielt seiner Frau schweigend ein Schreiben hin. Sie nahm es ihm aus der Hand und las es sorgfältig durch. Es stammte von seinem Arbeitgeber, einem großen Architekturbüro, welches unter anderem die Planung für das Siedlungsprojekt gemacht hatte, in dem sich auch ihr neues Haus befand, und enthielt eine höfliche, aber unmissverständliche Aufforderung sich bis zum Freitag, den 01.09.2000 in seinem neuen Büro zu melden, da ansonsten mit fristloser Entlassung zu rechnen sei, trotz der jahrelangen fruchtbaren Zusammenarbeit. "Aber Akio, das kann doch alles nur ein böser Scherz sein.", versuchte Yuuko ihn zu beruhigen, "Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir heute immer noch Freitag, den 18. August haben. Komm wir gehen zu den Nachbarn rüber und fragen diese, welches Datum wir heute haben. Vorhin im Konbini hatte ich leider nicht daran gedacht. Dabei können wir uns ja auch gleich mit ihnen bekannt machen." Chihiro konnte aus dem Küchenfenster sehen, wie ihre Eltern nach nebenan zu dem gelb gestrichenen Haus gingen und anschellten. Nach einer kurzen Weile wurde die Tür geöffnet, ihre Eltern verbeugten sich und unterhielten sich eine Weile mit einer unsichtbaren Person. Nach etwa zehn Minuten kehrten sie dann mit sichtlich bleichen Gesichtern zurück und Chihiro sah kurz einen älteren Mann Mitte fünfzig aus der Tür treten, der kopfschüttelnd ihren Eltern hinterher sah. Irgendetwas war nicht in Ordnung, das konnte Chihiro spüren. "Aber Herr Abe hat doch unmissverständlich gesagt, dass heute Samstag ist, der zweite September!", hörte sie ihren Vater sagen, als ihre Eltern wieder zur Tür herein kamen. "Akio, wie soll das den sein?", entgegnete ihre Mutter, "Dann hätten wir für die Herfahrt ja mehr als zwei Wochen gebraucht. Komm, wir essen jetzt erst einmal und danach rufen wir meine Eltern mit dem Handy an. Es müsste ja inzwischen wieder aufgeladen sein. Ich versteh sowieso nicht, wie der Akku so schnell leer gehen konnte." Schweigend aßen Chihiro und ihre Eltern, bevor diese sie dann mit dem Hinweis auf ein ernstes Gespräch auf ihr Zimmer schickten. Sie hörte ihre Eltern entgegen ihrer sonstigen Art noch eine Weile teilweise Laut miteinander diskutieren, wobei sie sich äußerst unwohl fühlte, aufgrund der Spannung die sie spürte, und weil sie nicht wusste, was nun eigentlich los war. Heute sollte der zweite September sein, Samstag? Dann würde Montag ja bereits das neue Schuljahr beginnen! Das wäre doch wirklich zu verrückt, dachte sie bei sich, legte sich auf ihr Bett, betrachtete noch eine Weile ihr neues, violett glitzerndes Haarband und versuchte sich zu erinnern, von wem sie es bekommen hatte, bevor sie schließlich erschöpft in einen tiefen Schlaf mit wirren Träumen über endlose Tunnel fiel. Kapitel 4: Die Kohlengrube -------------------------- So, ihr Lieben, hier ist vorläufig schon mal das dritte Kapitel. Das muss ich aber noch mal überarbeiten und für das vierte Kapitel muss ich mir noch ein paar Charatere ausdenken, deshalb wird es wohl etwas ländger dauern. Viel Spass beim lesen. Die Kohlengrube Haku wurde vom Läuten der Glocke in seiner Kammer aus seinen Gedanken gerissen. Draußen war es jetzt mittlerweile fast ganz dunkel und er spürte die übliche Betriebsamkeit, die sich nun im Badehaus erhob, hörte leise die Stimmen der Frauen, wie sie an der Brücke die ersten Gäste willkommen hießen und roch den Rauch aus dem Schornstein, den die kühle Abendbriese zu ihm herüber trug. Diesmal ohne besondere Eile machte er sich auf den Weg in Yubabas Büro. Noch einmal sah er zurück in seine kleine Kammer, die er nun schon seit nahezu fünf Jahren bewohnte, die aber nichts persönliches von ihm enthielt. Wahrscheinlich würde es das letzte mal sein, dass er diese Kammer sah, dachte er bei sich, aber besonders wohl hatte er sich hier sowieso nie gefühlt, ständig unter Abrufbereitschaft von Yubaba. Er hatte noch überlegt, ob er sich bei Lin oder Kamaji verabschieden sollte, aber wahrscheinlich war es das Beste, die Beiden nicht mit seinem Schicksal zu belasten. Ohne jeden Besitz war er damals hierher gekommen und würde auch ohne materiellen Besitz wieder von hier gehen, falls er irgendwann noch einmal gehen konnte, denn das einzige, was er hier zu erwerben erhoffte, war zumindest eine Einführung in die mächtige Magie, für die Yubaba in der Geisterwelt bekannt und berüchtigt war. Gold, Juwelen oder andere Reichtümer hatten ihn nie interessiert, denn als er noch in seinem Fluss gelebt hatte, hatte er auch nichts besessen und etwas Wertvolles hatte er darin auch nie gefunden. ... Außer Chihiro... Wie naiv und töricht er gewesen war, Lehrling von Yubaba zu werden, denn sie hatte ihn und seine Fähigkeiten als Drache nur ausgenutzt ohne jemals eine wirkliche Gegenleistung dafür zu geben. Kamaji hatte ihn damals gewarnt, aber in seinem kindlichen Ungestüm hatte er nicht auf den alten Mann hören wollen, denn zu groß war noch der Schmerz über den Verlust seiner Heimat gewesen und zu groß der Zorn auf die Menschen, die dieses verursacht hatten und denen er es damals irgendwie heimzahlen wollte. "Abärr wä soll ächn dänn mät dän beidä Jammärrgestaltän da dat Pänsum schaffä?", hörte Haku eine tiefe, raue Stimme aus Yubabas Büro dröhnen, als er sich der nur angelehnten Tür näherte. Große schwarze Fußabdrücke wahren auf den prunkvollen Fliesen davor zu sehen, die ihm gehörten, Torooru, dem Bergtroll. "Mär fähläh mändästänz fönf Leutä, om dä Lohrä zo ziehä.", fuhr die Stimme mit einem fordernden Unterton fort. Haku hatte jetzt die Tür zu Yubabas Büro erreicht. Anstatt es jedoch zu betreten, lauschte er noch eine Weile, um vielleicht etwas Nützliches zu erfahren. "Jetzt hör schon auf zu lamentieren!", hörte er Yubaba schimpfen, "Ich gebe dir schon genug Leute, denn schließlich brauche ich ja die Kohlen für den Heizkessel. Aber erst mal berichte mir, wieso dir schon wieder fünf Leute fehlen. Außerdem habe ich dir schon tausendmal gesagt, dass du dir die Füße waschen sollst, bevor du mein Büro betrittst. Hmpf, und ein Bad könnte auch nicht schaden." "Naja, also zwo sän vohn einär Lohrä zärquätscht wordän, einär wordä vohn einäm Fälsän ärschlagän, einän hat 'nä Fälsanämonä gäschnapp, wah kein schönä Anbläck, on einä äs einfach värräk. Hab ähn än dä Grobä geschmässn.", hörte Haku den Troll Torooru mühsam seine Erklärung krächzen, denn offensichtlich war Japanisch nicht seine Muttersprache, bevor er dann brüllte: "On wänn säh wollä dat äch mär dä Füssä waschä, dann sorggäh säh gäfällägs für gänug Wassa da unnäh". Mit Grauen dachte Haku an die Grube, jenen finsteren Teil des Badehauses, an dem mit dem Bergbau ursprünglich begonnen worden war und der jetzt Yubaba zur Endlagerung ihrer Opfer diente. Die Falltür in ihrem Büro führte direkt dorthin und durch einen speziellen Bannzauber wurden die Seelen der Ermordeten dort unten fest gehalten, damit diese sich niemals jemandem bemerkbar machen konnten und so keiner jemals Yubaba auf die Schliche kommen würde. Beinahe hätten er, Chihiro und Boh dort unten auch ihr Leben beschlossen. "Jaja, ist ja schon gut.", versuchte Yubaba den Troll zu beschwichtigen, "Ich habe hier oben ohnehin einen Überschuss an Arbeitskräften. Du bekommst also erst mal die beiden da und eine ganz spezielle Arbeitskraft, um die Loren zu ziehen. ...Wo der Junge nur bleibt?" Haku entschied, dass es nun an der Zeit sei, in das Büro zu gehen. Um nicht allzu auffällig sofort nach Yubabas Bemerkung über seinem Verbleib den Raum zu betreten, wartete er noch einen Moment. Schließlich trat Haku ein und blieb wie üblich direkt neben der Tür stehen, nachdem er diese leise und sorgfältig geschlossen hatte. Die Spur schwarzer Fußspuren führte quer über den prächtigen Teppich hin zu Yubabas Schreibtisch, die selbst von der mächtigen Gestalt Toroorus verdeckt wurde, der diese Spuren Verursacht hatte und sich jetzt schwer auf dessen Kante stützte, so dass die Holzplatte leicht knarzte. Rechts daneben knieten zwei Froscharbeiter auf dem Bode und machten Kotau vor der Hexe. Sie schlotterten sichtlich am ganzen Körper. Der Troll Torooru selbst bot einen unglaublichen Anblick. Er war gut zwei Meter groß und fast ebenso breit, hatte dabei aber fast lächerlich kurze Arme und Beine, die jedoch mit enormen Muskelpaketen versehen waren. Da er nur so etwas wie einen Lendenschurz trug, konnte man die vielen Narben sehen, die seine gespensthelle Haut am ganzen Körper bedeckten, ebenso wie den Kohlenstaub, der seine großen Füße fast schwarz machte. Sein haarloser Kopf wirkte auf den übertrieben breiten Schultern winzig klein und der Geruch den er verströmte, war einer genaueren Beschreibung nicht zugänglich. "Du hast dir ja ganz schön Zeit gelassen, Haku.", bemerkte Yubaba scharfzüngig wie immer, die irgendwie sein Betreten des Raumes bemerkt hatte und jetzt an Torooru mit einem Auge vorbeilinste, "Das, Torooru, ist dein neuer Lorenzieher!". Schwerfällig drehte sich der Troll nach ihm um und glotzte ihn verständnislos aus dumpfen, blutunterlaufenen Augen an. "Säh machä säch wohl Wätzäg übäh mäch? Där Hänfling da, kann ja noch nächt ma einä Lohrä ziehä!", brüllte der Troll los, wobei er sich wieder bedrohlich in Richtung von Yubaba drehte. "Nein, ich mache mich keineswegs lustig über dich.", antwortete Yubaba erstaunlich ruhig, wenn man bedachte, wie der Troll mit ihr redete, "Du musst nämlich eines wissen, Torooru, der Junge da, Haku, ist ein Drache! Er sollte durchaus genug Krafthaben , um zehn Loren auf einmal zu ziehen. Los Haku, zeig Torooru deine wahre Gestalt. Aber wehe, du reißt mir mit deinen Krallen wieder ein Loch in den Teppich." Haku tat ihr den Gefallen, trat ein paar Schritte in den Raum herein, um genügend Platz zu haben und verwandelte sich in seine andere Gestalt eines fast acht Meter langen weißen Drachen mit grüner Mähne und grünen Augen, aus denen er Yubaba unverwandt anstarrte, während er mit der rechten Vorderklaue absichtlich ein Stück aus dem wertvollen Teppich riss. Vielleicht würde sie ja die Contenance verlieren und der ganzen Sache sofort ein Ende bereiten. "Ein Drachä!?! Säh sän wohl wahnsännäg gäwohdä.", brüllte Torooru erneut, diesmal jedoch nicht aus Unmut, sondern aus Erschrecken, denn schließlich sah er sich hier einem Wesen gegenüber, dass ihm an Kraft zumindest ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen war. Also sah er in Haku sofort eine ernste Bedrohung seiner mühsam erarbeiteten Stellung im Bergwerk an und sein tief sitzendes Misstrauen Yubaba gegenüber tat ein übriges. "Wänn är ein Drachä äst, dann äst är auch ein Gott. Säh könnäa doch keinä Gott än däh Grubäh schäckäh.", versuchte Torooru erfolglos zu argumentieren, denn Yubaba fuhr ihm jetzt unwirsch über das Maul: "Was glaubst du, was ich nicht alles kann. Er wird dort unten die Loren ziehen und wenn er Ärger macht, verstößt er gegen seinen Arbeitsvertrag und ich kann andere Maßnahmen ergreifen! Haku, du kannst dich jetzt zurückverwandeln. Und lass das Stück vom Teppich hier." Yubaba klatschte in ihre Hände und als sie sie wieder auseinander zog, hielt sie ein Bündel aus Lederriemen, die mit eisernen Ringen zusammengehalten wurden in den Händen, das sie Torooru zuwarf. "Das hier ist ein Zuggeschirr für Haku, mit dem du ihn vor die Loren spannen kannst.", sagte sie, griff in eine der Schubladen ihres Schreibtisches und holte eine Art elastisches Halsband heraus, welches grünlich funkelte, "Und dieses Halsband wird Haku tragen. Es verhindert, dass er irgendwelche Magie seinen Körper verlässt, seine Fähigkeiten sich in einen Drachen zu verwandeln und zu fliegen behindert es allerdings nicht. Nur diejenige Person, die es ihm angelegt hat, kann es ihm auch wieder abnehmen. Wenn er selbst oder irgendeine andere Person es versucht, wird es ihn töten.". Sie warf es ebenso Toororu zu, wie das Zuggeschirr zuvor, der es erstaunlich behändig mit seinen kurzen Armen auffing. Torooru grinste jetzt hässlich aus seinem flachen Gesicht und stampfte zu Haku herüber, der sich aus Trotz immer noch nicht zurückverwandelt hat, um ihm das Halsband anzulegen. Die letzten Schritte wurde er vorsichtiger, weil Haku jetzt die Zähne fletschte und leise Knurrte, als Torooru die kurzen Arme ausstreckte und das Halsband direkt hinter seinen Ohren um den Hals schloss. In dem Moment, als er den Verschluss zuschnappen ließ, leuchtete das Halsband kurz auf und seine Farbe wechselte von Grün zu Blau. "Bravärr Drachä.", sagte der Troll erleichtert und deutete an, Haku an der Stirn streicheln zu wollen, was dieser jedoch durch ein nachdrücklicheres Knurren unterband. "Haku, was soll das denn? Du benimmst dich ja wie ein Straßenköter.", schimpfte Yubaba über sein Verhalten. Das sah Haku ein und wechselte wieder in seine menschliche Gestalt zurück, denn wenn sie ihm auch alles nahm, seine Würde und Achtung vor sich selber würde sie ihm niemals nehmen können. "Baba, wenn der hässliche Kerl da Haku etwas tut, mag ich dich nicht mehr.", ertönte urplötzlich die helle Stimme Bohs, der leise die Tür zwischen Kinderzimmer und Büro geöffnet hatte und jetzt den Türrahmen ausfüllte. Die beiden Froscharbeiter sahen erstaunt auf und vergaßen für kurze Zeit ihre Angst, während sie den Weg für das Riesenbaby frei machten, dass jetzt unbeholfen in den Raum hinein tapste. "Aber Baby, niemand hier krümmt Haku auch nur ein Haar, nicht wahr Haku?", versuchte Yubaba ihren Sohn zu beruhigen, "Komm, wir gehen jetzt wieder in dein Zimmer und üben ein wenig laufen. Dutzidutzidutzidu...". Sie eilte um ihrem Schreibtisch herum und nahm Boh bei der Hand, um ihn wieder nach Nebenan zu befördern. Der jedoch ließ sich nicht beirren und blickte zu Haku, auf eine Bestätigung von ihm wartend, während Yubaba versuchte ihn wegzuziehen. Haku überlegte kurz, ob er die Situation ausnutzen und Boh gegen seine Mutter ausspielen sollte, kam dann jedoch zu dem Schluss, dass er damit weder Boh noch sich einen Gefallen tun würde, denn Yubabas Rache würde später bestimmt noch fürchterlicher ausfallen, als das was ihn jetzt erwartete. Sie hatte da so ihre Methoden, dass wusste er jetzt. "Nein Boh, du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Mir passiert schon nichts.", log er deshalb, nickte dem Baby aufmunternd zu und zwang sich zu Lächeln. Leicht zweifelnd ließ sich dieser daraufhin von seiner Mutter abführen und man konnte hören, wie sie ihn nebenan hätschelte. "So ich denke, wir haben alles soweit besprochen.", sagte sie kurz darauf, indem sie noch einmal ihren Kopf durch die Tür steckte, "Ihr solltet jetzt gehen, während ich mich um mein Baby kümmere." Damit verschwand ihr Kopf wieder und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. "Na los, ähr drei.", polterte der Troll daraufhin los, "Raos här. Los, los los, bäeilt äuch.". Er begann Haku und die beiden Froschmänner vor sich her zu schubsen, aus dem Büro heraus durch die Tür, den langen Flur entlang, der auf der einen Seite von riesigen chinesischen Vasen gesäumt wurde, bis zu einer Tür am anderen Ende, durch die Haku bisher noch nicht gegangen war. Dahinter verbarg sich eine schmucklose Kammer, in der ein weiterer Aufzug endete, der eher zur Lasten- als zur Personenbeförderung gedacht war und dessen Boden von schwarzen Kohlenstaub bedeckt war. Dort hinein wurden sie von Torooru getrieben, der dann den Aufzug ebenfalls betrat und den Hebel betätigte. Mit ungeheurer Geschwindigkeit begann der Aufzug sich jetzt nach unten zu senken und Haku spürte, wie durch die Ritzen warme Luft nach innen strömte. Trotzdem dauerte es schier endlos lange, bis sie schließlich unten ankamen. Die Luft, die ihnen dann entgegenschlug, als sich die Aufzugtüren dort öffneten, war unglaublich heiß und stickig, so dass es ihnen fast den Atem raubte. "Los, raus här! Äch habä näch äwäg Zeit.", schnauzte er sie an, nachdem er als erster den Aufzug verlassen und einen Holzknüppel in die Hand genommen hatte, der an der Wand gelehnt hatte. Dabei schwang er den Knüppel bedrohlich. Sie befanden sich nun in einer Art Kaverne von vielleicht 20m Durchmesser und zehn Metern Höhe. An der einen Seite endete der Aufzug, dem gegenüber ein Durchgang in eine weitere Höhle zu sein schien und rechts führten Schienen, auf denen ein kurzer Zug aus fünf Loren stand, leicht bergab in einen mit Holzbalken abgestützten Tunnel. Diese Schienen führten direkt bis vor den Aufzug, so dass die Loren direkt dort hinein entleert werden konnten. Erleuchtet wurde die Kaverne von einem dutzend Glühbirnen, deren Licht jedoch vom allgegenwärtigen Kohlenstaub so weit verschluckt wurde, dass man alles nur schemenhaft erkennen konnte. An der Decke der Kaverne waren mehrere Öffnungen mit Ventilatoren, die für die Lüftung sorgten. Haku und die beiden Froscharbeiter mussten nun in den drei vorderen Loren platz nehmen, während Torooru zwei Kanister in die vierte Lore hob, danach den Zug anschob, sich in den letzten Wagen wuchtete und den Bremshebel in die Hand nahm. In rasender Fahrt schossen sie dann durch den nur sporadisch von Lampen erhellten Tunnel, vorbei an vielen Abzweigungen mit Weichen, wobei sie ständig aufpassen mussten, dass ihre Köpfe an keinen der Balken der Abstützung stießen.. Die Luft wurde immer noch heißer, je tiefer sie kamen, bis sie am Schluss nach Hakus Schätzung um die 50°C liegen musste. Die Schienenstrecke endete in einer Aufweitung des Tunnels, wo sie sich noch einmal verzweigte und in zwei Strängen parallel führten, die kurz darauf mit jeweils einem Endpuffer abschlossen. Ihr kurzer Zug rollte mit quietschenden Bremsen auf den einen Strang, während auf dem anderen weitere fünf Loren gefüllt bereitstanden, um zum Aufzug hinauf geschleppt zu werden. Zu jeder der fünf Loren hatte man ein Brett gelegt, so dass eine kleine Armee von Rußmännchen die Kohlenbrocken hinaufschleppen und hineinwerfen konnten. Irgendwo in der Nähe hörte man, wie mehrere Leute wahrscheinlich mit Spitzhacken die Kohle aus dem Berg schlugen, während sie sich dabei laut unterhielten. "Los, aossteigä!", befahl der Troll, der bereits aus seiner Lore gesprungen war und jetzt die Kanister aus der einen Lore heraushievte. Haku und die Froschmänner, die von der holperigen Fahrt noch ganz wackelig auf den Beinen waren, taten wie geheißen. "Ähr da häntän, komm ma einä rübä.", brüllte Torooru in Richtung einer kaum zu erkennenden Öffnung in der Tunnelwand, wo das Kohlenflöz offenbar schräg nach oben abzweigte, "Äch habä Wassä mätgäbracht!" Kurz darauf sah Haku, wie ein Licht die Öffnung erhellte und zwei ziemlich erschöpfte und schmutzige Froschmänner mit jeweils einer Grubenlampe heraustraten. Sie blieben erstaunt stehen und glotzten Haku ungläubig an. "Meister Haku, was machen sie den hier unten?", wollte einer von ihnen spontan wissen, aber Torooru fuhr dazwischen: "Meistä Hako, dat äch näch lachä. Där wärd jätz här dä Lorä zähä! Gäbt dän beidä här Spätzhackä on Lampä on zeigt ähnä wat säh ton sollä. Om Hako kümmäh äch mäch selbä. On nähmt dä Kanistä mät!" Die beiden blickten sich kurz fragend an und winkten dann ihre neunen Leidensgenossen zu sich, die jeweils einen der Wasserkanister mühsam schleppten, die der Troll zuvor spielerisch aus der Lore gehoben hatte. "So, on jätz zo där. Värwandlä däch än einä Drachä, damät äch där dat Gäschärr anlägä kann.", kommandierte Torooru, wobei er seinen Knüppel sorgfältig an die Tunnelwand lehnte und zur Sicherheit eine Spitzhacke ergriff, die dort bereit stand. Haku blieb letztendlich keine andere Wahl und nachdem er sich verwandelt hatte, begann der Troll ihm etwas ungeschickt und ziemlich grob das Geschirr anzulegen, wobei er die Riemen fester als notwendig zuzog. Danach hakte er zwei Seile an dem Zuggeschirr fest und die anderen Enden an der ersten Lore, bevor er den Schienen entlang voraus den Tunnel bergauf stapfte. "Dann zeig ma wat do kanns. On wänn do Ärgäh machs, dann ...", sagte er und fuchtelte zur Unterstreichung seiner Drohung mit der Spitzhacke hin und her, die in seinen riesigen Pranken wie ein Spielzeug aussah. Haku erhob sich in die Luft und begann zu ziehen. Zu seiner Erleichterung setzte sich der Zug aus fünf voll beladenen Loren problemlos in Bewegung, aber nach einigen Metern begann es bergauf zu gehen und von da an rührte sich nichts mehr. "Hähähä, dat wah ja wohl nächts.", machte sich der Troll über ihn lustig, "Da mostä däch wohl 'n bässchä mäh ansträngä. Wä wärs wänn do dä Beinä bänotzä tätäst, hähähä." Haku stemmte daraufhin seine Klauen auf den Boden, fand Halt an den Gleisschwellen und die Loren setzten sich abermals mühsam in Bewegung. Langsam, Schritt für Schritt unter Aufbietung all seiner Kraft zog er den Zug den Tunnel hinauf, immer einige Meter hinter dem Troll her, der ihn weiterhin abwechselnd verhöhnte und mit der Spitzhacke bedrohte. Als sie schließlich nach fast einer Stunde oben am Aufzug angelangt waren, war Haku kurz vor dem Zusammenbrechen aufgrund der Anstrengung in der großen Hitze und des enormen Durstes, den er mittlerweile hatte. Dann eröffnete ihm der Troll hämisch, dass dies erst die erste von fünf Fuhren gewesen war, die für den heutigen Tag vorgesehen waren und Haku verfluchte ihn und Yubaba im Geiste. Kapitel 5: Eine neue Schule --------------------------- So, hier habe ich das neue Kapitel. Ich hoffe es war schnell genug und gefällt euch ebenfalls. Eine neue Schule "Chihiro, Chihiro, jetzt wach doch endlich auf.", drang undeutlich die Stimme ihrer Mutter in ihr Bewusstsein und dann spürte sie, wie jemand sie vorsichtig rüttelte. Mühsam öffnete sie erst ein Auge und dann das andere, bevor sie dann langsam die Füße ihrer Mutter fokussierte. Sie hing irgendwie mit dem Kopf von der Bettkante und ein vertrautes Ziehen im Nacken verhieß nichts Gutes für den neuen Tag. Schließlich versuchte sie sich umzudrehen, was ihr aber erst im zweiten Versuch gelang, da beim ersten mal ihre Nackenmuskulatur rebellierte und sie ihren Kopf mit der Hand stützen musste. Unwillkürlich beschlich sie der Gedanke, dass sie lieber in einem Futon auf dem Boden schlafen würde, als in einem Bett westlicher Art, denn da konnte ihr so etwas nicht passieren. "Uuuuh. Guten Morgen, Mama.", begrüßte sie ihre Mutter, die nachdenklich zu ihr herabsah. "Guten Morgen, hm? Kleines, wir haben schon nach 11 Uhr und außerdem hast du in deinen Kleidern geschlafen. Na komm, geh dich jetzt waschen und zieh dir etwas neues an. Ich habe unten noch Frühstück für dich.", meinte diese, drehte sich um und ging aus dem Zimmer. Ächzend richtete sie sich auf und bemerkte erst jetzt, wie zerschlagen sie sich tatsächlich fühlte und wie trocken ihr Mund war. Als sie dann endlich aufstand, fühlte sie sich ganz schwach und elend, bis ihr endlich bewusst wurde, warum sie sich abgesehen von ihren Nackenschmerzen so mies fühlte. Sie hatte Hunger, einfach nur enormen Hunger, als ob sie gestern Abend nichts gegessen hätte, nein als ob sie den ganzen letzten Tag nichts gegessen hätte. Und Durst hatte sie auch, aber hauptsächlich Hunger. Schnell stand sie deshalb auf, machte im Badezimmer gegenüber ihres Zimmers eine Art Katzenwäsche, entledigte sich ihrer Sachen und schlüpfte rasch in die neuen, die ihre Mutter ihr schon bereit gelegt hatte. Danach stürmte sie die Treppe hinab in die Küche und machte sich eifrig über den Teller Müsli her, der dort bereitstand. In Windeseile hatte sie den Inhalt des Tellers in sich hinein geschaufelt und das Glas Orangensaft auf ex geleert. Fassungslos beobachte Yuuko Ogino, die bereits das Mittagessen vorbereitete, wie ihre kleine dünne Tochter dann noch zwei weitere Teller leerte, ein paar Reisbälle verschlang, noch ein Glas Orangensaft und ein Glas mit Milch herunterkippte, bevor sie schließlich zufrieden eine Banane mampfte. "Puh, Mama, da hab ich aber Hunger gehabt.", kommentierte Chihiro ihren Appetit, jetzt pappsatt, und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. "Das kann man wohl sagen, Kleines. Ich habe dich ja noch nie so viel auf einmal essen sehen.", meinte ihre Mutter, "Komm, möchtest du mir bei Mittagessen helfen? Gestern beim Abendessen hast du das ja prima gemacht!". "Ok, Mama!", ging sie fröhlich auf das Angebot ihrer Mutter ein, "Was gibt es denn?". "Es gibt Curryreis.", antwortete diese lächelnd und erklärte dann weiter: "Pass auf, wir müssen zuerst das Fleisch klein schneiden, mit Zwiebeln anbraten und dann Wasser und die Möhren hinzugeben. Du kannst ja die Möhren schon mal klein schneiden, während ich das Fleisch klein schneide.". (Rezept hier: http://www.japanlink.de/ll/ll_kost_karee.shtml) Geduldig und leicht verwundert über die ungewohnte Wissbegier Chihiros, zeigte Yuuko Ogino bereitwillig , was alles getan werden musste, um das Essen zuzubereiten. Als dann nach einer Stunde endlich das Mittagessen auf dem Tisch stand, hatte Chihiro schon wieder richtigen Hunger, so dass sie zwei Portionen verdrückte und eine Schale mit Miso Suppe, wo sie ansonsten Probleme hatte, auch nur einmal den Teller zu leeren. Zusätzlich aß sie auch noch zwei weitere Bananen als Nachtisch. Dabei war sie so sehr mit dem Essen beschäftigt, dass ihr völlig entging, wie ihr sonst so essfreudiger Vater mit sorgenvoller Mine in seinem Curryreis nur lustlos herumstocherte. Hinterher half sie ihrer Mutter noch beim Abwasch, worüber diese sich sehr freute, bevor sie auf ihr Zimmer ging, um das Buch weiter zu lesen, mit dem sie vor dem Umzug begonnen hatte: Harry Potter und die Kammer des Schreckens. Sie platzierte sie ihren großen Plüsch-Totoro am Kopfende ihres Bettes, um sich beim Lesen dagegen zu lehnen. Als sie sich dann auf das Bett setzte, das Buch in ihrer Hand, fand sie dann das violette Haarband, an dessen Herkunft sie sich partout nicht erinnern konnte. Sie hatte jedoch das Gefühl, dass es wichtig währe, es zu tragen, weshalb sie sofort das Haarband ersetzte, mit welchem sie vorhin im Badezimmer ihren Pferdeschwanz gebunden hatte, und begann zu lesen. Es war sehr still im Haus, so dass sie leise den Gesang der Vögel draußen durch das geschlossene Fenster ihres Zimmers hören konnte. Ab und zu fuhr auch einmal ein Auto vorbei und mehrfach drangen die hellen Stimmen von Kindern herein, die im Freien herumtollten und spielten. Das Licht der Sonne zeichnete ein helles Viereck auf den Boden, welches langsam, Zentimeter für Zentimeter in Richtung ihres Bettes kroch, den Bettkasten hinauf wanderte, über die Bettdecke schlich, bis es schließlich Chihiro und ihr Buch erreichte. Harry, Ron und Hermine waren gerade dabei den Vielsaft Trank auf der Toilette der Maulenden Myrte fertig zu brauen, als es Chihiro nun doch entschieden zu warm wurde, da sie zusätzlich zu der stickigen Luft in ihrem Zimmer auch noch direkt von der Sonne beschienen wurde. Deshalb stand sie auf, um ein wenig frische Luft herein zu lassen, und die Vorhänge zuziehen, damit die Sonne nicht mehr auf das Bett schien, so dass sie ungestört weiter lesen konnte, denn sie wollte jetzt unbedingt wissen, ob Malfoy nun etwas mit der Sache zu tun hatte, oder nicht. Als sie nun am Fenster stand und hinausblickte, war das Buch jedoch schnell vergessen, zu schön war einfach der Tag. Die Wiese auf dem Hang vor ihrem Haus lag hell im Sonnenlicht und der Wald, der rechts an ihr Haus grenzte, warf bereits längere Schatten. Chihiro riss das Fenster auf, lehnte sich hinaus, blickte in alle Richtungen hin und her und sog die würzige Luft des nahen Waldes in ihre Lungen. Unten am Forstweg, auf dem sie sich gestern verfahren hatten und in den Wald gefahren waren, erblickte sie den knorrigen alten Baum, an dessen Wurzeln die kleinen Steinhäuser der Kami standen, wie ihre Mutter ihr knapp erklärt hatte. War es wirklich erst gestern gewesen, dachte sie bei sich, denn es kam ihr eigentlich viel länger vor. Aber egal, sie wollte sich die Sache einmal genauer ansehen. Und danach würde sie ein wenig die Gegend erkunden, denn sie hatte jetzt auf einmal richtig Lust nach draußen zu gehen, was ihr nie passiert war, als sie noch in Tokyo gewohnt hatten. Dort war es immer laut und hektisch gewesen und sie war froh gewesen, wenn sie ihre Ruhe hatte, oder mit Risa spielen konnte. "Mama, ich gehe mal ein bisschen nach draußen.", meldete sie sich bei ihrer Mutter ab, die im Wohnzimmer saß, ebenfalls ein Buch lesend, und fragte dann noch, weil sie schon wieder etwas Hunger verspürte: "Darf ich mir noch eine Banane nehmen?". "Ist OK, Kleines.", antwortete diese ohne aufzusehen, "Und komm bitte nach Hause, wenn es dunkel wird, wir haben schon kurz nach 4 Uhr. Denk daran, morgen beginnt die Schule.". "Danke, Mama.", sagte Chihiro, rannte in die Küche, um sich die Banane zu holen, bevor sie dann ihre gelben Schuhe anzog, zur Haustür hinaus stürmte, den Abhang hinab lief und dann erschöpft vor den kleinen Steinhäusern unterhalb des alten Shinto-Tores zu stehen kam. Während sie ihre Banane aß, betrachtete sie nachdenklich die Steinhäuschen und stellte sich vor, was das wohl für Wesen sein mochten, die darin wohnten. In eines der Häuschen hatte jemand einen Teller mit Essen und eine Schale mit Sake gestellt, wohl als Opfer für die Kami, aber offensichtlich hatten sich irgendwelche Kleintiere bereits daran Gütlich getan, Vogel oder Mäuse oder so etwas. Als sie mit der Banane fertig war, wandte sie sich nach links und sah in den Wald hinein, den Weg entlang, den sie Gestern gefahren waren. Der wirkte schon etwas dämmerig, denn die Sonne stand nicht mehr sehr hoch am Himmel. Trotzdem war die Stimmung ruhig und heiter, so dass sie neugierig begann, den Weg ein wenig in den Wald zu folgen. Gut hundert Meter weiter hörten die Büsche auf, die links den Weg säumten und gaben den Blick weiter den Abhang hinunter frei, bis auf die Talsohle, wo munter ein kleiner Bach plätscherte. An einer Biegung des Baches konnte sie in einiger Entfernung eine Gestalt bewegungslos hocken sehen, die offensichtlich interessiert etwas im Wasser beobachtete. Vorsichtig machte sich Chihiro den Abhang hinunter zu der Gestalt, um herauszufinden, was es dort so interessantes zusehen gab. Näher kommend erkannte sie schließlich, dass es sich um ein Mädchen mit Zöpfen handelte, welches das Trikot der japanischen Fußball-Nationalmannschaft trug und dazu passende Puma Fußballschuhe. Vorsichtig kam Chihiro näher, jedoch konnte sie nicht vermeiden, dass das Laub raschelte und sie auf einen darunter verborgenen Zweig trat, der laut krachend zerbrach. Überrascht drehte das Mädchen sich um, legte ihren rechten Zeigefinger über die Lippen und machte mit ernster Mine: "Schschscht.", bevor sie sich wieder dem Geschehen im Bach zuwandte. So leise, wie es eben ging, hockte sich Chihiro neben das Mädchen an das Ufer des Baches und beobachtete ebenfalls. Das Wasser war kristallklar, so dass man problemlos bis zum Grund des kleinen Gewässer sehen konnte. Kurz hinter der Biegung hatte sich in der flotten Strömung des kleinen Gewässers eine ruhige Zone gebildet, in der diese fast ganz zum Stillstand kam. Wasserläufer huschten dort geschäftig auf der Oberfläche des Baches hin und her, kleine Insekten, die so leicht waren, dass die Oberflächenspannkraft des Wassers sie trug. Auf dem Grund konnte man kleine und größere Steine liegen sehen und einige Wasserpflanzen hatten dort ihre Wurzeln geschlagen und wiegten sich leicht in der Strömung. Mehrere Minuten lang geschah gar nichts und Chihiro blickte mehrmals fragend zu dem anderen Mädchen, welches sich jedoch nicht beirren ließ und konzentriert einen Punkt im Wasser fixierte. Dann plötzlich tauchte unter einem der Steine ein Fisch auf, der sich langsam und vorsichtig in Richtung der Oberfläche des Wassers manövrierte, wo er dann regungslos verharrte, rhythmisch Wasser durch seine Kiemen pumpend. Als dann irgendwann einer der Wasserläufer in seine Nähe kam, schnappte er urplötzlich zu und verschlang das Insekt. "Da, hast du das gesehen?", fragte das Mädchen, zeigte auf die Stelle des Geschehens und blickte Chihiro forsch an. Der Fisch machte ein pass schnelle Schläge mit seinen Flossen und verschwand als er die Bewegung wahrnahm und die laute Stimme des Mädchens hörte, schwuppdiwupp, wieder unter seinem Stein. Chihiro nickte. "Weißt du, als du vorhin auf den Ast getreten bist, war es schon fast soweit gewesen, aber dann hat's geknackt und der Fisch ist verschwunden. Ach übrigens, mein Name ist Ayaka.", sagte das Mädchen. "Mein Name ist Chihiro. Entschuldige bitte, wenn ich dich gestört habe. Wenn du willst, geh ich wieder.", sage diese und stand auf. "Nein, Nein. Bleib nur.", entgegnete Ayaka hastig, "Ich hatte mich sowieso gelangweilt. Sag mal, warum trägst du denn die Bananenschale mit dir herum?". "Na, wo soll ich die denn hintun?", meinte Chihiro und blickte auf die Schale, die sie in ihrer rechten Hand hielt, "Hier gibt es doch keinen Abfalleimer.". "Ach Unsinn. Wirf sie doch einfach in den Bach, der spült sie dann weg.", schlug Ayaka vor und stand ebenfalls auf, "Die verrottet doch sowieso.". "Nein, das kann ich nicht tun!", verneinte Chihiro energisch, schüttelte den Kopf und begründete dies im Brustton der Überzeugung: "Wenn das jeder macht, dann wird der Geist des Baches bald ganz traurig und stinkt!" Daraufhin stutzte sie und glotzte verdutzt noch einmal auf die Bananeschale, als ihr bewusst wurde, was sie da gerade gesagt hatte. Huch, wo war das denn hergekommen, dachte sie verwundert. "Na, wenn du meinst.", zweifelte Ayaka leicht, "Dann müssen wir sie eben in die Mülltonne werfen. Dann kommt sie auf eine Mülldeponie und verfault eben da! Komm ich weiß, wo eine ist.". Sie machte sich daran den Abhang zum Weg hinauf zu stapfen und drehte sich auf halbem Wege nach oben nach der konsternierten Chihiro um: "Na komm, äh, Chihiro.". Da es ohnehin langsam immer düsterer wurde im Wald und Chihiro neugierig auf das größere Mädchen war, folgte sie ihr. Gemeinsam gingen sie dann langsam den Weg aus dem Wald zurück. "Wohnst du schon lange hier?", wollte Chihiro wissen. "Nein, wir sind erst letzte Woche hierher gezogen.", antwortete Ayaka, "Außer dir, hab ich noch niemand kennen gelernt. Und du?". "Wir sind erst gestern eingezogen.", sagte Chihiro, "Sag mal, fängt morgen wirklich die Schule an?". "Na du machst mir ja vielleicht Scherze.", entfuhr es Ayaka, "Natürlich fängt morgen die Schule wieder an. Was hast du denn gedacht?". "Naja ... , ach ist ja auch egal.", erwiderte Chihiro und schämte sich wegen der dummen Frage ein wenig, "In welche Klasse kommst du?". "In die fünfte.", sagte Ayaka, "Und du?". "Ich auch.", bestätigte Chihiro. "Was du auch? Ich hätte dich für jünger gehalten.", entgegnete Ayaka überrascht, "So klein wie du bist. Oh, entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen.". "Macht ja nichts. Ich bin immer schon die kleinste gewesen, auch auf meiner alten Schule.", beruhigte sie das andere Mädchen und sah diese aufmunternd an, "Vielleicht kommen wir ja in die gleiche Klasse.". "Ja, ich glaube das währe toll.", stimmte Ayaka ihr zu. Sie hatten jetzt den Wald verlassen und an den Steinhäuschen vorbei den asphaltierten Teil des Weges erreicht. Die Sonne stand jetzt schon sehr tief, so dass die Schatten der Bäume des Waldes fast die ganze Länge der Strasse bedeckten. Der wolkenlose Himmel hatte eine stahlblaue Färbung angenommen und es wurde bereits deutlich kühler. "Das da vorne ist mein Haus.". Ayaka zeigte auf das Gebäude, welches direkt gegenüber der Einmündung ihrer Strasse auf der Querstrasse stand. Es war ein dreigeschossiges Mehrfamilienhaus mit gelbem Anstrich und einem dunkelbraunem Walmdach, wie ihr mal ihr Vater erklärt hatte, vielleicht noch hundert Meter voraus. "Mein Haus ist das da oben am Waldrand." Chihiro zeigte auf das entsprechende, blau angestrichene Einfamilienhaus. "Das ist ja großartig. Da wohnen wir ja nur ein paar hundert Meter auseinander.", freute sich Ayaka, rannte die letzen paar Meter über die Strasse und öffnete die Mülltonne, "Hier kannst du deine Bananenschale rein werfen!" "So, und was machen wir jetzt?"; wollte Chihiro wissen, nachdem sie ihre Bananenschale ordnungsgemäß entsorgt hatte. "Hast du schon mal Fußball gespielt?", schlug Ayaka vor. Chihiro schüttelte den Kopf. "Ok, ich geh mal eben den Ball holen." Sie stürmte ins Haus und verschwand für einige Momente, bis sie dann mit einem Ball mit der Aufdruck "WM Japan/Korea 2002" und einem Stück Kreide wieder auftauchte. Sie gingen gegenüber auf eines der Terrassenartig angelegten aber noch unbebauten Grundstücke, die von Betonumrandungen umgeben waren. Dort zeichnete Ayaka ein Rechteck an eine der Betonwände, welches bis zum Boden reichte. "So, pass auf. Das hier ist das Tor. Da muss der Ball hineingespielt werden.", erklärte sie der gespannt zuhörenden Chihiro, "Den Ball darfst du mit dem ganzen Körper berühren, außer mit den Händen, am besten aber mit den Füßen. Deshalb heißt das Spiel ja auch Fußball. Das Ziel ist es, den Ball in das Tor zu befördern. Also du bist jetzt der Angreifer und versuchst den Ball in das Tor zu befördern. Und ich bin der Verteidiger und verhindere das." Sie legte den Ball Chihiro vor die Füße und baute sich zwischen dieser und dem Tor auf. Eine Weile lang versuchte Chihiro den Ball vergeblich an Ayaka vorbei zu bekommen, aber diese war einfach viel größer, schneller und geschickter. Danach versuchten sie es mit umgekehrten Rollen, Chihiro als Verteidigerin und Ayaka als Angreiferin. Diesmal spielte Ayaka den Ball immer wieder um Chihiro herum, als wäre diese gar nicht vorhanden und erzielte Tor um Tor. "Ich glaube, so hat das keinen Zweck.", stellte Ayaka schließlich fest. "Entschuldige, aber ich kann das einfach nicht besser.", meinte Chihiro, die sich bereits völlig erschöpft und elend vor lauter Hunger fühlte, den sie schon wieder hatte. "Nein, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Weißt du, in meiner alten Schule war ich Stürmerin in der Mädchen-Schulmannschaft. Da ist das nicht allzu fair, wenn du das noch nie gespielt hast. Ich hoffe nur, dass die neue Schule auch eine Fußballmannschaft hat.", erzählte Ayaka, "Pass auf, wir machen noch einen letzten Versuch. Wir spielen Elfmeter. Ich bin der Torwart und du musst versuchen, den Ball direkt ins Tor zu schießen.". Sie legte den Ball etwa vier Meter vor das Tor auf den Boden und Chihiro versuchte ihr bestes, den Ball an Ayaka vorbei hinein zu schießen. Aber auch als sie den Abstand auf drei Meter verringerten, gelang es Chihiro nur einmal, den Ball ins Tor zu schießen und das auch nur, weil Ayaka insgeheim den Ball einfach durchgelassen hatte, um Chihiro ein Erfolgserlebnis zu geben. "Puh, Ayaka. Es wird ja schon dunkel. Ich muss nach Hause gehen.", stellte Chihiro schließlich fest, denn die Sonne war bereits hinter dem Wald verschwunden und der Westhimmel war in ein fantastisches Abendrot getaucht. Zusammen gingen sie zur Strasse zurück. "Schade, dass du schon gehen musst. Vielleicht sehen wir uns ja morgen in der Schule. Sayonara, Chihiro.", verabschiedete sich Ayaka. "Sayonara, Ayaka. Es war schön, dich kennen zu lernen.", sagte Chihiro, lächelte und wandte sich zum gehen. Mit zittrigen Beinen schlich sie die Strasse hinauf, bis zu der Abzweigung, an der es zu ihrem Haus ging, sah sich noch einmal nach Ayaka um, die aber bereits verschwunden war und ging dann das letzte Stück bist nach Hause. Ihr war dabei schon ganz schwindelig vor Hunger. Beim Abendessen verschlang sie eine dreifache Portion, was diesmal sogar ihr Vater bemerkte und vor dem zu Bett gehen verdrückte sie auch noch die letzten drei Bananen, bis sie dann nach dem abendlichen Bad wie ein Stein einschlief. Am nächsten Morgen gegen halb sechs, wachte Chihiro gepeinigt von bohrendem Hunger wieder auf. Draußen hatte bereits die Dämmerung begonnen und die ersten Vögel zwitscherten bereits. Leise schlich sie in ihrer Not in die Küche, durchsuchte den Kühlschrank und fand schließlich eine Kilogramm-Packung rohen Tofu, die sie gierig in sich hineinstopfte, bevor sie schuldbewusst wieder zurück in ihr Bett ging. Wie hatte sie bloß rohen Tofu essen können, der schmeckt doch eigentlich nach gar nichts, dachte sie leicht angeekelt. Um sechs Uhr schellte der Wecker ihrer Eltern und nach einer geraumen Weile Rumorens, hörte sie, wie ihr Vater mit dem Audi wegfuhr. Kurz nach Sieben öffnete sich die Tür ihres Zimmers und ihre Mutter schaute herein. "Guten Morgen Kleines, du bist ja schon wach.", stellte sie fest, "Um halb neun müssen wir an der Schule sein. Ich kann dich nicht mit dem Auto hinbringen und wir müssen laufen, also beeil dich." "Guten Morgen Mama, ich freu mich schon auf die neue Schule.", erwiderte Chihiro und hoffte insgeheim, dass sie Ayaka wieder sehen würde. "Auf einmal? Vorgestern wolltest du sie noch dem Erdboden gleich machen.", bemerkte Yuuko Ogino erfreut und lächelte, "Na dann komm, unten habe ich Frühstück für dich." Schnell machte Chihiro sich fertig, wusch sich, putzte die Zähne, band sich ihren Pony mit dem violetten Haarband zusammen, zog sich neue Sachen an, packte ihren Schulranzen, so weit es ging, denn Bücher für die neue Schule hatte sie noch keine, und kam dann in die Küche zum Frühstücken. Ihr Appetit war diesmal nicht ganz so überwältigend wie am Vortag, denn das Kilo Tofu, das sie gegessen hatte, dämpfte ihn leicht, aber trotzdem vertilgte sie wieder zwei Teller Müsli und zwei Gläser Milch. Bananen gab es keine mehr. Sie machte sich dann gegen Acht Uhr auf den Weg zu Schule, die den Hang hinab an der Route 21 gut einen Kilometer entfernt lag, wo sie dann gegen zwanzig nach Acht angelangten. Die Schule war ein rosafarbenes Gebäude, mit grossen Fenstern zur Strasse hinaus, wirkte jedoch von der anderen Seite, vom Schulhof aus viel freundlicher. Anhand des Stromes von Schülern und Eltern war die Schulaula, wo um halb Neun die morgendliche Schulversammlung beginnen würde, leicht zu finden. Chihiro suchte sich einen Platz unter den hunderten von Leuten und ihre Mutter verabschiedete sich von ihr und ließ sie alleine, mit dem Hinweis, dass sie alle Formalitäten ihrer Ummeldung bereits am Anfang der Freien erledigt hatte und sie jetzt Einkaufen gehen wolle. Ayaka konnte Chihiro zunächst nirgendwo ausmachen. Pünktlich begann der Schuldirektor, Herr Sasaki, ein kleiner und grauhaariger Mann ohne besondere Eigenarten, mit der Begrüßung der Schüler im zweiten Trimester nach den großen Ferien und hieß insbesondere die vielen neuen Schüler aus dem Neubauprojekt willkommen, die während der Ferien hierher gezogen waren. Da es so viele waren, hatte man am schwarzen Brett Listen ausgehängt, aus denen die Verteilung der Schüler in ihre neuen Klassen hervorging. Nach einigen Allgemeinplätzen und der Vorstellung zweier neuer Lehrer, wurden sie entlassen und alle Schüler defilierten ordentlich aus der Aula heraus und gingen in ihre Klassenräume, wo um 8 Uhr 45 der Unterricht beginnen würde. Chihiro ging zum Schwarzen Brett, wo sie dann doch Ayaka traf, die sie herzlich begrüßte. Beide waren sie in Klasse 5 b eingeteilt, in Raum 103, und Frau Chieko Watanabe würde ihre Klassenlehrerin sein. Sie trafen als einige der letzten in ihrem neuen Klassenzimmer ein und setzten sich nebeneinander auf zwei noch freie Plätze in den Hinteren reihen. Frau Watanabe erwies sich als freundliche junge Frau von Ende zwanzig, die als erstes die Anwesenheit aller Schüler überprüfte, von denen auch alle bis auf zwei anwesend waren, bevor sie sich dann vorstellte. Danach ließ sie alle Schüler sich mit ihrem Namen und ein paar persönlichen Informationen vorstellten. Ingesamt waren 37 Schüler in der Klasse 5b und fast alle waren erst vor kurzem in das Neubaugebiet gezogen. Schließlich begann Frau Watanabe den Rechenunterricht mit dem Austeilen der Mathebücher und einer Rekapitulation des Stoffes des letzten Trimesters. Die zwei fehlenden Schüler, Bunzo Abe und Ichiyo Matsumoto, tauchten dann noch im Laufe der Stunde auf, sie hatten einfach nur nicht gewusst, wohin. Bunzo Abe war ein etwas täppischer großer, massiver Junge mit einem leeren Gesichtsausdruck, der tatsächlich der Sohn von Chihiros Nachbarn Herrn Abe war, bei dem sich ihre Eltern vor zwei Tagen nach dem Datum erkundigt hatten. Ichiyo Matsumoto war fast einen ganzen Kopf kleiner und eher schmächtig zu nennen. Außerdem schien er ziemlich schüchtern zu sein und sein zu spät kommen war ihm sehr Peinlich, ganz im Gegensatz zu Bunzo Abe, denn er entschuldigte sich schon fast übertrieben bei Frau Watanabe und seinen Mitschülern für die Störung des Unterrichtes. Gegen Ende der ersten Stunde spürte Chihiro, wie sie schon langsam wieder hungrig wurde, dabei war es noch nicht einmal halb Zehn und Mittagessen würde es erst um 13 Uhr geben. Na das konnte ja noch heiter werden, stöhnte sie innerlich. Kapitel 6: Das Wasserfass ------------------------- Das Wasserfass Haku war am Ende des ersten Tages im Bergwerk fix und fertig. Letztendlich war es aber nicht ganz so schlimm gekommen, wie er zunächst befürchtet hatte. Zuerst hatten sie alle Loren in den Fahrstuhl entladen, was relativ leicht gewesen war und dann war Torooru cirka für eine halbe Stunde nach oben gefahren, so dass Haku sich ein wenig umsehen konnte. Er wechselte zurück in seine menschliche Gestalt, so dass er sich besser bewegen konnte, als in seiner großen Drachenform. Die Nachbarhöhle gegenüber des Aufzuges, die durch einige Grubenlampen erleuchtet wurde, war an der Decke eine Lüftungsschacht mit Ventilator versehen, durch den relativ kühle Luft in den Raum geblasen wurde, so dass es hier vielleicht noch 30°C waren. Rechts neben dem Eingang zu dieser Höhle war ein grob gezimmerte Holzbaracke und die Ausmaße des Bettes darin ließen auf den Troll als Bewohner schließen. Interessanterweise war die Hütte mit einer separaten Luftzufuhr versehen, die oben direkt vom Hauptlüftungsschacht über ein Rohr abgezeigt wurde, so dass es darin fast kalt zu nennen war, zumindest im Vergleich zur Umgebung. Gegenüber der Hütte waren auf dem blanken Steinboden etwa zwei dutzend mehr oder weniger schmutzige Futons ohne Decken ausgebreitet, aber die waren hier auch wirklich nicht notwendig. An der Wand gegenüber dem Durchgang zur Kaverne standen drei Fässer nebeneinander aufgestellt, die Wasser enthielten, was er fühlen konnte, denn immerhin war er ja ein Flussgott mit starker Verbundenheit zum Wasser. Die Deckel der drei Fässer waren jedoch mit Vorhängeschlössern versehen, ließen sich nicht öffnen und die Schlüssel würde wohl Torooru haben. Dann entdeckte er in einer Nische der Felswand eine fast reglose Gestalt, die dort in eine schmierige Decke eingewickelt lag und fiebrig vor sich hin bibberte, trotz der brühwarmen Luft. Haku sah nach und es handelte sich um einen der Froscharbeiter, der abgesehen von seinem allgemein schlechten Zustand völlig dehydriert schien. Er meinte ihn zu kennen und zuletzt vor etwa einem halben Jahr oben im Badehaus gesehen zu haben. Der Froschmann musste jedenfalls unbedingt Wasser bekommen, sonst würde er die nächsten Tage hier nicht überleben, dachte Haku. Für Amphibien, wie die Froschgeister, musste die trockene, heiße Umgebung hier unten tatsächlich wie die Hölle sein. Nach einer Möglichkeit suchend, dem Froscharbeiter Wasser zu geben, fand Haku einige verschmutzte Essschalen auf einem Felssims aufgestapelt und um an das Wasser in den Fässern zu kommen, nahm er kurz seine Drachengestalt an und knackte problemlos das Vorhängeschloss des linken der drei Fässer mit seinen Klauen. Mit einem der Schälchen flößte Haku dann dem halb bewusstlosen Frosch insgesamt vier mal Wasser ein, bis dieser schließlich stöhnend wieder zu Sinnen kam und mit ihn seinen Augen fixierte. "Meister Haku? .... .", hatte er geflüstert und war dann friedlich eingeschlafen. Kurz darauf hatte Haku den Aufzug wieder kommen hören und war zu den Loren zurückgekehrt. Als er dann mit dem Troll zusammen das zweite mal in rasender Fahrt durch den Tunnel nach unten geschossen kam, stellte Haku fest, dass der andere Lorenzug gerade einmal halbvoll geladen war. Beim Hochziehen hinterher waren die Loren längst nicht so Randvoll beladen, wie beim ersten Mal und er hatte das Gefühl, als würde er eine ganze Lore weniger ziehen. So kam er nach nur einer dreiviertel Stunde mit dem inzwischen etwas ruhiger gewordenen Troll oben an. Diese Prozedur wiederholte sich noch drei weitere Male und bei der letzten Fuhre ließ Haku es bewusst etwas langsamer angehen, da er wusste, dass sie ohnehin genügend Zeit hatten. Kurz nachdem er am Aufzug angelangt war, kamen auch schon die ersten Froscharbeiter aus dem Tunnel geschlichen, die wie Haku jetzt sah, alle auch nur Lendenschurze trugen. Sie waren den Tunnel noch nicht einmal so schnell emporgestiegen, wie er selbst mit fünf Loren hinter sich, und hatten trotzdem nicht einmal mehr die Kraft miteinander zu sprechen. Torooru entlud allenthalben kommentarlos die Loren ein weiteres Mal in den Aufzug und verschwand mit der Ladung nach oben, während die Froscharbeiter zu ihren Schlafplätzen strömten. Plötzlich entstand nebenan ein heftiger Tumult, als die Frösche das offene Wasserfass entdeckten und augenblicklich darüber herfielen. Haku beobachtete, wie sie fast eine Prügelei anfingen, als es darum ging, wer wann wie viel Wasser bekommen sollte. Einige Zeit später kehrte der Troll mit dem Abendessen zurück, einem Tonfass voller Fischsuppe und einem weiteren Fass voll mit gekochtem Reis, die auf dem Boden des Aufzuges standen. Er ließ vier der Froscharbeiter antanzen, die jeweils zu zweit eines der Fässer hinüber in die Wohnhöhlung schleppten und vor der Baracke des Trolls abstellten. Hinter ihnen hergestapft kam der Troll, nestelte mühsam, wegen seiner kurzen Arme, einen kleinen Schlüssel los, den er an der Bundschnur seines Lendenschurzes getragen hatte und ging dann in seine Baracke. Dort hörte man, wie er irgendetwas aufschloss, bevor er dann mit einem großen Schlüsselbund wieder erschien. Die Froscharbeiter hatten sich mittlerweile wortlos in einer ordentlichen Schlange vor den Wasserfässern aufgestellt, ein jeder mit seiner Schale in der Hand. Haku der das ganze interessiert beobachtet, nahm sich ebenfalls eine Schale und reihte sich, misstrauisch beäugt von den Fröschen, als letzter in die Schlange ein, denn er verspürte mittlerweile ebenfalls einen beträchtlichen Durst. Das Wasserfass, welches er vorhin aufgebrochen hatte, hatten die Frösche wieder sorgfältig verschlossen und das kaputte Vorhängeschloss so davor befestigt, dass es aussah, als währe es immer noch fest verschlossen. Der Troll war derweil zu den Wasserfässern herübergestapft und öffnete fast feierlich das Schloss des rechten der drei Wasserfässer, welches sich als noch fast voll herausstellte. "So ähr Faolpälze, jätz gäbs Wassär, jädär nor einä Schalä, on danach Ässän.", grunzte er, woraufhin sich jeder der Frösche brav eine Schale mit Wasser nahm und dann so taten, als würden sie gierig Trinken, während sie in Wirklichkeit nur daran nippten. Torooru betrachtete die ganze Aktion mit zunehmenden Misstrauen, denn irgendetwas schien nicht zu stimmen. "Was äst dänn los mät äuch? Är wärkt ärgäntwä allä so fräsch! Habt är ätwa näch gänog gäschoftät?", wunderte er sich, als schließlich Haku an der Reihe war und betrachtete mit verkniffenem Gesichtsausdruck die Froscharbeiter, die mittlerweile eine ebenso akkurate Schlange vor den beiden Fässern mit dem Abendessen gebildet hatten. Einige hatten es immer noch nicht geschafft, ihre Wasserration auszutrinken und gossen sich den Inhalt mehr über ihren Körper als dass sie ihn tranken. Haku bekam endlich auch seine Schale mit Wasser, die er gierig auf einen Zug leerte, und stellte sich dann ebenfalls für das Abendessen an. Torooru verschloss das Wasserfass nun sorgfältig wieder und wollte gerade hinüber zu seiner Baracke gehen, und die Essenausgabe überwachen, als am dritten Wasserfass das geknackte Schloss plötzlich von alleine aufging und leicht hin und her schaukelte. Er stutzte, ging zu dem Wasserfass hinüber, untersuchte das Schloss, nahm es weg, öffnete den Deckel und sah hinein. Dann stapfte er scheinbar Ruhig hinüber zu seiner Baracke, trug die beiden Fässer hinein, sicherte die Tür sorgfältig mit einem weiteren Vorhängeschloss und baute sich dann vor den Froscharbeitern auf. "Wär hat das Fass gäöffnät?", polterte Torooru dann los, "Är wärdät allä solangä kein Ässän mär bäkommän, bäs äch äs weiss!". Die Froscharbeiter schwiegen betreten und blickten mehrheitlich zu Boden oder in irgendeine andere Richtung, als die zum Troll. Haku dachte kurz nach und sah dann ein, dass es letztendlich keinen Sinn haben würde, zu versuchen, die Sache zu verschleiern, denn wenn der Troll ein wenig nachdenken würde, müsste er irgendwann feststellen, dass nur Haku es gewesen sein konnte, der das Schloss geknackt hatte, denn er war der einzige, der dazu überhaupt die Kraft und die Gelegenheit hatte. Die Frösche hätten es prinzipiell zwar auch tun können, wenn sie eine Spitzhacke benutzt hätten, aber die hatten sie unten im Tunnel gelassen, so dass hier auf den ersten Blick kein geeignetes Werkzeug vorhanden war, mit dem sie das Schloss hätten knacken können. Also ging er nach vorne, stellte sich vor den Troll, blickte ihm ruhig und furchtlos in die Augen und sage: "Ich bin es gewesen. Der kranke Mann da hinten brauchte etwas zu trinken, also habe ich ihm Wasser gegeben." Das Gesicht Toroorus begann nun vor Zorn rot anzulaufen und irgendwie schien er noch größer zu werden. "Do bäst wohl Wahnsännäg gäwordän! Das Wassär moss för dä ganzä Wochä reichä! Do värdammtär Drachä, do glaobst välleicht, do könntäs där alläs raosnähmän?" Damit schlug er zu und traf Haku in die Magengrube. Haku seinerseits hatte den Schlag problemlos kommen sehen und hätte ihm leicht ausweichen können, denn der Troll bewegte sich weniger wie ein Tänzer, sondern eher wie ein Catcher und durch seine kurzen Hebel und seine riesige Faust entwickelte er zwar die Wucht eines Dampfhammers, hatte aber nur eine geringe Reichweite. Er wollte aber auf gar keinen Fall nachgeben, denn er glaubte, dass er richtig gehandelt hatte, als der dem kranken Froschmann das Wasser gegeben hatte und dafür, dass die andern Frösche dann über das offene Fass hergefallen waren, konnte er nichts, das lag ganz einfach an den unzumutbaren Zuständen hier unten. Das machte ihn Zornig, sollte der Troll ihn doch Schlagen wenn er wollte. Also spannte er nur in Erwartung des Schlages seine Muskeln an und nahm den Schlag ohne jede sonstige Gegenwehr. Die Wucht des Schlages, der erheblich heftiger war, als er erwartete hatte, trieb ihm die Luft aus den Lungen und der getroffene Bereich wurde augenblicklich Taub. Haku fühlte, wie er rückwärts meterweit durch die Luft geschleudert wurde. Irgendwie schaffte er es, sich in der Luft herumzudrehen und in seine Drachengestalt wechselte, bevor er gegen den Felsen prallte. Nach einem harten Aufprall krallte er sich mit seinen eisenharten Klauen in den Felsen, so dass dutzende kleiner Steinsplitter mit lautem Knallen wegplatzten und durch die Gegend spritzten. Panik erfüllt stoben die Froschmänner auseinander, verkrochen sich in Felsnischen oder rannten in die Nachbarkaverne. Wütend fixierte Haku den Troll und knurrte ihn dann wutschnaubend an, der immer noch vor der Baracke stand und jetzt Hilfe suchend sich umschaute, bis er dann seinen geliebten Knüppel ergriff, der neben der Eingangstür lehnte. Torooru, sich jetzt dafür verfluchend, in einem Wutanfall den vermeintlich schwachen Jungen geschlagen zu haben, wusste jetzt nicht mehr was er machen sollte, denn er rechnete sich keine besonders großen Chancen gegen Drachen aus, auch mit Knüppel nicht. Vielleicht hätte er mit einer Spitzhacke größere Chancen gehabt, aber die waren alle unten am Flöz. Hastig zog er sich deshalb in seine Baracke zurück, schaffte es aber nicht mehr, die Tür zu schließen, bevor Haku die Distanz in einem großen Satz oder einem kurzem Flug, das war nicht so genau zu unterscheiden, überbrückt hatte. Immer noch knurrend steckte er seinen Kopf in die Baracke, um nach dem Troll zu sehen, und wurde dann von einem harten Schlag mit dem Knüppel am Kopf getroffen. Jedoch war dieser Schlag nicht gut genug gezielt gewesen, prallte gegen den Ansatz seiner Hörner und zerbrach den Knüppel mit lautem Knacken. Nun gänzlich ohne Waffen, sah sich der Troll dem starren, wütenden Blick Hakus ausgesetzt, der sich jetzt weiter mit seinen vorderen Fängen in die Baracke schob und sackte auf dem Bett in sich zusammen, den Kopf in Erwartung der Attacke des Drachen unter den Armen begraben. Aber die Attacke kam nicht, denn als Haku die Hilflosigkeit und Angst seines Gegners sah, verrauchte sein Zorn im Nichts und nach kurzer Zeit zog er sich zurück. Vor der Baracke blieb er eine Weile stehen und überlegte, was er tun konnte, aber es ihm fiel nichts weiter ein. So nahm er wieder seine menschliche Gestalt an, griff sich eine leere und einigermaßen saubere Schale, nahm sich ruhig die ihm zustehende Ration vom Abendessen, setzte sich neben dem Eingang mühsam im Schneidersitz auf den Boden, denn seine ganze Bauchpartie schmerzte jetzt höllisch vom Schlag des Trolls, und begann zu essen. Die Froschmänner hatten sich während dieser Zeit nicht gerührt und kamen jetzt nach und nach wieder zurück, um sich ebenfalls schweigend ihre Rationen vom Abendessen zu nehmen. Dabei machten sie jedoch einen großen Bogen um Haku, vor dem sie nach dieser Vorstellung einen höllischen Respekt bekommen hatten, hatte er doch den Troll spielend in seine Schranken verwiesen. Dumpf vor sich hinbrütend und den Schmerz ignorierend, mampfte Haku das Essen mit zunehmendem Appetit in sich hinein, wurde sich erst jetzt gewahr, wie viel Hunger er eigentlich durch die harte körperliche Arbeit des Lorenziehens bekommen hatte. Früher, als er noch in seinem Fluss gelebt hatte, hatte er nie etwas essen müssen, denn sein Fluss hatte ihn mit einem immerwährenden Strom an Lebensenergie, dem Ki, versorgt. Aber auch später im Badehaus hatte er nur selten etwas gegessen und die wenigen Male, in denen er überhaupt etwas Appetit verspürt hatte waren, als er von einigen seiner Zwangsmissionen für Yubaba zurückgekehrt war, auf denen er wer weiß was für diese gemacht hatte. Jetzt aber war er nach dem Essen eigentlich fast noch hungriger als davor und überlegte, ob er hinübergehen und sich noch eine weitere Portion nehmen sollte. Aber er beherrschte sich, denn er fand dass es ungerecht den anderen gegenüber währe, wenn er seine überlegene Stärke ausnutzen und sich persönliche Vorteile verschaffen würde, indem er mehr aß, als ihm zustand. Denn dann währe er nicht besser als Torooru. Schließlich erinnerte er sich an den kranken Frosch, der die ganze Zeit ohne sich zu rühren in seiner Felsnische gelegen hatte und auch etwas zu essen bekommen musste. Ein Stöhnen unterdrückend erhob sich Haku wieder und brachte dem kranken Froschmann eine Schale mit Fischsuppe, die er ihm mit einem Holzlöffel nach und nach einflösste. Dieser erwachte bei dieser Fütterungsprozedur aber kaum aus seinem Erschöpfungsschlaf. Dass die anderen Froschmänner sei Tun verwundert beobachteten, bemerkte Haku nicht, denn das einzige woran er denken konnte war, dass Chihiro sich genau so um ihn gekümmert haben musste, als er schwer verletzt im Kesselraum lag, wie es ihm Kamaji später berichtet hatte. Diese Gedanken machten ihm das Herz leicht und ließen ihn die deprimierende Realität vergessen. Torooru grübelte mittlerweile auf seinem enormen Bett liegend über die Situation nach. Diese verdammte Hexe Yubaba, dachte er, dass sie ihm zu seinen sonstigen Problemen auch noch diesen Drachen aufgehalst hatte. Dieser verfluchte Drache. Was der anrichten konnte hatte sich ja jetzt bereits am ersten Tag hier unten gezeigt und er hatte keine Idee, was er dagegen unternehmen konnte. Der Drache war einfach stärker als er selbst. Fast bewundernd hatte er mit ansehen müssen, wie dieser fünf Loren alleine den Tunnel hinauf gezogen hatte. In seinen besten Zeiten hatte er alleine nicht mehr als drei Loren auf einmal ziehen können und da war er noch jung gewesen. Trotzdem hatte er immer über zwei Stunden für eine Strecke benötigt und die war früher noch längst nicht so lang gewesen, wie jetzt und mehr als einmal pro Tag hatte er es damals auch nicht geschafft. Er bezweifelte, dass er diese Leistung immer noch vollbringen konnte, doch dieser Drache hatte heute fünfmal dieses Kunststück vollbracht, einfach so. Das war einfach ungeheuerlich und beängstigend. Wie dieser winzige Junge dann einfach den härtesten Schlag wegstecken konnte, zu dem er fähig war, war einfach unbegreiflich, einen Schlag, der jeden der Froschmänner auf der Stelle getötet hätte, was er durchaus beabsichtigt hatte. Dabei hatte er sich im Recht gefühlt, hatte Haku doch damit, dass er das Fass aufgebrochen und dadurch die Froschmänner animiert hatte, es leer zu saufen, sie alle in größte Schwierigkeiten gebracht. Wie sollten sie jetzt über die Woche kommen, denn die drei Fässer mussten bis zur nächsten Woche halten. Mit nur zwei Fässern würde ihnen zwei zu früh Tage das Wasser ausgehen und das bedeutet, dass sie entweder ihre Förderquote nicht einhalten konnten, oder verdursten mussten. Tausend mal schon hatte er Yubaba ersucht, ihnen die Wasserrationen zu erhöhen, aber mit einem Hinweis auf die Optimierung von Produktionsprozessen hatte sie stets abgelehnt. Dabei gab es oben im Badehaus nun wirklich genügend Wasser und es hätte ja auch schon das Abwasser der Badegäste genügt. Darum ging es Yubaba aber letztendlich nicht. Sie wollte hier eigentlich nur die überflüssigen Froscharbeiter loswerden, denn hätte sie das Bergwerk nicht, dann wäre oben im Badehaus irgendwann vor lauter Fröschen kein Platz mehr für die Gäste. Hier unten konnte sie die überflüssigen und unfähigen loswerden, ohne gegen den Schutz zu verstoßen, den diese aufgrund ihres Arbeitsvertrages vor ihr genossen. Sie ließ sie einfach zu Tode schuften. Im Grunde taten ihm ja die Froschmänner leid, aber was sollte er tun? Auch dieser kranke Froschmann, der es fast hinter sich gebracht hatte, tat ihm leid, aber dadurch, dass der Drache ihm Wasser gegeben hatte, hatte er dessen Leidenszeit nur verlängert und sie außerdem alle in Schwierigkeiten gebracht! So schlimm wie jetzt war es allerdings nicht immer gewesen, wie er sich erinnerte. Begonnen war der Bergbau seinerzeit von der Hexe Aburaba worden, der Mutter von Yubaba und Zeniba. Diese hatte ursprünglich das Badehaus vor über einhundert Jahren gegründet und als sämtliche Wälder in der näheren Umgebung abgeholzt worden waren, um als Feuerholz für die Heißwassererzeugung zu dienen, hatte sie mit ihrer Magie das Kohlevorkommen unter dem Badehaus entdeckt. Da in jener Zeit in ganz Japan keine Experten für Bergbau zu finden waren, hatte sie sich schließlich außerhalb Japans umgesehen und einen Trupp Zwerge aus Oberbayern engagiert. Diese übernahmen die Leitung des Bergbauunternehmens, erledigten den Tiefbau und den Tunnelvortrieb und hauten die Kohle aus den Flözen. Für die Schwerstarbeit, wie das Lorenziehen, die Beseitigung von Geröll und die Be- und Entladung der Loren, wurden drei Minotauren aus Kreta, vier Centauren von der Peloponnes und eben zwei Bergtrolle aus Norwegen engagiert. Wen auch immer Aburaba für das Projekt gewinnen konnte. Der Arbeitsvertrag, den ihm die junge freundliche Hexe Zeniba damals im Auftrag ihrer Mutter vorgelegt hatte, war wirklich sehr Attraktiv gewesen, ermöglichte er es ihm doch, seiner jungen Frau Frieda und seiner kleinen Tochter Ingeborg, ein besseres Leben zu bieten, als in seiner armseligen Höhle in den Bergen. Nur ein paar Jahre, hatte er gedacht, und er würde als wohlhabender Mann wieder in seine Heimat zurückkehren können. Die Arbeitsbedingungen waren wirklich sehr gut gewesen, die Unterkünfte oben im Badehaus großzügig und der Verdienst mehr als ausreichend. So hatte er den Arbeitsvertrag mehrfach verlängert, wie eigentlich alle aus der Gruppe, bis auf seinen einen Trollkollegen, den frühzeitig das Heimweh gepackt hatte, denn sie fühlten sich wohl, bis eines Tages Aburaba gestorben war und Yubaba und Zeniba gemeinsam die Leitung des Badehauses übernahmen. Yubaba erledigte das finanzielle und personelle Management, während Zeniba sich um den Einsatz der Arbeitskräfte, die Küche und das Wohlergehen der Gäste kümmerte. Ein weiteres mal hatte er seinen Arbeitsvertrag damals verlängert und dabei überhaupt nicht die veränderten Vertragsklauseln bemerkt, die ihn seines Namens beraubten, so dass er hinterher nur noch Torooru hieß, was auf Japanisch einfach Troll heißt. Das war jetzt vor fast achtzig Jahren gewesen. Anfangs hatte sich nicht viel verändert, die Arbeitsbedingungen blieben gut und ebenso sein Verdienst. Doch als er schließlich seinen Arbeitsvertrag kündigen wollte, um zu seiner Familie nach Norwegen zurückzukehren, konnte er sich nicht mehr an seinen richtigen Namen erinnern, und er wurde von Yubaba gezwungen zu bleiben. Einige Jahre später begannen dann die Probleme im Bergwerk, als sie in eine merkwürdige weiche Felsschicht vorgedrungen waren. Einer der Zwerge nach dem anderen verschwand auf mysteriöse Weise spurlos von der Bildfläche und schließlich wurde auch einer der Centauren getötet. Man fand seine halb aufgelösten Überreste in einem neu gegrabenen Nebenschacht. Er selbst war es schließlich gewesen, der herausfand, was die Ursache dafür war. Eines Tages, bei Schichtende war er sorglos ohne Lampe zum Aufzug zurückgestapft, als er plötzlich in ein weiches, haariges Zeug hineingeriet, das von der Tunneldecke herunterhing. Im ersten Moment dachte er sich nichts schlimmes und wollte es einfach beiseite wischen, doch dann explodierte der Schmerz auf seiner Haut überall dort, wo dieses Zeug ihn berührte und er fühlte, wie er vom Boden weg gehoben wurde. Urplötzlich wurde ihm bewusst, dass es um sein Leben ging und seine entsetzlichen Schmerzen ignorierend arbeitete er sich wütend unter Aufbietung all seiner Kräfte durch die wollige Masse hindurch bis hin zu deren Ursprung und schaffte es irgendwie den Hauptkörper des Wesens zu zerreißen und töten. Stundenlang hatte er danach in dem Tunnel hilflos gelegen, bedeckt von den Fäden, bis ihn jemand gefunden und versorgt hatte. Seitdem war sein ganzer Körper von fürchterlichen Narben bedeckt, überall dort, wo die Nesselfäden der Felsanemone, wie sie die Kreatur schließlich aufgrund ihres Aussehens und ihrer grellen Farben genannt hatten, begonnen hatten, sein Fleisch aufzulösen. Er war der einzige gewesen, der jemals einer Felsanemone entkommen war. Nach und nach hatten sich diese Wesen dann im gesamten Tunnelsystem ausgebreitet, stülpten sich in vollständiger Dunkelheit aus ihren Felsspalten zwischen den Holzverschalungen hindurch, ließen ihre Nesselfäden in den Tunnel hängen und harrten ihrer Opfer. Trotz des Bekanntseins der Felsanemonen, wurde die Belegschaft es Bergwergs weiterhin dezimiert, denn immer wieder gerieten unvorsichtige Zeitgenossen, denen plötzlich der Brennstoffvorrat ihrer Grubenlampen zur Neige ging, in deren Fänge. Yubaba begann damals die fehlenden Arbeitskräfte im Bergwerk durch Froscharbeiter zu ersetzen, die sich jedoch als wenig geeignet für die harte Arbeit unter Tage erwiesen unter den dort herrschenden trocken heißen Bedingungen. Doch immer noch blieben die Arbeitsbedingungen für die Zwerge, Centauren, Minotauren und ihn erträglich, denn alle wohnten immer noch im Badehaus und fuhren nur zur Arbeitsschicht in das Bergwerk ein. Es gab genügend Wasser und genügend zu Essen, hinreichend gutes Baumaterial zur Abstützung der Tunnel und bis auf die lästigen Felsanemonen war die Arbeit nicht übermäßig hart. Vor etwa fünfzig Jahren dann schließlich bekam Zeniba von den Machenschaften ihrer Schwester Wind, von den unredlichen Arbeitsverträgen, von Unterschlagungen und von Erpressungen einiger Badegäste, die sie kompromittiert hatte. Es gab einen riesigen Krach zwischen Yubaba und Zeniba, der letztendlich zur Trennung der beiden führte. Nachdem Zeniba weg war, wurde es nach und nach immer schlimmer, denn Yubaba nahm ihnen zuerst die Quartiere im Badehaus weg, da sie diese für die Frösche benötigte, wie sie sagte, und brachte sie alle unten im Bergwerg unter. Sie bräuchten dann ja keine kostbare Arbeitszeit mit dem Ein- und Ausfahren in den Berg mehr zu verschwenden, begründete sie diesen Schritt. Nach und nach wurden die Arbeitsmittel, die ihnen zur Verfügung standen immer schlechter, das wenige Holz, dass ihnen noch geliefert wurde um die Tunnelwände abzustützen, war von schlechter Qualität und das Essen und das Wasser wurde rationiert. Yubaba entschuldigte diese Maßnahmen damit, dass die Zeiten schwierig seinen und sie alle sparen müssten. Aufgrund des schlechten Materials begannen sich alsbald die ersten Unfälle zu ereignen, Seile rissen, mit denen die Loren gezogen wurden, die dann wie wild gewordene Geschosse unkontrolliert die Schienen hinab rasten und jeden überfuhren, der sich in ihrem Weg befand, morsche Balken brachen plötzlich so dass ganze Tunnelabschnitte einstürzten und Leute unter sich begruben und die mittlerweile uralten Grubenlampen wurden immer unzuverlässiger, gingen plötzlich aus, so dass immer wieder jemand von den vermaledeiten Felsanemonen erwischt wurde. Einer nach dem anderen von der ursprünglichen Bergarbeitercrew starb durch Unfälle oder schließlich einfach Altersschwäche. Vor nun fast dreißig Jahren war der letzte der Zwerge in seinen Armen gestorben. So lange nun schon war das Bergwerk hier sein Reich, in dem er mehr oder weniger tun und lassen konnte, was er wollte. Er wusste genau, dass Yubaba letztendlich abhängig von ihm war, denn keiner außer ihm war in der Lage, den Bergbau hier unten im Gange zu halten. So konnte er sein Leben hier unten noch einigermaßen erträglich gestalten und dafür sorgen, dass zumindest er überlebte und so die Hoffnung aufrecht erhalten, eines Tages vielleicht doch zu seiner Familie nach Norwegen zurückkehren zu können, in die grünen Wälder seiner Jugend und die herrlich kalten und weißen Winter der Berge. Immerhin konnte er sich gute Hoffnungen machen, Yubaba vielleicht zu überleben, weil er als Troll eine Lebenserwartung von bis zu 200 Jahren hatte und er war, als er hie angeheuert hatte, noch keine 30 gewesen. Nach ihrem Tod würde er vielleicht endlich hier wegkommen können. Wie sehr er diese Hexe hasste, die ihn hier unten gegen seinen Willen gefangen hielt und ihn vor allem von seiner Familie fernhielt. Sie führten nun einen ständigen Kleinkrieg miteinander um Ressourcen wie Wasser und Baumaterialien und er "bestrafte" sie jede Woche, indem er ihr absichtlich ihren kostbaren Teppich beschmutzte, was sie jedes mal in Rage brachte. Und nun hatte sie ihm auch noch diesen Drachen auf den Hals geschickt, der ihn jetzt vor den versammelten Froscharbeitern gedemütigt hatte, wahrscheinlich um ihm das Leben noch unerträglicher zu machen, oder gar, um ihn loszuwerden? Nein, dass konnte nicht sein, denn wie sollte der Drache wissen, wie man ein Bergwerk leitet. Trotzdem musste er diesen Drachen irgendwie unter Kontrolle bekommen, doch wie? Wie hielt Yubaba eigentlich ihn selbst unter Kontrolle? Der Schlüssel dazu lag in dem Vertrag. Wenn man gegen den Vertrag verstieß, dann konnte Yubaba mit einem tun, was sie wollte. Er brauchte dem Drachen also nur Anweisungen zu geben und der musste ihm gehorchen, seinem Vorgesetzten! Hatte Yubaba heute Morgen in ihrem Büro nicht genau das gesagt? Viel zu lange hatte er sich auf seine körperliche Überlegenheit verlassen, um sich Respekt vor den Arbeitern zu verschaffen, denn das verstecken hinter Paragraphen und Autoritäten lag nicht in seiner Natur. Aber jetzt blieb ihm nichts anderes übrig und er hatte auch schon eine Idee, wie er den Drachen klein kriegen konnte. Morgen würde er damit beginnen! Kapitel 7: Im Krankenhaus ------------------------- Hallo, jetzt habe ich es endlich geschafft, das Kapitel zu vollenden. Ist ein bisschen länger geworden, als ich gedacht hatte. Jetzt rätselt mal schön, was mit Chihiro eigentlich los ist, hihihi. An alle, die darauf warten, wie's weitergeht: Ich muss im Moment 'ne wirklich wichtige Arbeit fertig machen (mit 180 Seiten!), die nächste Woche (1.9.03) abgegeben werden muss. So lange wird es nicht weitergehen, auch wenn ich das nächste Kapitel schon zu 2/3 fertig hab. Ich hab im Moment einfach den Kopf nicht frei, sorry. Im Krankenhaus Gegen Ende der vierten Stunde konnte Chihiro sich vor lauter Hunger kaum noch auf den Unterricht konzentrieren. Die Worte der Lehrerin verschmolzen zu einem einzigen Gemurmel und das Klassenzimmer schien sich um sie herum zu drehen. Ayaka stupste sie mehrfach an, als sie auf ihrem Stuhl zusammenzusacken begann. Dann endlich ertönte die Pausenglocke und Chihiro riss sich zusammen, so gut sie konnte und fokussierte sich vollständig auf das bevorstehende Mittagsmahl. In der Schulkantine nahm sie kaum noch wahr, wie sie sich ein Tablett nahm und an der Essenausgabe irgendetwas darauf gestellt bekam. Als schließlich alle Platz genommen hatten und mit dem Essen beginnen durften, hatte sie unter dem ungläubigen Staunen von Ayaka innerhalb von nur einer Minute alles in sich hineingestopft, war aufgestanden und hatte versucht, noch Nachschub zu holen. Doch die freundliche aber resolute Küchenangestellte verweigerte ihr einen Nachschlag mit der Begründung, dass alle Kinder das Gleiche zu bekommen hätten und außerdem sei die Portion ja wohl groß genug gewesen für so ein kleines Mädchen wie sie. "Mann Chihiro, was ist denn los mit dir? Du futterst ja, als hättest du gerade um die Weltmeisterschaft gespielt.", staunte Ayaka. "Ich weiß nicht genau. Das ging alles irgendwie gestern los.", meinte diese, "Nachdem wir Fußball gespielt hatten, bin ich vor lauter Hunger kaum noch nach Hause gekommen." Dann erzählte sie, was sie gestern und Heute so alles gegessen hatte und Ayaka bekam immer größere Augen. "Bohr, ich glaube ich währe geplatzt, wenn ich soviel gegessen hätte. Und ein ganzes Kilo Tofu. Du musst wirklich Hungrig gewesen sein.", bestätigte Ayaka etwas lautstark und aß etwas von dem Tintenfisch auf Reis, den es zu Mittag gegeben hatte, was Chihiro erst jetzt auffiel. Vom Nachbartisch, an dem einige Jungen saßen, darunter auch Bunzo Abe, ertönte in diesem Moment Gelächter. "Zuerst wissen die nicht, welches Datum gerade ist, und dann Füttern sie ihre Tochter auch noch mit rohem Tofu.", tönte Bunzo, "Mann, was müssen die Oginos doof sein!" Chihiro schaute erst überrascht und dann empört zu Bunzo hinüber, aber es war Ayaka, die aufsprang und ihre neue Freundin verteidigte. Sie baute sich neben Bunzo auf, der sie mit gespielter Angst ansah und schimpfte: "Wie kannst nur so gemein sein? Und so einen Blödsinn erzählen? Und woher weißt du überhaupt, dass sie Ogino heißt? Du bist selber doof!" "Und wer glaubst du vorzustellen?" Bunzo lehnt sich lässig in seinem Stuhl nach hinten und grinste überlegen. "Meinst du vielleicht ich Lüge? Mein Vater hat's mir erzählt. Vor zwei Tagen, die waren grade nebenan eingezogen, kamen ihre Eltern zu uns und fragten völlig verwirrt nach dem Datum. Und dass sie da dort wohnt, hab ich gestern Abend gesehen, als sie nach Hause geschlichen kam. Und das mit dem Tofu hat sie ja selber zugegeben." "Trotzdem bist du gemein. Man lauscht nicht, wenn andere sich unterhalten. Das ist unhöflich. Und doof bist du auch, du hast ja heute Morgen nicht mal deine Klasse gefunden! So." Darauf wusste auch Bunzo nichts zu erwidern, also ignorierte er Ayaka einfach und stocherte leicht verlegen im Essen herum. Einer der Lehrer hatte die kleine Auseinandersetzung bemerkt und kam jetzt herüber, um nach dem Rechten zu sehen. Deshalb setzte auch Ayaka sich jetzt schnell wieder hin. "Dem hab ich's gegeben. Trotzdem hat er mir den Appetit verdorben, der Blödmann.", regte sie sich weiter auf, "Und du, regt dich das gar nicht auf, wenn er deine Eltern beleidigt?" "Ach Ayaka, solche Typen wie den gibt es in jeder Klasse, da darf man sich gar nicht drüber aufregen.", beschwichtigte Chihiro, "Du sag mal, wenn du keinen Hunger mehr hast, kann ich dann deinen Rest vom Essen haben?" Perplex glotzte Ayaka zu Chihiro und schob dann kommentarlos ihr Tablett hinüber. Eine Tischreihe weiter starrte Ichiyo Matsumoto, der den kurzen Disput unfreiwillig mitbekommen hatte, traurig sein Tablett an. Sie finden mich doof, weil ich vorhin den Klassenraum nicht gefunden habe, dachte er unglücklich. Nach dem Mittagessen und der daran anschließenden Pause, wurde dann die Schule von den Schülern geputzt und Chihiro und Ayaka wurden zum Wischen des Flurs eingeteilt. Danach ging der Unterricht um 13:50 weiter und gegen 15:20 war dann endlich die eigentliche Schule vorbei. Das hieß aber noch längst nicht, dass sie jetzt nach Hause gehen konnten, denn zwischen Unterrichtsende und 17:00 Uhr waren noch die nachschulischen Aktivitäten angesiedelt, denen jeder Schüler nachzugehen hatte. Nach der Klassenbesprechung gegen 15:30 ging dann jeder in den Kurs, für den er sich Interessierte. Ayaka stellte zu ihrer großen Erleichterung fest, dass im letzten Jahr auch eine Mädchen Fußballmannschaft gegründet worden war, da die WM nun langsam näher rückte. Sie versuchte auch Chihiro zu überreden, in die Fußballmannschaft zu gehen, aber die fühlte sich mittlerweile vor lauter Hunger wieder so schlapp, dass sie dankend ablehnte, obwohl sie Ayaka zuliebe durchaus in die Fußballmannschaft gegangen währe, auch wenn sie nie besonders sportlich gewesen war. Aber das war ja kein Grund, es nicht einmal zu versuchen. Trotzdem war ihr jetzt mehr nach einer ruhigen Tätigkeit zumute, bei der sie sich konzentrieren musste und ihren Hunger vergessen konnte. Also suchte sich Chihiro den Ikebana-Kurs aus. In dem Kurs waren wie sich herausstellte nur Mädchen und ihre Klassenlehrerin war die Kursleiterin. Als es endlich 17 Uhr war, traf sich Chihiro mit Ayaka vor der Schule und sie machten sich gemeinsam auf den Weg nach Hause. Unterwegs kamen sie an dem Konbini vorbei und Chihiro holte sich von ihrem Taschengeld zwei Tafeln Schokolade, die sie hastig in sich hineinmampfte, aber nicht ohne Ayaka zwei oder drei Stückchen abzugeben. Sie hatte sich nämlich vor lauter Hunger wieder so schwach gefühlt, dass ihr schon Schwindelig wurde. Danach fühlte sie sich soweit gestärkt, dass sie den Nachhauseweg zu schaffen glaubte. Als sie dann an Ayakas Haus vorbeikamen, verabredeten sie sich für den nächsten Morgen, um gemeinsam zur Schule zu gehen. Zu Hause erfuhr Chihiro dann, dass ihr Vater entlassen worden war und sie sich in nächster Zeit erst einmal "Einschränken" mussten, was auch immer das zu bedeuten hatte. Den Audi hatte er deshalb auch konsequenterweise sofort verkauft und stattdessen einen Nissan Micra erworben, mit dem sie in nächster Zeit auskommen mussten. Optimistisch, wie er war, erzählte er den ganzen Abend von seinen zukünftigen Plänen. Er wolle sich selbstständig machen als Bauingenieur und zunächst einmal die Hausverwaltung einiger Häuser in dieser Neubauanlage übernehmen, die von ihren Eigentümern vermietet worden waren. Da er in das Projekt mit involviert war, hatte er die Liste aller Hauseigentümer und wusste auch, welche von diesen ihre Objekte vermieteten. Zwei Klienten habe er auch schon, die er im Architekturbüro kennen gelernt hatte und sei in Verhandlung mit mehreren anderen. Trotzdem würde dies in der ersten Zeit keineswegs ausreichen, um das Gehalt zu ersetzen, welches er im Architekturbüro als Projektleiter erhalten hatte, aber das Haus war bereits komplett bezahlt und die Ersparnisse würden noch ein paar Monate reichen, wenn sie sparsam damit umgehen würden. Arbeitslosengeld würde er keines erhalten, da er sich ja Selbstständig machte und somit de facto ja eine Arbeit hatte. Chihiro jedoch verstand von den ganzen Dingen nicht viel und zog sich nach dem Abendessen, bei dem sie wieder reichlich zuschlug, auf ihr Zimmer zurück, um die Hausaufgaben zu machen. Sie stellte fest, dass ihr das erheblich leichter fiel, als noch vor den Sommerferien. Sie konnte sich hervorragend konzentrieren und vergaß ihre Umwelt, bis sie plötzlich fertig war, nach viel kürzerer Zeit, als sie gedacht hatte. Sie las hinterher noch ein wenig in ihrem Harry Potter Buch, holte sich noch etwas zu Essen und ging danach völlig erschöpft zu Bett. In den nächsten Tagen wurde die Sache mit ihrem ständigen Hunger von einem Ärgernis zu einem ernsthaften Problem. So viel sie auch immer aß, und ihre Mutter wurde deswegen auch immer nervöser, sie schaffte es einfach nicht mehr Satt zu werden und den ganzen Tag über hatte sie ein mehr oder weniger intensives Hungergefühl, an das sie sich jedoch langsam gewöhnte. Was Chihiro dann aber doch Sorgen bereitete, war dass sie trotz der ernormen Mengen, die sie verputzte, in den letzten zwei Wochen zwei Kilogramm abgenommen hatte, wo sie doch ohnehin nur 20 Kilo gewogen hatte. Auch hatte sie ihr gesamtes Taschengeld für den Monat September innerhalb von diesen zwei Wochen komplett in Süßigkeiten investiert, die sie in den Unterrichtspausen vernaschte, um die Schulstunden irgendwie zu überstehen. Ayaka half ihr dabei, so gut sie konnte, gab Chihiro immer etwas von ihrem Mittagessen ab, oder steckte ihr Reiskuchen oder Süßigkeiten zu, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Am Ende der dritten Schulwoche schließlich war Chihiro ganz schwummerig zumute und es bereitete ihr schon Mühe, überhaupt aus ihrem Stuhl aufzustehen und irgendetwas zu tun. Merkwürdigerweise war ihr nie kalt, sondern eher etwas zu warm, sie hatte die ganze Zeit leichte Atemnot, als ob sie andauernd laufen würde. Dementsprechend hoch war auch ihr Pulsschlag. Ihrer Mutter hatte sie das Problem geschildert, doch diese tat das Ganze als Unsinn ab und redete irgendetwas von einer Phase. Zumindest gab ihr ihre Mutter soviel zu Essen, wie sie haben wollte, doch auch dies nur unter Gestöhne, weil sie doch eigentlich sparen müssten. Sie konnten sich im Moment einfach keine Probleme leisten und deshalb gab es auch keine. Basta! Es war gerade Ende der vierten Stunde am Montag und Chihiro freute sich schon sehnsüchtig auf das Mittagessen, als sie beobachtete, wie sich Bunzo Abe mit zweien seiner Freunde, die er inzwischen gewonnen hatte, sich im Flur Ichiyo Matsumoto stellten und sich drohend vor dem Jungen aufbaute, flankiert von Hiroaki Matokai aus ihrer eigenen Klasse und Susumo Takasugi aus der Parallelklasse. Nach und Nach hatte sich Bunzo immer mehr als kleiner Tyrann herausgestellt, der eine kleine Schar Williger um sich herum versammelte und begann, alle anderen zu terrorisieren. Hiroaki war ein gutes Beispiel für die Leute, die Bunzo um sich herum versammelte. Er war ein relativ kleiner Junge mit verkniffenem Gesicht, der häufiger im Unterricht einschlief und sonst auch selten etwas mitschrieb. Nach allem, was Chihiro über ihn wusste, war er einfach dumm wie Brot. Auf jeden Fall war unschwer zu erkennen, dass Ichiyo sich nicht besonders wohl zu fühlen schien und er redete panisch auf Bunzo ein. Dieser jedoch grinste nur und boxte Ichiyo in den Bauch, der daraufhin kein sehr glückliches Gesicht machte. Chihiro geriet außer sich vor Fassung, als sie diese Szene beobachten musste. Sie hatte Bunzo vom ersten Moment an nicht gemocht und vor zwei Wochen hatte er sie und ihre Eltern lächerlich gemacht. Von Tag zu Tag war er ihr danach unsympathischer geworden, aber für Hassgefühle hatte es nicht gereicht, bis jetzt. Wenn jetzt keiner Bunzo Einhalt gebot, würde es immer schlimmer werden und er würde irgendwann die ganze Klasse terrorisieren, dass hatte sie in ihrer alten Schule auch schon einmal erlebt. Ohne jede Spur von Furcht rannte Chihiro, ihre Schwäche vergessend, zu Ichiyo und Bunzo hinüber. "... tausend Yen, jede Woche!", hörte sie Bunzo gepresst sagen, als sie näher kam, "Oder wir werden dich nicht beschützen!" Chihiro erreichte in diesem Moment die beiden und quetschte sich Bunzo wütend anstarrend zwischen sie, was ihr nicht sonderlich schwer fiel. Ayaka, mit der Chihiro sich vorher unterhalten hatte, kam jetzt auch vorsichtig näher. Sie mochte Bunzo auch nicht, wollte eigentlich so wenig wie möglich mit ihm zu tun haben und die Entwicklung in den letzten Wochen hatte ihr nicht gefallen, denn langsam bekam auch sie Angst vor dem Jungen. "Ach schau an, wen wir da haben.", meinte dieser überrascht, "Unsere kleine Tofu Fresserin." "Lass ihn in Ruhe!", fauchte Chihiro Bunzo an. "Und warum sollte ich das tun? Weil du das sagst?" Verächtlich wischte Bunzo das zwei Köpfe kleinere Mädchen zur Seite. "Schieb ab, ich hab noch was zu besprechen.", grunzte er. Chihiro war von dem kurzen Sprint zuvor mittlerweile ganz schwindelig und übel geworden, so dass sie fast hinfiel. Sterne tanzten vor ihren Augen, aber sie wollte vor Bunzo und seiner Bande nicht klein beigeben. Inzwischen waren außer Ayaka auch noch andere Schüler auf das Geschehen aufmerksam geworden und hatten sich um Chihiro und Bunzo geschart. Unbeeindruckt von Bunzos Größe stellte sie sich wieder zwischen ihn und Ichiyo. "Wenn du was von ihm willst, musst du erst an mir vorbei.", sagte sie, Bunzo direkt in die Augen blickend, wobei sie verzweifelt versuchte, nicht ohnmächtig zu werden, nicht ausgerechnet jetzt. Bunzo seinerseits gefiel die Situation immer weniger, jetzt da immer mehr Zeugen hinzukamen. Er musste irgendwie dieses winzige, scheinbar verrückte Mädchen in ihre Schranken verweisen, dass sich doch tatsächlich erdreistete, sich ihm in den Weg zu stellen. Irgendwie musste er es schaffen ihr Angst zu machen, sie einzuschüchtern, sonst würde ihn in Zukunft keiner mehr ernst nehmen. Wie sollte sie ihn auch ernst nehmen, wenn er es nicht einmal schaffte, mit einem kleinen, dünnen Mädchen fertig zu werden. Mit wutrotem Kopf gab er Chihiro eine Ohrfeige, keine besonders feste, eigentlich nur ein Wischer um sie zu erschrecken, aber in dem Moment wo er ihre Wange berührte, leuchtete Chihiros Haarband kurz violett, was aber nur Ichiyo bemerkte, der ja direkt hinter ihr stand, und gab es einen lauten Knall, als hätte jemand mit einer Peitsche geschlagen. Bunzo starrte einen kurzen Moment überrascht auf seine Hand, bevor dann seine Augen hervorquollen und er vor Schmerzen jaulend anfing, durch die Gegend zu hüpfen. Für ihn hatte es sich angefühlt, als hätte er mit voller Kraft gegen eine Betonwand geschlagen, seine Hand pulsierte im Rhythmus seines Herzschlages und begann anzuschwellen. Chihiro bekam von der ganzen Sache nichts mehr mit. Sie hatte die Ohrfeige überhaupt nicht gespürt, sondern ihr war mittlerweile derart schwummerig, dass ihr Schwarz vor Augen wurde. Ohne einen Laut von sich zu geben, sackte sie langsam vor Ichiyo in sich zusammen, der beim Versuch sie aufzufangen aber etwas zu spät reagierte. Die meisten der Umstehenden hatten den Eindruck, als währe ihre Ohnmacht die Folge der Ohrfeige Bunzos. Chihiro hatte das Gefühl als würde sie schweben, sich langsam um die eigene Achse drehen, alles war warm und weich wie Watte. Langsam drang dann ein unangenehmes Druckgefühl an ihrem linken Arm in ihr Bewusstsein und sie versuchte es loszuwerden, indem sie den Arm etwas bewegte. Aber es half nicht. Mit ihrer rechten Hand tastete sie nach der drückenden Stelle und fühlte, dass ein Schlauch aus ihrem Arm herauskam. Das verwirrte sie. War sie denn nicht in der Schule? "Ah, sie wacht auf.", hörte sie eine männliche Stimme sagen und eine andere, weibliche dann, die sie als die Stimme ihrer Mutter identifizierte: "Chihiro, mein Kleines. Was machst du denn nur für Sachen." Als sie die Augen aufmachte, musste sie zuerst Blinzeln und sah dann die besorgten Gesichter ihrer Eltern und eines Mannes in einem weißen Kittel über sich hängen. Sie war in einem Raum mit freundlichen Farben und bunten Bildern an den Wänden. Neben ihr stand ein Gestell, an dem eine Flasche aufgehängt war, aus der ein Schlauch zu ihrem Arm führte und Flüssigkeit tropfenweise über eine Kanüle in eine Vene floss, was das Druckgefühl verursachte. "Hallo Mama, hallo Papa. Was mache ich denn im Krankenhaus?", wollte sie wissen, wobei sie versuchte sich aufzurichten, aber kraftlos wieder zurücksank. Ihr Vater eilte zur Hilfe und kurbelte das Kopfende des Bettes hoch, so dass Chihiro in eine halb sitzende Position kam. "Kannst du dich denn an gar nichts erinnern, dass dieser grässliche Junge dich geschlagen hat?" Chihiro schüttelte den Kopf. "Er soll mich geschlagen haben? Ich weiß nur noch, dass mir plötzlich schwarz geworden ist vor Augen und dann bin ich hier wieder aufgewacht.", meinte sie. In diesem Augenblick kam eine Krankenschwester mit einer Mappe herein, die sie dem Arzt übergab. "Dr. Ito, hier sind die Ergebnisse der Blutuntersuchung des Mädchens und die anderen Befunde.", sagte sie kurz angebunden und verschwand eilends wieder. Dr. Ito studierte die Mappe eine Weile lang, während Yuuko Ogino auf der Bettkante sitzend Chihiro streichelte und ihr Vater Akio, den Arzt beobachtend, nervös auf und ab tigerte. Chihiro war die Aufmerksamkeit, die ihr hier zuteil wurde, fast unangenehm. Energisch klappte der Arzt schließlich energisch die Mappe zu und blickte Chihiros Eltern streng an. "Herr und Frau Ogino, würden sie bitte einmal mit nach draußen kommen. Ich möchte mit ihnen über ihre Tochter reden." Damit marschierte er aus dem Zimmer und ihre Eltern hinterher, welche die Tür hinter sich schlossen. "Nun, wie aus den Untersuchungsergebnissen hervorgeht, wurde ihre Tochter keineswegs durch einen irgendwie gearteten Schlag bewusstlos.", eröffnete er den verdutzten Eltern, "Wir konnten keinerlei Zeichen einer Gehirnerschütterung feststellen, ihre Pupillenreaktionen waren trotz Bewusstlosigkeit vollkommen normal. Weiterhin konnten wir kein Anzeichen für ein Hämatom, also einen Bluterguss, im Kopfbereich feststellen, wie es für solche heftigen Schläge charakteristisch ist. Es hat, soweit wir das feststellen konnten, keinerlei Gewalteinwirkung gegeben." "Ja aber warum ist sie dann zusammengeklappt. Alle Augenzeugen haben einhellig berichtet, dass der Junge sie heftig geschlagen hat.", warf Akio Ogino ein. "Das will ich ihnen jetzt erklären. Ihre Tochter ist ohnmächtig geworden, weil sie vollkommen unterzuckert gewesen ist.", ließ Doktor Ito die Katze aus dem Sack, "Ich muss schon sagen, dass sie in einer körperlich ziemlich schlechten Verfassung ist. Nicht nur dass Chihiro für ihr Alter deutlich zu klein ist, sie hat auch erhebliches Untergewicht. Sie wiegt ja gerade noch 17 kg bei einer Körpergröße von nur 120 cm und dass mit 10 Jahren! Das ergibt einen Body Mass Index von gerade einmal 11,8." "Wollen sie etwa behaupten, dass wir unserer Tochter zu wenig zu essen geben?", empörte sich Akio Ogino. "O nein, keineswegs. Laut den Aussagen der Lehrerin, Frau Watanabe, die zusammen mit ihrer Tochter zu uns gekommen war, hat sie Chihiro in jeder Unterrichtspause etwas essen sehen. Ich habe auch den Schulranzen ihrer Tochter inspiziert und er war voller Süßigkeiten und Essensreste, wie etwa Bananenschalen oder Kekskrümeln. Wissen sie, der Zustand ihrer Tochter war mir sogleich bei der Einlieferung aufgefallen, deshalb habe ich ja auch sofort gefragt. Ich habe einen Verdacht und möchte, dass sie mir zwei Fragen ehrlich beantworten: Hat ihre Tochter in letzter Zeit ungewöhnlich viel gegessen und ist sie häufig auf der Toilette verschwunden?" "Um es ehrlich zu sagen, hat Chihiro uns in der letzten Zeit fast die Haare vom Kopf gegessen und ich glaube auch, das sie öfters heimlich nachts an den Kühlschrank gegangen sein muss.", antwortete Yuuko Ogino stirnrunzelnd, "Und ja, sie ist auch relativ häufig auf die Toilette gegangen, wenn ich es recht überlege. Ich dachte, das muss so sein, wenn sie soviel isst. So sagen sie doch, Herr Doktor, was hat sie denn nun?" "Sehen sie, das bestätigt genau meine Vermutung.", meinte Doktor Ito, jetzt mit etwas freundlicherer Mine, "Sie ist zwar noch sehr jung für so etwas, aber der Trend geht ja in letzter Zeit dahin, dass die betroffenen Personen immer jünger werden. Ich glaube dass ihre Tochter an Bulimie leidet, der so genannten Ess-Brech-Sucht! Das ist eine besonders unangenehme Form der Magersucht, bei der die betroffenen Personen anfallartig Unmengen an Nahrungsmitteln in sich hineinstopfen, um sie dann heimlich auf der Toilette wieder zu erbrechen." "Wollen sie damit sagen, dass sie die ganzen Sachen in sich hineinstopft, um sie dann später auf dem Klo heimlich wieder auszukotzen?", wollte Akio Ogino mit Besorgnis in der Stimme wissen, woraufhin der Arzt nur nickte. "Wissen sie, bei der Bulimie handelt es sich in erster Linie um ein psychisches Phänomen. Ihre Tochter muss also in psychiatrische Behandlung. Wir werden morgen damit beginnen.", erläuterte dieser weiterhin, "Auch müssen wir den Kreislauf der heißhungrigen Fressattacken mit dem anschließenden Erbrechen stoppen und gleichzeitig ihre Tochter wieder zu Kräften kommen lassen, so dass sie ein bis zwei Kilos zunimmt, bevor wir sie nach Hause entlassen können. Das wird denke ich einmal etwa eine Woche in Anspruch nehmen. Wichtig dabei ist auf jeden Fall, dass sie unter gar keinen Umständen von irgendeiner Person nebenbei etwas zu Essen bekommt, dass sie dann in sich hineinschlingt und wieder erbricht. Sie wird von uns eine ausgewogene, nährstoffreiche Diät erhalten mit fünf kleineren Mahlzeiten am Tag und etwa 2500 Kilokalorien. Das sollte mehr als ausreichend sein, denke ich. Außerdem muss sie die ganze Zeit überwacht werden, damit sie nicht wieder heimlich auf die Toilette geht." Danach verabschiedete sich Doktor Ito von Chihiros Eltern, um sich um andere Patienten zu kümmern, und ihre Eltern kehrten zu Chihiro in ihr Zimmer zurück und verbrachten den Abend mit ihrer Tochter, fütterten sie, als es Essen gab und warfen eine Münze in den Fernsehautomaten auf dem Flur, so dass der Fernseher in ihrem Zimmer aktiviert wurde. Nach einer vor Hunger halb durchwachten Nacht, gab es am nächsten Morgen gegen 6:00 Uhr das Frühstück und Chihiro hatte das Essen in wenigen Minuten verputzt und bat dann die Krankenschwester, ob sie nicht noch mehr haben könnte, aber diese ließ sich nicht erweichen. Dann musste sie feststellen, dass die Tür zur Toilette in ihrem Zimmer zugeschlossen war und sie nach der Schwester klingeln musste, wenn sie auf das Klo musste. Gegen halb acht Uhr kam dann plötzlich Ayaka zur Tür herein spaziert. "Hallo Chihiro, na wie geht's dir denn.", grüßte sie gutgelaunt. "Hallo Ayaka, ich freu mich ja so, dass du mich besuchen kommst.", hieß Chihiro sie willkommen, "Sag mal, kannst du mir irgend etwas zu Essen besorgen." Traurig schüttelte Ayaka den Kopf. "Ich hatte dir eigentlich einen Beutel mit Süßigkeiten mitgebracht, aber den hat mir die Krankenschwester abgenommen. Und sie hat gesagt, sie würde mir alles abnehmen, was ich mitbringe. Ich weiß auch nicht wieso." "Na macht nichts, ich werde schon irgendwie über den Tag kommen.", meinte Chihiro daraufhin aufmunternd, "Erzähl doch, was denn gestern noch alles passiert ist, nachdem ich ohnmächtig geworden bin. Hat Bunzo mich wirklich geschlagen?" "Weißt du das denn nicht mehr?", wunderte Ayaka sich, "Nachdem du dich vor Ichiyo gestellt hast, hat Bunzo dich geschlagen und es hat einen lauten Knall gegeben und dann bist du umgefallen. Ich kann es immer noch nicht fassen, wie mutig du warst. Dich einfach diesem Rüpel in den Weg zu stellen. Ich bin fast umgekommen vor Angst. Hinterher ist dann der Krankenwagen gekommen und der Direktor hat sich Bunzo vorgeknöpft und uns alle ausgefragt." "Was meinst du mit vorgeknöpft?", wollte Chihiro wissen. "Na ja, also zuerst hat er ihn mit auf sein Büro genommen und dann ist sein Vater gekommen und hat ihn abgeholt. Besonders glücklich hat er nicht ausgesehen. Er wurde erst mal vom Unterricht subversiert, oder so." "Suspendiert meinst du. Och, das habe ich nicht gewollt. Ich wollte doch nur, dass der Blödmann aufhört und Ichiyo in Ruhe lässt. Das Ganze währ doch sonst immer schlimmer geworden.", staunte Chihiro über ihren Erfolg. "Du hast das nicht gewollt. Erst stellst du dich Bunzo todesmutig in den Weg und er haut dich KO und dann sagst du, du hast das gar nicht gewollt.", regte sich Ayaka auf, "Aber jetzt ist Bunzo erst mal bei allen unten durch und wird sich hüten noch mal aufzufallen. Dank dir." In diesem Augenblick öffnete sich langsam und vorsichtig die Tür und Ichiyo steckte seinen Kopf herein. "Hallo Ichiyo, komm doch rein. Ich freu mich, dass du kommst.", ermunterte ihn Chihiro. Er huschte herein, drehte sich um, schloss ganz leise die Tür wieder hinter sich, drehte sich wieder um und bekam ganz große Augen, als er sah, dass auch Ayaka mit im Zimmer war. In seiner rechten Hand hielt er einen großen Blumenstrauß und kam dann zögerlich näher, wobei er leicht verwirrt abwechselnd zu Chihiro und zu Ayaka blickte. "Ich äh, ... wollte. Also gestern... Chihiro... Äh D.. Da.. Danke.", sagte er stockend, wobei er krebsrot im Gesicht wurde, legte Chihiro die Blumen auf das Bett und rannte Hals über Kopf aus dem Zimmer. "Hihihi, hast du gesehen, er ist ganz rot geworden. Wie süß.", kicherte Ayaka, während Chihiro ihren Blumenstrauß inspizierte. "Schau mal, Ayaka, er hat sogar ein Kärtchen mit dabei. Mein letzter Blumenstrauß war ein Abschiedsstrauß, weißt du. So ist es mir viel lieber." "Ein Kärtchen? Zeig mal." Chihiro reichte Ayaka das Kärtchen und diese las vor: "Liebe Chihiro. Vielen Dank für deine mutige Hilfe und alles Gute für die Genesung. Ichiyo" "Huch, da steckt ja noch etwas in dem Blumenstrauß. Guck mal, ein Beutel voll mit Pralinen. Den muss die Krankenschwester wohl übersehen haben." "Ui, das ist aber lieb von ihm. Pass auf, besser du versteckst die Pralinen, damit die Schwester sie nicht findet.", meinte Ayaka, woraufhin ihr Chihiro ihr eine Praline abgab und selber eine aß. "Ich glaube du hast recht. Die heb ich mir für nachher auf, wenn ich mal so richtig Hunger bekomme." Damit stopfte Chihiro die Pralinen wieder in den Blumenstrauß zurück, den sie in die leere Vase auf dem Nachttisch stellten, denn außer unter dem Kopfkissen, dessen Bezug ja wohl im laufe des Tages gewechselt werden würde, gab es kein wirklich geeignetes Versteck im Krankenzimmer. "Du, hör mal. Ich glaube ich muss jetzt gehen, sonst komm ich zu spät zur Schule.", verabschiedete sich Ayaka plötzlich, als sie auf die Uhr an der Wand sah, "Auf Wiedersehen Chihiro, ich komme dich Morgen wieder besuchen." Sie ging zur Tür und lächelte Chihiro zum Abschied noch einmal zu, bevor sie den Raum verließ. Wieder alleine versuchte sich Chihiro irgendwie die Zeit zu vertreiben, denn sie hatte nichts zu lesen dabei und der Fernseher wollte auch nicht funktionieren, weil sie kein Geld für den Automaten hatte. Gegen zehn Uhr bekam sie ein weiteres mal etwas zu essen, was aber vorne und hinten nicht reichte, so dass sie bis Mittag ihre Pralinen eine nach der anderen aufgegessen hatte. Kurz nach dem Mittagessen tauchten ihre Eltern auf, die ihr das Harry Potter Buch mitbrachten und auch etwas Geld für den Fernsehautomaten. Sie unterhielten sich eine Weile mit ihr und erzählten, wie gestern Abend noch Bunzos Vater zu ihnen gekommen war und sich fast auf Knien für seinen ungeratenen Sohn entschuldigt hatte. Dann gegen zwei Uhr holte der Arzt und eine Schwester Chihiro ab, setzten sie in einen Rollstuhl und brachten sie zum Kinderpsychologen. Der Kinderpsychologe stellte sich als eine freundlich, weißhaarige ältere Frau heraus, die sich als Frau Yamamoto vorstellte. Chihiro wurde von der Schwester in einen bequemen Sessel gesetzt und dann unterhielt sich die Psychologin eine Weile mit ihr über alles mögliche, über die Eltern, die Schule, ihre Freunde, was sie gerne isst, was sie in der Freizeit so alles macht und vieles anderes, wobei sie auch einige Male lachten. Dann spielten sie ein Spiel, bei dem Chihiro Farbkleckse auf Papier beschreiben musste und obwohl sie wusste, dass die Bilder eigentlich nichts darstellten, fühlte sie sich immer wieder an einen Drachen erinnert. Nach dem Spiel wurde sie auf eine bequeme Liege gelegt und die Psychologin hypnotisierte sie. Das war ganz witzig, irgendwie wie einschlafen und träumen und das wichtigste war, dass sie ihren bohrenden Hunger für eine Zeit lang nicht mehr spürte. Irgendwann dann wachte sie wieder auf und blickte in das lächelnde Gesicht Frau Yamamotos, die sich dann ganz lieb von ihr verabschiedete. Erinnern konnte sich Chihiro an nichts, was während der Hypnose passiert war. Sie wurde wieder in ihren Rollstuhl gesetzt und von der Krankenschwester wieder zurück in ihr Zimmer geschoben, wo sie schon von ihren Eltern und Doktor Ito erwartet wurden. Ihre Eltern hatten Chihiro alles mögliche mitgebracht, wie etwa frische Kleider, Sachen zum Zähneputzen und Waschen, ein paar Spielsachen, ihre Schulbücher und, worüber sich Chihiro sehr freute, den dritten Harry Potter Band: "Harry Potter und der Gefangene von Askaban", der gerade auf Japanisch erschienen war. Danach wurden ihre Eltern und Doktor Ito zu der Psychologin bestellt. Frau Yamamoto empfing sie in ihrem Raum, der wie alle Räume auf der Kinderstation des Krankenhauses sehr freundlich, ja richtiggehend gemütlich eingerichtet war. "Schön, dass sie sich Zeit nehmen konnten, Herr und Frau Ogino, Doktor Ito.", begrüßte sie Psychologin ihre Gäste und verbeugte sich, "Wenn ich mich vorstellen darf, mein Name ist Yamamoto. Bitte nehmen sie doch Platz." Akio und Yuuko Ogino nahmen auf einem Sofa platz und Doktor Ito setzte sich in den Sessel, in dem Chihiro zuvor gesessen hatte. Frau Yamamoto nahm in einem weiteren Sessel ihnen gegenüber Platz. "Wie sie sicherlich wissen, bin ich die Psychologin dieses Krankenhauses und ich habe mich insbesondere auf die Kinderpsychologie spezialisiert.", begann sie, "Vorhin habe ich mich gut eineinhalb Stunden mit ihrer Tochter beschäftigt, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Verdachts meines geschätzten Kollegen Dr. Itos auf Bulimie. Das Gespräch mit ihrer Tochter hat zunächst keine besonderen Hinweise auf etwaige psychische Störungen Chihiros erbracht. Erst der Rorschachtest hat eine merkwürdige Affinität ihrer Tochter zu Drachen gezeigt, die mich stutzig gemacht hat. Ich interpretierte dies als einen starken Freiheitsdrang, den es zu ergründen galt. Daher entschloss ich mich, die Befragung ihrer Tochter unter Hypnose fortzusetzen, um weiteres zu erfahren und den Grund für die mögliche psychische Störung herauszufinden." "Sie haben Chihiro hypnotisiert? War das denn wirklich notwendig?", wandte Akio Ogino ein, "Ich meine, das ist immerhin ein tiefer Persönlichkeitseingriff." "Ja, ich hielt diese Maßnahme in diesem Fall für gerechtfertigt, denn immerhin geht es ihrer Tochter wirklich nicht besonders gut.", erwiderte Frau Yamamoto, "Auf jeden Fall hat die Hypnose ihrer Tochter einige sehr interessante Dinge zu Tage gefördert. Sie erzählte mir eine sehr verworrene Geschichte, oder vielleicht einen Traum, in dem sie, Herr und Frau Ogino, als Schweine vorkamen. Weiterhin kamen in dem Traum eine oder mehrere Hexen vor, ich muss das Tonband des Mitschnittes noch einmal checken, ein großes Badehaus, in dem ihre Tochter schuften musste, ein Junge, dem sie offenbar sehr zugeneigt war, ein weißer Drache, ein riesengroßes Baby und eine merkwürdige schwarze Gestalt mit einer Maske als Gesicht, die etwas schwierig zu interpretieren ist." "Und, was bedeutet das alles?", wollte Chihiros Mutter wissen. "Nun, das will ich ihnen sagen. Das Badehaus mit der Hexe als Leiterin, kann problemlos als Synonym für die Schule interpretiert werden, von der sich ihre Tochter aufgrund überzogener Leistungsanforderungen stark unter Druck gesetzt sieht. Dementsprechend ist auch ihre Erscheinung in der Gestalt von Schweinen zu sehen, da sie es offensichtlich versäumen, ihre Tochter vor diesem Druck zu schützen oder ihn sogar verstärken." Chihiros Eltern sahen einander betreten an und schienen etwas in sich zusammenzusinken. "Der Junge ist als Wunsch nach partnerschaftlicher Bindung zu sehen, wahrscheinlich ist darin sogar der Junge sehen, den ihre Tochter in der Schule zu schützen versucht hat, und das Baby interpretiere ich als den Wunsch nach familiärer Geborgenheit, der es ihrer Tochter anscheinend zu mangeln scheint. Beides ergänzt sich hervorragend. Die schwarze maskierte Gestalt ist als Synonym für die gesichtslose, ungewisse Zukunft zu sehen, die droht Chihiro zu verschlingen. Am meisten beeindruckt hat mich die Schilderung eines Rittes ihrer Tochter auf dem Rücken eines weißen Drachens durch die Nacht in den Morgen hinein, der sich dann in besagten Jungen verwandelt. Hierin ist ganz klar der übermächtige Wunsch ihrer Tochter zu sehen, der nach und nach unerträglichen Situation zu entfliehen und mit dem Jungen irgendwo anders ein neues Leben schwerelos wie im Flug zu verbringen. Dies muss letztendlich als Ursache für die Bulimie mit einhergehender Magersucht ihrer Tochter gelten.", beschloss die Psychologin ihre Erläuterungen. "Ja aber, was hat das Ganze denn nun zu bedeuten?", fragte Chihiros Mutter betroffen, denn sie wollte dieser um jeden Preis helfen. "Das bedeutet, einfach gesagt, dass ihre Tochter dringend psychologische Betreuung benötigt und ihr gesamte schulisches und familiäre Umfeld einer gründlichen Überprüfung bedarf.", antwortete Frau Yamamoto und fragte dann: "Ich würde gerne wissen, wie lange dieses Problem eigentlich schon besteht, dass geht nämlich aus den Unterlagen nicht hervor, wie lange hat Chihiro eigentlich schon ihre Fressattacken?" "Nun, soweit ich es bemerkt hatte, fing die ganze Sache kurz nach unserem Umzug hierher an. Das war vor jetzt gut dreieinhalb Wochen.", antwortete Yuuko Ogino und jetzt waren es Frau Yamamoto und Dr. Ito, die einander überrascht anblickten, denn sie hatten mit einer wesentlich längeren Zeitspanne gerechnet. "Dreieinhalb Wochen? Das ist eine viel zu kurze Zeitspanne, um den Zustand ihrer Tochter zu erklären.", entfuhr es Dr. Ito, "Das Problem muss, denke ich, seit mindestens einem Jahr bestehen!" "Auf jeden Fall gibt und der Umzug und die damit verbundene Veränderung der Umgebung liefert uns einen wichtigen Hinweis auf den Auslöser der psychischen Schwierigkeiten ihrer Tochter. Sagen sie, hat sich das Verhalten ihrer Tochter vor und nach dem Umzug irgendwie entscheidend verändert, von ihren Fressattacken einmal abgesehen?" "Ja also, vor unserem Umzug war Chihiro eigentlich relativ teilnahmslos, sie hat zwar immer alles gemacht, was man ihr gesagt hat, aber auch nicht mehr. An und für sich hat sie sich gegen den Umzug ziemlich gesträubt. Aber als wir dann einmal hier waren, war sie auf einmal viel fröhlicher, nicht wahr Schatz, hat sich für alles und jeden interessiert, mir freiwillig bei der Hausarbeit geholfen und sogar angefangen selber zu Kochen. Die Hausaufgaben hat sie ohne Ermahnung und das sogar viel schneller als vorher gemacht. Außerdem hat sie auch gleich eine neue Freundin gewonnen, Ayaka Fukazawa heißt sie, glaube ich. Ihre alte Freundin, Risa, scheint sie kaum noch zu vermissen." Das war nun gar nicht die Antwort, die die Psychologin erwartet hätte, eher hatte sie damit gerechnet, dass es genau umgekehrt gewesen und Chihiro nach dem Umzug teilnahmslos und apathisch geworden währe. "Jetzt einmal von der Psychologie ganz abgesehen. Die offensichtliche Kleinwüchsigkeit ihrer Tochter muss doch irgendwann ihren Ausgangspunkt genommen haben. Laut Wachstumstabelle fehlen ihr ja annähernd 10 Zentimeter zu ihren Altersgenossinnen und ich kann keinen Grund sehen, dass diese Kleinwüchsigkeit aufgrund genetischer Faktoren bedingt währe, wenn ich mir sie so ansehe, Herr und Frau Ogino. Gab es in der Vergangenheit irgendwann einmal eine tief greifende Erkrankung, welche die Ursache dafür sein könnte.", hakte der leicht verwirrte Dr. Ito nach, dem die Angelegenheit zunehmend unlogischer vorkam. "Wissen sie, vor etwa fünf Jahren hätten wir Chihiro beinahe verloren. Damals war sie noch im Kindergarten und eines Tage brach sie plötzlich zusammen und wurde bewusstlos in eine Klinik eingeliefert.", erinnerte sich Akio Ogino, "Genau wie gestern, aber trotzdem anders. Sie war damals mehrere Wochen lang Bewusstlos und musste sogar zweimal wiederbelebt werden. Die Ärzte konnten damals keine Ursache dafür entdecken und waren gänzlich ratlos, denn anscheinend litt Chihiro unter großen Schmerzen, obwohl sie das nicht mit Bestimmtheit sagen konnten. Irgendwann dann erholte sie sich plötzlich und war fast wieder wie vorher. Ich konnte mich damals leider nicht so um Chihiro kümmern, wie es wohl notwendig gewesen währe, aber ich war leider mit der Überwachung dieses Neubauprojektes and dem Fluss sehr beschäftigt." "Genau so ist es gewesen. Vor diesem Zwischenfall war Chihiro eigentlich sogar relativ groß für ihr Alter und sie fing an sogar ein wenig pummelig zu werden.", ergänzt Yuuko Ogino, "Aber danach wurde sie immer dünner und blieb im Wachstum immer weiter inter ihren Altersgenossinen zurück. Wenn sie es wünschen, werde ich ihnen Chihiros damalige Krankenakte heraussuchen." "Ja, ich denke, das könnte mir weiter helfen.", sagte Dr. Ito, "Auf jeden Fall wirft diese Angelegenheit ein ganz anderes Licht auf den Fall." Damit verabschiedeten sich Chihiros Eltern und Dr. Ito von der Psychologin, die sich zuletzt von der Entwicklung des Gesprächs ein wenig überfahren vorgekommen war. Nachdem ihre Eltern zu der Psychologin gerufen worden waren, blieb Chihiro nur kurze Zeit alleine, denn kurz nach 16 Uhr kam sie auf einmal ihre gesamte Schulklasse inklusive ihrer Lehrerein zu Besuch. Sie hatten ihre außerschulischen Aktivitäten erlassen bekommen, um in das Krankenhaus kommen zu können. Alle waren sie rührend besorgt und lobten sie wegen ihrer großen Tapferkeit, dass es ihr schon fast peinlich wurde. Einerseits freute sie sich über den Besuch, andererseits hatte sie aber bereits wieder solchen Hunger, dass ihr sogar im Bett liegend schwindelig wurde. Irgendwie schaffte sie es, dem Besuch zu überstehen, ohne sich etwas anmerken zu lassen, war dann aber dennoch erleichtert, als alle wieder gegangen waren. Leider hatte sie nur einige wenige Worte mit Ayaka wechseln können. Gegen 17 Uhr gab es dann ihr Nachmittagsmahl, dass sie in Windeseile herunter geschlungen hatte, noch bevor die Schwester die es gebracht hatte, das Zimmer verlassen hatte, ohne dass es groß eine Sättigung bewirkt hätte. Kurz darauf kamen ihre Eltern von der Psychologin zurück und Chihiro bat diese fast flehentlich um etwas zu Essen, was diese aber trotz ihrer rührenden Besorgnis hartnäckig verweigerten. Sie blieben bis nach dem Abendessen, dass gegen 20 Uhr gebracht wurde, bevor sie sich dann von ihr verabschiedeten und ihr eine gute Nacht wünschten. Chihiro versuchte danach noch ein wenig in ihrem Harry Potter Buch zu lesen, konnte sich aber vor lauter Hunger nicht richtig konzentrieren. Einschlafen konnte sie auch nicht, aus dem selben Grund. Irgendwann nach Mitternacht, wurde es so schlimm, dass sie beschloss aufzustehen, um sich irgendwie etwas zu Essen zu besorgen, egal was, egal wie. Sie schaffte es jedoch nur bis zur Zimmertür, wo ihr Schwarz vor Augen wurde und sie ohnmächtig zusammenbrach. So wurde sie am nächsten Morgen auf dem Boden liegend gefunden. "Herr und Frau Ogino, ich bin froh, dass sie so schnell kommen konnten.", sagte Dr. Ito verlegen, "Ich glaube, wir, äh, haben den Zustand ihrer Tochter stabilisieren können." Akio Ogino baute seine mächtige, korpulente Gestalt vor Dr. Ito auf und stemmte seine Fäuste in die Hüften. "Was ist mit Chihiro passiert?", forderte er von dem Arzt zu wissen. "Nun, äh, wir haben Chihiro heute Morgen bewusstlos in ihrem Zimmer aufgefunden. Trotz aller Maßnahmen, die wir ergriffen, wurde der Zustand ihrer Tochter rapide schlechter.", erläuterte Dr. Ito eilfertig, "Erst als wir zu einer ungewöhnlichen und radikalen Maßnahme griffen, gelang es uns Chihiro zu retten." "Chihiro zu Retten?!? Jetzt sagen sie schon, was mir meiner Tochter los ist?", rief Yuuko Ogino mit einem Anflug von Panik in ihrer Stimme. "Es scheint, als ob unsere erste Diagnose auf Bulimie mit einhergehender Magersucht ihrer Tochter nicht ganz zuzutreffen schien. Aber wie hätten wir auch die blitzartige Entwicklung des Problems Chihiros vorhersehen können.", versuchte Dr. Ito sich zu rechtfertigen, "Jedenfalls sank ihr Blutzuckerspiegel immer weiter bis hinein in lebensbedrohliche Bereiche, welche Gegenmaßnahme wir auch ergriffen. Erste die Infusion einer konzentrierten Zuckerlösung brachte uns eine Verschnaufpause. Eine Maßnahme übrigens, die jeden anderen Patienten unweigerlich getötet hätte." "Wollen sie damit sagen, dass sie hier medizinische Experimente mit Chihiro durchführen?", echoffierte sich ihr Vater, indem er sich drohend zu Dr. Ito hinüberbeugte. "Nein, nein, nein, so war das nicht gemeint.", beeilte sich der Arzt zu sagen, "Es scheint nur so, dass Chihiro mit ihren Fressattacken nur versucht hat, ihren stark erhöhten Kalorienverbrauch zu decken. Wir haben ihre Tochter vorhin noch einmal gewogen und sie brachte gerade noch einmal 15 Kg auf die Waage. Dass heißt, sie hat seit vorgestern, seit ihrer Einlieferung, zwei Kilogramm abgenommen! Das würde bedeuten, dass sie ein Defizit von ca. 15000 Kilokalorien hatte, was etwa den 2 Kg Gewichtsverlust entsprechen würde! Aus dieser Überlegung heraus sagten wir uns, dass nur eine drastische Kalorienzufuhr ihre Situation verbessern könnte und die konzentrierte Zuckerlösung hat tatsächlich Erfolg gezeigt. Ich denke wir haben viel Glück gehabt, dass wir ihr Leben noch haben retten können, denn ich denke nicht, dass sie noch weitere zwei Tage durchgehalten hätte. Es war auf jeden Fall sehr knapp gewesen!" "Also war das ganze Zeug, was sie uns Gestern erzählt haben alles Unsinn.", ärgerte sich Chihiros Mutter, "Diese ganze angebliche Bulimie und die Psychologie, das war alles nur Bockmist und sie haben Chihiros Leben deshalb in Gefahr gebracht!" "Ich glaube, jetzt sind sie ein wenig streng.", meinte Dr. Ito, "Was da mit ihrer Tochter passiert ist, glaube ich, einmalig in der Medizinhistorie, weshalb wir die Entwicklung nicht vorhersehen konnten. Ohne unseren Eingriff währe das Problem, denke ich, innerhalb kurzer Zeit von ganz alleine so schlimm geworden. Auf jeden Fall müssen wir dieses Phänomen näher untersuchen und seine Ursachen ergründen." "Und ich wünsche auf jeden Fall auf der Stelle meine Tochter zu sehen!", forderte der besorgte Akio Ogino nachdrücklich. "Dann folgen sie mir bitte. Chihiro befindet sich im Moment auf der Intensivstation. Sie liegt noch immer im Koma. Bitte erschrecken sie nicht, wenn sie sie sehen, denn sie ist an ein EKG angeschlossen und wir haben sie noch intubiert, um sie künstlich mit Proteinbrei zu ernähren.", sagte Dr. Ito jetzt wieder geschäftsmäßig. Sie stiegen in den Aufzug und fuhren zwei Etagen nach oben. In einem separaten Raum lag in einem Wust aus Schläuchen und Kabeln Chihiro, ihr sonst so rundes Gesicht eingefallen und mit bleicher und verschwitzter Haut. Yuuko Ogino ging erschüttert zu Chihiro hin und nahm ihre kleine Hand und hielt sie lange Zeit. Chihiro war wach. Ganz plötzlich war sie einfach wach. Eben noch hatte sie einen merkwürdigen Traum gehabt, in dem man sie in ein Krankenhaus eingeliefert hatte, aber das war natürlich Unsinn, denn so wohl wie sie sich fühlte, musste man doch nicht in ein Krankenhaus. Sie war wach, hatte seit langer Zeit endlich keinen Hunger mehr und fühlte sich voller Energie und Tatendrang. Überlegend was sie nun tun wollte, störte sie zunehmend diese rhythmische nervtötende Piepen. Ob das ein Wecker war, wunderte sie sich, und öffnete die Augen um nachzusehen. Der Raum in dem sie lag war weiß angestrichen und wirkte insgesamt sehr nüchtern. Links neben ihr stand die Maschine, von der das Piepen ausging. Es war eine Maschine, wie Chihiro sie aus dem Fernsehen kannte und die den Pulsschlag eines Patienten aufzeichneten. Überall waren Schläuche und Kabel an ihr angebracht und dann sah sie rechts neben sich ihre Mutter zusammengesunken schlafend auf einem Stuhl sitzen. Sie sah völlig fertig aus. Chihiro versuchte etwas zu ihr zu sagen, stellte aber dann fest, dass ein weiterer Schlauch aus ihrem Mund kam, der als ihr das bewusst wurde, auf einmal ein leichtes Übelkeitsgefühl erzeugte. Stundenlang musste Chihiro dann warten, während sie überlegte, wie sie eigentlich in diese Situation gekommen war, ehe endlich eine Schwester in das Zimmer kam und feststellte, dass sie aufgewacht war. Am Vormittag stöpselte man sie von den ganzen Apparaten los und besonders unangenehm war es, als man ihr die Magensonde aus dem Hals zog. Man brachte sie dann zurück in ihr Zimmer, wo sie dann von ihrer immer noch schläfrigen Mutter gefüttert wurde. Reden konnte sie kaum, denn sie brachte wegen der Magensonde die zuvor in ihrem Hals steckte nicht viel mehr als ein Krächzen zustande, aber sie durfte alles essen, was auch immer sie wollte und soviel sie auch immer wollte. Schokolade, Reiskuchen, Hamburger mit Pommes, Gummibärchen, Negerküsse, Eis, Chips, Toffees, Kekse, Zitronensorbet, Schwarzwälder Kirschtorte, eben alles, was fett war und viele Kalorien enthielt. Alles brachte ihr die Schwester auf Wunsch an das Bett und Chihiro aß und mampfte und stopfte alles in sich hinein, ohne jemals wirklich satt zu werden, aber sie war endlich nicht mehr so schrecklich hungrig. Am nächsten Tag wurde sie in einen andere Abteilung des Krankenhauses gebracht. Dort musste die eine Art Atemmaske anlegen, sich auf ein merkwürdiges Standfahrrad setzen, dass der zuständige Arzt Ergometer nannte und dann treten. Zuvor war sie noch an ein EKG angeschlossen worden, wie auf der Intensivstation, dass ihre Herzströme maß, und ein Blutdruckmessgerät wurde an ihrem Oberarm befestigt. Chihiro schaffte es jedoch kaum, auch nur die erste Stufe des Ergometers, 25 Watt, zu treten und musste nach nicht einmal einer Minute erschöpft aufgeben. Dann kam Dr. Ito in den Raum gestürzt und begann mit dem jungen Arzt zu schimpfen: "Fujimaro, wer hat denn gesagt, dass sie strampeln soll. Du sollst einfach nur ihren Sauerstoffverbrauch messen!" "Aber, ich bitte dich, Kazu, das ist doch Unsinn. Ihren Ruheumsatz kann ich doch einfach in einer Tabelle nachschlagen.", meinte Dr. Fujimaro Miwa, "Bei Kindern reichen da doch einfach Alter, und Körpergewicht. Das passt dann schon." "Nein, nein, nein, Fujimaro, das ist es ja gerade, was ich bei diesem Mädchen klären will. Ich habe den Verdacht, dass sie einen deutlich erhöhten Grundumsatz an Kalorien besitzt. Ich vermute, dass sie eine neue Art von Stoffwechselstörung hat.", erklärte Dr. Ito. "Na wenn du meinst.", zweifelte Dr. Miwa und begann zögerlich mit der Messung. Nach etwa fünf Minuten, in denen Chihiro ruhig auf dem Sattel des Fahrradergometers saß, war dann die Messung beendet und Dr. Miwa blickte überrascht auf den Computerausdruck der Messung. "Das ist doch völlig unmöglich!", murmelte er, nahm einen Taschenrechner und begann hektisch Zahlen einzutippen. "Kazu, wenn das hier stimmt, dann würde das ja bedeuten, dass das Mädchen bei dem Sauerstoffumsatz am Tag 10000 Kilokalorien verbrauchen würde. Das kann doch gar nicht sein!" "Doch, genau das war mein Verdacht, Fujimaro. Schau dir ihren dauerhaft hohen Pulsschlag von 150 Schlägen pro Minute an, ihren Blutdruck von 160 zu 60 und ihre erhöhte Körpertemperatur von 38,5°C an. Es pass alles zusammen. Als ob die Kleine einen permanenten Marathonlauf absolvieren würde!", bestätigte Dr. Ito die Messwerte. Sie wiederholten die Messung noch zwei mal, aber es kam immer das Gleiche heraus: Chihiro verbrauchte mehr Kalorien, als ein zehn mal so schwerer Sumo Ringer. "Ah, Herr Ogino, es freut mich, dass sie so Kurzfristig erscheinen konnten.", begrüßte Dr. Ito Cihiros Vater jovial, "Ich glaube, dass wir ihre Tochter so etwa in zwei Wochen entlassen können. Sie hat sogar wieder um ein Kilo auf 16 Kg zugenommen." "Können sie mir nun endlich sagen, was mir Chihiro los ist, und wie ihre weitere Behandlung aussieht?", fragte Akio Ogino besorgt. "So weit wir das Feststellen konnten, scheint Chihiro an eine neuen Form von Stoffwechselstörung erkrankt zu sein. Sie hat einen Kalorienverbrauch von ca. 10000 Kilokalorien pro Tag. Wenn sie das vergleichen wollen, ein ausgewachsener Mann verbraucht etwa 2500 Kilokalorien, also ein Viertel davon. Ein Sumo Ringer nimmt etwa 6000-7000 Kilokalorien pro Tag zu sich. Erst ein Profiradrennfahrer verbraucht auf einer schweren Bergetappe bei der Tour de France auch um die 10000 Kilokalorien und das kann sein Organismus nicht ständig wiederholen und er Radfahrer hat Schwierigkeiten, diese Kalorienmenge überhaupt zu sich zu nehmen. Chihiro hat diesen Umsatz seit mehreren Wochen und ehrlich gesagt ist es mir ein Rätsel, wie ihr winziger Körper von jetzt gerade einmal 16 Kg das überhaupt bewältigt. Es ist einfach aberwitzig!" "Ich weiß, wie viel ein Sumoringer essen muss, schliesslich war ich mal Universitätsmeister. Und was bedeutet das für die weiter Behandlung von Chihiro?", fragte ihr Vater. "Nun ja. Es bedeutet zunächst einmal, dass wir Chihiro diese Kalorien irgendwie zuführen müssen. Ich habe hier einen Diätplan für ihre Tochter aufgestellt, der sich an de eines Profi Radrennfahrers orientiert. Aber im Prinzip kann Chihiro alles essen, was sie will. Bei den Mengen, brauchen wir uns um Einseitige- oder Mangelernährung keine Sorgen mehr zu machen.", erklärte Dr. Ito. Mit zunehmender Verwunderung studierte Akio Ogino den Zettel mit dem Ernährungsplan, den ihm Dr. Ito hingehalten hatte. Wenn wir Chihiro das alles zu essen geben müssen, wird das ziemlich Teuer werden, dachte er, die schwierige wirtschaftliche Lage im Hinterkopf, die sie nach seiner Entlassung hatten. Wie sollte er das nur alles Bezahlen, zusätzlich zu den Schulgebühren Chihiros, dachte er verzweifelt. Zwei Wochen später wurde Chihiro dann endlich nach Hause Entlassen, nachdem sie einen ganzen Untersuchungsmarathon hinter sich gebracht hatte und auch Spezialisten aus Tokyo hinzugezogen worden waren. Es konnte jedoch kein Grund für Phänomen entdeckt werden und Chihiro musste sich damit abfinden, dass sie praktische den ganzen Tag über essen musste um irgendwie die Kalorienmenge aufzunehmen, die ihr Körper verbrannte. Kapitel 8: Die Kiste -------------------- Endlich habe ich es geschafft, das nächste Kapitel fertig zu stellen. Ich möchte mich noch einmal bei allen für ihre ermunternden Kommentare bedanken und bei Maruko für ihre Ayaka. Die Kiste Es war eng und furchtbar stickig in der Kiste, in die ihn Torooru Tag für Tag sperrte. Haku konnte sich darin weder hinlegen, noch ausstrecken, noch aufstehen. Eigentlich konnte er sich fast überhaupt nicht bewegen, so zusammengekauert musste er darin immer fast die ganze arbeitsfreie Zeit ausharren. An die Schmerzen in seinen Gelenken und seinen Muskeln, wenn der Troll ihn am Morgen aus der Kiste ließ hatte er sich schon gewöhnt, an das mehr als unangenehme Kribbeln, wenn das Blut wieder in die gequälten Gliedmassen floss. In der Kiste kauernd spürte er nach einer Weile gar nichts mehr, seine Extremitäten wurden dankenswerterweise einfach taub. Während er in der Kiste hockte, konnte er nichts anderes tun als nachzudenken oder zu schlafen, was ihm aber nur wenig gelang. Worüber er auch immer Nachzudenken versuchte, letztendlich landeten seine Gedanken immer bei Chihiro. Wie wunderbar es gewesen war, wenn sie in seiner Nähe gewesen ist, wie sehr ihre Stimme ihn beruhigt hatte und wie ihre Berührung alle Last und Sorgen von ihm fortgespült hatte, dass er sich wie berauscht gefühlt hatte. War das tatsächlich Liebe, wie Kamaji behauptet hatte. Aber wieso liebte er dieses Menschenkind eigentlich? War er nicht ein Drache und Flussgott und sollte einer Liebe zu einem Menschen überhaupt nicht fähig sein? Tatsache war jedenfalls, dass bereits in dem Moment, als er sie auf der Brücke zum Badehaus hatte stehen sehen, es wie ein Stich in sein Herz gefahren war, so dass er den Auftrag Yubabas, das Menschenmädchen zu suchen und einzufangen, der eigentlich seinen Willen hätte beherrschen sollen, einfach abschütteln konnte, nur noch getrieben von dem Wunsch sie irgendwie vor der Hexe zu retten. Als er sie dann berührt hatte, um sie fortzuschicken in die Sicherheit der Welt der Menschen, hatte es ihn nahezu elektrisiert und er hatte sich lebendig gefühlt wie seit Jahren nicht mehr. Wie seit der Zeit, bevor sein Fluss zugeschüttet worden war und er von entsetzlichen Schmerzen gepeinigt Form und Gestaltlos hin und hergehetzt war, verzweifelt nach einem Ausweg aus seiner Situation suchend. Hatte seine Zuneigung zu Chihiro damals seinen Ausgangspunkt genommen, als er das vielleicht dreijährige Kind aus seinen Fluten gezogen hatte? Das konnte er irgendwie gar nicht glauben, denn hinterher war er zwar furchtbar erleichtert gewesen, dass es ihm gelungen war, dass Mädchen gerade noch einmal zu retten. Er hatte sie gemocht, wie sie ihn hinterher im flachen Wasser des Ufers sitzend begeistert gestreichelt hatte, bis schließlich ihre Mutter aufgetaucht war, verzweifelt nach dem Kind rufend und er sich zurückziehen musste. War da noch mehr gewesen? Hinterher hatte er die ganze Angelegenheit eigentlich nur noch als eine unbedeutende Episode in seinem Dasein als Wächter des Kohakugawas empfunden und nur noch selten daran gedacht. Immer wieder hatte er die spielenden Kinder an seinen Ufern beobachtet und manchmal war er sogar aus seinem Fluss gestiegen, hatte sich unter sie gemischt und mit ihnen gespielt, wenn es ihm zu langweilig darin wurde. Vorbehaltlos hatten sie ihn akzeptiert und er hatte sie dafür gemocht, aber hatte er jemals etwas tiefgreifenderes für eines dieser Kinder empfunden? Ganz sicher nicht mehr, als er damals für Chihiro empfunden hatte und das war nicht viel gewesen. Später, als sein Fluss zugeschüttet worden war und er seine Stelle als Lehrling bei Yubaba angenommen hatte, da hatte er überhaupt nicht mehr an Chihiro gedacht, bis zu jenem Moment, da er sie auf der Brücke zum Badehaus entdeckte. Aber was war dann an der Brücke anders gewesen, das ihn dazu gebracht hatte, so auf sie zu reagieren, was ihn ja letztendlich in diese Lage gebracht hatte? Er wusste es nicht und musste einfach seine Empfindungen für Chihiro akzeptieren. Sich selbst einen Ruck gebend, versucht er seine Gedanken auf die aktuelle Situation zu richten, in der er sich befand und nicht im Selbstmitleid oder Träumereien zu versinken, so verlockend das auch war. Nachdem er damals Torooru an seinem ersten Tag hier unten in seine Schranken gewiesen hatte, war der Troll am nächsten Tag wie verwandelt gewesen. Anstatt herumzutoben und mit körperlicher Gewalt zu drohen, gab der Troll auf einmal kühl und überlegt Befehle und ließ keinerlei Widerspruch zu. Haku musste gehorchen denn Torooru war hier unten der Repräsentant der Hexe und Yubaba hätte mit ihm machen können, was sie wollte, wenn er es nicht getan hätte. Ihn einfach nur umzubringen lag gewiss nicht mehr in ihrer Absicht. Sie wollte ihn quälen und wovor Haku am meisten graute, war irgendwann auch in jener Grube unterhalb von Yubabas Arbeitszimmer zu enden, seine Seele dort unten bis an das Ende der Zeit gefangen. Das währe noch viel schlimmer als der Tod an sich. Schon nach wenigen Tagen war aus seinem Appetit dann ein bohrendes Hungergefühl entstanden, wie er es noch nie zuvor gekannt hatte. Wenn er den Troll bei der Essenausgabe nach einer weiteren Portion fragte, hatte dieser nur ungerührt geantwortet, dass ihm nicht mehr oder weniger Essen zustände als allen anderen auch. Dann nahm sich dieser noch eine dreifache Portion und ließ es sich Schmecken. Durst war für ihn unerwarteter Weise kein Problem, denn in seiner Drachengestalt schwitzte er weder, noch machte ihm die Hitze irgendetwas aus, ja er nahm sie kaum wahr. So genügte ihm denn die bescheidene Menge Wasser, die er täglich erhielt. Er hatte zwar Durst, aber dieser wurde nie besonders schlimm. Etwas anderes war allerdings das Essen. Nach kurzer Zeit allerdings war Haku aus Gesprächsfetzen der Frösche klar geworden, die er mitbekommen hatte, dass er mit seiner Arbeit sieben bis acht Froscharbeiter ersetzte, die ansonsten die Loren hätten ziehen müssen. Eigentlich hätte ihm deswegen ein entsprechend größerer Anteil an den Mahlzeiten zustehen müssen, da er hier mit Abstand die schwerste Arbeit alleine verrichten musste. Als er den Troll darauf hin ansprach, entrüstete sich dieser über seine Unverschämtheit und gab ihm trocken den Befehl, diese verfluchte Holzkiste zu Zimmern, in der er jetzt steckte und neben dem Aufzug hinzustellen. Ihm wurde verboten, die Wohnhöhle nebenan jemals wieder zu betreten und er wurde Nacht für Nacht in die Kiste gesperrt. Zu seiner und aller Sicherheit, wie der Troll betonte. Auf eine Bitte seinerseits, etwas zu bekommen, um die Kiste ein wenig auszupolstern, wenn er schon darin ausharren sollte, antwortete Torooru ungerührt, wie er sich denn beschweren könne, dass die Kiste unbequem sei, wo er sie er sie ja doch selber zusammengezimmert hätte. So wurde er dann auch im Laufe der ersten drei Wochen zur sichtbaren Zufriedenheit des Trolls immer schwächer und schwächer. Der Hunger nagte bohrend an ihm, bis er zuletzt so entkräftet war, dass er zwei Stunden benötigte um einen Zug von nur noch drei Loren nach oben zu schleppen. Yubaba, zu der er beim wöchentlichen Rapport des Trolls mitgenommen wurde, um seine vertraglich zugesagte Lektion in Zauberei zu erhalten, war über die Entwicklung seine Zustandes kaum verholen erfreut. Jede Woche ließ sie ihn die gleiche Lektion wiederholen, wie er mit Hilfe der Magie einen Gegenstand willentlich bewegen konnte, etwas das er schon lange bevor er zu Yubaba gekommen war, längst selbst entdeckt hatte. Es war eine rein theoretische Lektion, denn das Halsband verhinderte ja, dass keinerlei Magie von ihm ausgehen konnte und es so keinen Gegenstand unter seinen Willen zwingen konnte. Zum Abschied versäumte sie es dann auch nicht, ihn liebenswürdig daran zu erinnern, dass er sofort aus seinem Vertrag entlassen währe und gehen könne, wenn er ihr verriete, wer außer ihm Chihiro noch geholfen habe. Dann auf einmal, etwa nach einem Monat, begann sich sein Zustand zu stabilisieren und sein Hunger war nicht mehr ganz so schlimm wie zuvor. Langsam wurde er auch wieder kräftiger und zum Entsetzen des Trolls konnte er nach einem weiteren Monat wieder alle fünf Loren auf einmal ziehen, schneller als jemals zuvor. Sein Körper begann sich an die Leistung zu gewöhnen, die ihm täglich abverlangt wurde und mittlerweile kannte er jede Gleisschwelle, an er sich abstützen konnte, um die Loren in Bewegung zu halten. Schließlich schaffte er die Strecke in weniger als eine halben Stunde und zu seiner Genugtuung konnte er beobachten, dass der Troll ins Schnaufen geriet, wenn er versuchte, mit ihm Schritt zu halten und völlig verschwitzt war, wenn er zusammen mit ihm am Aufzug ankam. Auch Yubaba war nicht sehr erfreut über diese Entwicklung und konnte ihre Verärgerung über die Verbesserung seines Zustandes kaum verbergen. So verabreichte sie Torooru einen wütenden Rüffel, so dass dieser seine sonstige Aufsässigkeit Yubaba gegenüber vergaß und ihren Teppich ausnahmsweise nicht verschmutzte. Sie ließ ihn danach für seine Lektion auch nicht mehr in ihr Arbeitszimmer kommen, sondern er musste in dem Raum bleiben, in dem der Aufzug endete und musste die immer gleiche Lektion nun dort vor einer immer grantiger werdenden Yubaba herunter leiern. Mittlerweile waren bereits viele Monate verstrichen. Wie viele genau, konnte er nicht sagen, weil er langsam begann das Gefühl für die Zeit zu verlieren. Der Froschmann, dem er das Leben gerettet hatte, war nur wenige Wochen später doch gestorben und von den Froschmännern, die bei seiner Ankunft hier unten waren, lebte allerhöchstens die hälfte noch. Unter den Neuankömmlingen, mit denen Yubaba in steter Regelmäßigkeit die Lücken auffüllte, waren bereits die ersten, die ihn nicht mehr als Yubabas rechte Hand erkannten. Sie mussten also im Badehaus angefangen haben, nachdem er nach hier unten verbannt worden war. Währe nicht diese vermaledeite Kiste gewesen, in die er Tag für Tag gesperrt wurde, und währen die Bedingungen hier unten nicht so deprimierend gewesen, dass praktisch jede Woche mindestens eine Person ums Leben kam, so hätte er wahrscheinlich ein Dasein hier unten dem als Handlanger Yubabas vorgezogen, als mehr oder weniger willen- und ehrloser Sklave ihrer Gier. So würde es besser sein, einfach zu sterben. Wieso es ihm dann plötzlich besser ging, war im ein Rätsel, doch einerlei, er schöpfte neue Zuversicht, sein Versprechen Chihiro gegenüber noch halten zu können, Yubabas Klauen zu entkommen und das Mädchen noch einmal sehen zu können. Einzig und alleine diese Aussicht verhinderte, dass er seinen Lebensmut völlig verlor. Plötzlich hörte Haku schwere Schritte näher kommen und wie sich jemand an dem Schloss zu schaffen machte, mit dem die Kiste verschlossen war. Gleißendes Licht strömte herein, als der Deckel geöffnet wurde, und Torooru verdrießlich auf ihn hinabblickte. "Los komm raos, do Drachä do!", rumpelte er. "Guten Morgen, Meister Torooru. Haben sie auch sie eine ebenso gute Nacht gehabt, wie ich?", begrüßte ihn Haku, blinzelnd zu ihm heraufschauend und sich dabei zu einem freundlichen Lächeln zwingend. Dann stützte er sich an den Rändern der Kiste ab, stemmte sich hoch und sprang federnd heraus, das Protestieren seiner Muskeln und Gelenke ignorierend. Er wusste, dass es Torooru am meisten fuchste, wenn keine seiner Zwangsmaßnahmen funktionierte, und er liebte es ihn zu provozieren, indem er übermäßig zuvorkommend und freundlich zu dem Troll war, obwohl er eigentlich bis hätte aufs Blut gereizt sein müssen. "Na los, mach schon. Da äst daän Fröhstöck!" Der Troll wies auf die erbärmlich kleine Portion Reis und eine kleine Schale mit Suppe. Dazu gab es noch einen Becher Wasser. "Vielen Dank, Meister Torooru für eure übergroße Güte!" Haku verbeugte sich artig vor dem Troll, hatte ihm aber damit die Rolle eines zuvorkommenden Gastgebers zugewiesen, der um das Wohl seines Gastes ernsthaft bemüht ist. Dann hockte es sich im Schneidersitz auf den Steinboden und begann in aller Seelenruhe und mir offensichtlichem Genuss das Essen zu verspeisen. Zu Beginn hatte Torooru die ihm zustehenden Rationen permanent verkleinert. Laut seinem Arbeitsvertrag hatte er freie Kost und Logis, so dass man ihm etwas zu Essen und Trinken geben musste. Aber nach einer Weile, als der Troll feststellte, dass die Maßnahme, ihm die Rationen zu kürzen keinen Zweck zu haben schien und es ihm mit unmöglich wenig Essen und Trinken trotzdem nicht schlechter zu ging, hatte er aufgegeben und die Rationen auf einem niedrigen, aber konstantem Niveau belassen. Torooru stapfte mit einem unzufriedenen Grunzen fort und begann dann die Froschmänner nebenan aufzuscheuchen. Dabei stellte er fest, dass über Nacht wieder einer von ihnen gestorben war und schimpfte deshalb lauthals über Yubaba, die sie mit Nahrungsmitteln, Wasser und Baumaterialien derart knapp hielt. "Los jätzt, allä än dä Lorän!", befahl der Troll, nachdem alle Froschmänner hastig ihr Frühstück herunter geschlungen hatten. Den Toten hatte er einfach unsentimental wie ein Stück Abfall in den Aufzug geschmissen und würde ihn bei seiner ersten Kohlelieferung nach oben heute in die Grube entsorgen. Wenn er zu lange hier unten in der Hitze blieb, würde er innerhalb kürzester Zeit beginnen zu verwesen und zu stinken. Beim nächsten Rapport würde er Yubaba wider um Arbeiternachschub bitten müssen, den ihm die Leiterin des Badehauses gerne gewähren würde. Das einzige, was sie überhaupt gerne gewährte. Haku musste alleine in die vorderste Lore steigen, der Troll besetzte die hinterste, um dort die Bremse zu bedienen und die derzeit fünfzehn Frösche platzierten sich in den drei Mittleren. Damit sorgte der Troll dafür, dass er immer getrennt von den Fröschen war und keinen Kontakt zu ihnen aufbauen konnte. Auf etwa halber Strecke nach unten, als der Lorenzug mit voller Fahrt dahinschoss, gab es plötzlich ein lautes klatschendes Geräusch, gefolgt von einem Tumult und Gebrülle in der mittleren Lore. Unten angekommen wurde schnell klar, was passiert war. Einer der Frösche, die erst letzte Woche in das Bergwerk gekommen waren, hatte im Übermut seinen Kopf zu weit herausgestreckt und war damit gegen einen unvermutet tief hängenden Balken gekracht. Es war kein erbaulicher Anblick und zwei der Froschmänner aus der Lore des Unglücklichen hatten ihr gerade erst verschlungenes Frühstück wieder ausgekotzt. Jetzt würde noch ein weiterer Arbeiter ersetzt werden müssen und sie würden in den nächsten Tagen Probleme bekommen, genügend Kohlen für den Kessel heranzuschaffen. Normalerweise war genügend Platz zwischen der Oberkante der Loren und der Tunneldecke. Dass der Froschmann gegen einen Balken gestoßen war, bedeutete also, dass es einen Schaden in der Tunnelabstützung geben musste und eventuell ein Balken gebrochen war. Torooru befahl deshalb zwei Fröschen die restlichen Balken, Nägel, Hämmer und Sägen in eine Lore zu laden, um den Schaden zu beheben. Dann koppelte er diese und die Lore dahinter ab, spannte Haku davor und ließ sich selbst und die beiden Froscharbeiter bis zur Schadensstelle ziehen. Der fragliche Balken war halb durchgebrochen und auch das umgebende Holz der Stützverschalung war sehr morsch und brüchig, viel zu brüchig, als es seinem Alter nach der Fall sein sollte. Irgend etwas hatte die Balken beschädigt. Nach einer kurzen Untersuchung hatte Torooru auch schon den Schuldigen gefunden. Eine Felsanemone hatte sich in einer Spalte oberhalb des Balkens angesiedelt und im Dunklen ihre Nesselfäden in den Tunnel herabhängen lassen, deren Gift das Holz langsam zersetzt hatte. Im Moment wurde der Tunnelabschnitt von mehreren mitgebrachten Grubenlampen erleuchtet, so dass die Felsanemone sich in ihre Spalte zurück gezogen hatte. "Däsä värdammtä Fälsanämonä!", fluchte Torooru, "Na wartä, där wärd ächs zaigän." Vor sich hin grummelnd umwickelte er einen Balken mit alten Tüchern, die er dann mit dem Öl aus einer der Grubenlampen tränkte und anzündete, um im Felsspalt nach der Anemone zu stochern um sie auszuräuchern. Auf einmal war ein leises Zischen aus der Spalte zu hören, als die Flammen den Körper der Felsanemone erreichten, welches innerhalb weniger Augenblicke in ein tiefes Dröhnen überging und die Felswände vibrieren ließ. Sand begann aus der Spalte zu rieseln, aus der dann plötzlich auch noch Nesselfäden des Wesens hervorschossen. Weiterhin fluchend sprang der Troll zurück, die selbst gemachte Fackel immer noch in seiner Hand, prallte mit dem Hinterkopf gegen den halb gebrochenen Balken und stürzte dann auf die Geleise. Knackend und quietschend begann der Balken jetzt weiter nachzugeben, bis er zusammen mit den Verschalungsbrettern auf den Troll herab fiel. Den Brettern folgte Schwall aus Sand und kleineren Steinen. Der Spalt und die Tunneldecke lagen jetzt völlig frei. Das Dröhnen das von der Felsanemone ausging wurde immer lauter und durchdringender, bis Sand und Geröll von der Decke zu rieseln begannen. Dann plötzlich gab es ein lautes klopfendes Geräusch, als sich die ersten größeren Felsbrocken von der Tunneldecke zu lösen begannen und mit dumpfen poltern zu Boden krachten. Verzweifelt versuchte Torooru dem Felssturz zu entkommen, aber er schaffte es nur teilweise und wurde bist zum Hals unter Geröll und Steinen begraben. Nur sein Kopf war zum Schluss noch frei. Nachdem sich der Fels beruhigt hatte und es nur noch ein wenig rieselte, klatschte auf einmal ein großes, rundes und mit unzähligen Haaren bedecktes etwas auf die Schienen und rollte hastig aus dem Bereich des Lichts der Grubenlampe, die an der vorderen Lore befestigt war, den Tunnel hinab und verschwand in die Dunkelheit der tieferen Stollen. Haku, der einige Meter unterhalb der Stelle des Felssturzes immer noch vor die Loren gespannt war und wartete, hatte das Ganze beobachtet und war vorsichtshalber noch einige Meter zurückgewichen. Ihm wurde klar, dass er als einziger auf dieser Seite den Felssturz überstanden hatte und dass es nun seine Aufgabe war, den anderen gegebenenfalls zu helfen. Da waren ja auch noch die ganzen anderen Froscharbeiter, die jetzt tief unten im Stollen die Kohle schlugen und noch gar nichts davon wussten, dass sie ebenfalls festsaßen. Also machte er sich daran, die Rollen der Loren mit Felsbrocken zu blockieren, um zu verhindern dass diese wegrollen, und nahm dann wieder seine menschliche Gestalt an, um eine größere Bewegungsfreiheit zu erlangen. Die Verwandlung entledigte ihn auch sogleich seines Zuggeschirrs, da es für seinen menschlichen Körper viel zu groß war und einfach zu Boden fiel. Als erstes nahm er im Licht der einzigen, verbliebenen Lampe an der vorderen Lore, den Felssturz in Augenschein und überprüfte den Zustand des Trolls. Dieser atmete noch, war jedoch bewusstlos und würde keinesfalls eine Hilfe sein. Er konnte jetzt die Lampe nehmen und nach unten zu den Froscharbeitern gehen und dort Hilfe holen, aber er bezweifelte, ob die Frösche ihm tatsächlich helfen konnten. Außerdem würde er den Troll alleine im Dunkeln zurücklassen müssen, so dass die Gefahr bestand, dass er von einer der Felsanemonen erwischt würde, die wie er jetzt gesehen hatte, durchaus beweglich waren. Er überlegte. Währe es wirklich so schlimm, wenn der Troll, der ihm ja so schlimm zugesetzt hatte, jetzt hier sterben würde? Das würde doch Yubaba einen schlimmen Schlag versetzten, denn dann hätte sie niemanden mehr, der den Kohleabbau hier unten aufrechterhalten könnte und das Bergwerk würde über kurz oder lang stillgelegt werden müssen. Dann müsste sie entweder für die Brennmaterialien bezahlen oder das Badehaus schließen. Wenn er einfach hier warten würde und nichts täte, was würde dann passieren. Spätestens wenn Kamaji der Brennstoff für den Kessel ausgeht, würde sie bemerken, dass etwas nicht stimmt und nachsehen kommen. Der Kohlenvorrat würde ungefähr für zwei Tage reichen, dass hatte Kamaji ihm einmal erklärt. Sicher würde Yubaba mit ihrer Magie dann auch einen Weg finden, den Felssturz beiseite zu räumen, aber damit währe frühestens in zwei Tagen zu rechnen. Die Grubenlampen hatten aber maximal, bei vollem Öltank, eine Brenndauer von 24 Stunden. Danach wäre es dunkel und dann kämen die Felsanemonen. Zudem würden die Frösche mit dem Wasservorrat hier unten auf gar keinen Fall zwei Tage überstehen. Den Wassernachschub für den Tag pflegte Torooru immer mit der ersten Leerfahrt nach unten zu befördern, also ist wahrscheinlich gar kein Wasser mehr dort. Nein, er musste selbst irgendwie dafür sorgen, dass sie hier herauskommen, sonst würden alle Frösche hier unten sterben, was ja vielleicht sogar im Sinne von Yubaba lag. Sie war es letztendlich, die die Situation hier unten provoziert hatte, sie mit zu wenig Wasser und Nahrung versorgte, schlechte Arbeitsgeräte zur Verfügung stellte, mit den Fröschen ungeeignete Personen hier unten beschäftigte und sie von einem Troll drangsalieren ließ, den sie wer weiß wie lange schon hier unten gefangen hielt. Wenn er den Troll jetzt hier sterben ließ, würde er dann nicht genauso handeln wie Yubaba? Er, ein Drache, ein Symbol des Lebens und des Glücks? Das durfte nicht sein! Er durfte sich in seinem Handeln niemals von solchen niederen Motiven leiten lassen! Und Haku schämte sich, dass er überhaupt so etwas gedacht hatte. Mehrere Minuten stand Haku am Fuße des Felsrutsches und dachte weiter über seine Situation nach, bis ihm zum Schluss noch einfiel, dass Torooru ja die einzige Person war, die ihm das Halsband wieder abnehmen konnte. Yubaba hatte ja gesagt, dass nur diejenige Person es ihm wieder abnehmen könnte, die es ihm angelegt hatte, und das war Torooru gewesen. Wenn der Troll jetzt starb würde er es am Ende nie mehr loswerden. Er kletterte den Felsrutsch bis zur Tunneldecke hinauf, wo er anfing, Steine beiseite zu räumen. Als er schon glaubte, ein wenig voran zu kommen und in absehbarer Zeit die andere Seite zu erreichen, begann auf einmal Material von Oben nachzurutschen und machte seine bisherige Arbeit zunichte. So würde das nichts werden, dachte er bei sich, ich muss schneller arbeiten. Zudem waren da einige ziemlich große Felsbrocken, die er in seiner menschlichen Gestalt nicht bewegen konnte. Sie waren einfach zu schwer. Unter ihm begann der Troll, der von dem nachrutschenden Material bis zum Kinn bedeckt worden war, jetzt zu stöhnen. Er kletterte an Torooru vorbei wieder auf den Tunnelboden, immer darauf bedacht, dass nichts weiter ins rutschen kam, verwandelte sich wieder in einen Drachen zurück und machte sich erneut an die Arbeit. Er stellte fest, dass er auf diese Weise wesentlich schneller voran kam und auch die schwersten Felsbrocken problemlos zur Seite räumen konnte. Eine halbe Stunde später hatte er den Troll weitestgehend freigelegt, nur ein besonders großer Felsen lag noch auf dessen Beinen. Haku trieb seine Klauen in den Felsbrocken und begann zu ziehen. Seine ganze Kraft als Drachen aufbietend begann der Felsen sich knirschend zu bewegen und nachdem er ihn aus dem Felsrutsch gelöst hatte, schleuderte er den Felsen mit einem Ruck hinter sich, wo er dumpf auf den Tunnelboden krachte. Torooru lag nun völlig frei, doch in dem Moment, als Haku ihn zur Seite schaffen wollte, setzte sich der Fels erneut in Bewegung und mit lautem Poltern stürzte Material aus der Öffnung in der Decke nach. Es gelang Haku gerade noch wegzuspringen, sonst wäre auch er unter Felsen begraben worden. Ein paar Minuten später hatte schließlich aufgehört Material nachzurutschen. Jedoch war Torooru jetzt wieder bis zum Bauch verschüttet und hustete jetzt vernehmlich im aufgewirbelten Staub, Haku unverwandt anblickend. "So wärd das nächts, Drachä.", krächzte er dann, "Do mosst dä Däckä abstötzä." "Und wie soll ich das machen, Troll?", fragte Haku mit sarkastischem Unterton, nachdem er in seine menschliche Gestalt zurückgewechselt war, "Ich sehe selber, dass es nicht geht. Wir haben hier weder genügend Material, um die Tunneldecke abzustützen, noch könne ich es alleine tun." "Do mosst Hälfä holä. Hol ein paar Fröschä von ontän. Dä sollän där hälfän.", befahl Torooru, bevor er dann stutzte und erneut fluchte: "Värdammtär Mäst, ontän äst aoch kaän Baomatäräal mär. Wär mössän wartän, bäs ons jämand von aossän hälft." "Nein, Troll, das dauert wahrscheinlich mehrt als zwei Tage.", konterte Haku, "Bis dahin sind alle unsere Lampen aus und wenn es dunkel ist, kommen die Felsanemonen. Außerdem sind bis dahin alle Frösche verdurstet. Wir müssen schnellstmöglich den Tunnel wieder frei machen, sonst sterben wir hier alle." "Was dänkst do, wä do das schaffä wällst, Drachä?", blaffte Torooru, "Hähä, wär wärdän allä stärbän, ond das alläs, waäl Yobaba zo gaäzäg äst, om ons gotäs Baomatäräal zo gäbn. On sä sälbs wärd ährn Ladän dächtmachä könnä, waäl sä kaänä Kohlä mär hat, hahahahahaha." Dann musste er stark Husten und Blut kam aus seinem Mund. "Ich weiß schon, wie ich es schaffen könnte, den Durchgang frei zu räumen und gleichzeitig die Decke abzustützen." Haku blickte kalt auf den Troll herunter. "Du musst mir nur das Halsband abnehmen. Dann kann ich Magie einsetzen, um das Nachrutschen der Felsen zu verhindern." Torooru blickte verblüfft zu Haku auf. Auf diese Idee wäre er selbst nie gekommen, da er niemals irgendwelche magischen Fähigkeiten gehabt hatte, die er hätte einsetzen können. "Do bäst wohl värröckt gäwordä. Wänn Yobaba das ärfährt, wärd sä mäch ombrängä!" "Das glaube ich kaum, denn sie braucht dich, um das Bergwerk am laufen zu halten. Aber wenn sie so in zwei Tagen merkt, dass keine Kohle mehr da ist, wird sie wutschnaubend herunterstürmen und den Felssturz mit ihrer Magie einfach und ohne Rücksicht auf Verluste hinwegpusten, so wie ich sie kenne. Wenn du dann noch hier liegst, wirst du das kaum überleben, du dummer Troll." Haku hatte sich jetzt neben dem Troll auf einen Stein gesetzt und starrte in die Grubenlampe, die am vorderen Wagon leicht flackerte. Der Staub hatte sich mittlerweile gelegt und die Luft begann immer stickiger zu werden, da der Luftaustausch durch den Felssturz verhindert wurde. Torooru sagte eine ganze Weile lang überhaupt nichts und schien dabei auf die Decke starrend angestrengt nachzudenken. Irgendwann schließlich richtete er seinen Blick auf Haku. "Äch glaobe do hast Rächt, Drache. Komm, boäg däch härontär, dann nähmä äch där das Halsband ab on Yobaba soll där Täofäl holä." Nachdem Haku das Halsband losgeworden war, hatte er das Gefühl, als hätte jemand einen Schleier hinweg gezogen, der seine Wahrnehmung wie Watte gedämpft hatte. Mühelos konnte er die Felsen jetzt nicht nur mit seinen Augen sehen, sondern gewissermaßen auf magische Weise fühlen, den Druck spüren, den die darüber liegenden Felsmassen ausübten. Es gelang ihm, die nachrutschenden Felsmassen mit der Blockade eines einzigen großen Felsbrockens zu stoppen, der sich direkt oberhalb der Öffnung befand, welchen die Felsanemone hinterlassen hatte. Yubaba, du gierige alte Vettel, dachte er dabei hämisch, jetzt kann ich genau die Lektion über die willentliche Bewegung eines Gegenstandes mit Hilfe der Magie anwenden, die sie mich wie weiß wer oft hat wiederholen lassen. In Drachengestalt räumte er die Gesteinsmassen weg, stets seine Konzentration auf den blockierenden Felsbrocken gerichtet. Eine gute Stunde später hatte er dann den Troll wieder frei gelegt. Als er ihn dann jedoch aus dem Geröll herauszog und neben den Loren auf den Boden legte, verlor er für kurze Zeit die Konzentration, so dass ihm die Kontrolle über den blockierenden Felsbrocken entglitt und wieder ein ganzer Schub an Felsbrocken nachrutschte. Torooru stöhnte, als Haku ihn ablegte, da er sich mehrere Rippen gebrochen hatte und auch unnatürliche Knick in seinem rechten Unterschenkel verhieß nichts gutes. Haku wunderte sich, dass er sich bei den tonnenschweren Felsbrocken, die auf ihn gestürzt waren, nicht mehr verletzt hatte. Das zeigte den massiven Knochenbau des Trolls. Die blutigen Kratzer, die Haku dem Troll beim herausheben aus dem Geröll mit seinen Klauen zugefügt hatte, schien dieser überhaupt nicht zu spüren, aber sie waren unvermeidlich gewesen, denn Torooru hatte mindestens 300 Kg Gewicht, so dass er fest hatte zupacken müssen. Sich wieder auf das nachrutschende Felsgestein konzentrierend, begann Haku erneut den Durchgang frei zu graben. Diesmal war es jedoch ungleich schwieriger, da es nicht genügte nur einen großen Felsbrocken zu blockieren, sondern mehrere kleine unter Kontrolle gehalten werden mussten, um einen neuerlichen Felsrutsch zu verhindern. Noch einmal verlor Haku fast die Konzentration, als nach etwa weiteren zwei Stunden mit einem mal einer der Froscharbeiter mit einer Grubenlampe aus der Dunkelheit auftauchte. "Was ist los, Chef?", fragte er den auf dem Boden sitzenden und sich an die Tunnelwand lehnenden Troll, "Wir haben unten kein Wasser mehr und zwei von uns sind deshalb schon ohnmächtig geworden." Dabei nahm er den Felsrutsch ebenso wenig wie Haku zur Kenntnis. "Do blödär Frosch.", keuchte Torooru als Antwort, wobei er erneut Blut hustete. Offensichtlich hatten die gebrochenen Rippen seine Lunge verletzt. "Los schaff allä dä noch arbaätä könnä härhär on sä sollä alläs Baomatäräal mätbrängä, was noch da äst!" Als die gesamte Froschmannschaft nach einer weiteren Stunde endlich auftauchte, hatte Haku bereits den Durchbruch geschafft und war dabei den Durchlass zu vergrößern. Den größten Teil des Schutts hatte er in einen nahen Seitenstollen geschafft, in den auch die Felsanemone verschwunden war. Innerhalb kurzer Zeit hatten sie unter den barschen Anweisungen Toroorus mit Baumaterial, dass sie aus einem weiteren Nebenstollen abgerissen hatten, eine primitive Deckenabstützung gezimmert. Erleichtert wechselte Haku in seine menschliche Gestalt zurück, nachdem er den Druck der nachrutschenden Felsen vorsichtig auf die Abstützung verlagert hatte. Von der ungewohnten geistigen Anstrengung bei der Anwendung von Magie nach über einem knappen Jahr Pause ohne Übung hatte Haku jetzt heftige Kopfschmerzen und währe am liebsten auf der Stelle eingeschlafen. Zuerst aber hatte er noch den Transport Toroorus in die Wohnhöhle zu bewerkstelligen und die Bergung der bewusstlosen Frösche aus dem Kohleabbaubereich zu organisieren. Später oben in der Wohnhöhle versorgte Haku erst Torooru, richtete dessen Unterschenkelbruch und schiente ihn. Zur Unterstützung der Heilung wandte er einen einfachen Zauber an, der den Heilprozess beschleunigte und verhinderte, dass sich die Abschürfungen und Kratzer infizierten, die sich der Troll zugezogen hatte. Später brach er noch eines der Wasserfässer auf und verteilte eine reichliche Wasserration an alle. Die beiden Frösche, die mit Torooru und Haku den Felsrutsch miterlebt hatten, waren in die Wohnhöhle geflohen und hatten sich bei der Ankunft der anderen unter ihren Futons versteckt, anstatt zu versuchen, Hilfe zu hohlen. Am nächsten Tag, als Haku erwachte, war Torooru bereits wieder auf den Beinen. Er polterte lautstark, kommandierte die Frösche hin und her, die ihm Krücken gemacht hatten, mit denen er ächzend durch die Gegend humpelte. Haku hatte die Nacht wie üblich in seiner Kiste verbracht, denn er wollte Yubaba keinen Grund liefern, ihn töten zu können, konnte aber, da sie nicht verschlossen war, die Beine heraushängen lassen und hatte so eine der besten Nächte seit langer Zeit verbracht und geschlafen wie ein Baby. Seine Kopfschmerzen vom Tag zuvor waren verflogen und zum ersten mal, seitdem er hier in der Kohlengrube war, hatte er wirkliche Zuversicht, dass er dieser Falle doch noch entkommen konnte. Torooru beachtete ihn den ganzen Morgen über nicht, sondern kümmerte sich trotz seines verletzten Beines um das Essen und die Instandsetzung des Tunnels und der Gleise. Haku kauerte sich einfach auf den Boden neben dem Aufzug und wartete, was weiter passieren würde. Nach Mittag befahl ihm Torooru noch drei Kohleladungen hochzuziehen. Auf dem Weg von unten nach oben konnte er dabei die Schäden an den Tunnelwänden noch deutlich sehen und dass noch längst nicht alle Trümmer weggeräumt waren. Am Abend erstattete Torooru in seinem schwer angeschlagenen Zustand dann noch Yubaba Bericht, bevor er dann mit dem Abendessen für alle zurückkehrte. Nachdem in einer gemeinsamen Anstrengung, um die schwersten Schäden zu beseitigen, damit am nächsten Tag die Kohleförderung wieder regulär aufgenommen werden konnte, war Torooru doch noch zu ihm gekommen. "Äh, Hako, äch äh möchtä mäch baä där bädankä, dass do ons allä gärättät has.", flüsterte er mit heiserer Stimme, so dass es keiner der Frösche horen konnte, "Äch moss däch trotzdäm om was bättä. Morgän fröh wäll Yobaba kommä, om säch dän Zostand där Grobä anzoschaoä. Darom lass mäch bättä das Halsband wädär dranmachä." Haku dachte kurz nach und sagte dann: "Ich verstehe das, Torooru. Ist es dir recht, wenn ich es mir selber anlege. Es sollte für Yubaba egal sein, ob ich oder du es mir angelegt hast, aber wenn ich es mir anlege, kann ich es mir auch selber wieder abnehmen. Aber wenn du willst, kannst auch du es mir wieder anlegen. Du solltest übrigens die Kiste ebenfalls wieder zuschließen, sonst bemerkt sie am Ende noch etwas. Ich glaube, ich haben mich mittlerweile daran gewöhnt. Yubaba ist immer sehr misstrauisch." Torooru erklärte sich einverstanden und nachdem Haku sich das Halsband selbst angelegt hatte, schloss er den Deckel der Kiste über Haku ab, wobei er sich zutiefst schämte, dass er dem Jungen das antun musste, obwohl dieser ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. In der Nacht konnte er wegen der Schmerzen in seinem gebrochenen Bein nur schlecht schlafen und dachte über seine Beziehung zu dem Drachen nach. Noch immer misstraute er Haku, aber eigentlich misstraute er nach seiner Erfahrung mit Yubaba jedermann. Irgendwie jedoch begann er den jungen Drachen zu mögen. Schließlich kam Torooru zu der Einsicht, dass nun er keine Angst mehr vor dem Drachen hatte, dass dieser keinerlei Bedrohung für ihn darstellte. Letztendlich hatte nur Yubaba Schuld an seiner Misere und all derer, die mit ihm in dieser Grube gefangen waren. Wie er diese Frau hasste! Kapitel 9: Der See im Wald -------------------------- So, jetzt habe ich das neue Kapitel abgeschlossen. Es ist ein bisschen länger geworden, als ich wollte, aber ich denke mal, da wird wohl keiner was dagegen haben. Viel Spass beim Lesen Der See im Wald Seit einer Stunde schon lag Chihiro bereits wach im Bett, war aber immer noch zu faul, um endlich aufzustehen. Lieber döste sie noch eine Weile vor sich hin, denn Ayaka und Ichiyo wollten erst um 10 Uhr kommen. Dabei es war gerade erst einmal halb neun. Wenn sie hier so lag, nahm sie ihren chronischen Hunger kaum wahr und konnte ihren Gedanken nachhängen. Sie wohnte nun bereits ein dreiviertel Jahr in dem neuen Haus und fühlte sich richtig wohl, obwohl ihre Eltern an allen Ecken und Enden knapsen mussten und sie ihre Freundin Risa aus Tokyo immer noch vermisste. In den nächsten Tagen wollte sie Risa auch mal wieder anrufen, aber heute war Samstag und die Sommerferien hatten vor einer Woche begonnen, so dass sie Risa heute wohl nicht erreichen würde. Sie würde den ganzen Tag unterwegs sein, wie sie sie kannte. Das Hausverwaltungsgewerbe ihres Vaters brachte jedenfalls noch zu wenig Geld ein, um alle laufenden Kosten zu bezahlen. Größter Posten dabei war natürlich ihr Essen, was so viel zu Essen war, wie eine fünfköpfige Familie zusammen am Tage verbrauchte. Ach ja, und natürlich ihre Schulgebühren. Ihre Mutter hatte deshalb einen Job als Kassiererin in dem Konbini in der Nähe angenommen, mit dem zusätzlichen Vorteil hatte, dass sie die Nahrungsmittel zum Angestelltenpreis kaufen konnte. Zu ihrem elften Geburtstag vor zwei Wochen hatte sie jedenfalls nur ein Paar neue Schuhe bekommen und den vierten Band von Harry Potter. Aber außer neuen Schuhen brauchte sie auch keine neuen Kleider, denn ihre alten passten ihr noch immer, weil sie, seitdem sie hierher gezogen waren, gerade mal einen Zentimeter gewachsen war. Ihren Eltern war sie deshalb nicht Böse, denn sie verstand, dass sie nicht mehr so viel Geld hatten wie früher, als ihr Vater noch seinen gut bezahlten Job im Architekturbüro gehabt hatte. Es hätte ihre finanzielle Situation erheblich verbessert, wenn jemand das nur Essen für sie bezahlt hätte. Leider weigerte sich die Krankenkasse aber hartnäckig, es zu bezahlen, denn auch wenn es eine medizinische Indikation für ihre erhöhte Nahrungsaufnahme gab, so vertrat sie den Standpunkt, dass Nahrungsmittel nun einmal keine Arzneimittel seien und außerdem gäbe es keinerlei Hinweise darauf, an was für einer Krankheit sie denn leiden würde, geschweige denn, ob sie überhaupt krank währe. Ihr Vater hatte deswegen bereits einen Prozess gegen die Krankenkasse angestrengt, wobei er auf die Schützenhilfe von Dr. Ito hoffte. Dieser hatte in verschiedenen Fachzeitschriften bereits Artikel über den Fall veröffentlicht und auf mehreren Symposien darüber vor Fachkollegen darüber referiert. Zudem hatte er ihrer Krankheit den Namen "hyperkalorisches metabolisches Syndrom" gegeben oder auch kurz "Itosyndrom". Wenn es eine "offizielle" Krankheit war, würde die Kasse schon zahlen müssen! Sie fand den Namen "Itosyndrom" jedenfalls ungerecht. Wenn überhaupt hätte ihre Krankheit "Oginosyndrom" heißen sollen, zudem sie sich ja gar nicht krank fühlte, sondern hatte einfach nur andauernd Hunger hatte. Aber wenn Dr. Ito ihnen vor Gericht helfen konnte, dass die Krankenkasse das Essen für sie bezahlen musste, dann durfte er es ihretwegen auch "Itosyndrom" nennen. Der Prozess zog sich nun schon über mehrere Monate hin und wurde von der Krankenkasse immer wieder hinausgezögert, wohl in der Hoffnung, dass sie irgendwann klein beigeben würden. Aber da kannten sie ihren Vater schlecht. Der war schließlich als Student mehrfach Universitätsmeister im Sumo gewesen und das wurde man nicht, indem man zurückwich, sondern standhaft war und nach vorne ging. Auf jeden Fall wollte Dr. Ito am Abend vorbei kommen, um mit ihren Eltern seine neuesten Untersuchungsergebnisse zu diskutieren. Er hatte sie ja anfangs jede Woche einmal und später monatlich Untersucht. Die letzte Untersuchung war gerade mal erst eine Woche her. Um viertel vor neun raffte Chihiro sich dann endlich auf, stürmte zuerst nach unten in die Küche, wo eine große Schüssel mit Reisbällchen für sie bereitstand, von denen sie einige sofort verschlang, bevor sie sich waschen ging. Ihre Mutter war bereits in den Konbini gegangen, um dort zu Kassieren, und ihr Vater beaufsichtigte wohl gerade irgendwelche Handwerker in einem der Häuser, die er verwaltete. Um sich die Zeit zu vertreiben, bis Ichiyo und Ayaka kommen würden, wollte sie noch ein wenig Harry Potter lesen. Sie platzierte dafür ihren Plüschtotoro wie üblich auf dem Bett und lehnte sich gemütlich dagegen. Dann holte sie noch die Schüssel mit den Reisbällchen nach oben, um diese nach und nach zu vertilgen. Harry war gerade dabei mit Ron und Hermine für das Trimagische Turnier zu üben und Chihiro dachte daran, was sie letzte Woche gehört hatte. Daran, dass nämlich die meisten Zaubersprüche in dem Buch lateinischen Ursprungs waren. Wie konnte es dann eigentlich sein, dass es den Laden von Mr. Ollivander, in dem Harry seinen Zauberstab gekauft hatte, schon seit 382 vor Christus gab? Die Römer waren doch erst unter Cäsar nach Britannien gekommen, wie sie gelernt hatte, und das war etwa 55 vor Christus gewesen. Wie hatten die Zauberer vorher gezaubert. Jedenfalls nicht in Latein! Und wie war das in China gewesen? Benutzte man dort auch lateinische Zaubersprüche? Oder hier in Japan? Oder im alten Ägypten? Irgendwie erschien ihr das nicht ganz logisch. Wozu musste man überhaupt etwas sagen? Verstand die Magie etwa Latein? Hatte nicht Harry ganz am Anfang ganz ohne was zu sagen und ohne Zauberstab die Scheibe von dem Terrarium mit er Boa verschwinden lassen, so dass Dudley hinein gefallen ist? Chihiro hatte plötzlich wieder dieses intensive Gefühl, dass sie sich eigentlich an etwas erinnern müsste. Vor ihrem inneren Auge blitzte plötzlich das Bild knorriger Finger mit langen, rot lackierten Nägeln auf, die ein paar Gesten machten und so eine Unzahl von Gegenständen durch die Luft fliegen ließen. Einer plötzlichen Eingebung folgend sprang sie auf und ging zu ihrem Schreibtisch herüber. Sie nahm einen Bleistift aus ihrem Mäppchen und suchte dann nach etwas, dass sie als Ersatz für eine Feder benutzen konnte. Am Ende riss sie einfach einen Streifen Papier aus einem ihrer Schulhefte und legte ihn in die Mitte des Schreibtisches. Das müsste genügen. Sie setzte sich auf den Stuhl, wutschte und wedelte mit dem Bleistift und rief laut und wie sie hoffte mit der richtigen Betonung: "Wingardium leviosa!". Natürlich passierte nichts, der Papierschnipsel bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle. ABer das hatte sie auch erwartet. Nach mehreren versuchen seufzte sie und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Dabei legte sie den Bleistift auf den Tisch zurück. Eine Weile starrte sie auf den Papierschnipsel. Dann schloss sie die Augen und versuchte sich den Schnipsel vorzustellen, so wie er auf dem Tisch lag. Vor ihrem geistigen Auge ließ sie ihn von der Tischplatte abheben, höher, immer höher, ließ ihn über sich hinwegschweben und dann in der Mitte des Zimmers verharren. In diesem Moment ertönte die Türklingel. Ayaka und Ichiyo waren da. Chihiro schreckte hoch, als währe sie aus einem Traum erwacht, sprang auf und wollte gerade zur Tür eilen, als sie sah, wie der Papierschnipsel langsam von der Decke herunter schwebte. Verwundert schaute sie zu, wie er langsam kreiselnd zu Boden sank. Dann ging die Schelle noch einmal. "Ich komme ja schon.", rief sie und eilte die Treppe herunter zur Haustür. Draußen standen Ichiyo und Ayaka, beide mit ihren Schulranzen und warteten. Jeder von ihnen hatte zu ihrer Verwunderung noch eine Einkaufstüte dabei. Ayaka trug wieder ihr japanisches Fußballtrikot und hatte ihren unvermeidlichen Fußball unter den Arm geklemmt. Ichiyo hatte kurze Hosen, ein T-Shirt und Turnschuhe mit weißen Socken an. Chihiro fiel aber auf, dass die rechte Socke einen blauen Kringel hatte und die linke einen grünen. Zudem standen seine Haare wirr durcheinander, als wäre er erst vor kurzem aus dem Bett gefallen. "Hallo Ayaka, Ichiyo. Kommt doch herein.", lud Chihiro sie ein. Ayaka marschierte stracks ins Haus, entledigte sich ihrer Schuhe, die sie in das stellte. Dagegen verbeugte Ichiyo sich zuerst artig und brachte seine übliche Entschuldigung hervor: "Guten morgen liebe Chihiro. Entschuldige bitte, wenn ich so unordentlich hier erscheine, aber ich habe leider verschlafen." Dabei fuhr er mit seinen Händen durch seine Haare, die er so versuchte irgendwie zu bändigen. "Ichiyo, du brauchst dich nicht andauern zu entschuldigen, außerdem sind Ferien und es ist doch egal, wie du rumläufst, hauptsache nicht nackig.", versuchte Chihiro ihn aufzumuntern, aber Ichiyo lief bereits wieder rot an. "Na los, jetzt komm schon rein." Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn durch die Tür nach innen. Ichiyo war heute erst das zweite mal bei Chihiro zu hause. Das erste mal war an ihrem elften Geburtstag vor kurzem gewesen. Nachdem auch er seine Schuhe abgestellt hatte, musste Sie ihn fast die Treppe hinauf ziehen zu ihrem Zimmer. Als sie hereinkamen hatte Ayaka ihren Tornister und die Einkaufstasche auf den Schreibtisch gestellt, den Fußball auf den Boden gelegt und sich selbst auf das Bett geschmissen, wo sie gerade zufrieden eines der Reisbällchen mampfte. Staunend blieb er dann wieder im Türrahmen stehen und sah sich mit aufgerissenen Augen um. An jeder freien Stelle im Zimmer hatte Chihiro Blumengestecke aufgestellt, die sie im Ikebana-Kurs aus Trockenblumen gemacht hatte, und im Raum schwebte ein leichter Blumen- und Kräutergeruch. Insgesamt waren es mehr als zwei Dutzend Blumengestecke. "Los Ichiyo, setz dich irgendwo hin, wo du magst.", forderte ihn Chihiro auf, "Deine Sachen stell einfach neben Ayakas auf den Schreibtisch." Sie ging in die Mitte ihres Zimmers, hob den Papierschnipsel auf, der dort immer noch lag und schnipste ihn in den Papierkorb. Dann drehte sie sich um und währe fast mit dem Jungen zusammengestoßen, der beinahe geräuschlos in das Zimmer geschlichen war. "Äh, Chihiro.", sagte er, "Ich habe hier etwas für dich. Ayaka meinte, dass dir etwas Abwechselung von den Reisbällchen gut tun würde." Er hielt Chihiro die Einkaufstüte hin, die sie ihm aus der Hand nahm und hineinschaute. Es waren alle möglichen Leckereien darin, wie Kekse, Bonbons, Kartoffelchips, Schokolade, Erdnüsse, Müsliriegel und anderes. "Oh, äh, ja, daf hätt if ja faft fergeffen.", ließ sich Ayaka vom Bett vernehmen. Sie hatte sich gerade ein weiteres Reisbällchen in den Mund gestopft. Nun sprang sie auf und gab Chihiro ihre Tüte, die sie auf den Schreibtisch gestellt hatte. Die Tüte enthielt ebenso wie die von Ichiyo eine kunterbunte Auswahl verschiedenster Knabbereien. "Hier. Ich hatte gedacht, ich bringe noch etwas mehr mit, sonst has du ja doch wieder alles bis morgen aufgegessen.", meinte sie, setzte sich auf die Bettkante und nahm sich ein weiteres Reisbällchen aus der Schüssel, wobei sie Chihiro leutselig anschaute, "If nehm mir nof ein Paar, ja? Hab nämmif niftf Gefrühftückt." "Oh, Ichiyo, Ayaka, das währe doch nicht nötig gewesen. Aber trotzdem vielen dank.", strahlte Chihiro, "Wollt ihr was zu Trinken haben? Und äh Ichiyo, du darfst dir gerne auch ein paar Reisbällchen nehmen, wenn du Hunger hast. Die hängen mir sowieso zum Hals raus." Ichiyo und Ayaka bejahrten dies, so dass Chihiro nach unten in die Küche ging, um etwas zu Trinken zu holen. Alle drei waren sie jetzt in der sechsten Klasse der Grundschule. So langsam rückten damit die Abschlussprüfungen immer näher und somit die Versetzung auf die Mittelschule. Um auf eine gute Mittelschule gehen zu können musste man bei diesen Abschlussprüfungen ein möglichst gutes Ergebnis erzielen. Deshalb hatten Ichiyos und Ayakas Eltern ihre Kinder auf eine Juku, eine Paukschule geschickt, die sie auf diese Abschlussprüfungen vorbereiten sollten. Währen der Sommerferien mussten Ichiyo und Ayaka jetzt jeden Tag in der Woche, Montags bis Freitags dort acht Stunden lang die Schulbank drücken, natürlich gegen Bezahlung. Diese Rundumbetreuung der Kinder war allerdings so teuer, dass Chihiros Eltern sich dies im Moment einfach nicht leisten konnten, so dass sie sich alleine auf die Prüfungen vorbereiten musste. Um Chihiro zu helfen, hatten sich Ayaka und Ichiyo bereit erklärt, am Wochenende zusammen mit Chihiro den Stoff durchzugehen, den sie während der Woche in der Paukschule eingetrichtert bekommen hatten. Sie hatten verabredet, von zehn Uhr morgens bis sechs Uhr abends lernen und danach noch zusammen schwimmen zu gehen. Ayaka hatte nämlich von einem wunderschönen kleinen See mitten im Wald erzählt, den sie letzten Sommer entdeckt hatte. Er sollte nur einen guten Kilometer entfernt sein und da heute ein wunderbarer heißer Julitag war, würde es eine gute Abwechselung sein. Chihiro kehrte mit drei Gläsern und einer Flasche Sprudel in ihr Zimmer zurück, wo die beiden anderen bereits das Unterrichtsmaterial und ihre Mitschriften aus der Juku ihren Ranzen entnommen und auf dem Boden verteilt hatten. Sie würden den ganzen Vormittag und Nachmittag ihre Ruhe haben, bis etwa gegen 17 Uhr. Dann würde ihre Mutter nach Hause kommen um das Abendessen vorzubereiten. Gegen 18 Uhr wollte dann ja noch Dr. Ito zu Besuch kommen. Kurz nach Fünf schaute dann ihre Mutter Yuuko in das Zimmer und sah, wie alle drei auf dem Boden hockten und fleißig lernten. Chihiro schreckte fast hoch, so versunken war sie in den Stoff gewesen, ohne zu merken, wie die Zeit verging. Je näher er es dann auf sechs Uhr zuging, desto unruhiger wurde Ayaka. Sie fing an, mit den Füssen zu wippen, schaute immerzu auf die Uhr oder zum Fenster hinaus und konnte sich nicht mehr auf die Sache konzentrieren. Ichiyo hatte damit übrigens keine Schwierigkeiten und ging mit Chihiro weiter seelenruhig die Geschichte Japans durch. Gegen halb Sechs begann Ayaka dann mit ihrem Ball herumzuspielen, probierte ihn auf ihrem Zeigefinger kreiseln zu lassen, was ihr aber nicht immer gelang. Nach einigen Versuchen prallt der Ball mit lautem Klingen gegen die inzwischen leere Schüssel, in der sich die Reisbällchen befunden hatten. Ayaka und Ichiyo hatten jeweils vielleicht ein Sechstel davon gegessen, wovon sie pappsatt waren, und Chihiro den ganzen Rest. Jedenfalls wurde es Chihiro jetzt zu bunt. "Ayaka, was machst du denn. Du musst die Prüfung doch auch machen. Komm noch eine halbe Stunde lernen, ja?", versuchte sie ihre Freundin bei der Stange zu halten. "Mann Chihiro, du hörst dich ja schon an, wie meine Mutter. Es ist doch nichts passiert. Die Schüssel ist noch heile und lernen können wir auch morgen noch.", gab diese zurück, "Die ganze Woche habe ich noch keinen Fußball gespielt, sondern andauernd nur gelernt. Ich muss mich endlich mal bewegen." Es tat Chihiro jetzt leid, dass sie ihre Freundin so angefahren hatte. Sie selbst hatte ja die ganze Woche nicht in der Juku hocken müssen und Ayaka war nur ihr zuliebe hier. "Also gut, Ayaka, ich glaube, du hast recht. Dann hören wir jetzt auf, und ihr zeigt mir, wo dieser See im Wald liegt.", gab Chihiro deshalb nach, wobei sie Ayaka anlächelte, "Ich hol nur noch eben meine Badesachen." Kurz darauf kam sie mit dem großen Rucksack wieder, den sie sonst anstatt eines normalen Tornisters immer mit zur Schule nahm, weil zusätzlich zu ihren Schulsachen noch das ganze Essen hineinpassen musste, dass sie im Laufe eines Schultages so vertilgte. Ayaka kannte ihn schon sehr gut, denn Chihiro schaffte es meistens nur, den Rucksack morgens bis zu Ayakas Haus zu schleppen, wo diese ihn dann den Rest des Weges bis zur Schule tragen durfte, während Chihiro Ayakas viel leichteren Ranzen übernahm. Wenn sie dann an der Schule ankamen, war selbst Ayaka meistens ganz fertig, aber sie sah es einfach als Training und tat es deshalb gerne. "Du Chihiro, wir wollen nur Baden gehen. Wozu brauchst du denn den riesigen Rucksack?", fragte Ayaka, bereits innerlich stöhnend. "Naja, ich muss doch noch etwas zu Essen mitnehmen. Wer weiß, wie lange wir wegbleiben.", meinte Chihiro, während sie begann, einiges von den Knabbereien, die Ichiyo und Ayaka mitgebracht hatten, in den Rucksack zu stopfen. "Chihiro, hast du eigentlich deinen Badeanzug schon an?", fragte Ayaka weiter, "So schnell hast du ihn sicherlich nicht anziehen können. Willst du dich dann am See umziehen? Hinter einem Busch?" Verdutzt sah Chihiro zu Ayaka herüber und dann in den Rucksack. "Äh, ich dachte...", stammelte sie und bemerkte dann, wie Ichiyo bereits wieder rot anlief, "Ok, ich geh und zieh ihn mir unter die Sachen." Fünf Minuten später waren sie dann alle an der Haustür. Chihiros Mutter wünschte ihnen noch viel Spaß und ermahnte sie, vorsichtig zu sein. Gleichzeitig verstaute sie noch zusätzlich einen dicken Stapel belegter Brote in dem Rucksack ihrer Tochter. Beim herausgehen stießen sie dann fast noch mit Chihiros Vater zusammen, der gerade nach Hause kam. "Wo geht's lang, Ayaka?", wollte Chihiro wissen, als sie auf der Strasse standen. Sie drehte sich zu den beiden anderen um, sah dass Bunzo, der ja im Nachbarhaus wohnte, sie aus seinem Zimmerfenster finster anstarrte und anfing Grimassen zu schneiden, als er bemerkte, dass Chihiro ihn gesehen hatte. "Wir müssen da hinunter.", sagte Ayaka und zeigte auf den riesigen alten Baum, der am Waldrand stand, "Weißt du, da lang, wo wir uns letztes Jahr begegnet sind. Der Bach mündet übrigens in den See." Sie kletterte über die Straßenbegrenzung, um den Abhang hinunter zu steigen. Auf den im letzten Sommer noch leeren Grundstücken linkerhand am Abhang waren jetzt viele Häuser im Bau, von denen vielen schon der Rohbau abgeschlossen war. Der riesige alte Baum durfte nicht abgeholzt werden, um auch dort ein Haus zu bauen, weil er unter Denkmalschutz stand, wie Chihiro erfahren hatte. Er war schon über 2000 Jahre alt und die Leute glaubten, dass Kami in ihm wohnen würden, weshalb an seinem Fuß auch die vielen kleinen Steinhäusschen aufgestellt hatten und die Leute dort öfters etwas den Göttern opferten. Dieser Gedanke machte sie glücklich, weil sie dadurch immer an den lustigen Waldgeist Totoro aus dem Zeichentrickfilm "Tonari no Totoro" von Hayao Miyazaki erinnert wurde, einem ihrer absoluten Lieblingsfilme. Vielleicht wohnte ja ein ähnlicher Geist in diesem Baum. Unten am Waldweg angelang, führte Ayaka sie zielstrebig in den Wald hinein, was in Chihiro ungute Erinnerungen weckte, wie sie mit ihren Eltern letztes Jahr sich hier verfahren hatte, um dann erst nach mehr als zwei Wochen wieder heraus zu kommen. Um kurz nach sechs Uhr Abends, Chihiro und ihre Freunde waren gerade eine viertel Stunde aus dem Haus gegangen, schellte die Türglocke bei den Oginos und Dr. Ito war da. Im Unterschied zu sonst hatte er diesmal keinen weißen Kittel an, sondern trug einen normalen Anzug. Über seine Schulter hatte er eine Tasche gehängt, die offensichtlich einen Laptop enthielt und in der rechten Hand eine Aktentasche. "Kommen sie doch herein, Herr Dr. Ito.", begrüßte ihn Yuuko Ogino freundlich, "Ich habe uns einen Tee gemacht." Sie führte den Arzt in das Wohnzimmer und bat ihn dort Platz zu nehmen. Dr. Ito legte den Laptop auf den Wohnzimmertisch, klappte ihn auf und schaltete ihn ein, während Chihiros Mutter allen einen Tee einschenkte. Vater Ogino saß mit verschränkten Armen in seinem Fernsehsessel, den Doktor skeptisch anblickend. "Was gibt es denn so interessantes, was sie uns erzählen wollen?", fragte er ungeduldig. "Aber Schatz, jetzt lass uns doch erst mal einen Tee trinken.", bremste sie ihn und sagte dann zu Dr. Ito gewandt "Herr Ito, wie geht es ihnen und ihrer Frau denn so?" "O, vielen Dank der Nachfrage. Wir erwarten bald unser zweites Kind?" Er nahm einen Schluck aus seiner Teetasse. "Ich glaube aber, da ihr Mann so neugierig ist, sollte ich besser gleich mit meinen neuen Informationen herausrücken. Der Computer ist ja auch bereits hochgefahren." "Na gut, wenn sie meinen. Ich bin auch schon gespannt auf das was sie herausgefunden haben", gab Yuuko Ogino auch ihre Neugier zu. "Also gut. Wie sie ja wissen, haben wir ihre Tochter allen möglichen und unmöglichen Untersuchungen unterzogen.", begann Dr. Ito seine Ausführungen, "Bis heute ist es uns aber nicht gelungen, eine medizinische Ursache für das Problem ihrer Tochter auszumachen. Körperlich scheint sie, bis auf ihr Untergewicht, in ausgezeichneter Verfassung zu sein. Auch hat sie keinerlei hormonelle Störung, wie etwa einen Mangel an Wachstumshormonen. Daher habe ich mich in den vergangenen Wochen einmal mit der Vergangenheit ihrer Tochter befasst, insbesondere mit der medizinischen und bin da auf einige interessante Zusammenhänge gestoßen. Deshalb hatte ich sie ja auch letzten Monat gebeten, mir noch einmal alle Unterlagen ihrer Tochter über frühere Erkrankungen zur Verfügung zu stellen und insbesondere das aufschlussreiche Heftchen, in dem sie die Entwicklungsphasen des Kindes aufgezeichnet haben. Diese Unterlagen können sie übrigens jetzt gerne zurück haben." Er kramte kurz in seiner Aktentasche und zog einen Stapel Papier hervor, sowie ein leicht zerfleddertes Schulheft. Dann fuhr er fort: "Ich habe zunächst einmal die Wachstumsdaten ihrer Tochter mit denen aus der statistischen Wachstumstabelle für japanische Kinder aus den neunziger Jahren verglichen. Dies hier ist graphische Darstellung der normalen Größenentwicklung in Abhängigkeit vom Alter. Einen Moment bitte." Auf dem Laptop startete er ein Programm, mit dem er dann eine Datei öffnete. In sekundenschnelle baute sich am Bildschirm eine Grafik auf, die ein Achsenkreuz mit einem Gitternetz darstellte, auf dem eine rote Linie erschien. Auf der X-Achse war das Alter in Jahren und auf der Y-Achse die Größe in Zentimetern aufgetragen. "Die ist die normale Wachstumslinie, nach der ihre Tochter sich hätte entwickeln sollen.", führte er aus, "Ich habe sie mit dem Wachstum Chihiros in ihren ersten drei Jahren abgeglichen. Hätte sie sich gemäß dieser Wachstumslinie entwickelt, so wäre sie mir 16 Jahren ausgewachsen gewesen und vermutlich etwa 5 cm größer geworden als sie, verehrte Frau Ogino." Chihiros Eltern starrten gebannt auf das Display des Laptops. Dr. Ito nahm einen weiteren Schluck Tee, beugte sich vor und drückte eine Taste. Daraufhin erschien eine weitere Linie in dem Diagramm, diesmal eine blaue, die teilweise über und teilweise unter der roten Linie verlief. "Dieser blaue Graph stellt das tatsächliche Wachstum Chihiros dar, wie ich es aus ihren Aufzeichnungen rekonstruiert habe.", fuhr er fort, wobei er auf das zerfledderte Schulheft tippte, "Wie sie sehen, sind die beiden Graphen in den ersten drei Jahren deckungsgleich. Hier auf einmal nimmt das Wachstum ihrer Tochter enorm zu und sie gewinnt in den folgenden zwei Jahren fünf Zentimeter gegenüber der statistischen Wachstumslinie. Begleitet wird dieses Wachstum gleichzeitig von einer enormen Gewichtszunahme." "Hm ja, aber was hat das ganze mit dem momentanen Problem Chihiros zu tun?", warf ihre Mutter ein. Vater Ogino nickte. "Warten sie ab, ich kommen gleich darauf. Hier mit fünf Jahren auf einmal bekommt ihre Wachstumskurve einen deutlichen Knick und wird erheblich flacher. Sie verliert den gesamten Wachstumsvorsprung, den sie aufgebaut hatte und gerät bis zum zehnten Lebensjahr um fast zehn Zentimeter in Rückstand gegenüber den anderen Kindern. Interessanterweise bleibt ihr Körpergewicht dabei nahezu konstant. Sie verwandelt sich in diesen fünf Jahren quasi von einem etwas pummeligen großen Kind in ein viel zu kleines und dünnes Mädchen." Akio und Yuuko Ogino blickten einander ratlos an. Unbeirrt machte Dr. Ito weiter, wobei er immer wieder an seinem Tee nippte. "Ich jedenfalls vermute, dass dieser scharfe Bruch in der Entwicklung des Kindes auf das Ereignis zurückzuführen ist, bei dem ihre Tochter damals ins Krankenhaus eingeliefert werden musste und sie beinahe ums Leben gekommen ist. Die Ärzte damals haben ebenso wie ich heute keine körperliche Ursache für den Beinahetod ihrer Tochter gefunden. Deshalb vermute ich, dass es damals wie heute einfach keine körperliche Ursache gab. Die eigentliche Zäsur im Leben des Mädchens vermute ich aber in ihrem dritten Lebensjahr, das Ereignis, dass damals ihren Wachstumsschub verursacht hatte." "Wie kommen sie denn darauf? Unserer Tochter ging es damals prächtig. Ich sehe da keinen Zusammenhang mit ihrem aktuellen Zustand.", argumentierte Chihiros Vater eifrig, "Ich könnte mir eher vorstellen, dass das, was damals ihren Zusammenbruch im Kindergarten ausgelöst hat, auch für das jetzige Problem verantwortlich ist. Finden sie lieber einen Zusammenhang zwischen den damaligen Untersuchungsergebnissen und den heutigen. So kommen wir der Sache bestimmt auf die Spur." Yuuko Ogino schenkte derweil dem Arzt eine weitere Tasse Tee ein. "O, vielen Dank. Gemach, gemach, Herr Ogino. Es gibt da nämlich noch etwas anderes, was ich in ihren Aufzeichnungen entdeckt habe, was mich vermuten lässt, dass es doch mit dem dritten Lebensjahr zu tun hat." Dr. Ito lächelte und nahm einen weiten schluck Tee. "Und das wäre?", fragte Yuuko Ogino mit erwachender Neugier. Sie hatte die bisherigen Ausführungen des Arztes zwar interessant, aber wenig aufschlussreich gefunden. "Nun, das ist auch der eigentliche Grund, weshalb ich zu ihnen gekommen bin. Ich wollte sicher gehen, dass es sich nicht um einen Fehler, beziehungsweise eine Unterlassung in ihren Aufzeichnungen handelt.", setzte Dr. Ito jetzt an, "Wann ist Chihiro das letzte mal krank gewesen?" Chihiros Mutter war jetzt Baff und glotzte den Arzt ungläubig an. "Wie, was? Sie sind zu uns gekommen um uns das zu fragen? Sie ist doch gerade jetzt Krank und Masern und Röteln hat sie auch gehabt! Das steht doch in dem Heft alles drin!" "Nein, bitte überlegen sie. Die Frage war durchaus ernst gemeint. Ich werte einmal Chihiros Zusammenbruch im Kindergarten damals und ihren jetzigen Zustand nicht als Krankheit, da wir keinerlei organische Ursache gefunden haben.", hakte Dr. Ito eindringlich nach, "Aus ihrem Heft geht hervor, dass Chihiro verschiedene Kinderkrankheiten hatte, darunter auch Masern und Röteln. Sie haben auch minutiös jede Erkältung des Kindes aufgezeichnet, jedes Bauchweh und jeden Durchfall. Aber die Aufzeichnungen enden mit dem 26.6.1993, an dem sie Husten und Halsweh hatte. Danach gibt es noch einen Eintrag etwa ein Jahre später, wo sie sich an der Hand verbrannt hat, aber das ist ja auch kein Krankheit im eigentlichen Sinne, sondern eine Verletzung. Deshalb frage ich sie, haben sie nur aufgehört, Chihiros Erkrankungen aufzuschreiben oder ist sie einfach nicht mehr krank gewesen?" Akio Ogino blickte Dr. Ito nachdenklich an, während Yuuko mit einem Seufzer auf dem Sofa neben dem Arzt zurücksank und die Stirn kraus zog. "Nein, wir haben nicht aufgehört, es aufzuschreiben.", sagte sie schließlich, nach einigen Minuten des Nachdenkens, "Chihiro ist einfach nicht mehr krank gewesen, seit 8 Jahren. Nichts, gar nichts. Ich kann mich erinnern, vor zwei Jahren, da gab es in der Schule einen Nachtisch, der mit Salmonellen verseucht war. Alle, die davon gegessen hatte, mussten mit Durchfall und Magenbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert werden, alle außer Chihiro. Damals hielt ich es für einen Zufall, aber jetzt, nachdem sie mich darauf aufmerksam gemacht haben, glaube ich es nicht mehr." "Ich hatte das bereits vermutet, aber ich musste sicher gehen, dass es sich nicht um einen Fehler in den Aufzeichnungen handelte.", meinte Dr. Ito und fragte dann weiter: "Wie war das eigentlich mit der Verbrennung an ihrer Hand. Ich meine, immerhin war es ihnen wichtig genug, dass sie es notiert hatten." "O, das. Das war nicht so schlimm, wie es zunächst schien.", erinnerte sich Yuuko Ogino, "Sie hatte mit ihrer rechten Hand auf die glühende Herdplatte gepatscht. Die Hans sah schlimm aus, im ersten Moment. Die ganze Handfläche war offen und die Wundränder schwarz, aber Chihiro hat nicht einmal geweint. Wir sind dann sofort zum Arzt mit ihr. Der hat dann die Hand verbunden und uns ins Krankenhaus geschickt. Aber die haben gesagt, dass es nicht ganz so schlimm wäre und die Hand erneut verbunden. Am übernächsten Tag, war dann alles verheilt und die Hand sah aus, wie vorher." Jetzt zog Dr. Ito die Stirn kraus. "Was musstest du Chihiro auch auf die Arbeitsplatte neben dem Herd setzten.", ärgerte sich Akio Ogino, der an die ganze Aufregung damals zurückdachte, "Das war unverantwortlich von dir." "Schatz, es ist doch damals nicht schlimmes passiert.", verteidigte sich Yuuko, wobei sie ziemlich zerknirscht aussah, "Es ist außerdem schon soo lange her." "Ich finde, Schuldzuweisungen bringen uns im Moment nicht weiter.", unterbrach sie Dr. Ito, "So wie sie das beschrieben haben, hatte ihre Tochter also eine Verbrennung dritten Grades. Nach ihren Aussage ist das in nur zwei Tagen verheilt, obwohl es hätte Monate dauern und Narben zurücklassen müssen. Die ganze Sache wird ja immer interessanter!" "Naja, wenn ich mich so recht entsinne, hat keine Verletzung bei Chihiro länger zum Verheilen benötigt, als zwei Tage.", erzählte Chihiros Mutter weiter, "Sie ist, äh, war bis letztes Jahr ziemlich tollpatschig, ist andauernd hingefallen, hat sich die Haut aufgeschürft, hat sich öfters mal geschnitten oder gepiekt und hat ziemlich viele blaue Flecken gehabt. Aber immer sind ihre Verletzungen in weniger als zwei Tagen verheilt, meistens in weniger als einem. Ich habe mich nie darüber gewundert, aber jetzt, wo sie mich darauf aufmerksam machen, ist es doch merkwürdig." "Also gut. Lassen sie mich einmal zusammenfassen.", resümierte Dr. Ito, "Ihre Tochter ist in der Lage, mehr als 10000 Kilokalorien am Tag umzusetzen. Ich wundere mich schon die ganze Zeit, wie sie es überhaupt schafft, diese Nahrungsmenge zu sich zu nehmen, geschweige denn sie zu verdauen. Sie widersteht jeder Infektionskrankheit und Verletzungen heilen bei ihr in weniger als zwei Tagen, ohne Narben zu bilden. Herr und Frau Ogino, ich muss schon sagen, Chihiro ist ein medizinisches Phänomen! Zumindest, wenn das stimmt, was sie sagen." "Trotzdem verstehe ich immer noch nicht, was das alles zu bedeuten hat.", warf Akio Ogino ein. "Das weiß ich ja selber nicht und ich bin hier bei ihnen, um zu versuchen ein wenig mehr Licht in diese ganze Sache zu bringen." Dr. Ito nahm noch einen Schluck Tee. "Schauen sie, das Leben ihrer Tochter lässt sich ganz klar in zwei Abschnitte einteilen. Einen Abschnitt, in dem die Entwicklung des Mädchens völlig normal verläuft und einen Abschnitt, der durch Wachstumsanomalien mit zwei beinahe tödliche Zusammenbrüchen gekennzeichnet ist, durch eine offensichtlich Resistenz des Kindes gegen jegliche Krankheit und ein außergewöhnliches Wundheilungsvermögen. Irgendwann um ihren dritten Geburtstag herum muss etwas mit ihr passiert sein. Bitte versuchen sie sich zu erinnern, Herr und Frau Ogino." "Um ihren dritten Geburtstag, meinen sie?", überlegte Chihiros Mutter, "Das einzige, woran ich mich da erinnern kann, aber ich glaube kaum, dass es etwas zu bedeuten hat, ist dass sie in einen Fluss gefallen ist und ihren Schuh verloren hat." "Yuuko, davon hast du mir ja gar nichts erzählt.", meinte Akio Ogino überrascht. "Na ja, ich wollte dich nicht beunruhigen und du hattest damals ja mit der Projektüberwachung am Kohakugawa genug zu tun.", erzählte Yuuko Ogino weiter, "Wissen sie, Herr Dr. Ito, es fand damals eine Ortsbesichtigung für ein Siedlungsprojekt an diesem Fluss statt und weil die Gegend so schön war und das Wetter so gut, hatte mein Mann mich und Chihiro mitgenommen, um das ganze mit einem Picknick zu beschließen. Auf einmal war Chihiro fort und ich habe sie gesucht. Einige hundert Meter flussabwärts habe ich sie nach einer Viertelstunde fröhlich im flachen Wasser am Ufer planschend gefunden. Der rechte Schuh war futsch und außerdem hatte ich deswegen einen gehörigen Schrecken deswegen. Ach ja, sie brabbelte irgendetwas von einem weißen Drachen. Zwei Jahre später, wurde der Fluss dann trockengelegt und zugeschüttet, um dort Apartmenthäuser zu bauen." "Das scheint ja wirklich nichts mit der Sache zu tun zu haben. Aber Moment einmal, hatten sie nicht letztes Jahr gesagt, dass sie so viel zu tun hatten, gerade, als es Chihiro so schlecht ging?", fiel Dr. Ito ein und er begann in seiner Aktentasche zu Kramen, "Ah, hier haben wir es ja. Laut den Aussagen der Kindergärtnerin bekam Chihiro am 24.07.1995 gegen 10:30 einen Anfall, wegen dem sie ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Sie sagten letztes Jahr Herr Ogino, wie ich mich erinnere, dass sie nur wenig Zeit hatten, um sich um ihre Tochter zu kümmern, da sie zu der Zeit die Baumassnahmen an einem Fluss überwachen mussten. Aus dem Zusammenhang kann ich jetzt nur schließen, dass es er Kohakugawa gewesen sein muss, der Fluss, in den ihre Tochter zwei Jahre zuvor gefallen ist." Chihiros Vater war bei dieser Feststellung aufgesprungen und zu seinem Schreibtisch gelaufen. Er kramte eine Weile lang in alten Dokumenten bis er fündig geworden war. "Das ist es.", sagte er triumphierend, "Am 24.07.1995 wurde damit begonnen, den Kohakugawa trocken zu legen. Um genau 10:30 Uhr wurde seine Quelle gesprengt!" Als Akio Ogino klar wurde, was er da gesagt hatte, war es, als hätte man die Luft aus ihm heraus gelassen. Er sank quasi in sich zusammen. "Moment einmal, sie wollen doch nicht etwas sagen....", hauchte er und begann hektisch in seinen Unterlagen zu wühlen. "Das kann doch überhaupt nicht sein. Am 11.08.1995 wurde er der letzte Zufluss des Kohakugawa umgeleitet und am folgenden Montag, wurde damit begonnen, das Flussbett zuzuschütten." Bleich ließ er sich in seinen Sessel plumpsen. "Laut den Aufzeichnungen musste Chihiro in der Nacht zu 12.08.1995 zweimal wiederbelebt werden. Ich finde die Koinzidenz der Ereignisse höchst interessant, höchst interessant.", philosophierte Dr. Ito, "Wenn ich einmal zusammenfassen darf, so ist folgendes geschehen: ihre ist Tochter am 16.7.1993 in den Kohakugawa gefallen, wo sie dem Flussgott in Gestalt eines weißen Drachen begegnet ist. Erinnern sie sich an die Hypnose durch die Kinderpsychologin letztes Jahr. Chihiro hat auch hier wieder von einem weißen Drachen erzählt. Dieser hat irgendetwas mit ihrer Tochter angestellt. Danach wurde sie aus dem Fluss mit zusätzlicher Lebensenergie versorgt so dass sie anfing, stark zu wachsen und an Gewicht zuzulegen. Als der Fluss trockengelegt und zugeschüttet wurde, versiegte diese Quelle plötzlich und sie wurde stark in Mitleidenschaft gezogen. Danach begann der Flussgott irgendwie seine Lebenskraft aus ihrer Tochter zu beziehen und hat so für den hohen Kalorienverbrauch gesorgt." "Das kann doch wohl nicht ihr Ernst sein?", wunderte sich Akio Ogino leicht verstört, "So einen Unsinn habe ich ja lange nicht mehr gehört!" "Nein, sie haben vollkommen Recht.", stimmte ihm Dr. Ito zu, "Dass ist nur die Schlussfolgerung, die man ziehen müsste, wenn man ein schintoistischer Priester währe und an die japanische Mythologie glaubt. Selbstverständlich würde eine solche Theorie niemals einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten. Ich bin völlig sicher, dass es eine vollkommen andere Erklärung für Chihiros Probleme gibt." Chihiros Vater hatte dies wieder beruhigt und Dr. Ito sprach noch mehr als eine Stunde mit den Oginos über mögliche medizinische Implikationen und über den bevorstehenden Prozess gegen die Krankenkasse, bevor sie ihn an der Haustür verabschiedeten. "Schau mal, Chihiro, dieser komische Stein da im Wald.", rief Ayaka übermütig, sprang in die Büsche und kletterte auf den mit einem grinsenden, doppelten Gesicht behauenen und mit Moos bewachsenen Felsen, wobei sie die Mundöffnung als Stufe verwendete, "Ich wüsste nur zu gerne, was das bedeuten soll?" Sie nahm ihren Ball und begann ihn auf dem Fuß zu jonglieren, während sie mit dem anderen Bein auf der Spitze des Felsens balancierte. "Ayaka, du wirst noch herunterfallen und dir die Haxen brechen." Chihiro blickte sich kurz zu Ichiyo um, der sie mittlerweile eingeholt hatte, aber völlig verschwitzt war, weil er zusätzlich zu seinem eigenen Schulranzen noch Ayakas trug und Chihiros Rucksack mit dem ganzen Essen. Dazu kam noch, dass die Temperaturen um die 30° C lagen und es wie immer in dieser Jahreszeit ziemlich schwül war. Er tat ihr leid. "Ichiyo, komm mal.", sagte sie laut und vernehmlich, "Ich finde es ja furchtbar lieb von dir, dass du unsere Sachen tragen wolltest, aber alles ist auch für dich zu schwer. Wenn du mir meinen schweren Rucksack trägst, dann nehme ich deinen Ranzen." Ichiyo blickte sie überrasch an, sagte aber nichts. Es war eine umständliche Prozedur, ihm seinen Schulranzen abzunehmen, denn zunächst musste er Chihiros Rucksack ablegen und dann Ayakas Ranzen herunter nehmen, den er vor dem Bauch trug, bevor er dann seinen eigenen herunternehmen konnte. Nachdem sich Chihiro seinen Ranzen auf den Rücken geschnallt hatte, machte sich Ichiyo umständlich wieder daran, zuerst Chihiros schweren Rucksack auf den Rücken zu wuchten und dann Ayakas Ranzen wieder vor den Bauch zu schnallen. Ayaka ihrerseits hatte von ihrem erhöhten Standpunkt aus verwundert die Szene beobachtet und aufgehört, mit ihrem Ball herumzuspielen. Als sie sah, wie Ichiyo mühsam versuchte, sich ihren Ranzen wieder vor den Bauch zu schnallen, sprang sie von dem Stein herunter, lief zu dem Jungen herüber. Sie nahm ihm ihren Ranzen ab und gab ihm einen Bussi auf die Wange, woraufhin er sofort wieder rot anlief. "Los jetzt, wir sind bald da.", sagte sie bestimmt und begann energisch dem Weg durch den Wald weiter zu folgen. Wenige Minuten später erreichten sie ein großes, mit bröckeligem rotem Putz bedecktes Gebäude, in das ein Tunnel hinein führte, der von einem weiteren Stein bewacht wurde, in den vorne und hinten ebenfalls ein grinsendes Gesicht eingemeißelt war. Chihiro wurde langsamer und langsamer. Ayaka marschierte straks in den Tunnel und Ichiyo trottete hinter ihr her. Die ganze Situation kam ihr irgendwie schrecklich vertraut vor. Direkt vor dem Stein blieb sie dann stehen, blickte sich um und starrte dann auf den Stein. Hier war sie schon einmal gewesen, letztes Jahr mit ihren Eltern, begann sie sich zu erinnern. Dann waren sie in den Tunnel gegangen und erst zweieinhalb Wochen später wieder heraus gekommen. "Chihiro, jetzt komm schon.", klang Ayakas Stimme hohl aus dem Tunnel, "Nur noch durch den Tunnel und dann sind wir auch fast da." Vorsichtig, mit einem flauen Gefühl in der Magengrube kam Chihiro um den Stein herum, stellte sich vor den Tunneleingang und sah hinein. Düster war am anderen Ende der Ausgang zu sehen, schemenhaft die Umrisse von Ayaka und Ichiyo, wie sie weiter durch den Tunnel gingen. Ein kühler und feuchter Lufthauch kam aus der dunklen Öffnung und leise waren die Schritte ihrer Freunde in der fast vollkommenen Stille zu hören. "Na los Chihiro, wir warten hier auf dich.", hörte sie Ayaka dumpf aus dem Tunnel rufen, als sie und Ichiyo die andere Seite erreicht hatten. "Genau, Chihiro, ist ganz ungefährlich. Ist einfach nur ein Tunnel.", ergänzte der Junge. Sie fasste sich ein Herz, obwohl das flaue Gefühl immer stärker wurde. Sie sollte da nicht hineingehen. Trotzdem machte sie noch einen Schritt in Richtung des Tunnels, so dass sie jetzt genau in der Öffnung stand, als plötzlich ein starker Luftsog begann sie hineinzuziehen. Ihr Herz schien auszusetzen und eine unbestimmte Furcht beschlich ihre Gliedmassen. Sie wollte jetzt nicht alleine sein, sondern bei Ayaka und Ichiyo, also begann sie in den Tunnel hinein zu rennen. Der Tunnel war vielleicht 50m lang und als sie das Ende erreichte, war von ihren Freunden keine Spur zu sehen. Von dem kurzen Lauf war ihr allerdings wieder ganz elend und schwummerig zumute, weswegen sie sich erst einmal mit den Händen auf die Knie stützte, um durchzuschnaufen. Danach erst begann sie sich umzuschauen, was ein unheimliches Gefühl des Deja-vu in ihr hervorrief. Sie war hier schon einmal gewesen, erinnerte sie sich dann auf einmal, letztes Jahr mit ihren Eltern. Verwundert sah sie sich in dem Raum um, der wie ein verlassener Wartesaal eines Bahnhofes aussah, von farbigen Licht aus mehreren bunt verglasten, bullaugenartigen Fenstern erleuchtet. Sich einmal um die eigene Achse drehend, sah sie, dass an der Rückseite des Raumes drei Tunnelöffnungen mündeten und dass sie durch die linke Tunnelöffnung gekommen war. Schräg rechts von ihr, in der Mitte der gegenüberliegenden Wand, vorbei an mehreren Säulen und einem kleinen tropfenden Trinkbrunnen, war der Ausgang, durch den helles und freundliches Sonnenlicht hereinschien. "Ayaka, Ichiyo, wo seit ihr?", rief sie, "Jetzt seit doch nicht so gemein." Niemand antwortete. Sie ging zu den anderen Tunnelöffnungen und sah nach, ob sich die beiden dort versteckt hätten. Jeder der Tunnel sah gleich aus und am anderen Ende war jeweils der Ausgang zu erkennen, aber keine Ayaka und kein Ichiyo. Die beiden mussten nach draußen gegangen sein. Sie ging zum Ausgang, um die beiden zu suchen. Draußen angekommen, stellte sie fest, dass sie auch hier schon einmal gewesen war. Es schien so, als würde die Erinnerung immer nur so weit wiederkommen, wie sie weiterging. Die hügelige Landschaft, von hohem Gras bedeckt durch das ein sanfter Wind strich, war genau so, wie letztes Jahr, als sie mit ihren Elter hier gewesen ist. Überall standen merkwürdig behauene Steine herum und in der Ferne waren einige verfallene Gebäude zu erkennen. Ayaka und Ichiyo jedoch waren nirgends zu sehen. Hatte Ayaka nicht gesagt, der See würde im Wald liegen. Hier gab es jedoch keinen Wald und auch keinen See, so weit sie sehen konnte und sie wusste irgendwie auch, dass da keiner war. Chihiro entfernte sich etwas von dem roten Gebäude und noch ehe sie sich noch umdrehte wusste sie, dass sich über dem Eingang eine große Uhr und oben auf dem Dach ein kleiner Turm mit vier Uhren befand, eine in jeder Himmelsrichtung. "Ichiyo, Ayaka, wo seid ihr denn nur?", rief sie mit beginnender Verzweiflung. Vielleicht waren sie ja neben dem Gebäude. Sie begann um das bahnhofsartige Gebäude herumzugehen, um dann verdutzt festzustellen, das das Haus sich höchstens 20m in der Tiefe erstreckte, eben genauso groß, wie der Wartesaal. An der Hinterseite des Gebäudes angekommen fragte sie sich verwirrt, wo denn eigentlich die drei Tunnel verliefen, die in den Wartesaal im inneren mündeten. Die Rückwand des Gebäudes war einfach glatt verputzt, ohne Fenster und oder sonstige Öffnungen darin. "Das kann doch gar nicht sein!", murmelte sie zu sich selber, an ihrem Verstand zweifelnd, "Wo bin ich denn hier durch gekommen?" Auch hinter dem Gebäude erstreckten sich weitere Wiesen und waren noch andere verlassene Häuser zu sehen. In der Ferne gab es einige kleinere Waldstücke, die aber eher große Büsche waren, als ein richtiger Wald, wie der, durch den sie hierher gelangt war. Die ganze Sache wurde Chihiro immer unheimlicher, trotz der herrlichen Landschaft und des wunderbaren Wetters. Nachdem sie das Gebäude vollständig umrundet hatte, ging sie ohne umschweife sofort wieder in den Wartesaal zurück, in den jetzt von ihr aus rechten Tunnel, bis sie an dem doppelgesichtigen Grinsestein am anderen Ende wieder im Wald heraus kam. Auch hier waren kein Ichiyo und keine Ayaka zu sehen. Sie wartete ein paar Minuten und je länger sie wartete, umso mehr erschien ihr das eben Erlebte wie ein Traum. Auf einmal hallte Ichiyos Stimme aus dem Tunnel: "Chiiiihirooooo, Chiiiiihirooooo, woo biiiiist duuuuu." Etwas ärgerlich, weil die beiden sich offenbar vor ihr versteckt hatten, rief Chihiro in den Tunnel: "Ich bin hier! Ich komme jetzt zu euch und wehe, ihr bleibt nicht da, wo ihr seid." Entschlossen betrat sie wieder den Tunnel, um die beiden schemenhaft am anderen Ende auszumachenden Gestalten zu erreichen. In dem Moment, als sie die Tunnelöffnung durchschritt, setzte wieder dieser merkwürdige Luftsog ein und kurz hatte sie den Eindruck, als würde die gegenüber liegende Tunnelöffnung verschwimmen. Danach waren Ayaka und Ichiyo nicht mehr zu sehen. "Na wartet. Euch werde ich es noch zurückzahlen!" Chihiro war jetzt richtig sauer und vergaß sogar ihr mulmiges Gefühl. Energisch schritt sie durch den Tunnel hindurch, bis in den Wartesaal. Hier war wie erwartet keine Spur von den beiden anderen zu sehen. Erstaunt stellte sie allerdings fest, dass jetzt kein Sonnenlicht mehr durch den Ausgang direkt ihr gegenüber hereinschien. Der Ausgang lag jetzt im Schatten und draußen herrschte eine Stimmung wie kurz vor Sonnenuntergang. Dann stutze sie. Der Ausgang war ihr direkt gegenüber? Sie wirbelte herum, um festzustellen, dass sie genau vor dem mittleren der drei Tunnel in der Rückwand des Wartesaals stand. War sie vorhin nicht durch den linken Tunnel gekommen. Und im letzten Jahr mit ihren Eltern durch den rechten Tunnel? Hier stimmte irgendetwas nicht und ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken herunter. Sie musste weg von hier! Sofort! Mit einem lauten "Uaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah" rannte sie durch den Tunnel zurück, einer ziemlich erstaunten Ayaka direkt in die Arme. "Mensch Chihiro, wo bist du denn nur gewesen. Wir haben stundenlang nach dir gesucht." Ayaka schüttelte Chihiro zuerst, bevor sie Chihiro dann in die Arme nahm und mit Tränen in den Augen feste an sich drückte. Ichiyo, der sich mit unglücklicher Mine gegen den Steinkopf gelehnt hatte, blickte erleichtert auf, nahm Chihiros Rucksack vom Rücken, um vorsorglich eine Packung Kekse heraus zu holen. Chihiro ihrerseits verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte Ayaka denn hier sein, wenn sie Chihiro gerade vorher noch von der anderen Seite des Tunnels zugerufen hatte. Sie hätten sich doch im Tunnel begegnen müssen. Oder waren sie außen herum gelaufen. Aber das ging doch gar nicht. Oder waren sie durch einen der anderen Tunnel gegangen und wo führten die überhaupt hin? Wieso war hinter dem roten Gebäude kein Wald gewesen? Das war doch alles völlig unmöglich. Jetzt bemerkte sie, dass es bereits zu Dämmern begonnen hatte, also musste es schon nach neun Uhr am Abend sein. "Ayaka, Ichiyo, es tut mir leid, ich weit auch nicht, was genau passiert ist.", schniefte sie dann, "Da war dieser Wartesaal und ihr wart nicht da. Und dann habe ich euch gesucht. Und..." Die ganze Geschichte quoll unter Tränen aus ihr heraus, ungläubig von den beiden anderen aufgenommen. Schließlich, nachdem Chihiro einige Kekse gegessen hatte, die Ichiyo ihr hinhielt, machten sie sich gemeinsam schweigend auf den Rückweg. Zu Hause angekommen, konnte sich Chihiro kaum noch an das erinnern, was geschehen war. Sie ließ sich deshalb ihre eigene Geschichte von den konsternierten Freunden noch einmal erzählen und es war, als würde jemand einen Wattebausch entfernen, der sich um ihr Gehirn gelegt hatte. Auf einmal wurden ihre Erinnerungen wieder klar und deutlich. Ayaka und Ichiyo holten noch ihre Schulsachen ab, bevor sie sich gemeinsam verabschiedeten. Yuuko Oginos Frage, ob sie denn auch alle viel Spaß beim Schwimmen gehabt hatten, bejahten sie energisch und gingen dann nach Hause. Chihiro selbst verbrachte den Rest des Abends damit, mit Buntstiften Bilder von den Orten zu malen, die sie gesehen hatte, von dem Wartesaal, dem Grinsestein, den verlassenen Gebäuden, den hügeligen Wiesen, der Turmuhr und vielem mehr. Kapitel 10: Wasser ------------------ Hallo zusammen, in der letzten Zeit war ich schwer beschäftigt, so dass ich irgendwie keine Zeit und Lust zum schreiben hatte. Endlich habe ich das neue Haku Kapitel nun fertiggestellt und bin schon mit dem nächsten Kapitel dran. Pazu Wasser Die Inspektion durch Yubaba am darauffolgenden Tag war für alle die reinste Tortur. Die alte Hexe zeigte sich mit allem und jedem unzufrieden, insbesondere jedoch mit dem Zustand der Tunnelverschalungen. Bei jeder Kleinigkeit, die sie entdeckte, überschüttete sie Torooru mit einem Schwall an Vorwürfen, darüber dass er so schlampig gearbeitet habe. Als sie endlich gehen wollte und in Richtung des Aufzuges steuerte, bemerkte sie das erste mal die Kiste, die dort stand. "Und was ist da drin?", schnauzte Yubaaba. "Da Drän?", beeilte Torooru sich, "Das äst dä Kästä von Hako" Er humpelte mit seinem gebrochenem Bein etwas näher. "Ah, das ist also besagte Kiste. Passt er da wirklich rein?" Sie wirkte mit einem mal wesentlich selbstzufriedener und freundlicher. "Komm doch mal her, Torooru, und schließ die Kiste auf, ich möchte meinem Lehrling doch einmal guten Tag sagen." Mühsam kam der Troll näher, sich schwer auf seine Krücken stützend. Den Schlüsselbund hatte er an der Krücke befestigt, so dass er keine Probleme hatte, an den Schlüssel heran zu kommen, wie wenn er den Bund an der Schnur seines Lendenschurzes befestigt hatte. Trotzdem währe er fast gestürzt, als er das Schloss der Kiste öffnete. Nachdem der Troll den Deckel hochgeklappt hatte, wurde Haku in der Kiste sichtbar. Er hatte sich so gut sauber gemacht, wie es nur irgendwie ging und stand dann, seine protestierenden Muskeln ignorierend, scheinbar federleicht auf, um sich vor Yubaba zu verbeugen. "Guten Tag, verehrte Meisterin.", begrüßte er sie formvollendet, "Habt ihr einen anstrengenden Tag gehabt?" Yubabas Mine verfinsterte sich auf der Stelle. "Na, dir scheint es ja gut zu gehen, hier unten.", meinte sie in sarkastischem Tonfall, "Und du bist dir sicher, dass er keine Extrarationen bekommt und immer in der Kiste ist, wenn er nicht gebraucht wird, Torooru?!?" Torooru beeilte sich zu nicken. "Är, är bäkommt nä nächts äxtra.", stammelte er, "Abär är hat ons allä gärättät." "Hmm, er scheint irgendwie ein Faible dafür zu haben, Leute zu retten.", grummelte die Hexe, "Schade dass ich es erst so spät entdeckt habe." Sie wandte sich wieder Torooru zu. "Wie dem auch sei, ich bin sehr unzufrieden mit dem Zustand des Bergwerkes hier unten und ich denke, ich muss weitere Maßnahmen ergreifen, um die Disziplin hier wieder zu erhöhen." Dabei blickte sie drohend im Kreis herum. "Verzeihen sie bitte, Meisterin, aber liegt es nicht an dem schlechten Material und den wenigen Nahrungsmitteln die wir hier haben, dass der Zustand des Bergwerkes so schlecht ist?", warf Haku vorwurfsvoll unter den erschrockenen Blicken der Froschmänner und Toroorus ein. Yubaba drehte sich gefährlich langsam zu ihm hin, trat einen Schritt auf ihn zu und starrte ihn dann unverwandt an. "So, so. Der kleine Lehrling meint also seine Meisterin belehren zu müssen.", zischte sie ihn an und sagte dann in die Runde: "Ich werde euch besseres Material liefern, aber damit ihr auch einen kleinen Anreiz habt, den Saustall hier in Ordnung zu bringen, werde ich die Wasserration von vier Fässern pro Woche auf drei Fässer kürzen, bis Torooru mir Vollzug gemeldet und ich die Verbesserungen abgenommen habe. Bedankt euch bei Haku dafür." Damit rauschte sie in den Aufzug, betätigte den Hebel und entschwand nach oben. Torooru schaute Haku mit finsterer Mine an. "Do konntäst wohl dä Schnaozä näch haltä, hä?", fuhr er ihn an, "Äch hattä sä schon so wäät, dass sä ons näoä Wärkzäogä on Baomatäräal gäbt, om das Bärgwärk zo ärhaltä. Abär do mosstäs däch ja wädär aofspälä." Damit wandte sich der Troll ab, humpelte zu den Froscharbeitern hinüber und erteilte ihnen Anweisungen. Haku ließ sich auf seine Kiste sinken. Vor sich hin starrend dachte er verzweifelt daran, dass er durch seine Unbeherrschtheit das Leid der Frösche noch weiter erhöht hatte. Mit nur drei Fässern pro Woche würden sie nicht lange durchhalten können. Auch wenn ihm mittlerweile egal war, was mit ihm selbst geschah und er so jegliche Angst vor Yubaba verloren hatte, so bedeutete das nicht, dass er keine Verantwortung für seine Leidensgenossen hatte, die ja nichts dafür konnten, dass er Streit mit der Hexe hatte. War er nicht ein Gott, ein Wächtergott eines Flusses mit der Aufgabe den Fluss, seine Bewohner und alle Tiere und Personen die zu ihm hinkamen zu beschützen? Wie konnte er sich nur so vergessen und seinen dummen Streit mit Yubaba auf dem Rücken der anderen austragen? Aber was war er doch auch für ein toller Flussgott, ein Flussgott der seinen Fluss verloren hatte, der letztendlich nicht imstande gewesen war, ihn zu erhalten und zu beschützen. Er war einfach zu gar nichts nütze! Torooru hatte wahrscheinlich Recht, als er ich gleich am ersten Tag töten wollte, denn er kannte die Situation hier unten seit vielen, vielen Jahren und wusste, wie man das Leiden für alle reduzieren konnte. Es machte einfach keinen Sinn, sich Yubaba widersetzen zu wollen, sie saß nun einmal am längeren Hebel. Wie würde er in Zukunft reagieren, wenn er sich wieder mit einem Problem oder der Hexe konfrontiert sehen würde. Würde er wieder irgendetwas unbeherrschtes oder dummes oder unnützes tun? Das durfte nie wieder passieren! Aber was konnte er jetzt noch tun, wie konnte er Yubaba besänftigen? Am einfachsten wäre es, er würde das tun, was Yubaba von ihm erwartete, nämlich sterben. Wenn er tot wäre, hätte sie erreicht was sie wollte und könnte die Wasserrationen wieder erhöhen, ohne ihr Gesicht zu verlieren, und er würde keine Dummheiten mehr machen können. Es wäre so einfach. Er brauchte in einen der verlassenen Seitenstollen zu gehen, immer weiter, bis ihn schließlich eine der Felsanemonen erwischen würde. Vermissen würde ihn ohnehin niemand. Und wenn sie ihn aufgefressen hatte, könnte auch niemand seinen Körper in die Grube, Yubabas Seelenfalle werfen. Zumindest seine Seele währe dann frei. Langsam stand er auf, begann durch die hin und her laufenden Froschmänner, die damit beschäftigt waren, weiter aufzuräumen, in Richtung des Tunnels zu gehen. Niemand beachtete ihn, auch nicht Torooru, der am Aufzug wartete, um die erste Ladung neuer Baumaterialien von oben zu empfangen. Nachdem Haku hundert Meter den Gleisen durch den Haupttunnel gefolgt war, nahm er den ersten Seitenstollen, der nach links abging und begann ihm zu folgen. Einige hundert Meter weiter wurde das Restlicht, dass aus dem Haupttunnel noch hierher drang, so gering, dass er trotz seiner ausgezeichneten Augen nichts mehr richtig erkennen konnte. Deshalb nahm er sich das Halsband ab und begann seine Umgebung mit seinen magischen Sinnen wahrzunehmen. Mit grimmiger Ironie fiel ihm ein, dass er noch gestern sich durch das eigenhändige Abnehmen des Halsbandes seinem Leben viel schneller ein Ende hätte setzen können. Obwohl es für ihn hier bereits zu dunkel wurde, um etwas zu erkennen, war es immer noch zu hell für Felsanemonen. Er musste also noch weiter gehen. Etwa einen halben Kilometer weiter und um einige Biegungen des Tunnels später, wurde es so dunkel, dass er überhaupt kein Licht mehr wahrnehmen konnte. Nachdem er um eine weitere Biegung gegangen war, spürte Haku auf einmal, dass irgendetwas vor ihm war, dass sich wie ein Vorhang aus feinen Fäden anfühlte. Es war vielleicht noch zehn Meter von ihm entfernt. Dort musste eine Felsanemone lauern. Er blieb noch einmal stehen, um sich zu sammeln. Nicht ein Geräusch drang an seine Ohren, er hörte lediglich das Blut mit jedem Herzschlag durch seine Ohren pulsieren und wunderte sich, dass er so ruhig blieb. In sich fühlte er keine Angst, sondern nur eine tiefe Traurigkeit. Traurigkeit darüber, dass Yubaba jetzt ihren Willen bekommen würde und dass er das Versprechen Chihiro gegenüber nicht würde halten können. Wie gerne hätte er sie noch einmal berührt, ihren menschlichen Geruch eingeatmet, den die anderen alle so unangenehm fanden, ihr noch einmal in die Augen geschaut und sich an ihrem Lachen erfreut. Als er fühlte, wie eine einzelne Träne die Wange herunterrann, gab er sich einen Ruck und begann langsam weiter zu gehen. Noch fünf Meter, jetzt noch drei Meter bis zu den Nesselhaaren der Felsanemone, dachte er, wie in Trance weitergehend, gleich ist es vorbei. Er wappnete sich gegen die Schmerzen, wenn die Nesselfäden ihr Gift in seinen Körper hinein entladen würden, wie Torooru es ihm beschrieben hatte. Aber er machte sich deswegen keine Sorgen, denn nichts würde jemals die Agonie übertreffen können, die er verspürt hatte, als die Menschen seinen Fluss trockengelegt und zugeschüttet hatten. In dem Moment, in dem er glaubte, nur die Arme ausstrecken zu müssen, um die Nesselfäden berühren zu können, stieß er plötzlich mit dem Fuß gegen etwas weiches, haariges, das mit einem lauten Quieken von ihm wegrannte, direkt in den Nesselvorhang der Felsanemone hinein. Das Wesen, was auch immer es gewesen sein mochte, verfing sich darin und wurde unter weiterem lauten Gequieke von der Felsanemone nach oben gezogen, wo es kurz darauf verstummte. Wie vom Donner gerührt blieb Haku stehen, dehnte seine magischen Sinne weiter aus und begann die Umgebung genauer zu Untersuchen. Er konnte das Pulsieren der Felsanemone in einer Höhlung in der Decke über ihm spüren, während sie das Lebewesen verdaute, nahm aber noch weitere solcher Wesen war, die in einiger Entfernung hin und her huschten. Er hatte sich so sehr auf die Felsanemone konzentriert, dass er diese gar nicht bemerkt hatte. Sie waren klein, vielleicht so groß wie eine Ratte, besaßen aber sechs Beine, hatten keine Augen, dafür aber riesige Ohren und einen überlangen Schwanz. Das Wesen, das die Anemone nun gerade vertilgte, hatte wohl nicht gewusst, was gefährlicher war, er oder die Felsanemone und sich regungslos auf den Boden gekauert, bis er dagegen getreten war und es so in die Fänge der Anemone gescheucht hatte. Jedenfalls war die nun erst einmal mit Verdauen beschäftigt und hatte ihre Nesselfäden aus dem Tunnel zurückgezogen, so dass er seinen Plan hier nicht mehr umsetzen konnte. Sollte er zurückgehen? Nein, er würde weitermachen, bis es vollbracht war. Als er versuchte weiterzugehen, bemerkte er auf einmal, wie zittrig seine Beine nun waren, da er dem Tod so knapp entgangen war. Würde er es schaffen, den Mut noch einmal aufzubringen? Schritt für Schritt wurde es besser und seine Entschlossenheit nahm wieder zu. Die merkwürdigen Wesen, die hier überall fast lautlos herumhuschten, wichen ihm aus oder verschwanden in irgendwelchen Felsspalten. Fünfzig Meter weiter ging er um eine weitere Biegung des Tunnels und stand plötzlich vor dem Ende des Weges. Ein Felsrutsch versperrte den Tunnel und verhinderte, dass er dem Weg weiter folgen konnte. Verzweifelung machte sich in ihm breit. Es war, als ob irgend jemand verhindern wollte, dass er in den Tod ging. Haku dehnte seine magischen Sinne noch weiter aus, um nach einer Möglichkeit zu suchen, wie er seine Absicht doch noch umsetzen konnte. Auf der anderen Seite des Felssturzes konnte er die Gegenwart einer weiteren Felsanemone spüren und auch viele von diesen anderen Wesen, die herumwuselten. Mit einem male stutzte er plötzlich. Eine vertraute Empfindung, die er empfing, das herrliche Gefühl fließenden Wassers drang in sein Bewusstsein. Er konzentrierte sich darauf und stellte fest, dass hinter der Felswand links, etwas 20 Meter schräg unter ihm eine Wasserader verlief. Haku sackte in sich zusammen und kauerte sich in der pechschwarzen Finsternis auf den steinigen Boden, um über die neue Situation nachzudenken. Vielleicht würde er heute doch noch nicht sterben. Wasser war das Problem hier unten, immer wieder Wasser. Wenn sie diese Wasserader anzapfen würden, wäre es egal, wie viel Wasser Yubaba ihnen geben würde, sie hätten immer ausreichend davon, könnten sogar darin Baden, wenn sie wollten. Das würde allen, auch Torooru, mehr helfen, als wenn er seinem verpfuschten traurigem Dasein hier unten ein Ende setzen würde und Yubaba hätte er wieder ein Schnippchen geschlagen. Nein, so etwas durfte er gar nicht denken. Er musste jeden Gedanken an Rache aus seinem Herzen verbannen. Zuerst hatte er sich an den Menschen rächen wollen, indem er ein großer Magier wurde und war so in die Fänge von Yubaba geraten. Und jetzt hatte er versucht, sich an Yubaba zu rächen, indem er sie möglichst stark ärgerte und hatte dadurch andere in Schwierigkeiten gebracht. Rache brachte ihn nicht ein Stück weiter, sondern hatte seine Probleme immer nur weiter vergrößert. Was würde er nun tun? Zu Torooru gehen und ihm von der Wasserader erzählen? Der Troll war sicher im Moment so verärgert, dass er ihm überhaupt nicht zuhören würde oder ihm glauben schenken würde. Sollte er lieber warten, bis sich die Lage beruhigt hatte und Toroorus Ärger verflogen war? Bis dahin wären sicherlich alle halb verdurstet und die ersten Frösche würden sterben. Am besten würde es sein, wenn er das Wasser jetzt direkt freilegen würde. Wie konnte er am besten da herankommen, ohne Spitzhacke und Schaufeln? Haku erinnerte sich an seinen ersten Tag hier unten zurück, als er von Toroorus Faustschlag gegen die Wand geschleudert worden war. Er hatte sich in seine Drachenform verwandelt und sich mit seinen Klauen in den Felsen gekrallt. Dieser hatte sich dabei eher wie bröseliges trockenes Brot angefühlt und nicht wie festes Gestein. In seine Drachengestalt gewechselt begann Haku nun wie ein Wahnsinniger seine Klauen in das massive Felsgestein zu treiben, riss Brocken heraus, zerbröselte das Gestein und scharrte es nach hinten weg. Etwa nach zehn Minuten hatte er ein Loch von einem Meter Tiefe und einem Meter Durchmesser in die Wand getrieben. Zufrieden begutachtete er sein Werk und den Schutthaufen, der sich im Tunnel zu bilden begann. Dann machte er weiter, grub sich Meter für Meter durch das Felsgestein. Nach einiger Zeit wurde es immer mühsamer, weil er das herausgegrabene Gestein immer wieder in den Tunnel hinaus schieben musste. Auch war das Loch das er grub doch reichlich eng, so dass er sich darin kaum richtig bewegen konnte. Gut sechs Stunden später hatte er es dann beinahe geschafft, nur noch eine vielleicht zehn Zentimeter dicke Gesteinsschicht trennte ihm von der Wasserader. Haku hielt inne und spürte das Wasser, da auf der anderen Site strömte. Sollte er es jetzt tun? Oder doch erst Torooru bescheid sagen? Der würde bestimmt schon nach ihm suchen und sehr wütend sein. Nein, er war jetzt schon so weit gekommen, er würde auch jetzt den letzten Schritt machen. Entschlossen rammte er seine durch das graben reichlich abgewetzte rechte Vorderklaue erneut in den Felsen, der ihn noch von dem Wasser trennte und riss mit einem Ruck ein Loch in die Wand, die ihn noch von dem Wasser trennte. Sofort schoss ein siedend heißer Wasserstrahl unter hohem Druck aus dem Loch und prallte mit derartiger Wucht gegen seinen Hals, dass er sich in den Felsen krallen musste, um nicht fortgespült zu werden. Die Hitze des Wassers hatte er bereits vorher wahrgenommen und sie machte ihm in Drachengestalt auch nichts aus, aber mit dem ungeheuren Druck unter dem das Wasser stand hatte Haku nicht gerechnet. In Sekundenschnelle stieg der Wasserstand in dem Gang, den er gegraben hatte, Meter für Meter. Nach weniger als einer Minute hatte es den Gang vollständig ausgefüllt, begann in den Tunnel hinaus zu laufen und bildete bald darauf bereits einen kleinen See. Haku, der sich als Flussgott unter Wasser fast genauso leicht bewegen konnte, wie an Luft, schoss aus dem Gang heraus und erfühlte mit seinen magischen Sinnen erschrocken den schnell steigenden Wasserspiegel. Wenn das Wasser weiterhin mit dieser Geschwindigkeit aus dem Loch strömte, würde dieser Tunnel in wenigen Stunden voll gelaufen sein und das Wasser flösse in den Haupttunnel. Dort aber gab es keinen Ablauf und auch keinerlei Pumpen. Haku wusste nicht genau, wie lange es genau dauern würde, aber das Bergwerk würde wohl innerhalb weniger Wochen absaufen. Wenn Yubaba schlechte Laune hatte, ließe sie sie alle mit absaufen. Er konnte sich überhaupt nicht ausmalen, wie wütend sie werden würde, wenn sie das erführe. Sie könnte das Badehaus stillegen und alle anderen müßten darunter Leiden, nur weil er, Haku, meinte, er würde es alleine schaffen können. Nichts konnte er richtig machen. Es währe wohl doch besser gewesen, wenn ihn die Felsanemone gefressen hätte. Sollte nun alles umsonst gewesen sein? Irgendwie musste man dieses Wasser doch aufhalten können. Wozu war er denn schließlich ein Flussgott? Haku konzentrierte sich auf das strömende Wasser, erfühlte seine Eigenschaften und begann dann langsam die Strömung unter seinen Willen zu zwingen, zu verlangsamen und letztendlich ganz zum Stillstand zu bringen. Es kostete ihn seine ganze Konzentration, um die magische Energie aufzubringen, das Wasser aufzuhalten, aber er schaffte es. Unter größter Anstrengung sammelte er sich noch einmal, machte eine abwehrende Geste mit der Klaue und errichtete damit ein Bannfeld, welches das Wasser unter Kontrolle halten sollte. Dann gab er schließlich vorsichtig seine Kontrolle über das Wasser auf und zu seiner Erleichterung hielt das Bannfeld dem Druck stand. Er steckte eine Kralle in das Bannfeld hinein, das nun das Loch in der Wand, das er gegraben hatte, verschloss und stellte fest, dass das Feld die Kralle fast ohne Widerstand hindurch ließ. Beim Herausziehen schoss dann kurz ein dünner scharfer Wasserstrahl in den Tunnel, bevor sich das Bannfeld wieder vollständig schloss. Haku schnaubte vor Erleichterung, bevor er dann endlich bemerkte, dass er bis zum Bauch in nunmehr lauwarmem Wasser stand. Euphorisch über den glücklichen Ausgang seiner Wassergrabung machte Haku, immer noch in seiner Drachenform, sich auf den Rückweg, um Torooru von dem Wasser zu berichten. Weil er es eilig hatte, wollte er den Rückweg fliegend zurücklegen, jagte um die erste Tunnelbiegung, ein gerades Tunnelstück entlang und wollte gerade um die nächste Biegung fetzen, als er sich in einem Knäuel aus Fäden verfing. Im Geiste verfluchte er sich, denn die Felsanemone hatte er total vergessen. Diese hatte ihre Mahlzeit verdaut, sich wieder auf die Lauer gelegt und schlang jetzt ihre Nesselfäden um seinen Leib. Das Wesen versuchte ihn zu sich hoch zu ziehen, hatte aber mit seiner Größe und seinem Gewicht offenbar Probleme. Der erwartete Schmerz durch die Nesseln blieb ebenfalls aus, denn vermutlich konnten sie seine Schuppen nicht durchdringen. Trotzdem schaffte es die Anemone irgendwie ihn doch nach oben zu ziehen und der Druck, den sie auf seinen Körper ausübte wurde immer heftiger, bis er glaubte, dass sie ihm die Rippen brechen würde. Diesmal sollst du mich nicht kriegen, dachte Haku zornig. Er schaffte es irgendwie sich umzudrehen und sich mit seinen Beinen an der Decke abzustützen. Wenn Torooru sich daraus hatte befreien können, dann würde er es auch schaffen. Immer mehr Nesselfäden schlangen sich um seinen Leib und drückten stärker und stärker zu. Verzweifelt begann Haku, den Felsen um die Spalte zu bearbeiten, durch welche die Nesselfäden herauskamen, und er schaffte es die Öffnung Stück für Stück zu vergrößern, bis mit einem Male ein größeres Stück der Decke wegplatzte und die Anemone in der Höhlung dahinter den Halt verlor. Zusammen mit Haku fiel sie auf den Boden des Tunnels, auf dem auch hier das Wasser noch Knietief stand. Sofort ließ die Anemone von ihm ab, ein eigenartig wimmerndes Geräusch von sich gebend. Sie begann mit ihrem kugeligen Körper auf dem Boden des Tunnels im Wasser hin und her zu rollen, offenbar nach einem Ausweg suchend. Zusätzlich hörte Haku ein stärker werdendes Zischen und nahm einen ekeligen Geruch wie nach verbranntem Gummi wahr. Sie versuchte den Tunnel hinab zu rollen, um irgendwie aus dem Wasser zu gelangen, wurde dabei aber immer langsamer und geriet in immer tieferes Wasser. Dann begriff Haku, was mit der Felsanemone geschah: Sie löste sich im Wasser irgendwie auf. Nach etwa fünf Minuten hörte die Felsanemone sich schließlich auf zu bewegen und nur noch ein leises zischen war zu hören. Haku wechselte in seine menschlich Gestalt zurück, machte eine schnippende Geste, die er so häufig bei Yubaba beobachtet hatte, und eine kleine Flamme entstand an seiner Fingerspitze. Wie lange hatte er üben müssen, bis er es in seiner Kammer endlich hinbekommen hatte, das Yubaba nachzumachen. Das meiste von dem, was er konnte, hatte er durch abschauen gelernt, denn die Hexe hatte ihm kaum jemals irgendetwas richtig beigebracht, wie er es sich erhofft hatte. Die plötzliche Helligkeit der kleinen Flamme ließ seine Augen tränen und es dauerte einige Momente, bis er etwas sehen konnte. In etwa 20 Metern Entfernung lagen die Überreste der Felsanemone im Wasser und blubberten und zischten leise vor sich hin. Er watete näher, aber als er auf wenige Meter heran gekommen war, wurde der Gestank so ekelerregend, dass ihm über wurde. Zudem begann sich das Wasser von der sich auflösenden Anemone in eine grünliche Brühe zu verwandeln. Angewidert machte Haku sich auf den Rückweg, watete durch das zunächst knietiefe Wasser, das langsam flacher wurde, und löschte die kleine Flamme auf der Spitze seines Zeigefingers erst, als er fast das Ende des Seitentunnels erreicht hatte. Das Wasser reichte nur bis etwa 500 m vor das Tunnellende, so dass er den Haupttunnel mit den Gleisen mit vollständig trockenen Füßen erreichte und auch seine Hakama war von der brühwarmen Luft bereits fast getrocknet worden. Kurz bevor er die Haupthöhle betrat, legte er sich zur Sicherheit noch das Halsband wieder an, bevor die anderen ihn sehen konnten. Es war jedoch niemand mehr zu sehen, alle schienen sich breits zur Ruhe begeben zu haben, denn die Beleuchtung in der Schlafhöhle war ausgeschaltet und nur eine einsame Glühbirne beleuchtete die Haupthöhle. An der Wand rechts vom Aufzug waren fein säuberlich große Mengen frischen Baumaterials gestapelt. Seine Kiste hatten sie davor gestellt, aber er fand sie verschlossen vor, so dass er nicht hinein konnte. Haku überlegte, ob er zu Torooru gehen sollte, um ihm von seinem Wasserfund zu berichten, aber das Verbot, die Schlafhöhle zu betreten bestand noch immer und so musste er ausharren, bis alle anderen wieder aufstehen würden. So kauerte er sich vor seiner Kiste auf den Felsboden und wartete. Haku flog als Drache mit Chihiro auf dem Rücken über den Wolken durch einen strahlendblauen Himmel, weiter, immer weiter. Er fühle den sanften Druck ihrer Beine auf dem Rücken, hörte ihre Stimme, wie sie ihm seinen Namen verriet. Er war glücklich, unendlich glücklich. Sie würden fliegen, weiter fliegen bis in alle Ewigkeit. Durch einen scharfen Schmerz wurde er dann mit einem Male aus seinem Traum gerissen, von einem Hieb, der ihm die Luft aus den Lungen trieb. Hustend öffnete Haku die Augen und erblickte den Troll, der drohend über ihm stand und ihn mit seiner Krücke vor die Brust geschlagen hatte. "Do värdammtär Drachä.", brüllte er aufgebracht, "Do glaobs wohl, do könntäs där alläs raosnähmä? Däch aänfach vor där Arbaät zo dröckä. Wär habän gästärn nor zwaä Fohrän Kohlä gäschafft waäl do nächt da warst. Das haässt, wär mössän häotä acht Fohrän schaffä. Also rontär mät där ond hol schon mal dän ärstän Zog här. Fröhstöck kannst dö värgässän!" Damit drehte er sich um und humpelte davon. "Aber Meister Torooru, ich habe ihnen etwas wichtiges zu sagen.", versuchte Haku zu erwidern, "Ich habe ..." "Äch wäll nächts mähr von där höhrän. Waäl do mär das Läbän gärättäst hast, wärdä äch aof aänä waätärä Bästrafong värzächtän.", schnitt ihm der Troll das Wort ab, indem er sich umdrehte und Haku finster anstarrte, "Wänn das abär noch aänmal vorkommt, wärdä äch Yobaba bäschaäd sagän." "Wasser gefunden...", stammelte Haku flehentlich. "Zo tränkän bäkommst do hoätä aoch nächts.", grollte Torooru weiter, "Ond äch wärdä dä Kästä wädär öbär Nacht zospärrän, damät Yobaba nächt noch mähr Ärgär macht." Haku fand sich damit zunächst ab, zog den ganzen Tag Lorenzug für Lorenzug, half bei den Instandsetzungsarbeiten, räumte Schutt beiseite und machte sich so nützlich wie nur möglich. Trotzdem wurde er von den Fröschen ignoriert und von Torooru mit Gleichgültigkeit behandelt. Wann immer Haku in den nächsten Tagen mit Torooru über seinen Wasserfund reden wollte, wurde er von dem Troll abgekanzelt ohne dass er zu Wort kommen konnte. Zudem wurde er auch noch permanent überwacht, damit er sich nicht mehr vor der Arbeit "drücken" konnte. So hatte er Tagsüber keine Gelegenheit, zu der Wasserquelle zu gehen und etwas Wasser zu holen, um so seine Entdeckung zu dokumentieren, und Nachts konnte er nichts tun, weil er in seine Kiste eingesperrt wurde. Es war einfach zum Mäusemelken. So ging es nun Tag für Tag weiter so. Torooru weigerte sich einfach ein vernünftiges Wort mit ihm zu wechseln, behandelte ihn indifferent, wie jeden anderen der Frösche. Bei seinem wöchentlichen "Unterricht" bei Yubaba konnte diese ihre Wut über Hakus nicht eintreten wollendes Ableben kaum verhehlen und er schämte sich dafür, dass es ihm Vergnügen bereitete, wie die Hexe versuchte sich zu beherrschen. Ihm selbst machte die verringerte Wasserration kaum etwas aus, aber die Wasserknappheit beeinträchtigte die Frösche um so mehr und sie wurden schwächer und schwächer, so dass Torooru und er selber immer mehr arbeiten mussten. Dies hatte zur folge, dass Toroorus gebrochenes Bein nicht Heilen wollte, obwohl ihm seine gebrochenen Rippen keine größeren Probleme bereiten zu schienen. Nach zwei Wochen begann das Bein immer schlimmer auszusehen, war geschwollen und entzündet, blaue und grüne Blutergüsse waren am gesamten rechten Unterschenkel zu sehen. Torooru wurde immer ungeniessbarer, schien unter starken Schmerzen zu leiden. Wenige Tage später wurde sein Gesicht noch bleicher, als es ohnehin schon war, wobeix sein ganzer Körper ständig von einem feinen Schweißfilm bedeckt war und der Geruch, der von ihm ausging, unangenehmer als je zuvor war. Wenige Tage später, eines Morgens, wartete Haku dann vergebens darauf, dass Torooru kam, um die Kiste aufzuschließen. Nach einer kleinen Ewigkeit war dann ausserhalb der Kiste ein Stimmengemurmel zu hören, die Stimmen der Frösche, die sich leise berieten. Nach einer geraumen Zeit intensiver Beratung, klopfte endlich jemand vorsichtig gegen seine Kiste. "Verzeihung, ehrenwerter Herr Drache.", vernahm er eine vorsichtige Stimme, "Meister Torooru liegt Bewußtlos in seinem Bett und wir wissen nicht, was wir tun sollen." Unter den Fröschen war inzwischen keiner mehr, der ihn noch aus seiner Zeit oben im Badehaus kannte, als Lehrling und rechte Hand von Yubaba. Sie wussten nicht, was sie tun sollten und fürchteten sich offenbar davor, Yubaba über Toroorus Zustand zu informieren. So wandten sie sich an die einzige Person, die Yubaba und Torooru jemals die Stirn geboten hatte, die Feiglinge. "Ihr müsste Yubaba bescheid sagen, dass es Torooru schlecht geht.", sagte er also aus seiner Kiste, "Sie wird dann kommen und alles in die Hand nehmen." "Ja, das wollten wir auch, aber keiner von traut sich, zu ihr zu gehen.", hörte er die Stimme sagen, "Kommen sie doch bitte heraus, ehrenwerter Herr Drache, und sagen ihr bescheid." "Ich kann aber nicht, die Kiste ist zugeschlossen.", gab Haku zurück, "Torooru hat den Schlüssel." Daraufhin hörte er wieder Gemurmel und nach einer geraumen Weile sagte die Stimme: "Verzeihung, ehrenwerter Herr Drache, aber wir können den Schlüssel nicht finden. Könnt ihr denn nicht auch so herauskommen, ihr seid doch so stark." Haku dachte eine Weile nach nach und kam dann zu dem Schluss, dass sie auf gewisse Weise recht hatten. Zwar wollten sie ihm nur Schmeicheln und die Verantwortung auf ihn abwälzen, nichtsdestotrotz war er derjenige, der nach Torooru nun am längsten im Bergwerk war und er war auch unbestreitbar der stärkste, stärker noch, als der Troll, zumindest als Drache. Er kam zu dem Entschluß, dass es jetzt wohl am besten war, die Initiative zu ergreifen. "Geht zur Seite.", rief er, wartete kurz und begann dann mit der Verwandlung in seine Drachengestalt. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, er würde zerquetscht werden, als seine Verwandlung begann, bevor dann das Holz der Kiste nachgab, als sein Körper zu der vollen Größe seiner Drachengestalt heranwuchs. Kaum hatte er die Kiste von innen heraus gesprengt, nahm er sich auch schon wieder seine menschliche Gestalt an, um Anweisungen erteilen zu können. Als erstes sah er nach Torooru in seiner Baracke. Er fand Torooru bewusstlos auf seinem mächtigen Bett liegend vor, das gebrochen Bein in einem Kissen gelagert. Dem Troll ging es schlecht, aber nachdem Yubabas Halsband abgenommen hatte, konnter er spüren, dass die Aura seiner Lebenskraft kräftig und ruhig war, wenn auch durch die Entzündung in seinem Bein beeinträchtigt. Er würde nur Ruhe und vor allem genügend Flüssigkeit benötigen, um wieder gesund werden. Das war einfach typisch Yubaba, einen Untergebeben unnotig leiden zu lassen, dachte er resigniert. Sie hätte sein Bein einfach mit ihrer Zauberkraft heilen können. Er hatte es selber schon erlebt, wie sie bei einem Gast, der beim Einstieg in den Badezuber ausgerutscht war und sich dabei ebenfalls das Bein gebrochen hatte, dieses ohne große Mühe wieder zusammengehext hatte. Bei Torooru hatte sie dies nicht für nötig gehalten und Haku wusste einfach nicht genug über Heilzauber, um es selber tun zu können. Als nächstes öffnete Haku das zweite der drei Fässer mit Wasser und wies die Frösche an, es austrinken. Sie gehorchten ohne Widerspruch. Auch Torooru versorgte er mit einer ausreichenden Wassermenge, wusch ihn und kühlte sein Fieber mit feuchten Umschlägen. Danach führte er die Frösche in den Seitentunnel mit der Wasserquelle, die er gegraben hatte. Das Wasser im Tunnel war in den letzten Wochen inzwischen größtententeils verdunstet oder versickert, lediglich im Bereich vor dem Felssturz gab es noch einige Pfützen. Der Kadaver der Felsanemone war komplett verschwunden. Ob er sich aufgelöst hatte oder gefressen worden war, wusste Haku nicht zu sagen. Erleichtert, dass sein Bannfeld dem großen Druck in der Wasserader noch immer standhielt, stellte Haku fest, dass nur ein Rohr durch das Feld gesteckt werden brauchte, um Wasser aus der Quelle zu Zapfen. In dem Moment, wo man das Rohr wieder aus dem Fels heraus zog, verschloss sich das Bannfeld von selbst wieder und hielt das Wasser zurück. In kürzester Zeit, als die Frösche endlich genügend Wasser bekamen, wurden sie putzmunter und konnten ihr Arbeitspensum viel schneller erledigen. Haku leiss sie Gleise bis zur Quelle legen, wo er die Frösche jeden Tag ein ganzes Fass voll mit Wasser in einer Lore holen liess. Den Kohlenabbau erledigten sie in weniger als der halben Zeit, so dass entsprechend mehr Zeit für die Instandsetzungsarbeiten blieb. Er erledigte den Kohlentransport mit dem Aufzug in den Kohlenspeicher und holte neue Baumaterialien aus dem Raum in Yubabas Etage, wobei er jedoch nie jemanden zu Gesicht bekam. Zusätzlich zog er weiterhin die Lorenzüge unten von der Förderstelle bis zum Aufzug hoch. Er hatte so viel zu tun, dass er jeden Tag nicht mehr als ein oder zwei Stunden zum Schlafen kam. Nach vier Tagen etwa erwachte Torooru aus seinen Fieberträumen und wollte sofort aufstehen und mit seiner Tätigkeit als Leiter des Bergwerkes fortfahren, wovon ihn Haku mühsam abhalten konnte. Er schaffte es sogar, den Troll davon zu überzeugen, in seinem Bett leigen zu bleiben, bis er wieder vollständig genesen war. Lediglich zu seinem wöchentlichen Rapport bei Yubaba stand Torooru auf und musste hinterher von der Anstrengung einen ganzen Tag lang schlafen. Zwei Wochen später war Torooru wieder auf den Beinen und nahm zögernd die Leitung des Bergwerks von Haku wieder in seine Hände. Am Abend nahm er Haku dann zur Seite, um sich mit ihm zu unterhalten. "Äch waäss nächt, wä äch äs sagän soll, do hast mäch schon wädär gärättät.", sagte der Troll zögerlich, "Was kann äch där gäbän, om mäch baä där zo bädankän? Wänn do wällst, kanns do dä Laäton däs Bärgwärks öbärnähmän ond här in maänä Barackä aänzähän." Haku blickte Torooru ernst mit seinen grünen Augen an. "Dass du mir dankst, ist bereits genug. Weißt du Torooru, ich habe das alles nicht getan, um irgendetwas für mich zu erreichen, ich wollte euch lediglich helfen und meinen Fehler von neulich wieder gut machen. Du musst wissen, dass ich jemandem ein Versprechen gegeben habe, einem Menschenmädchen, es noch einmal wieder zu sehen. Alles was ich will und alles wofür ich noch lebe ist, dieses Versprechen noch zu halten. Was danach mit mir geschieht ist mir gleich." "Do wällst aän Mänschänmädchän wädärsähän?", keuchte Torooru verblüfft, "Abär do bäst doch aän Drachä, aän Gott! Das västähä äch nächt." Haku ging überhaupt nicht Toroorus Einwurf ein. "Ich weiß nicht, ob ich euch mit dem Wasser einen Gefallen getan habe.", fuhr er fort, "Yubaba wird es herausfinden, über kurz oder lang, und ich habe irgendwie ein schlechtes Gefühl bei der Sache, als ob ich irgendetwas übersehen hätte. Deshalb hör mir jetzt zu, Torooru. Wenn ich noch einmal Mist baue und euch alle in Gefahr bringe, oder mich wieder mit Yuababa anlege, dann töte mich einfach, wie du es schon am ersten Tag tun wolltest. Ich werde mich nicht mehr wehren. Das wird für uns alle wohl das beste sein. Nur wirf meinen Körper bitte hinterher nicht in diese schreckliche Grube, diese Seelenfalle unter dem Badehaus. So will ich nicht enden." Damit wandte Haku seinen Blick von Torooru ab. "Abär das kann doch nächt daän Ärnst saän? Maäns do das wärkläch odär hast do das nor so gäsagt?", flüsterte der Troll erschüttert. Haku blickte jedoch nur noch geistesabwesend durch den Troll hindurch und antwortete nicht mehr. Kapitel 11: Der See im Wald II ------------------------------ Hallo zusammen, hier ist das neue Chihiro Kapitel. Mann, jetzt sind es schon über 50000 Worte und ich wollte doch vielleicht so maximal 30000 Worte schreiben und längst fertig sein. Aber irgendwie krieg ich die Geschichte nicht so recht vorwärts und es fallen mir immer noch Sachen ein, die ich erzählen muss, bevor die beiden sich endlich kriegen können. Hach, ist das alles kompliziert, das Erzählen und Schreiben und sowieso alles! Pazu Der See im Wald II Chihiro schlief in dieser Nacht äußerst schlecht, träumte immer wieder von dem roten Gebäude im Wald, dem Tunnel, der hindurch führte, dem Wartesaal auf der anderen Seite, wo auch immer das sein mochte, und der wunderbaren Landschaft dort. Mehrfach schreckte sie mitten in der Nacht hoch, mit stark klopfendem Herzen und dem heftigen Gefühl, dass sie kurz davor war, sich an etwas wesentliches zu erinnern. Als sie am Sonntagmorgen aufstand, hatte sie leichte Kopfschmerzen und war so entsetzlich müde, dass sie überhaupt keine Lust verspürte, mit Ayaka und Ichiyo den ganzen Tag lang zu pauken. Aber es half nichts, sie würde sich zusammenreißen müssen. Eine halbe Stunde vor Zehn versuchte sie noch einmal wie Tags zuvor einen Papierschnipsel durch den Raum schweben zu lassen, aber sie konnte sich vor Müdigkeit kaum konzentrieren und es gelang ihr nicht. Überhaupt schien ihr der gestrige Tag bereits so unwirklich, dass sie zweifelte, ob nicht alles doch nur Einbildung gewesen war. Während der ganzen Zeit, nachdem Ayaka und Ichiyo dann gekommen waren und sie miteinander lernten, war sie an diesem Tag sogar noch hibbeliger als ihre Freundin. Ichiyo musste die beiden andauernd wieder zur Raison rufen, was aber selten länger als eine halbe Stunde vorhielt bevor entweder Chihiro oder Ayaka zu gibbeln anfingen. Gegen fünf Uhr am Nachmittag machten die Drei sich wie am Samstag auf, um noch einmal zu versuchen zum See zu gelangen und dort ein wenig zu planschen. Leider war das Wetter längst nicht so schön wie am Tag zuvor, der Himmel war bedeckt und es war bei vielleich 25 °C drückend schwül. Im Wald herrschte eine leicht dämmerige gedrückte Stimmung und es war wesentlich Stiller als am Vortag, als hätte sich die Stimmung auch auf die Tiere und Vögel übertragen. Da Chihiro versichert hatte, dass sie sich weigern würde noch einmal durch den Tunnel zu gehen, um auf die andere Seite des roten Gebäudes und so zum See zu gelangen, schlugen sich die Drei frühzeitig in die Büsche und trafen in etwa dort auf den Bach, wo Chihiro Ayaka vor fast einem Jahr das erste mal getroffen hatte. Diesem Bachlauf folgten sie, was sich als schwieriger erwies, als sie gehofft hatten, denn mehrfach mussten sie sich durch dichtes Unterholz kämpfen oder über umgestürzte Bäume klettern. Chihiro hatte dabei erstaunlicherweise die geringsten Probleme, weil sie sich als kleinste und dünnste am ehesten überall hindurchquetschen konnte. Auf einmal, nachdem sie sich durch ein weiteres Gebüsch geschlagen hatten, öffnete sich der Wald in eine große Lichtung von ca. einem Kilometer Durchmesser, in deren Mitte sich der See befand. Rechts von ihnen, etwa hundert Meter entfernt, mündete der Weg, der durch das rote Gebäude und den Tunnel hindurch sie gestern ebenfalls zum See hätte führen sollen. Eingefasst war das in der leicht trüben Stimmung an diesem Tag wie verwunschen wirkende Gewässer von wild wucherndem Schilf und Bambusgras. An einigen Stellen allerdings reichte die Wiese, die sich zwischen dem Waldrand und dem Ufergürtel auf vielleicht zehn bis zwanzig Metern erstreckte, auch direckt bis an das Wasser heran. An einer dieser Stellen liessen sie sich nieder, breiteten ihre Badetücher aus und entledigten sich der Kleidung, unter der sie ihre Badesachen trugen. Chihiro machte sich zunächst daran, ihren aufgekommenen Hunger mit ein paar Reisbällchen und einer Tafel Schokolade zu stillen, während Ayaka und Ichiyo sofort in den See sprangen, und begannen dort sofort wild zu planschen. "Chihiro, komm doch auch ins Wasser.", rief Ayaka nach einer Weile, nachdem Chihiro mit ihrem Imbiss fertig war und den beiden auf ihrem Badetuch hockend beim planschen zusah, "Los komm schon, das Wasser ist angenehm warm." "Genau Chihiro, es macht richtig spass!", schloss sich Ichiyo an und liess sich demonstrativ vornüber der Länge nach ins flache Wasser platschen. Chihiro hatte jedoch überhaupt keinen Bock ebenfalls Nass zu werden, denn während sie gegessen hatte, war ihr die Frage, wie denn wohl die andere Seite des roten Gebäudes aussähe, nicht mehr aus dem Sinn gegangen. "Hört mal, ihr beiden, ich hab jetzt keine Lust zu baden, ich schaue mich mal ein wenig hier um.", informierte sie deshalb Ayaka und Ichiyo. "Na gut Chihiro, dann eben nicht.", rief Ayaka zurück, wobei sie Ichiyo ins Wasser stiess, "Aber verschwinde nicht einfach so, wie gestern." Chihiro war bereits aufgestanden und ging in Richtung des Weges. "OK, aber fangt bloss nicht wieder an, nach mir zu suchen.", erwiederte sie. Langsam ging sie den Weg entlang, sah sich neugierig um und liess die Umgebung auf sich wirken. Alles erschien ihr, als währe es wie in einem Traum, als währe es nicht wirklich real. Sie kam um eine Biegung des Weges und dann sah sie auch schon nicht weit entfernt das rote Gebäude. Es sah im Grossen und Ganzen genau so aus, wie von der anderen Seite, erstreckte sich rechts und links in den Wald hinein, hatte im Obergeschoss eine Reihe von Fenstern und in der Mitte war der Ausgang des Tunnels, vor dem ebenso wie auf der anderen Seite, eine grinsende Steinstaue Wache hielt. Nachdenklich kam Chihiro näher. Wieso waren Ayaka und Ichiyo offenbar hier heraus gekommen, während sie in diesem Wartesaal gelandet war, überlegte sie. Das ergab alles doch überhaupt keinen Sinn. Was wohl passieren würde, wenn sie von dieser Seite durch den Tunnel gehen würde? Chihiro trat direkt vor den Tunneleingang und fast sofort begann ein Sog einzusetzen, wie sie ihn auch von der anderen Seite her kannte. Sie atmete einmal tief ein, machte zögerlich einen Schritt in den Tunnel hinein, noch einen und war kurz darauf mitten im Tunnel. Da sie nun schon einmal so weit gekommen war, ging sie auch den Rest des Weges und betrat zu ihrer Verwunderung den Wartesaal durch die rechte der drei Öffnungen an der Rückwand des Raumes. Diesmal verspürte sie jedoch keine Furcht mehr, denn nach dem gestrigen Tag hatte sie mit so etwas fast gerechnet, sondern ihre Neugier gewann die Oberhand. Dass sie irgend wo anders war, als in der Nähe des Waldsees, zeigte sich daran, dass der Himmel außerhalb des Wartesaales unter dem Uhrenturm strahlend blau, die Luft angenehm und würzig war und eine herrliche laue Brise wehte. Das alles interessierte sie jedoch nicht besonders, sie nahm es eher beiläufig zur Kenntnis. Viel wichtiger schien ihr die Frage, was geschehen würde, wenn sie wieder durch eine der drei Öffnungen in der Rückwand des Wartesaales ging. Wo würde sie dann hin gelangen? Entschlossen marschierte sie durch die mittlere der drei Öffnungen, wobei sie unwillkürlich an die andere, die dem See abgewandte Seite des Gebäudes mitten im Wald dachte. Und siehe da, kurz darauf kam sie genau auf der Seite aus dem Tunnel, an die sie gedacht hatte. Chihiro konnte mittlerweile gar nichts mehr überraschen, so dass sie auch keine Angst mehr hatte, sondern das Ganze eher spannend und irgendwie lustig fand. Scheinbar musste sie sich nur vorstellen, zu welcher Seite des Gebäudes sie wollte, und konnte dann einfach durch den Tunnel dorthin gehen. Aufgeregt über die Entdeckung umrundete sie den Grinsestein einmal und trat dann wieder an den Tunneleingang heran. Konzentriert stellte sie sich die andere Seite des Gebäudes vor, auf welcher der Waldsee lag und trat dann in den Tunneleingang hinein. Nichts geschah, kein Sog setzte ein, genau wie sie gehofft hatte. Angestrengt versuchte Chihiro das andere Ende des Tunnels zu erkennen, um zu erkennen, ob der Ausgang nun am Waldsee mündete oder im Wartesaal, hatte jedoch keinen Erfolg. Was soll's, dachte sie bei sich, marschierte in den Tunnel und gelangte kurze Zeit später in die trübe Abendstimmung auf der anderen Seite des Gebäudes am Waldsee. Chihiro sah sich genau um, konnte jedoch keine Veränderung gegenüber vorhin feststellen, als sie den Tunnel betreten hatte, und die Statue vor dem Eingang grinste beflissen nach Vorne und Hinten. Irgendwie schien dieser Durchgang durch das rote Gebäude eine Art Tor zu sein, überlegte sie, und es bringt mich an die Seite des Tunnel, an die ich gerade denke. Nein, das konnte auch nicht ganz richtig sein, schließlich hatte sie eigentlich an gar nichts gedacht, als sie mit ihren Eltern vor einem Jahr dort hindurch gegangen war, denn damals hatte sie den Wartesaal ja noch gar nicht gekannt. Und genau so war es ja auch gestern gewesen. Trotzdem hatte das "Tor" sie in diesen Wartesaal gebracht, obwohl sie gar nicht dorthin gewollt hatte. Sie drehte sich um, dachte an den Wartesaal und trat in die Tunnelöffnung. Sofort setzte der Sog ein, schien sie hereinziehen zu wollen. Schnell trat sie einen Schritt zurück, woraufhin der leichte Sog sofort aufhörte. Mehrfach wiederholte sie das Experiment und achtete dabei auch besonders auf den gegenüber liegenden Tunnelausgang. Jedes Mal, wenn sie in die Tunnelöffnung trat und an den Wartesaal dachte, setzte augenblicklich der leichte Sog ein und der Tunnelausgang schien kurz zu verschwimmen, als ob sich ein Durchgang, ein Tor öffnen würde. Dachte sie jedoch an den Ausgang im Wald, geschah nichts. Merkwürdigerweise öffnete sich das Tor aber auch, wenn Chihiro an irgendetwas anderes als an die Gegenseite dachte. Noch merkwürdiger allerdings fand sie, war dass Ayaka bereits mehrfach durch diesen Tunnel gegangen war, ohne dass etwas passiert war, und Ichiyo war ja gestern auch hindurch gegangen ohne im Wartesaal zu landen. Vielleicht öffnete sich der Durchgang ja auch nur für sie selbst. Vielleicht währen ihre Eltern im letzten Jahr ja gar nicht dort hin gelangt, dachte sie erschrocken, wenn sie brav im Auto sitzen geblieben währe, wie ihre Mutter es gesagt hatte und sie nicht alle mehr als zwei Wochen verschwunden. Sollte sie Ayaka und Ichiyo von ihrer Entdeckung erzählen? Gestern Abend hatten sie ihrer leicht wirren Geschichte zwar höflich zugehört, doch hatten sie ihr auch wirklich geglaubt? Nein, sie musste es den beiden zeigen. Wenn sie nachher nach Hause gingen, würde sie zustimmen, den kurzen Weg durch den Tunnel zu nehmen, anstatt wieder den Bach entlang durch das Unterholz zu tapern. Beim Durchgang durch den Tunnel würde sie dann an den Wartesaal denken, um den beiden zu zeigen, dass alles was sie gestern erzählt hatte, der Wirklichkeit entsprach. Wenn es klappte konnte sie den beiden den Wartesaal unter dem Uhrenturm zeigen, die Wiesen und die wunderbare Landschaft dort. Wenn es nicht klappte, würde niemand etwas bemerken, außer ihr selbst natürlich. Chihiro holte einmal tief Luft um sich zu sammeln, drehte sich um und marschierte entschlossen zu Ayaka und Ichiyo zurück. Die beiden hatten inzwischen das Wasser verlassen und spielten am Waldrand Fußball, was hieß, dass Ayaka den Ball schießen durfte und Ichiyo im Tor stehend, welches von zwei jungen Bäumen gebildet wurde, den Ball halten musste. Ichiyo erblickte sie zuerst. "Hallo Chihiro, da bist du ja wieder." Er winke ihr zu und machte so auch Ayaka auf sie aufmerksam. Diese hatte sich gerade den Ball zurecht gelegt, war ein paar Schritte zurückgegangen, um Anlauf zu nehmen, als Chihiro näher kam. "Mann, du hast dich aber lange umgesehen.", meinte sie leicht spöttisch, "Du warst ja mindestens 'ne Stunde weg." Damit rannte sie los und zimmerte den Ball an dem überraschten Ichiyo vorbei ins Tor. "O entschuldige Ayaka, ich hatte einen Moment lang nicht aufgepasst.", entfuhr es Ichiyo sofort automatisch, so dass die Mädchen zuerst ihn und dann einander verblüfft anblickten, bevor sie gemeinsam begannen loszukichern. "Verzeihung, habe ich irgend etwas falsch gemacht?", fragte er verwirrt. "Nein, du hast nichts falsch gemacht, Ichiyo, du sollst dich nur nicht dauernd entschuldigen, wenn du gar keine Schuld hast. Ich hab doch geschossen, weil ich gesehen hatte, dass du noch nicht fertig warst, um dich zu überraschen.", erbarmte sich Ayaka einer Erklärung und Ichiyo wurde sofort knallrot, weil er wieder mal ins Fettnäpfchen getreten war. Er tat Chihiro leid und so warf sie Ayaka einen strengen Blick zu, als diese spontan erneut losprusten wollte. Ayaka riss sich dann auch zusammen, holte den Ball aus dem Wald zurück und legte ihn wieder auf die Abschussposition. Weil sie wieder Hunger bekommen hatte, holte Chihiro sich noch etwas zu Essen aus ihrem Rucksack, und sah dann den Beiden beim Ballspielen zu. Sie war erstaunt, wie flink und geschmeidig Ichiyo war, wenn er sich bewegte. Wenn man ihn so sah, schmächtig und mit Brille, traute man ihm sportlich nicht viel zu, was auch für ihn selber zu gelten schien, aber er war wirklich flink und schnellkräftig. Reaktionsschnelligkeit allerdings schien nicht seine große Stärke zu sein, aber sobald er einmal sein Ziel anvisiert hatte, federte er präzise darauf zu, war jedoch meisten etwas zu langsam, weil er einfach zu spät reagiert begonnen hatte. Ayakas Bewegungen erinnerten Chihiro eher an die von Jungen, so richtig burschikos waren sie. Sie machte kräftige, weit ausholende Bewegungen, die für ein Mädchen völlig untypisch waren, und besaß eine Ausstrahlung aggressiver Souveränität. Wenn sie keine Zöpfe gehabt hätte, würde Chihiro sie für einen Jungen gehalten haben. Schuss um Schuss gab Ayaka auf das Tor ab, wobei sie meistens Siegerin blieb und Ichiyo überwand. Erneut startete sie, traf den Ball hart und satt, so dass er genau in Richtung von Ichiyo Kopf flog. Dieser machte vor Schreck eine rudernde Bewegung, erwischte den Ball noch irgendwie und lenkte ihn so von seinem Kopf ab. Der Ball prallte daraufhin gegen den linken Baum des Tors und von dort geradewegs in Chihiros Gesicht, die keine Chance hatte, zu Reagieren. Mit einem dumpfen "Poff" prallte er dann von ihrem Kopf fort, wurde hoch hinaus in die Luft geschleudert und landete etwa 70 bis 80 Meter weiter draußen auf dem Wasser im See. Völlig perplex stand Chihiro mit offenem Mund da. Eigentlich müsste es jetzt weh tun, dachte sie, in Erwartung des Schmerzes, der aber nicht kam. Dann wurde ihr bewusst, dass sie den Aufprall des Balles gar nicht gespürt, sondern nur einen leichten Luftzug gefühlt hatte, als ob der Ball sie überhaupt nicht berührt hätte. "Chihiro, Chihiro, hast du dir weh getan?", schrie Ayaka mit Panik in der Stimme, rannte zu ihr hin und nahm sie in den Arm. Aus eigener schmerzvoller Erfahrung wusste sie, wie weh ein Volltreffer mit einem Fußball im Gesicht tun konnte. Chihiro schüttelte den Kopf. "Keine Sorge Ayaka, es hat nicht weh getan. Ich habe kaum etwas gespürt.", beruhigte sie ihre Freundin und Ichiyo, der inzwischen auch zu ihr herüber gekommen war, legte seine Hand auf ihre Schulter und sah ihr besorgt in die Augen. "Es war genauso, wie letztes Jahr.", sagte er leise, "Weißt du, als Bunzo, dieser Blödmann, dir die Ohrfeige gegeben hatte." Ayaka und Chihiro sahen ihn fragend an. "Was meist du damit?", wollte Ayaka wissen, "Was hat denn eine Ohrfeige mit einem Ball zu tun?" "Na ja, ich stand bei der Ohrfeige doch genau hinter Chihiro.", erinnerte er sich, "Und als Bunzo sie traf, das leuchtete ihr Haarband kurz violett auf. Chihiros Kopf aber hatte sich gar nicht gerührt, obwohl Bunzo sich bei dem Schlag die Hand geprellt hatte." "Ja? Ist das so gewesen?", wunderte sich Chihiro, die von Ayaka inzwischen aus der Umarmung entlassen worden war, "Ich kann mich gar nicht an die Ohrfeige erinnern, mir war vor lauter Hunger vorher schon ganz schlecht und dann bin ich deswegen auch umgekippt." "Genau so ist es gewesen.", meinte Ichiyo, "Genau wie jetzt. Ich habe es aus dem Augenwinkel gesehen, aber es war eindeutig. Als dich der Ball traf, leuchtete dein Haarband auch wieder violett auf und schau doch mal, wo der Ball gelandet ist, mit welcher Wucht er weggeflogen ist. Er ist mit viel größerer Wucht von dir weggeprallt, als er dich getroffen hat." Alle Drei sahen sich nach dem Ball um, der in etwa 100 m Entfernung auf dem Wasser im See trieb. "Du hast recht. So weit kann ich den Ball gar nicht schießen.", erkannte die verblüffte Ayaka, "Ich schaff es vielleicht vom Strafraum bis zu Mittellinie, also vielleicht 30 m. Aber soo weit...." Sie wandte sich wieder Chihiro zu. "Zeig doch mal her dein Haarband.", forderte sie. Bereitwillig gab sie es Ayaka, die es eingehend betrachtete. "Mann, mir war ja noch nie aufgefallen, wie hübsch es ist.", staunte sie, "Wo hast du das denn bloß her? Vielleicht kann ich da ja auch welche für meine Zöpfe kriegen." "Ich weiß nicht, wo ich es her habe.", meinte Chihiro, ganz genau beobachtend, was Ayaka damit anstellte. "Wie, du weißt es nicht?", zweifelte sie überrascht, "Das kann doch gar nicht sein. So was vergisst man doch nicht." Aber Chihiro zuckte bloß mit den Schultern. "Also gut, dann wollen wir das mal ausprobieren.", bestimmte Ayaka dann, "Ich mach mir das Teil in die Haare und dann wirft Ichiyo mir den Ball gegen den Kopf. Dann werden wir ja sehen, ob es was bewirkt." "Ja aber, und was ist, wenn ich dir weh tue?", wandte Ichiyo zögernd ein, während Ayaka das Haarband um ihren linken Zopf machte. "Blödsinn! Das schaffst du nie.", protzte die jedoch voller Selbstvertrauen, "Ich hab' mindestens schon tausend mal einen Ball geköpft und weh getan hat das noch nie, außer ich hab' ihn auf die Nase gekriegt. Aber jemand müsste mal den Ball holen, hmmm." Womit sie Ichiyo unverwandt anblickte. "OK, ich geh ja schon.", beeilte dieser sich zu sagen, drehte sich um, rannte zum See und ins Wasser. Er musste viel weiter raus in den See, als beim Planschen zuvor gewesen war, so weit, dass er schwimmen musste. Und so dauerte es eine Weile, bis er den Ball zurück geholt hatte. "So, du wirfst mir jetzt den Ball zu und du, Chihiro, guckst, ob das Haarband was macht, leuchtet oder so.", kommandierte Ayaka dann, stellte sich vor das "Tor" und ging in Stellung für den Kopfball. Vorsichtig warf Ichiyo ihr den Ball von unten ausholend zu, während Chihiro das Haarband nicht aus den Augen ließ. Zielsicher traf sie den Ball und beförderte ihn unter lautstarkem Jubeln zwischen die beiden Bäume, die das Tor markierten. "Tooooor, Toooor!!! Und hiermit hat Ayaka Fukazawa das Golden Goal geschossen und damit den WM-Titel für Japan gesichert.", kommentierte sie lautstark ihren "Erfolg". Dann drehte sie sich mit einem Ruck zu Chihiro und fragte: "Und? Hat das Haarband irgendwie geleuchtet?" Diese schüttelte den Kopf. "Na ja, irgendwie hat sich der Kopfball auch angefühlt wie immer.", meinte Ayaka, "Aber so schnell wollen wir nicht aufgeben. Ichiyo! Wirf den Ball diesmal doller. So kann den ja ein Baby köpfen." Sie probierten es noch mehrere Male und jedes mal wurde Ichiyo mutiger, als er sah wie sicher Ayaka den Ball beherrschte, und warf ihn heftiger. Aber es passierte überhaupt nichts, die Kopfbälle fühlten sich an wie immer und das Haarband weigerte sich einfach zu leuchten. Dann aber hatte Chihiro eine Idee. Vielleicht war es ja so ähnlich wie bei dem Tunnel durch das rote Gebäude, dachte sie. Das Haarband machte, was sein Träger wollte, genauso wie der Tunnel sie an den Ort brachte, an den sie dachte. Wenn also Ayaka den Ball köpfen wollte, ließ das Haarband das auch zu und wurde nicht aktiv. Aber bei Bunzos Ohrfeige und bei dem Balltreffer vorhin, hatte sie nicht getroffen werden wollen und war zudem auch überrascht worden. Also hatte das Haarband sie irgendwie beschützt, Bunzos Hand und den Ball irgendwie abgewehrt. "Ayaka, du musst die Augen zu machen und darfst nicht versuchen den Ball zu köpfen.", schlug sie daraufhin vor, "Sonst funktioniert es wahrscheinlich nicht." Wenn Ayaka die Augen zu machte, würde sie den Ball nicht köpfen wollen, weil sie ihn nicht sehen könnte, und sie wüsste auch nicht, wann der Ball sie träfe, so dass er sie überraschen würde. Dann währe die Situation sie gleiche, wie bei den beiden Malen, wo es bei ihr funktioniert hatte. "Hä? ... Na gut, wenn du meinst.", gab sie zurück und stellte sich tapfer mit geschlossenen Augen vor Ichiyo auf. Vorsichtig warf er den Ball, diesmal wieder von Unten ausholend, genau gegen Ayakas Kopf, und siehe da, er wurde so heftig zurückgeschleudert, dass Ichiyo Mühe hatte, ihn zu fangen. Ayaka hörte den Rückprall des Balles und Ichiyos verblüfftes "Uff", so dass sie die Augen öffnete. "Ist es schon vorbei? Ich habe gar nichts gemerkt.", fragte sie erstaunt, "Hat es geleuchtet?" "Ja, Ayaka, es hat geleuchtet.", bestätigte Chihiro, die das ganze gespannt beobachtet hatte, "Es hat zwar nur ein ganz bisschen geleuchtet, aber es hat geleuchtet!" "Wow, das ist ja Cool.", entfuhr es ihr begeistert, "Noch mal, noch mal, aber diesmal stärker". Sie baute sich stocksteif noch einmal vor Ichiyo auf und kniff die Augen in übertriebener Weise zusammen. Dieser tat ihr den Gefallen und warf ihr den Ball mit einer Schlagwurfbewegung etwas kräftiger an den Kopf. In dem Augenblick, als der Ball Ayakas Kopf zu berühren schien, leuchtete das Haarband an ihrem linken Zopf diesmal heller auf und schleuderte den Ball mit so großer Wucht gegen Ichiyos Brust zurück, dass dieser einen Satz rückwärts machte und sich auf den Hosenboden setzte, wo er hustend sitzen blieb. "Au Mann, das war heftig.", presste er hervor, wobei er nach Luft jappste. Dabei blickte er mit skeptischer Mine auf seine Brust herunter, wo die Haut von dem Aufprall schnell eine tiefrote Färbung annahm, röter noch, als er im Gesicht zu werden pflegte. Es brannte ziemlich stark und er bekam kaum Luft. Chihiro lief sofort zu ihm hin, um nach ihm zu schauen, und auch Ayaka, die jetzt ihre Augen geöffnet hatte, glotzte mit offenem Mund auf Ichiyo herab. "Hui, bin ich das gewesen?", rief sie ungläubig und sprang ebenfalls zu ihm hin, "Ichiyo, hast du dir weh getan? Komm, ich helf dir hoch." "Nein, ist nicht so schlimm.", röchelte er, immer noch nach Luft schnappend, nahm Ayakas dargebotene Hand und ließ sich von ihr auf die Beine helfen. "Ich glaube, wir sollten das nicht weiter ausprobieren.", meinte Ayaka besorgt, "Komm Chihiro, hier hast du dein Haarband zurück." "Hallo, ihr drei.", sagte plötzlich eine melodische weibliche Stimme, gerade als Ayaka das Band von ihrem linken Zopf herunterziehen wollte. Chihiro, Ayaka und Ichiyo wandten ihre Köpfe der Stimme zu und erblickten eine schöne junge Frau, die wenige Meter entfernt aus dem Boden gewachsen zu sein schien und sich höflich vor ihnen verbeugte. Sie war barfuss und trug ein leichtes blaues Sommerkleid, passend zu ihren strahlend blauen Augen. Trotz ihrer Augenfarbe besaß sie eindeutig japanische Gesichtszüge, war keine Europäerin. Bei näherem Hinsehen, schien sie jedoch nicht so jung zu sein, wie sie im ersten Augenblick erschien, sondern wirkte auf seltsame Art völlig alterslos. "Ich bin Manami und ich wohne hier in der Nähe", stellte sie sich vor, "Ihr müsst entschuldigen, aber ich habe euch schon die ganze Zeit, die ihr hier seid, beobachtet. Was ihr da eben gemacht habt, war sehr, äh, interessant. Dürfte ich das Haarband wohl auch einmal sehen?" Chihiro und ihre Freunde erwiderten die Verbeugung und sahen einander dann ratlos an. Wo war diese Frau hergekommen, wo wohnte sie, denn außer dem roten Gebäude schien kein anderes in der Nähe zu sein. Und von wo aus hatte sie sie beobachtet, ohne dass sie es bemerkt hatten? Die ganze Situation schien völlig unwirklich und ein wenig unheimlich. "Hallo Frau Manami. Äh, das Haarband gehört mir aber nicht.", sagte Ayaka dann vorsichtig, nahm es aus ihrem Haar und gab es Chihiro zurück. Chihiro ging ein paar Schritte auf die Frau zu und fragte dann: "Warum wollen sie es sehen? Und wenn sie es mir nicht wieder geben?" "Was ich eben gesehen habe, deutet auf echte Magie hin.", antwortete diese, "Das Haarband schein ein sehr starker Talisman zu sein. Ich möchte wissen, wer ihn gemacht hat und wie ein kleines Mädchen wie du daran gekommen bist. Aber du brauchst keine Angst zu haben, ich werde es dir wiedergeben." "Magie, woher wissen sie, dass es Magie ist?"; wollte Chihiro spontan wissen und Ayaka fragte: "Sind sie eine Hexe?", woraufhin Manami lächeln musste und erwiederte: "Nein, ich bin keine Hexe, aber ich habe mich etwas mit Zauberei beschäftigt, rein aus, äh, beruflicher Neugier. Würdest du es mir zeigen, hm." Chihiro war von ihrer Stimme und ihrem Blick aus diesen blauer als blauen Augen wie hypnotisiert, so dass sie ihre Hand vorstreckte und der Frau das Haarband hinhielt. Diese griff danach, aber als sie Chihiros Hand berührte, zuckte sie zuerst überrascht zurück, bevor sie es dann mit nachdenklichem Gesichtsausdruck doch entgegen nahm. Sie hielt Chihiros Haarband einige Momente imit beiden Händen umschlossen, wobei sie die Augen schloss, bevor sie mit einem Seufzer mehr zu sich selbst murmelte: "Es ist mächtiger, als ich dachte.". Sie hockte sich vor Chihiro hin und fasste deren Haar mit dem Band wieder zu einem Zopf zusammen. Leise sagte sie zu Chihiro: "Du musst gut darauf aufpassen, es ist sehr wertvoll. Und zeig niemandem, was es kann. Es ist nicht gut, wenn ihr einfach damit herumspielt.". Dann blickte sie Chihiro noch einmal nachdenklich an, bis sich ihr Gesicht plötzlich aufhellte und sie fragte: "Sag mal, bist du nicht die kleine Sen? Ein guter Bekannter hat mir von deinen Eskapaden letztes Jahr erzählt. Das würde jedenfalls so einiges erklären. Zum Beispiel wo du das Haarband her hast." Chihiros Herz setzte einen Schlag aus. Sen? Ich Name war doch nicht Sen. Trotzdem wusste sie, dass Manami auch recht hatte und sie einmal Sen gewesen war, irgendwann. "Aber mein Name ist doch gar nicht Sen, sondern Chihiro.", sagte sie trotzdem, da ihr nicht einfallen wollte wieso sie Sen gewesen war. "Ist schon gut, Chihiro.", sagte Manami lächelnd und strich dem Mädchen über das Haar, "Hm, kannst dich an nichts erinnern, oder? Dann wollen wir es dabei auch belassen, ist schon besser so.". Damit stand sie auf und verbeugte sich noch einmal vor Ayaka und Ichiyo. "Ich würde mich freuen, wenn ihr mich öfter mal besuchen kommt. Es ist immer so einsam und langweilig hier.", verabschiedete sie sich, drehte sich um und ging einfach fort. Alle drei verbeugten sich leicht verwirrt vor der fortgehenden Frau, blickte ihr nach, wie sie langsam den See umrundete und auf der anderen Seite verschwand, als wenn sie sich in Luft aufgelöst hätte. "Huh, das war aber merkwürdig.", schüttelte sich Ichiyo, "Da ist einem ja eine Gänsehaut den Rücken hinunter gelaufen." "Ja, die war seltsam!", ergänzte Ayaka hinzu, "Hast du ihre Augen gesehen. Nicht einmal Rundaugen (Europäer) haben soo blaue Augen." "Ja, merkwürdig war sie schon, aber ich fand sie trotzdem Nett.", legte Chihiro sich fest, die immer noch ein wohlig warmes und leicht schwindeliges Gefühl von dem Moment hatte, als Manami ihr den Zopf gebunden und sie gestreichelt hatte. "O Mist, jetzt fängt es auch noch zu Regnen an.", schimpfte Ayaka, als sie bemerkte, dass es leicht zu nieseln begonnen hatte, "Ich geh mal und hol den Ball. Er muss irgendwo da in den Wald gesprungen sein.". Sie rannte los und verschwand zwischen den Bäumen, während Ichiyo und Chihiro ihr Sachen zusammenrafften, in den Rucksack stopften und sich flugs anzogen. Auch Ayakas Sachen packen sie schnell zusammen und legten ihre Kleider zurecht, die sie zuoberst in ihren Rucksack packten, damit sie nichts Nasses anziehen musste. Eine viertel Stunde später kam Ayaka wieder aus dem Wald geschlichen und zog eine Fleppe, wie Chihiro es bei ihr noch nie gesehen hatte. "Scheiße, verdammte Kacke, der Ball ist weg.", fluchte sie frustriert. "Aber Ayaka, so was sagt man doch nicht.", sagte Ichiyo automatisch, seiner Erziehung gehorchend, woraufhin Ayaka ihn wütend anfuhr: "Ach du, halt doch die Schnauze. Warum hast du den Ball auch nicht fest gehalten, du Blödmann!" Ichiyo schossen sofort die Tränen in die Augen, hatte er doch gedacht, dass Ayaka ihn mögen würde, so wie er sie gerne hatte. Chihiro ging zu Ayaka hin, um sie zu beruhigen, und nahm sie bei der Hand. "Komm Ayaka, es ist doch nur ein Ball. Zieh dich erst einmal an und dann gehen wir alle suchen.", beruhigte sie ihre Freundin, wobei sie sie zu ihrem Rucksack herüber zog. Während Ayaka sich mit muffeliger Mine anzog, ging Chihiro zu Ichiyo, der wie ein Häufchen Elend auf einem Baumstumpf hockte. Sie setzte sich neben ihn und legte ihren Arm um seine Schulter. "Ichiyo, Ayaka hat das nicht so gemeint, sie ist nur traurig, weil ihr Fußball weg ist.", sagte sie leise in sein Ohr, "Komm, hilfst du mir suchen?" Ichiyo schniefte: "OK, gehen wir suchen.", womit er aufstand und in Richtung des Waldes ging. Chihiro folgte ihm, aber Ayaka, die sich inzwischen angezogen und etwas beruhigt hatte, rief: "Ichiyo, es tut mir leid. Ihr, ihr braucht jetzt nicht suchen. Ich hab sowieso noch einen Ball zu Hause, ist also nicht so schlimm. Außerdem kannst du ja nichts dafür, ich wollte doch, dass du den Ball wirfst. Komm, wir gehen nach Hause, bevor wir alle klatschnass werden." Nach Ayakas Entschuldigung, fasste Ichiyo sich schnell wieder und gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg. Ayaka schlug die Richtung zum Bach ein, aber Chihiro erklärte sich zur Überraschung aller bereit, den kürzeren, schnelleren und vor allem auch trockeneren Weg durch den Tunnel zu nehmen. Als sie das rote Gebäude erreichten, überlegte Chihiro kurz, ob sie den Plan, den sie sich vorhin zurecht gelegt hatte, noch umsetzen sollte, aber sie fand, dass Ayaka und Ichiyo ein Ablenkung brauchten, um den blöden Streit von eben zu vergessen und so dachte sie konzentriert an den Wartesaal, als sie durch den Tunnel gingen. "Schau mal, wie hell der Ausgang erleuchtet ist.", bemerkte Ichiyo, als sie etwa die Hälfte des Weges durch den Tunnel zurück gelegt hatten, "Als wenn dort die Sonne scheinen würde." Die Sonne schien aber nicht, sondern der Wartesaal war hell mit Lampen erleuchtet und der Ausgang war dunkel, als ob draußen bereits Nacht währe. Auf den Bänken hatten duzende merkwürdiger Gestalten Platz genommen, andere standen in Gruppen zusammen und unterhielten sich angeregt. Keine dieser Gestalten nahm zunächst von ihnen Notiz, als sie durch die linke Tunnelöffnung in der Rückwand des Raumes in diese Szene platzten. Chihiro selber war mehr verwundert und neugierig, als erschrocken, während Ayaka und Ichiyo wie erstarrt waren und sich mit aufgerissenen Augen unwillkürlich krampfhaft an Chihiro festklammerten. Direkt ihnen gegenüber saß ein riesiges Etwas auf dem Boden, dass wie ein Konglomerat aus verschiedenen Wurzeln und Ästen aussah, jedoch über Hörner verfügte und einen dichten, rosafarbenen Pelz besaß. Es blickte sie aus mehreren großen Facettenaugen an. Noch ehe sie sich an den Anblick gewöhnt hatten, wurde Ichiyo von hinten angestupst und ärgerlich von einer Art riesigem Vogel mit gelbem Federkleid angefiept. Chihiro zog daraufhin Ayaka und Ichiyo etwas zu Seite, da sie immer noch genau vor dem Tunnelausgang standen und ihn so blockierten. Kaum hatten sie ihn frei gemacht, strömte eine ganze Prozession duzender dieser Vogelwesen aus dem Tunnel. Ayaka, die das ganze mit vor Angst geweiteten Augen beobachtet hatte, riss sich mit einem Quieken von Chihiro los und stürmte mit lautem Gekreische in den mittleren Tunnel, um aus der Situation zu entkommen. Wenige Augenblicke darauf kam sie aus dem rechten der drei Tunnel wieder herausgerannt und stieß mit einem Wesen zusammen, dass wie eine Art grüne Kartoffel aussah, jedoch in einen feinen, mit Blumen bedruckten Seidenkimono gewandet war. Mit einem Schnauben verzog es sein Gesicht zu einer Maske des Ekels, hielt sich die überdimensionale Nase mit einer seiner vier Hände zu und machte mit den drei anderen eine abwehrende Geste in Ayakas Richtung, die schockiert und keuchend dastand. "Iiieee, ein Meeensch.", machte das Wesen mit hoher, näselnder Stimme, "Was hat der den hier zu suchen. Bedieeenung, Bediiiiieeeeeeenung. Bäh, grausiger Service hier, ich werde mich bei Madame Yubaba beschweren." Mit den drei freien Armen wollte es nach Ayaka greifen, um sie fortzuschieben. Diese lief jedoch mit einem erneuten Quieker panisch davon, umrundete eine Säule, rammte fast gegen eine Bank, blieb beinahe an einer der Wurzeln dieses Wesens hängen und stürmte dann in den linken Tunnel hinein, um kurz darauf aus dem mittleren wieder heraus zu kommen, wo sie mit kalkbleichem Gesicht wie angewurzelt stehen blieb. Mühsam löste sich Chihiro, die überhaupt keine Angst verspürte, von Ichiyo, ging zu Ayaka herüber, um sie von dem Tunnelausgang weg zu ziehen. "Mann Ayaka, reiß dich zusammen und benimm dich.", zischte sie, "Keiner tut dir hier was." Mehrere andere Gestalten wurden jetzt auf die Drei aufmerksam, darunter ein Wesen, dass wie ein riesiger weißer Rettich aussah und in mittelalterliche Reisekleidung gehüllt war. Langsam stapfte es zu ihnen herüber. Mittlerweile war ein Affe in einem Pagenanzug durch den Ausgang von draußen herein gekommen und verkündete mit lauter Stimme: "Sehr verehrte Gäste, die Fähre zum Badehaus legt in wenigen Minuten ab. Bitte versammeln sie sich am Anlegesteg.". Sein Blick schweifte durch die runde und blieb an Chihiro, Ayaka und Ichiyo hängen, so das er hinzufügte: "Alle sind willkommen, alle außer ... Menschen!" Der Rettich, der Chihiro unheimlich bekannt vorkam, baute sich mit seinem mächtigen Bauch vor ihnen auf, verbeugte sich und sagte mit tief grollender Stimme: "Verehrte Sen, ich freue mich, dass es ihnen gut geht, aber es währe besser, wenn ihr jetzt wieder ginget." Chihiro und Ichiyo verbeugten sich artig, wobei Ichiyo die Bewegung mehr oder weniger automatisch mitmachte, weil er sich so heftig an Chihiro klammerte. Ayaka starrte ihn nur mit blödem Gesichtsausdruck an und verbeugte sich nicht, was der Rettich aber einfach ignorierte. Er drehte sich gemächlich um und begann in Richtung des Ausganges zu watscheln. Die meisten Gestalten bewegten sich mittlerweile auch mehr oder weniger eilig zum Ausgang während Chihiro Ayaka und Ichiyo zum mittleren Tunnel herüber zog. Gemeinsam warteten sie kurz, bis er frei wurde und gingen dann hinein, wobei Chihiro angestrengt an den Tunnelausgang auf der Seite des roten Gebäudes dachte, an der nach Hause führte. Kurze Zeit später verließen sie den Tunnel in fortgeschrittener Dämmerung im prasselnden Regen. Schweigend machten sie sich auf den Rückweg, wo sie schnell durchnässt waren, und Chihiro hatte Schwierigkeiten überhaupt zu gehen, weil sich ihre beiden Freunde immer noch schockiert an ihr festhielten. Wenigstens war der Regen lauwarm, so dass sie nicht frieren mussten. Chihiro merkte, dass Ayaka und Ichiyo zu verwirrt und geängstigt waren, um jetzt zu reden. Sie mussten dass Erlebte erst einmal verarbeiten, also ließ sie die beiden in Ruhe in Ruhe. Sie machte sich außerdem Vorwürfe, dass sie in diese Situation geraten waren, was hatte sie die beiden auch mit auf die andere Seite nehmen müssen. Selbst war sie von den dort anwesenden Gestalten zwar überrascht aber nicht geängstigt worden, denn diese Wesen waren ihr größtenteils vertraut gewesen. Sie war ihnen schon einmal begegnet, nur konnte sie sich einfach nicht erinnern, wo. Dann fiel ihr siedend heiß ein, was diese Gestalten waren. Es waren die japanischen Naturgottheiten, die Kami, die dort hin gekommen waren, um ... um was zu tun? Sie hatte das Gefühl, dass sie es eigentlich wissen müsste. Auf jeden Fall hatte dieser dicke Rettichgott sie gekannt, wie auch sie sich an ihn erinnern konnte, und mit dem gleichen Namen angeredet, wie die merkwürdige Frau Manami vorhin am See: Sen. Diese hatte nicht nur ihren Namen erraten, von dem ihr ein Bekannter erzählt hatte, sondern auch gewusst, dass etwas ihr Gedächtnis blockierte, so dass sie sich an nichts erinnern konnte. Wenn dieser Rettichgott ihren Namen kannte, bedeutete das, dass die Frau etwa auch den Göttern begegnet war? Oder war sie am Ende selber eine Göttin. Sie wollte Manami sofort am nächsten Tag besuchen gehen, schließlich war sie ja von dieser dazu aufgefordert worden. "Du sag mal Chihiro, das mit dem Haarband vorhin, das war wirklich Cool.", sagte Ayaka plötzlich gut gelaunt in Chihiros Gedanken hinein, "Und du weißt wirklich nicht, wo du es her hast? Ob wirklich echte Magie darin steckt?" Chihiro war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie Ayaka und Ichiyo sie los gelassen hatten. "Ja genau." pflichtete Ichiyo ihr ebenso gut gelaunt bei, "Aber diese Frau, diese Manami, die war wirklich ein wenig unheimlich. Wie die auf einmal wie aus dem Nichts aufgetaucht ist." Chihiro versuchte verwundert die Gesichter ihrer Freunde in der tiefen Dämmerung zu erkennen, konnte aber die Gesichtszüge nicht ausmachen. Die Äußerungen ihrer Freunde verwirrten sie ein wenig. Waren sie eben nicht noch völlig verängstigt und schockiert gewesen. Jetzt benahmen sie sich, als wenn das alles nie passiert währe. Wenn sie über den Wartesaal voll von Kami gesprochen hätten, hätte sie das verstanden, aber das jetzt war einfach absurd, als ob es nie passiert wäre. Gerade wollte sie an ihrem eigenen Verstand zweifeln, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Sie hatten es vergessen! Genau wie sie vergessen hatte, was sie dort auf der anderen Seite letztes Jahr erlebt hatte. Irgendeine Magie hatte es sie vergessen lassen. "Sagt mal, als wir vorhin durch den Tunnel gegangen sind,", fragte sie deshalb vorsichtig, "da ist euch doch nicht etwas aufgefallen?" "Was soll uns denn aufgefallen sein?", wollte Ichiyo leicht verwirrt wissen, "Wir sind auf der einen Seite hinein gegangen und auf der anderen wieder heraus gekommen, wie das Tunnel so an sich haben. Auf jeden Fall ist mir aber aufgefallen, dass es angefangen hat zu Regnen. Sauwetter!" "Genau, lass uns schneller gehen, ich will nicht noch nasser werden und am Ende noch eine Erkältung kriegen.", fügte Ayaka hinzu. Sie hatten jetzt das Ende des Waldweges erreicht und konnten den großen alten Baum sehen, wie er sich gegen den nachtgrauen Himmel abhob. Gemeinsam kämpften sie sich den vom Regen glitschig gewordenen Abhang zu Chihiros Haus hinauf, bevor sie sich dann von ihr bis zum nächsten Wochenende verabschiedeten und durch den Regen die Strasse entlang nach Hause rannten. In ihrem eigenen Haus wurde sie von ihrer Mutter empfangen, die vor Sorge bereits ganz aufgelöst war, denn es ging, wie sich herausstellte, bereits auf 11 Uhr Abends zu. Chihiro konnte sich nicht erklären, wieso sie so lange weg gewesen war. Ihrem Zeit- und Hungergefühl nach, hätte es höchstens so gegen Neun sein dürfen. Jedenfalls war sie dankbar für die Fischsuppe, die ihr ihre Mutter warm gehalten hatte und von der sie dann mehrere Teller voll herunterschlürfte, bevor sie gegen Mitternacht erschöpft ins Bett fiel. Kapitel 12: Überfroschung ------------------------- Hallo zusammen. Es tut mir leid, dass es wieder mal so lange gedauert hat, aber nach Weihnachten hatte ich 'ne regelrechte Schreibblockade. Ich hab teilweise 2-3 Stunden auf den Text gestarrt und dann gerade mal einen Satz zustande gebracht. Freitag habe ich mir mein Machwerk dann mal als Ganzes reingezogen und nur kopfschüttelnd gedacht: "Was hast du denn da fürn Mist verzapft." Das Wochende habe ich dann damit verbracht alles noch mal umzuschreiben und hier ist jetzt das Ergebnis. Viel Spass, Pazu Überfroschung Torooru wusste langsam nicht mehr ein noch aus. Jetzt hatte Yubaba ihm schon wieder drei neue Frösche mit herunter geschickt. Das bedeutete, dass jetzt insgesamt schon 42 Frösche hier unten im Bergwerk lebten. Dazu gekommen war es, weil seit letztem Jahr, seit Haku die Wasserquelle in dem Seitentunnel entdeckt und freigegraben hatte, sich die Situation der Frösche hier unten derartig verbessert hatte, dass keiner von ihnen mehr gestorben war. Die drei armseligen Gestalten drängten sich hinter ihm im Aufzug auf der Einfahrt ins Bergwerk ängstlich zusammen und Haku stand nach seiner "Unterrichtsstunde" bei der Hexe wie in Trance in neben ihm, teilnahmslos vor sich hin starrend. Wenn ihm Yubaba weiterhin in regelmäßigen Abständen "Nachschub" schickten würde, um die "gestorbenen" Frösche zu ersetzen, würde nun deren Anzahl hier unten immer größer werden. Sie würden immer mehr Nahrung verbrauchen, bis sich ein neues Gleichgewicht eingestellt hätte und die Frösche nicht mehr an Wassermangel, sondern würden Hungers sterben müssten. Verzweifelt dachte er zurück, wie gut sich nach dem Wasserfund vor einem Jahr zunächst alles angelassen hatte. Die Arbeitskraft der Frösche hatte mit der endlich ausreichenden Wasserversorgung derart zugenommen, dass die ihr Arbeitspensum in der halben Zeit schafften, ohne in einen Zustand der Erschöpfung zu geraten. So hatten sie auch die Instandsetzung der Tunnelabstützung in wesentlich kürzerer Zeit absolviert, als Torooru geschätzt hatte und da jede Menge Baumaterialien übrig geblieben waren, hatten sie begonnen, einen zweiten Aufenthaltsraum in der Nähe der Quelle in den Felsen zu schlagen, den sie mit weiteren Schlafgelegenheiten und vor allem mit in den Boden eingelassenen Wasserbecken ausstatteten. Diesen neuen Raum nannten die Frösche scherzeshalber das "Terrarium". Zwar war die Temperatur wegen der fehlenden Frischluftzufuhr im Terrarium wesentlich höher, als in der alten Wohnhöle vorne am Aufzug, aber die Frösche verbrachten ihre Zeit trotzdem lieber dort, den sie konnten dort den ganzen Tag in den Wasserbecken verbringen und es sich gut gehen lassen. Da die Frösche sich unten am eigentlichen Kohleflöz mittlerweile gegenseitig auf die Flossen traten, wurde die Arbeit nun so verteilt, dass sie eine Hälfte der Froschmänner frei hatte und diese Zeit im wesentlichen im Terrarium verbrachten und die andere Hälfte unten im Flöz die Kohlen abbaute. Diese Hälfte verbrachte dann auch die Nacht in der Wohnhöhle, wo sie im Anblick bei einer möglichen Kontrolle durch Yubaba, schmutzig wie sie vom Kohleabbau waren, gegenüber dem alten Zustand vor dem Wasserfund kaum einen Unterschied boten. Am nächsten Morgen rückten sie dann alle ein, wo dann an dem Seitentunnel der zu Wasserquelle und "Terrarium" führte ein Austausch der Mannschaft vorgenommen wurde. Auf diese Weise schöpfte Yuababa keinen Verdacht, die nach dem Zwischenfall im Vorjahr öfters eine Kurzinspektion des Bergwerks vornahm. Das alles hätte so schön sein können, wäre da nicht ein weiteres Problem erwachsen, mit dem Torooru gar nicht gerechnet hatte. Die Wasserversorgung war zwar nun gesichert, aber die Nahrungsmittelzuteilung für das Bergwerk hatte sich nicht erhöht. Diese reicht gut für etwa 20 Personen, den großen Appetit Toroorus mit eingeschlossen, aber jetzt mussten damit bereits 42 Frösche, Haku und er selbst, also insgesamt 44 Personen versorgt werden. Es reichte einfach vorne und hinten nicht mehr, so dass selbst er sich stark hatte einschränken müssen und in den letzten sechs Monaten sichtbar abgenommen hatte. Einzig und alleine Haku schien das alles überhaupt nichts auszumachen. Er nahm nie mehr als seine winzige Wasser und Nahrungsration entgegen, wie er sie fast von Anfang an bekommen hatte und leistete trotzdem stoisch die schwere Arbeit als Zugpferd vor den Loren. Dabei liess er sich auch von niemandem helfen oder akzeptierte jemals eine Ablösung. Nach getaner Arbeit verzehrte der mit entnervender Langsamkeit seine Ration, fast so, als müsse er sich zwingen zu essen, sass dann häufig noch eine Zeit lang auf seiner Kiste, um geistesabwesend vor sich hin zu starren, bevor er dann darin für die Nacht verschwand. Er kam dann am nächsten Morgen wieder heraus, wenn er erneut Loren zu ziehen hatte oder zu seiner wöchentlichen Unterrichtsstunde bei Yubaba erscheinen musste. Auch ansonsten hatte er sich vollkommen in sich selbst zurückgezogen und so weit sich Torooru erinnern konnte, seit seinem letzten Gepräch mit ihm, kein einziges Wort mehr mit irgendjemandem gesprochen. Es war fast so, als wäre er nur noch ein Geist, und auch wenn man direkt neben ihm stand, hatte man manchmal den Eindruck, als wäre niemand da. Nichts desto trotz tat ihm der Junge leid und Torooru ertappte sich immer wieder dabei, wie er zu Haku hingehen wollte, um ihm irgendwie zu helfen. Er fand aber nie die richtigen Worte, so dass er es am Ende dann doch immer bleiben liess und ihn wieder nur von weitem beobachtete. Dabei fühlte er sich immer richtig mies. Aber seine Beziehung zu Haku war im Moment zweitrangig. Er musste wegen der Versorgung mit Nahrungsmitteln irgendetwas unternehmen. Zu Yubaba zu gehen und sie über die Situation hier unten zu informieren, würde einen riesigen Ärger bedeuten, vor dem er sich fürchtete. Nur, was sollte er tun. Wenn er Alles so weiterlaufen ließ wie bisher, konnte er sich an fünf Fingern abzählen, wann sich die Situation hier unten so zuspitzen würde, dass Yubaba es selbst herausfinden musste. Sorgenvoll blickte er auf Haku hinunter, der immer noch bewegungslos neben ihm im Aufzug stand. Der Drache hatte recht gehabt, als bei ihrem letzten Gespräch vor gut einem Jahr gesagt hatte, dass er kein gutes Gefühl bei der Sache hätte und irgendetwas übersehen hätte. Auf jeden Fall würde es Yubaba endlich einen Vorwand liefern, sich seiner entgültig zu entledigen, wenn sie herausfand, dass er ohne Erlaubnis nach Wasser gegraben und sich dafür vor der Arbeit gedrückt hatte. Und sie würde es herausfinden! Torooru sah erneut zu Haku herab und dachte ein weiteres Mal an ihr letztes Gespräch zurück. Wenn Yubaba es herausfände, würde er genau in jener Grube unterhalb ihres Büros enden, wie so viele andere vor ihm, und seine Seele wäre auf ewig darin gefangen. Es würde genau das passieren, wovor sich der Junge am meisten fürchtete. In diesem Augenblick erreichten sie mit dem Aufzug die verwaiste und spärlich beleuchtete Haupthöhle. Der Troll scheuchte in seiner rüden Art die drei neuen Frösche aus dem Aufzug, in eine der Loren des bereitstehenden leeren Zuges und machte sich daran, die rasante Fahrt in den Abbaubereich zu vorzubereiten. Haku trottete wie eine Marionette hinter ihnen her und bestieg roboterhaft eine freie Lore, in der er sich auf den Boden plumpsen ließ. Vier Wochen später hatte sich die Situation weiter verschlimmert, da Yubaba in einem Zornesausbruch weitere sechs Frösche in das Bergwerk geschickt hatte. Torooru hatte noch mitbekommen, wie sie mit jemandem telefoniert hatte, der ihr mitgeteilt hatte, dass ein besonders hochgeschätzter, wichtiger und vor allem auch vermögender Gast eine unmögliche Summe dafür geboten hatte, wenn er die Dienste einer gewissen Sen beim Baden in Anspruch nehmen könnte. Aber diese Sen war wohl aus irgendwelchen Gründen nicht verfügbar, so dass der Gast schließlich ungehalten und vor allem ohne Gold da zu lassen wieder abgereist war. Daraufhin hatte sie in ihrem Ärger darüber einfach die sechs Frösche ins Bergwerk geschickt, die diesem wichtigen Gast zugeteilt worden waren. Damit waren jetzt im Bergwerk bereits 50 Mäuler zu stopfen, mit Nahrungsmitteln, die für 20 Leute gedacht waren. Widerwillig musste Torooru in den nächsten Tagen die Rationen noch weiter reduzieren, so dass die Frösche nun doch anfingen zu murren und zudem in ihrer Arbeitsleistung deutlich nachließen, weil sie einfach nicht mehr genügend zu beißen bekamen. Von Wasser alleine wurde man nun einmal nicht satt. Im Laufe der folgenden Woche wurde der Druck der Situation auf ihn immer größer, so dass er sich genötigt sah, zu einer Entscheidung zu gelangen. Diese Entscheidung nach aller Überlegung und trotz allen Sträubens nur lauten, Yubaba über die veränderte Situation hier unten zu informieren. Doch er fürchtete sich vor ihrer Reaktion. Der Zweck des Bergwerkes war ja nicht nur die Versorgung des Badehauses mit Kohle, sondern ebenso auch die Entsorgung der überflüssigen Froscharbeitskräfte, denn Yubaba konnte es sich nicht leisten, sie gehen zu lassen und von den Zuständen im Badehaus woanders zu erzählen. Konsequenterweise musste sie also die Wasserquelle wieder versiegeln, um erneut den alten Zustand herzustellen und die Frösche müssten sich hier unter im wahrsten Sinne des Wortes wieder zu Tode schuften. Und Haku, was würde sie mit ihm tun? Torooru hatte keinen Zweifel, dass sie dies Ereignis als Vorwand nehmen würde, ihren Lehrling, und das war er ja offiziell noch immer, endgültig loszuwerden. Haku hatte seine Aufgabe des Lorenziehens einmal nicht erfüllt, sich heimlich davon geschlichen und statt dessen das Wasser freigelegt. Damait hatte er ganz klar gegen die Interessen des Badehauses verstoßen und seinen Vertrag gebrochen. Und er, Torooru hatte es ihr nicht gemeldet. Er selber rechnete zwar auch für sich mit einer Bestrafung, aber die Hexe brauchte ihn, um das Bergwerk hier unten zu leiten, so dass er nicht um sein Leben fürchten musste, dafür aber um so mehr um das von Haku. Dabei hatte er sich gerade jetzt an den Drachen gewöhnt und war froh um dessen Gesellschaft, froh um jemanden, der nicht einfach kam und ging, wie die Frösche. Was sollte er nur tun? Wie war er bloß in diese Situation geraten? Wenn er nichts tat, würden sie entweder alle verhungern oder Yubaba würde von alleine herausfinden, was los war, und wenn er Yubaba Bescheid sagte, würde sie endlich einen Grund haben Haku offiziell, nach den Regeln des Vertrages zu töten. Aber es half einfach nichts, er musste jetzt etwas unternehmen, bevor alles noch schlimmer würde. Entschlossen stapfte er, nach seinem Beinbruch kaum noch hinkend, zu Haku herüber, der wie in Trance auf seiner Kiste sitzend sein Abendessen einnahm. "Hako, äch moss mät där rädän.", sagte er, als er vor dem Jungen stand, wobei er sich bemühte, leise zu reden, "Äch moss äs Yobaba sagän." Haku reagierte jedoch überhaupt nicht, sondern saß weiterhin mit glasigem, starrem Blick nach vorne da und kaute in Zeitlupe seinen Reis. "Hako, Haaakoho, hast do mäch gähört?", keuchte Torooru, Haku jedoch reagierte immer noch nicht. "Hako, ställ dän Raäs baäsaätä on hör mär zo.", befahl er daraufhin leise, denn immerhin hatte Haku in den letzten Monaten kommentarlos jeder Anweisung gehorcht. Vielleicht würde er auf einen Befehl reagieren. Der Junge stellte denn auch, immer noch lähmend langsam die Reisschüssel neben sich und richtete einen trüben Blick auf Toroorus Gesicht, wo er ohne zu blinzeln verharrte. "Äch moss äs Yobaba sagän, das mät däm Wassär ond alläm. Wär värhongärn sonst allä.", krächzte er fast flehentlich, mit brüchiger Stimme, auf Hakus Einsicht hoffend, aber dieser glotzte den Troll weiterhin ohne jeden Funken eines Verstehens an. "Mänsch, Jongä, was äst dänn los?", grollte der Troll in seiner Verzweifelung, "Värstähst do dänn nächt, was das bädoätät? Äs äst alläs aos!" Damit packte er Haku bei den Schultern und schüttelte ihn. Haku wehrte sich nicht dagegen, blinzele mit einem Male jedoch, als wäre er aus einem Traum erwacht und fixierte den Troll plötzlich mit festem Blick. Nachdem Haku beschlossen hatte, vorerst nicht zu sterben, hatte er begonnen sich selbst zu konditionieren, nur noch bedingungslos jede Anweisung Toroorus auszuführen, um nicht erneut irgendwelche voreiligen Dinge zu tun, die im Endeffekt andern schaden könnten. Kein Widerspruch, kein Zweifel, keine Emotionen und keine Nachlässigkeit mehr sollten sein Handeln beeinflussen. Um dieses Ziel zu erreichen hatte er seine ganze Kraft darauf verwendet, sein eigenes Selbst vollkommen auszuschalten, bis er dauerhaft in einen ähnlichen Zustand geraten war, wie unter dem Einfluss von Yubabas verfluchtem schwarzen Wurm. Er dachte nicht mehr, sondern handelte nur noch, entsprechend Toroorus Befehlen, nahm nur noch wahr, was zur Ausführung dieser notwendig war und konnte sich im Nachhinein kaum erinnern, was er getan hatte. Auch das Zeitgefühl ging ihm vollkommen verloren. Ein Augenblick war eine Stunde, ein Tag, eine Woche, ein Monat, einerlei. Deshalb wusste er auch nicht, wie lange er sich in diesem Zustand befand. Alle anderen Tätigkeiten, die aktives eigenverantwortliches Handeln erforderten, wie etwa essen, schlafen oder waschen erforderten eine unsägliche geistige Anstrengung und gingen entsprechend langsam vonstatten. So war es denn auch gekommen, dass er von den ganzen Vorgängen im Bergwerk, wie etwa der Einrichtung des Terrariums, der stetigen Zunahme der Anzahl an Fröschen oder der Kürzung der Rationen bewusst nichts mitbekommen hatte. Erst als Torooru ihm befohlen hatte zuzuhören, waren dessen Worte langsam in sein Bewusstsein gesickert und ebenso langsam begannen die Rädchen seines Geistes sich wieder zu drehen. Toroorus Schütteln allerdings beschleunigte diesen Vorgang ein wenig. "Torooru, es ist schon gut, ich habe dich verstanden.", flüsterte er mit heiserer Stimme, nachdem der Troll aufgehört hatte, ihn durchzurütteln, denn er hatte seit fast einem Jahr nicht mehr gesprochen, "Du willst mir sagen, dass du mich töten musst. Das ist schon OK, Torooru, dann hast du von Yubaba nichts zu befürchten und ich habe sowieso nichts anderes verdient, wenn ich an all die Verbrechen denke, die ich im Auftrag von Yubaba begangen haben muss." "Abär das kann doch nächt daän Ärnst saän, Hako? Äch wäll däch doch nächt ombrängän!", entfuhr es dem Troll vor Schreck und schwer atmend mit rasendem Herzen starrte er auf den Jungen herab. Er konnte es einfach nicht fassen, wie kaltblütig und unbeteiligt der Drache das geäußert hatte. "Doch, Torooru, das ist mein voller Ernst.", antwortete Haku ruhig, "Was glaubst du, wollte ich tun, als ich das Wasser durch Zufall gefunden habe? Ich wollte mich nicht vor der Arbeit drücken, ich wollte sterben, mich von einer Felsanemone fressen lassen! Doch dann bin ich auf dieses Wesen im Tunnel gestoßen und es ist alles anders gekommen. Ich werde ohnehin nicht mehr lebend hier heraus kommen und wenn ich die Wahl habe, von deiner oder von Yubabas Hand zu sterben, dann wähle ich dich, Torooru. Nur bitte, bitte sorg dafür, dass ich nicht in dieser Grube ende." "Naän, Hako, das kanns do doch nächt von mär värlangän, das äst doch wahnsännäg.", brüllte der Troll verzweifelt. "Nein, Torooru, das ist völlig logisch.", antwortete Haku gelassen und lehnt sich etwas zurück, um den Troll besser ansehen zu können, "Schau, Yubaba wird uns für das lynchen, was wir hier durch das Wasser erreicht haben. Diese Situation, dass ihr jetzt hungern müsst, ist durch meinen Eingriff entstanden, also muss ich auch die Verantwortung dafür tragen, um dich und die Frösche zu schützen. Yubaba hat mich sowieso hier herunter geschickt, damit ich hier sterbe und nichts wird sie mehr befriedigen, als wenn du ihr meinen Kopf bringst. Was bin ich denn schon. Ein heimatloser Drache, ein Flussgott ohne Fluss, der sich von einer Hexe zu einem Sklaven, Dieb und Mörder hat degradieren lassen. Wenn du ihr meinen Kopf bringst, wird sie dich vielleicht ungeschoren lassen. Also reiß mit das Halsband herunter, das wird mich sicher umbringen." Torooru blickte nachdenklich zu Haku, der ihn erwartungsvoll und ohne Angst anblickte. So wie er das sagte, hörte es sich tatsächlich logisch an. Aber Moment mal. Was würde sich denn ändern? Haku wäre tot, die Frösche müssten sich wieder zu Tode schuften, er wäre weiterhin hier unten gefangen und Yubaba würde so weiter machen, wie bisher. Irgendwo musste in Hakus Logik ein Fehler sein. "Naän Hako, äch wärdä däch nächt tötän!", sagte der Troll deshalb und fuhr fort, "So langä do läbst, gäbt äs ämmär noch Hoffnong. Vällaächt passärt ätwas völläg Onärwartätäs. .... Wänn wär doch nor mähr zo Ässän hättan!" Mit einem Seufzer wandte sich der Troll ab und gin in seinen Verschlag, um über die Situation noch einmal nachzudenken. Haku selber fühlte zu seiner eigenen Verwunderung überhaupt nichts, keine Angst, keine Trauer, keine Bitternis, aber auch keine Erleichterung darüber, dass ihn der Troll nicht umbringen wollte. Innerlich war er ohnehin zu der Überzeugung gelangt, dass jeder Versuch seinerseits jemandem anderen zu helfen, dessen Leid letztendlich nur vergrößerte. Sein letzter Versuch die Situation im Bergwerk zu verbessern war ein perfektes Beispiel dafür. Statt zu verdursten mussten jetzt alle verhungern. Sein gut gemeintes Handeln hatte die Situation zwar temporär verbessert aber auf lange Sicht letztendlich verschlimmert. Es blieb alles beim alten. Die Frösche mussten sterben, damit Yubaba ihren Wahnsinn mit dem Badehaus weiterhin aufrecht halten konnte. Nein, er wollte kein Teil mehr dieser mörderischen Maschinerie sein. Aber es war ihm auch bewusst, dass er dem Ganzen, so lange sein Ausbildungsvertrag mit der Hexe lief, nicht entkommen konnte, weshalb er sich vor Scham und Ekel wünschte, er wäre Tot. Und selbst wenn er nach Ablauf des Vertrages entkäme, wie könnte er mit dem Wissen um die Zustände hier unten weiterleben, wo sollte er weiterleben, als heimatloser Flussgott? Aber da war immer noch das Versprechen, dass er Chihiro gegeben hatte, das Versprechen, sie noch einmal wiederzusehen. Band ihn diese Versprechen nicht an das Leben? Der Troll hatte gesagt, solange man lebte, gäbe es noch Hoffnung. Vielleicht sollte er ja doch noch einmal gründlich die Situation und seinen Wunsch zu sterben nachdenken. Wenn er den Troll überredete ihn zu töten, doch dann bliebe alles wie bisher, nur dass es ihn nicht mehr gäbe und Yubaba hätte die Genugtuung, ihn endlich beseitigt zu haben. Er konnte es aber auch darauf ankommen lassen und sehen was passiert, wenn Yubaba von der Situation hier unter erfährt. Vielleicht hatte er ja Glück und die Hexe liesse ihn am Leben, so dass er das Ende seines Lehrlingsvertrages doch noch erleben würde. Doch das wahr sehr unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher war, dass er in der Grube unter ihrem Büro enden würde. Hier unten würde dennoch alles beim alten bleiben und die Frösche müssten weiterhin für die Hexe sterben. Er könnte auch Torooru töten und damit das Bergwerk und somit auch das Badehaus faktisch schließen, denn ohne Kohlen gäbe es auch kein heisses Wasser mehr. Das wäre ein echter Schlag für Yubaba, doch wer wüsste, wie sie darauf reagieren würde. Vielleicht konnte er sie erpressen, indem er ihr klar machte, dass nur er, Toroorus statt, das Berkwerk leiten konnte, denn wenn es um das Geschäft ging, wusste die Hexe schon immer ihr Temperament zu zügeln, so dass sich Haku gute Chancen ausrechnete, damit sogar durchzukommen. Doch kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende verfolgt, lief es ihm vor Schrecken kalt den Rücken herunter. Dies war genau die Art, in der Yubaba dachte und handelte. Er würde sich selbst damit zum Parteigänger ihrer finsteren Interessen machen und sein Schicksal unentrinnbar an das von Yubaba binden. Da wäre es immer noch besser, tot zu sein. Auf die letzte Möglichkeit war er erst gekommen, nachdem ihm der Troll vorhin erzählt hatte, dass sie alle verhungern müssten. Denn vielleicht gab es hier unten doch Nahrung. Möglicherweise. Diese Tiere, die er tief im Tunnel in der Nähe der Wasserstelle wahrgenommen hatte, von denen die Felsanemone eines anstatt seiner gefressen hatte. Wenn Felsanemonen sie frassen, konnten ja eventuell auch Frösche sie essen. Nur würde er sich damit wieder auf diese unselige Strasse begeben und Yubabas Interessen zuwiderhandeln indem er den anderen half. Und würde er den Fröschen und Torooru damit wirklich helfen oder würde alles wieder noch schlimmer werden? Solange man am Leben war, gab es noch Hoffnung. Dann wurde ihm klar, dass er mehr Angst davor hatte, den anderen zu Schaden, indem er versuchte ihnen zu helfen, als vor dem Tod. Das war einfach zu dumm. Er war ein Drache, er würde versuchen den anderen zu helfen. Und wenn es schief ginge, würde er die Konsequenzen auf sich nehmen und die Folgen ertragen. Entschlossen stand Haku auf und ging zur Schlafhöhle herüber, die er jedoch nicht betrat, so wie es ihm vor langer Zeit befohlen worden war. "Torooru, Torooru!", rief er so laut, wie er konnte, was nicht besonders laut war, weil ihm seine Stimme noch immer nicht so recht gehorchen wollte, "Ich muss mit dir reden." Der Troll rührte sich jedoch in seinem Verhau nicht und die Froschmänner, die gerade beim Abendessen sassen, blickten ihn misstrauisch an. Doch auch nach mehrmaligem Rufen liess sich der Troll nicht sehen, so dass Haku einige Kohlestücke einsammelte und gegen die Tür seines Verhaus warf. Das laute Poltern schien nun doch zu Torooru durch zu dringen, so dass er kurz darauf missmutig seinen Kopf aus der Tür steckte. "Was äst dänn los, Jonge.", grummelte er, "Kannst do mäch dänn nächt än Rohä lassän. Äch moss nachdänkän." "Torooru, vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit.", rief Haku heiser zu Torooru erüber, "Ich weiss, woher wir vielleicht etwas zu essen bekommen." Der Troll kniff argwöhnisch die Augen zusammen. Dann winkte er Haku zu sich hinuber und bedeutete ihm, mit in die Hütte zu kommen. Dieser war dankbar dafür, dass Torooru sich seitdem genügend Wasser vorhanden war, zumindest einmal jede Woche wusch, und zwar nach jedem Rapport bei Yubaba, so dass es nicht allzu sehr auffiel, wenn er dann nach einer Woche wieder ungewaschen bei ihr auftauchte. "Wo, was, wo soll das saän?", platzte es aus ihm heraus, nachdem Haku sich auf einen Schemel gesetzt hatte. Haku blickte seinerseits zu Torooru hinüber, der sich auf die Kante seines riesigen, mit Äonen altem Heu bedeckten Bettes gestzt hatte. "Was glaubst du eigentlich, wovon sich die Felsanemonen ernähren?", fragte er den ungläubig blinzelnden Troll, der darüber offensichtlich noch nie nachgeacht hatte. Danach berichtete er Torooru von seiner Entdeckung, die er nach seinem eigenen Empfinden, erst vor wenigen Tagen gemacht zu haben glaubte. Staunend hörte sich der Troll Hakus Geschichte an, bevor sie sich dann berieten, wie und wo man diese Lebewesen wohl fangen könnte. Sie kamen zu der Überlegung, dass man ja im Prinzip nur Felsanemonen finden müsse, denn Felsanemonen können ja nur dort sein, wo es auch Nahrung für sie gibt. Unter der Annahme, dass diese Wesen die Hauptnhrungsquelle für die Felsanemonen bildeten, war die Wahrscheinlichkeit sehr groß, sie ebenfalls dort zu finden. Wegen seiner weitestgehenden Orientierungslosigkeit in völliger Dunkelheit schlug Torooru vor, dass Haku versuchen sollte, sie zu fangen, da er über Möglichkeiten magischer Wahrnehmung verfügte und ausserdem mit einem Paralysezauber einfach ein solches Lebewesen fangen können sollte, einer Bannblase, die ein Lebewesen temporär ausser Gefecht setzte und den er auch schon einmal bei dem kleinen grünen Frosch eingesetzt hatte, als er mit Chihiro über die Brücke zum Badehaus gekommen war. Kurz darauf hatten sie sich auch schon auf den Weg zum nächsten Seitentunnel gemacht, von dem der Troll wusste, dass es dort Felsanemonen gab. Er begleitete Haku nur einige Meter weit in den Tunnel, bis es so dunkel wurde, dass man nicht mehr viel erkennen konnte. Dort wünschte er Haku viel Glück, bevor dieser sich auf den Weg weiter in den Seitentunnel hinein machte. Bereits nach wenigen Metern wurde es vollständig dunkel. Haku hatte plötzlich ein sehr starkes Gefühl des Deja Vu und hörte das laute Pochen seines Herzens. Alles war genau so, wie das letzte Mal, als er sich hatte umbringen wollen und schliesslich das Wasser gefunden hatte. Unwillkürlich dehnte er seine magischen Sinne weiter aus, um nicht plötzlich in irgendetwas hinein zu laufen. Doch da war nichts vor ihm, nichts innerhalb der vielleicht 30 Meter, die seine Wahrnehmung jetzt reichte. Er würde seinen Wahrnehmungsradius auch noch weiter ausdehnen können wenn es notwendig gewesen wäre, aber das wäre schnell auf Kosten seiner Kraft und Konzentration gegangen. Vorsichtig ging er an baufälligen Stützstreben vorbei, musste mehrfach über Geröllhügel klettern, an Stellen, an denen die Deckenverschalung nachgegeben hatte, und einmal auch über einen fast 1m breiten Spalt im Boden springen, dessen Grund er nicht wahrnehmen konnte, der also tiefer als ca. 30 m sein musste. Nachdem er noch einige hundert Meter weiter gegangen war, nahm er endlich die wuselnde Bewegung wahr, nach der er gesucht hatte. Gerade am Rand seines magischen Wahrnehmungsradius' konnte er die Bewegung spüren. Er ging weiter. Aber immer wenn er versuchte den Wesen näher als etwa 25 m zu kommen, so verschwanden diese in ihren Felslöchern oder rannten tiefer in den Tunnel hinein. Nach einigen Versuchen gab er es auf, sich den Wesen direkt nähern zu wollen. Es würde also nicht einfach werden, eines zu fangen, denn um eine Bannblase um eines der Wesen herum zu erzeugen, musste er näher heran, viel näher. Er würde eines der Wesen in die Enge treiben oder aber sich wie ein guter Jäger auf die Lauer legen müssen, wie es die Felsanemonen ja auch machten. Leise schlich er sich an eine Felsspalte in der Tunnelwand heran, wo er einige der Wesen verschwinden wahrgenommen hatte, kauerte sich daneben auf den Boden und wartete. Etwa einen halben Meter tief im Felsgestein konnte er eine Höhlung wahrnehmen, in der zwei grosse und mehrere kleine Wesen sich verkrochen hatten, vermutlich die Elterntiere mit ihren Jungen. Jedoch rührte sich in dem Nest kaum etwas und die Tiere schienen zu schlafen. Haku musste ein schier endlose Zeit lang warten, bis endlich die Aktivität der Tiere wieder zunahm. Aber auch jetzt machten sie immer noch keine Anstalten, wieder aus ihrem Nest herauszukommen, sondern schienen mehr damit beschäftigt zu sein, sich um ihre Jungen zu kümmern. Endlich machte sich dann eines der Wesen, immer wieder umsichtig schnuppernd, auf den Weg nach draußen, um dann am Ausgang der Felsspalte zu verharren. Vermutlich, dachte Haku, nahm es seine Gegenwart irgendwie wahr, denn es schnupperte immer wieder in seine Richtung. Wahrscheinlich würde es wieder im Tunnel verschwinden, wenn er sich jetzt rührte und dann würde er wieder lange warten müssen. Innerlich fluchte er. Es konnte doch nicht so schwer sein, eines von diesen Tieren zu fangen. Er würde es einfach probieren mussen, sonst müsste er noch ewig warten. Blitzschnell zuckte seine Hand vor, schleuderte eine Bannblase nach dem Wesen und erwischte es, nicht jedoch bevor dieses reflexartig in die Felsspalte zurückgezuckt war. Haku versuchte nach dem Wesen zu greifen, bevor die Bannblase sich auflöste und das Wesen wieder freigab, aber es hatte es noch um einen scharfen Knick in der Felsspalte geschafft, so dass er es gerade nicht erreichen konnte. Wenn er eines der Wesen doch nur in die Enge treiben konnte. Und dann fiel ihm siedend heiss ein, dass die Wesen in ihrer Höhlung ja im Prinzip bereits in der Falle sassen. Er musste nur den Felsen aufgraben. Rasch wechselte er in seine Drachengestalt, stemmte seine Vorderklauen in den Felsspalt und riss das Gestein entzwei. In weniger als einer Minute hatte er sich bis zu dem Nest vorgearbeitet, in dem die Wesen jetzt panisch nach einem Ausweg suchten. In aller Seelenruhe fing er sie mit einer Bannblase, verwandelte sich wieder in seine menschliche Gestalt zurück, zog seinen Suikan aus und wickelte die Wesen, sowohl die beiden Elterntiere als auch die Jungen darin ein, bevor er sich auf den Rückweg zu Torooru machte. Wärend der meisten Zeit auf dem Rückweg verhielten sich die Wesen still, rührten sich nicht und gaben auch keine Geräusche von sich. Dies änderte sich dann aber rasch, als Haku wieder in einen Teil des Tunnels zurückkehrte, in den noch etwas Licht aus dem Haupttunnell gelangte. Laut quiekend versuchten die Wesen nun nämlich sich aus ihrer Lage zu befreien, begannen sich durch den Stoff seines Suikan zu nagen, offensichtlich um dem Licht zu entkommen. Als er dann die Haupthöhle betrat und direktes Licht der trüben Glühbirne über dem Aufzug die in seinen Suikan eingewickelten Wesen erreichte, fingen diese an unkontrolliert zu zucken bevor sie mit einem Mal still waren. Haku konnte fühlen, dass sie tot waren. Da niemand mehr wach zu sein schien und Haku den Troll jetzt auch nicht wecken wollte, er durfte ohne Toroorus Aufforderung die Schlafhöhle immer noch nicht betreten und hätte alle wach brüllen müssen, breitet er seinen Suikan auf seiner Kiste aus und nahm die Wesen genauer das erste mal bei Licht in Augenschein. Die erwachsenen Tiere waren zwischen 15 und 20 cm lang, allerdings abzüglich ihres Schwanzes, der etwa doppelt so lang war, wie der Rest des Körpers, und die Jungen etwa 5 cm lang. Sie hatten 6 Beine, riesengroße Ohren, eine rüsselförmige Nase, mit der sie möglicherweise auch greifen konnten, keinerlei Augen und auch kein Fell. Den Zähnen nach zu urteilen schien es sich um eine Art Nager zu handeln, denn die großen, vorstehenden Paare von Schneidezähnen waren unverkennbar. Das erstaunlichste an ihnen war aber das Fehlen jeglicher Pigmentierung. Dies führte nicht etwa dazu, dass die Tiere weiß waren, wie etwa Albinos, nein sie waren transparent und man konnte ihre inneren Organe gut erkennen, ebenso wie ihre Skelettstruktur. Eine solche Spezies konnte sich wohl nur in vollkommener Dunkelheit entwickeln und es wunderte Haku nicht mehr, dass sie unter der Lichteinwirkung einer einzelnen Glühbirne gestorben waren. Haku fragte sich, von was sich diese Tiere wohl ernähren mochten. Eine eingehendere Untersuchung des Verdauungstraktes brachte die Antwort schnell zu Tage. Er entdeckte in ihrem Inneren schwarze Pünktchen, die nicht zu der sonstigen Pigmentarmut passen wollten. Sie stellten sich zu Hakus Erstaunen als Kohlekrümel heraus. Konnte es tatsächlich sein, dass sich diese Tiere von Steinkohle ernährten? Auf jeden Fall war diese Frage im Moment zweitrangig. Viel wichtiger war die Frage, ob die Tiere essbar waren. Zumindest für die Felsanemonen waren sie das, aber das bedeutete ja noch lange nicht, dass auch die Frösche sie essen konnten, auch wenn sie mit Vorliebe solche Leckerbissen verspeisten, wie etwa geröstete Salamander, in Sojasoße eingelegte Gottesanbeterinnen oder gar frittierte Taranteln. Die größte Herausforderung aber war: Wie konnten sie genügend dieser Tiere fangen, um alle davon zu ernähren? Haku fiel dazu nur eine Antwort ein. Sie mussten die Tiere züchten, sonst würden irgendwann die Tunnel leergejagt sein und dann würde es erst richtig schlimm werden. Ernährten sich die Tiere aber von Kohlen, so könnten sie problemlos beliebig viele der Tiere füttern und züchten. Den Rest der Nacht setzte Haku sich auf den Boden vor seiner Kiste und wartete auf den nächsten Tag, um Torooru von seinen Ergebnissen zu berichten. Es stellte sich heraus, dass die Wesen, die er und Torooru wegen ihrer sechs Beinchen Käferratten getauft hatte, zwar nicht besonders schmackhaft, eigentlich schmeckten sie nach gar nichts, aber gut bekömmlich und nahrhaft waren. Sie hatten ebenso wie die Felsanemonen die Eigenschaft, sich in Wasser aufzulösen, so dass man sie problemlos zu einer fade schmeckenden, dickflüssigen Brühe verarbeiten konnte, indem man eine genügende Anzahl der Tiere einfach in heißem Wasser auflöste. Zum Entzücken der Froschmänner konnte man sie aber auch gut über einem Kohlefeuer grillen, wo sie dann etwa die Konsistenz von Erdnuss Flips erhielten Glücklicher Weise waren sie auch einfach zu fangen, als Haku nach seinen Problemen gedacht hatte, denn man brauchte nur einfach herzustellende Fangreusen mit der Öffnung nach oben aufzustellen, ein wenig frisch gehauene Kohle hineinzugeben und nach wenigen Stunden hatte man garantiert ein Dutzend Tiere oder mehr gefangen. Allein in dem Seitentunnel, in dem Haku die ersten Käferratten gefangen hatte, erbeuteten sie in der ersten Woche über 1000 Tiere. Das nächste Projekt, nämlich der Aufbau einer Farm für die Käferratten, um eine dauerhafte und kontinuierliche Versorgung mit Nahrung sicherzustellen, stellte sich jedoch bedeutend schwieriger heraus. Das Hauptproblem war hierbei die enorme Lichtempfindlichkeit der Käferratten, die schon unter geringster Lichteinwirkung verendeten. Die Versorgung der Tiere mit Kohle musste aber von Personen durchgeführt werden, die hierfür Licht benötigten, denn Haku konnte ja nicht alles machen. Das Problem fand seine Lösung, indem man den Käferratten Verschläge baute, in denen sie sich in Lichtdichte Kammern zurückziehen konnten, wenn sich jemand mit einer Grubenlampe näherte. Dieser konnte nun die Futtertröge mit frischer Steinkohle füllen, ohne die Aufzucht der Tiere mit seinem Licht zu gefährden. Wenn man fertig gemästete Tiere für den Verzehr benötigte, so brauchte man nur eine Klappe über den lichtdichten Kammern zu öffnen und mit der Lampe hinein zu leuchten, was dann die Käferratten auf der Stelle tötete, so dass man sie leicht einsammeln konnte. Da die Fortpflanzungsrate der Käferratten bei etwa einer Generation alle fünf Wochen lag, dauerte es nur knapp drei Monate, bis die Käferrattenfarm die ersten Erträge erbrachte und weitere zwei Monate, bis die mittlerweile 53 Froschmänner ernährt werden konnten. Bis es so weit war, bekam Haku allerdings besonders viel zu tun, denn bis die Erträge aus der Käferrattenfarm ausreichend waren und den Nahrungsbedarf decken konnten, mussten genügend der Tiere in freier "Wildbahn", bzw. "Tunnelbahn" gefangen werden. Hierzu musste er in viele verlassene Seitentunnel eindringen, dort die Fallen aufstellen und die möglichen Gefahren sondieren. Insgesamt wurde Haku bei dieser Aufgabe sechs mal von Felsanemonen erwischt, mit denen er in seiner Drachengestalt aber relativ problemlos fertig wurde. Weitere 33 Felsanemonen tötete er, indem er ihre Höhlungen mit Wasser voll pumpte, was sich als wesentlich effizienter herausstellte, als Toroorus Methode der Ausräucherung. Nebenher hatte er noch weiterhin seine Aufgabe als Zugdrache für die Loren zu erfüllen, so dass er am Ende dieser drei Monate völlig mit seinen Kräften am Ende war und sich zu fragen begann, wann sein Vertrag mit Yubaba denn nun endlich erfüllt war. Kapitel 13: Das WM-Endspiel --------------------------- Hallo alle zusammen, hier ist das neue Kapitel, jetzt sogar "betagelesen" durch Magicfantasie. Vielen Dank Magic ^___^! Und nochmal vielen Dank für Eure lieben Kommentare. Und tretet mir ruhig in den Hintern, wenn es nicht vorwärts geht. Vor allem die Haku Kapitel fallen mir immer so schwer und da brauch ich manchmal 'ne Aufmunterung. Aber es gibt ja sowieso nur noch ein Haku Kapitel, hehe ^^. Pazu PS Ich hab noch 'n paar Artefakte gefunden, die eigentlich als Anmerkung für Magic gedacht waren. Die sind jetzt raus. Das WM-Endspiel "Chihiro, jetzt beeil dich doch", rief Ayaka aus dem offenen Fenster der Toyota Previa Großraumlimousine ihres Vaters. "Sonst kommen wir am Ende noch zu spät zum Bahnhof!" Sie trug heute nicht ihr unvermeidliches japanisches Nationaltrikot, sondern hatte das blaue Torwarttrikot der deutschen Mannschaft mit der Nummer "1" und der Aufschrift "Kahn" an. Um die Stirn hatte sie sich ein Tuch in den Farben Schwarz, Rot und Gold umgebunden. Im Verlauf des Turniers war sie zu einer glühenden Verehrerin des deutschen Torhüters mutiert, an dem sie besonders sein gutes Aussehen und seinen unbändigen Siegeswillen schätzte. Chihiro fand eigentlich eher, dass er böse guckt *. * Auch trug sich Ayaka ernsthaft mit dem Gedanken, von ihrer Position im Sturm zwischen die Torpfosten zu wechseln, was ihr vom Trainer der Mädchen-Fußball-Schulmannschaft mühsam immer wieder ausgeredet werden musste. Der war nämlich froh, endlich eine halbwegs fähige Stürmerin bekommen zu haben. "Ja, einen Moment noch", drang Chihiros Stimme aus dem Inneren ihres Hausflures durch die offene Eingangstüre nach draußen. "Ich hab gleich alles zusammen." Kurz darauf spazierte sie gut gelaunt aus der Tür, gefolgt von ihrem Vater, der einen riesigen Rucksack schleppte. Chihiros Mutter hatte leider heute Dienst im Konbini, der auch sonntags geöffnet hatte, sodass sie ihre Tochter nicht verabschieden konnte. Während Chihiro hinten einstieg und sich zu Ayaka und Ichiyo setzte, der auch mitkam, öffnete ihr Vater die Heckklappe und lud den Rucksack dort ab, bevor er nach vorne ging, um Ayakas Vater, Herrn Satoru Fukazawa, zu begrüßen. Im Fond beäugten Ayaka und Ichiyo mittlerweile staunend den Rucksack. "Was hast du denn da nur wieder alles drinnen?" wollten sie wissen. "Och das! Das ist mein Reiseproviant. Wollt ihr Kekse?" meinte Chihiro. Sie griff hinter sich, um den Rucksack aufzufummeln und holte Kekse heraus. Dabei konnte man erkennen, was alles im Rucksack drin war: Dutzende von eingepackten Butterbroten, eine vertraute Plastikschüssel, die mit Alufolie abgedeckt und wahrscheinlich mit Reisbällchen gefüllt war, eine Banane, ein Apfel, zwei Thermoskannen, eine Flasche mit Sprudelwasser und noch eine Packung mit Bonbons. Als Ichiyo und Ayaka das sahen, nahmen sie beide artig einen Anstandskeks und ließen Chihiro den Rest der Packung. Beide beschlossen sie, kein Wort über den Rucksack zu verlieren. "OK, ihr drei da hinten, jetzt geht's los", sagte Ayakas Vater Chihiro. "Schnallt euch an." Damit ließ er den Motor an und fuhr los. "Viel Spaß, Chihiro, und iss immer fleißig!" brüllte ihr Vater Akio winkend hinter ihnen her. Durch Zufall fiel Chihiros Blick kurz auf das Nachbarhaus, wo Bunzo finster brütend aus seinem Fenster sehend ihre Abfahrt beobachtete. "So, ich mach jetzt mal die Fenster zu", sagte Herr Fukazawa, während er die entsprechenden Knöpfe betätigte und die Scheiben elektromotorisch hochfuhr. "Dann kann ich nämlich die Klimaanlage einschalten und uns wird nicht so warm." Es war etwa halb vier Uhr am Nachmittag und die größte Mittagshitze hatte gerade ihren Höhepunkt überschritten. Trotzdem war es noch unangenehm warm und die Sonne knallte auf das Autodach. "Sagt mal, wisst ihr eigentlich, was Bunzo Abe jetzt macht?" fragte Chihiro ihre Freunde leise Ihr war flau geworden, als sie kurz in dessen dumpfe Augen geblickt hatte. "Meinst du das alte Sackgesicht, das dir damals eine gewatscht hat?", frotzelte Ayaka. "Nö, keine Ahnung. Interessiert mich auch nicht." "Den haben sie doch damals fast von der Schule geschmissen", antwortete Ichiyo ernsthaft, wie immer. "Erst nachdem sich herausgestellt hatte, dass es nicht die Ohrfeige gewesen war, die dich ins Krankenhaus gebracht hatte, durfte er wieder zur Schule zurück. Dann haben sie ihn aber in eine andere Klasse gesteckt." "Aber das weiss ich doch schon alles", warf Chihiro leicht ungeduldig ein. "Nur was macht er denn jetzt?" "Entschuldige bitte, Chihiro, dazu wollte ich gerade kommen", fuhr er fort. "Ich habe gehört, dass er von der ganzen Schule das schlechteste Abschlusszeugnis hatte und bei keiner privaten Mittelschule die Aufnahmeprüfung bestanden hat. Er geht jetzt auf die staatliche Mittelschule in Tochinoki." "Ha, das geschieht ihm ganz recht!" stellte Ayaka schnippisch fest. "Komm, lass uns von was anderem reden. Wenn ich an den denke, wird mir schlecht ... Sagt mal, wusstet ihr eigentlich, dass Olli Kahn es mal geschafft hat, 803 Minuten ohne Gegentor zu bleiben? Und ..." Chihiro musste an Herrn Abe denken, den sie als stillen und freundlichen Frührentner kennen gelernt hatte. Dass er mit so einem Sohn gestraft war, tat ihr Leid, aber sie wusste auch nicht, was sie da tun sollte. Dann musste sie an die ganze Zeit denken, die sie seit letztem Sommer mit lernen verbracht hatten. Sie selbst, Ayaka und Ichiyo hatten einander immer wieder gegenseitig abgefragt und die beiden hatten ihr auch alles gesagt, was sie auf der Juku gelernt hatten. Weil ihr gemeinsames Lernen dafür verantwortlich ist, dass sie die Karte für das Endspiel geschenkt bekommen hat. Chihiro und Ichiyo hatten die beiden höchsten Punktzahlen bei der Aufnahmeprüfung an der privaten Mittelschule in Nakaoka erhalten, der besten in größerem Umkreis, aber auch Ayaka hatte es mit Ach und Krach gerade noch geschafft. Sie wurden jetzt jeden Morgen vom Schulbus abgeholt und in ihren noch ungewohnten Schuluniformen in das 15 km entfernte Städtchen gefahren. Ayakas Vater hatte ihr versprochen, dass sie zum WM-Endspiel fahren dürfe, falls sie die Aufnahmeprüfung schaffen würde. Als Ichiyo davon gehört hatte, hatte er seine Eltern gefragt, ob er von seinem Ersparten auch ein Ticket für da Endspiel kaufen könnte. Nach seiner überzeugenden Aufnahmeprüfung hatten sie es ihm dann zum Geschenk gemacht. Ayakas Vater hatte aber außer für sich selbst und Ayaka noch ein drittes Ticket gekauft, nämlich für ihren älteren Bruder Takumi. Der aber hatte gerade zum zweiten Male die Aufnahmeprüfung für die Universität vermasselt, weil er lieber auf Partys ging, als zu lernen. So hatte Herr Fukazawa ärgerlich beschlossen, dass sein Sohn zu Hause bleiben müsse, um zu lernen, und das Ticket vor dessen Augen Chihiro geschenkt. Nachdem Chihiro irgendwann erfahren hatte, wie viel das Ticket gekostet hatte, war es ihr richtig peinlich gewesen, dass sie es in dieser Situation ohne nachzudenken angenommen hatte. Ayakas Vater hatte dafür nämlich 40.000 ¥ (ca. 370 €) bezahlt. Das waren zwar nur die billigsten Tickets, aber immerhin. Ihre Eltern hatten dann auch darauf bestanden, die Zugfahrkarte nach Yokohama für Chihiro zu bezahlen; so schwer es ihnen auch fiel. Ihr Vater begann jetzt zwar so langsam mit seinem Hausverwaltungsbüro tritt zu fassen, aber die Gebühren für ihre neue Schule, die Schulbücher und die Kosten für die Schuluniform hatten ihre Eltern dennoch in so große Verlegenheit gebracht, sodass sie sogar eine Hypothek auf das Haus hatten aufnehmen müssen. Zum Glück waren die Zinsen in Japan so niedrig wie noch nie. Den Prozess gegen die Krankenkasse um die hohen Ausgaben für Chihiros chronischen Heißhunger hatten sie zwar in erster Instanz gewonnen, aber die Krankenkasse war sofort in Revision gegangen und in der zweiten Instanz wurde nun mit Gutachten und Gegengutachten nur so um sich geworfen. Nachdenklich schaute Chihiro zum Fenster heraus, während sie nur mit einem halben Ohr den Schwärmereien Ayakas über diesen deutschen Torhüter lauschte. Sie hatten gerade das Ortseingangsschild von Nakaoka passiert und würden in Kürze auf dem Weg zum Bahnhof an ihrer neuen Schule vorbeifahren. Dort wollte Herr Fukazawa das Auto in einem Parkhaus abstellen und sie würden den Rest der Reise mit dem Zug zurücklegen. Vom Bahnhof hier in Nakaoka sollte sie der Regionalzug bis nach Nagoya bringen, wo sie dann den Tokaido-Sanyo Shinkansen nach Yokohama und Tokyo besteigen würden. Am Bahnhof Shin-Yokohama würden sie aussteigen, von wo sie nur noch einen knappen Kilometer bis zum "Yokohama International Sports Stadium" hätten, wo das WM-Endspiel zwischen Deutschland und Brasilien um 20:00 Uhr abends stattfinden würde. Insgesamt dauerte die Reise von der Haustür bis zum Stadion mit allen Zwischenstopps und Wechseln der Fortbewegungsart gute drei Stunden und die Rückreise würde noch einmal so viel Zeit in Anspruch nehmen, sodass sie in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages wieder zurückkommen würden. "Und dann ist Olli Kahn auch insgesamt vier Mal deutscher Meister geworden mit seinem Verein Bayern München und hat letztes Jahr sogar die Vereinsweltmeisterschaft gewonnen", quatschte Ayaka ohne Unterlass und voller Begeisterung für ihr neues Idol. "Verzeih bitte, Ayaka, aber wir werden Olli Kahn ja bald sehen", meldete sich mit freundlichem Tonfall Ichiyo zu Wort, "Schau mal, wir sind gleich am Bahnhof und auf dem Rest der Fahrt können wir ja Karten spielen" Chihiro kannte Ichiyo mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass diese Äußerung einem Wutausbruch von ihm schon sehr nahe kam. Es bedeutete ungefähr Folgendes: "Kannst du dumme Kuh nicht mal 'ne andere Scheibe auflegen? Und den Rest der Fahrt will ich von dem doofen Kahn nix mehr hören!" Wenn er das so gesagt hätte, hätte Ayaka ihn bestimmt auch verstanden. Lange Zeit hatte sie sich darüber gewundert, warum Ichiyo seine Zeit lieber mit zwei Mädchen verbrachte, als mit den anderen Jungen. Sie hatte sich dann gesagt, dass er mit den anderen Jungen nicht so gut klar kam, weil er so schüchtern war und vielleicht weil er dankbar war, dass sie ihn damals vor Bunzo gerettet hatte. Aber mittlerweile war in ihr ein anderer Verdacht gekommen. Indem er sich nämlich an sie ranhängte, konnte er unauffällig auch in der Nähe Ayakas sein. Sie hatte dann begonnen, ihn ein wenig zu beobachten. Er bekam immer einen roten Kopf, wenn Ayaka dabei war und häufig, wenn er sich unbeobachtet glaubte, blickte er diese verträumt an. Ayaka, der alte Trampel, bemerkte das natürlich nicht und Ichiyo, da war sich Chihiro sicher, würde es ihr nie sagen. So musste er jetzt da sitzen und zuhören, wie Ayaka von einem erwachsenen Mann offen schwärmte, den sie nicht mal kannte. Kein Wunder, dass er da ungehalten wurde. Und was war mit ihr selber? Chihiro schaute an sich hinunter und dann zu Ayaka. Bei der konnte man unübersehbare Anzeichen ausmachen, dass sie mitten in der Pubertät steckte und Ichiyo entwickelte mitunter den einen oder anderen Pickel und der Stimmbruch hatte auch schon eingesetzt. Doch bei selbst ihr tat sich da noch gar nichts und würde sich auch in absehbarer Zeit nichts tun. Dr. Ito hatte sie darauf vorbereitet, dass es aufgrund ihres Untergewichts zu einer stark verzögerten Entwicklung kommen würde und vor dem 15. oder 16. Lebensjahr bei ihr nichts passieren würde. Chihiro war es in ihrer alten Klasse auf der Grundschule gar nicht so aufgefallen, aber als sie das erste Mal auf ihrer neuen Schule in die neue Klasse gekommen war, hatten die anderen Schüler sie ausgelacht und wegschicken wollen. Sie hatten gesagt, dass eine Drittklässlerin nichts auf einer Mittelschule zu suchen hätte, obwohl sie doch ihre nagelneue Schuluniform getragen hatte. Ayaka hatte sie dann energisch verteidigt und nach und nach hatten die anderen Schüler sie auch akzeptiert. Dennoch konnte sie die anderen Schüler verstehen, denn sie war, wie im Jahr zuvor, gerade mal um einen Zentimeter auf 1,22 Meter gewachsen und hatte nicht ein Gramm zugenommen. Ayaka mit ihren jetzt fast 1,50 Metern und ihrer athletischen Fußballerstatur wog mittlerweile mehr als das Doppelte von Chihiro, die sich mit ihren dünnen Beinchen und Ärmchen neben ihrer Freundin so winzig ausnahm, dass niemand glaube mochte, dass sie beide gleich alt waren und in die gleiche Klasse gingen. Jedenfalls wurden Chihiro, mit ihren absonderlichen Essgewohnheiten, die selbst im Unterricht essen durfte, und Ichiyo mit seiner selbst für japanische Verhältnisse übertriebenen Zurückhaltung und Höflichkeit, schnell zu Außenseitern abgestempelt. Dahingegen ließ Ayakas offene und manchmal etwas gedankenlose Art, sie schnell überall Anschluss finden. So sorgte dann ihre selbstverständliche und bedingungslose Freundschaft ausgerechnet zu Chihiro und Ichiyo für einige Irritation unter den anderen Schülern. Aber bereits nach kurzer Zeit tat man dies achselzuckend ab und so wurden die beiden dank Ayaka auch problemlos in die Klassengemeinschaft integriert. In diesem Moment bogen sie in das Parkhaus ein. Chihiro wollte sich schon umdrehen und die Keksschachtel zurück in ihren Rucksack tun, als sie bemerkte, dass sie, während sie nachdachte, die Kekse aufgemampft hatte. Zwanzig Minuten später hatten sie in dem halb leeren Zug ein Abteil okkupiert, Chihiro hatte einen Stapel Butterbrote neben ihrer Thermoskanne mit grünem Tee auf dem Klapptisch vor sich aufgeschichtet und Ichiyo mischte bereits die Karten für eine Partie Poker, bei der auch Herr Fukazawa begeistert mitmachte. Der Shinkansen erwies sich leider als vollkommen ausverkauft und da sie keine nebeneinander liegenden Sitze in einem der Großraumwaggons hatten, mussten sie das Kartenspiel einstellen. Das heißt, bis Ayaka die übrigen Zugpassagiere so weit genervt hatte, dass sie durch Platztausch alle wieder zusammensaßen. Dies hatte allerdings so lange gedauert, dass Chihiro rechts durch das Panoramafenster des Waggons bereits den charakteristischen Landmark Tower * sehen konnte, während sich im linken Panoramafenster die gewohnte, aber immer wieder beeindruckende Kulisse des Fujiyama bereits nach hinten verabschiedete. In Kürze würden sie also in Yokohama einlaufen. * http://www.jinjapan.org/atlas/architecture/arc10.html Die Orientierung am Bahnhof in Yokohama fiel nicht schwer. Eine gute Stunde vor Spielbeginn brauchten sie sich nur an den Menschenmassen zu orientieren, die in Richtung Stadion strömten. Nach einigen Problemen, in das Stadion zu gelangen, wegen des Rucksacks voller Essen, was nicht sehr gerne gesehen war, hatten sie endlich ihre vier Plätze nahe unterhalb des Stadiondaches eingenommen und harrten der Dinge, die da kommen sollten *. * ? Der Anstoß sollte um Punkt 20:00 Uhr stattfinden. Vorher würden noch einige Reden gehalten werden und das auflockernde Vorprogramm hatte bereits begonnen. Nach Ende des Spiels würde die Siegerehrung stattfinden, gefolgt von der Abschlussveranstaltung und der Übergabe des Staffelstabes an den Ausrichter der nächsten WM im Jahre 2006: Deutschland. Hierzu waren viele ungemein wichtige Leute im Stadion anwesend, wie etwa das Kaiserpaar, Kaiser Akihito und Kaiserin Michiko, der Ministerpräsident Koizumi, König Hussein von Jordanien, der südkoreanische Präsident Kim Dae-Jung, sowie der deutsche Kanzler Shloedel, der deutsche Präsident Lau und der deutsche Kaiser Beckenbauel. * * Natürlich meine ich Kanzler Schröder und Bundespräsident Rau, aber da die Japaner R und L nur schwer unterscheiden können, hat Chihiro den Stadionsprecher eben so verstanden. Wozu die Deutschen wohl einen Kanzler, einen Präsidenten und einen Kaiser brauchten? Man konnte es ja auch übertreiben. Der Stadionsprecher gab Erklärungen darüber, welche sonstigen Prominenten noch alles zu Gast im Stadion seien, wie die Mannschaften ins Endspiel gekommen waren und versuchte sogar das Abseits zu erläutern. Chihiro glaubte jedoch nicht, dass irgendjemand diese Erklärung verstanden hatte und erinnerte sich an die endlosen Versuche Ayakas, ihr dieses Phänomen zu erklären, bis sie es schließlich selber kapiert hatte. Nach etwa einer weiteren halben Stunde erschienen die ersten Spieler auf dem Platz, um sich warmzulaufen und um die Atmosphäre in sich aufzunehmen, wie Ayaka fachmännisch erklärte. Herr Fukazawa hatte mittlerweile feierlich aus einem kleinen Alukoffer sein neues Fernglas hervorgeholt. Ein Fernglas mit elektronischer Entwackelung, wie er stolz erklärte, ein Canon 15x50 IS AW *. Als Chihiro das Fernglas ausprobieren durfte, fand sie, dass es viel zu schwer war; sie konnte es kaum halten. * http://www.canonbinocular.com/18x50is/index.html Die Entwackelung aber funktionierte sehr gut. Man musste nur einen Knopf an der Oberseite drücken und im Inneren lief kaum hörbar eine Kreiselstabilisierung hoch, die das Wackeln der Hände ausglich, sodass man ruhig und entspannt beobachten konnte. Kurz darauf nahm die Veranstaltung ihren Lauf, die Kanzler, Präsidenten, Könige und Kaiser richteten bedeutsame Worte an die zuschauende Weltöffentlichkeit und die Mannschaften betraten das Spielfeld. Hiernach kam es zur Vorstellung derselben, mit allen Spielern, den Trainern und zuletzt den Schiedsrichter. Der Hauptschiedsrichter stellte sich als ein Glatzkopf aus Italien heraus, dessen Aussehen Chihiro an einen Totenschädel erinnerte. Er begrüßte jeden der Spieler persönlich mit Handschlag, bevor sich die beiden Mannschaften rechts und links von der Mittellinie in einer Linie aufstellten, die Schiedsrichter in der Mitte. Dann standen alle auf und die Nationalhymnen erklangen. Damit sie überhaupt noch etwas sehen konnte, stellte Chihiro sich einfach auf ihren Sitz, von wo aus sie etwas gelangweilt zu den Spielern herunterblickte, die tapfer mitzusingen schienen. Wann ging es denn nun endlich los? Da stutzte sie plötzlich. Da war doch was, irgendeine Bewegung direkt vor den Spielern. Sie blickte sich um, aber niemand schien etwas zu bemerken. Dann rieb sie sich die Augen und schaute noch einmal genauer hin. Es war ein Mann, halbtransparent und seltsam unscharf, ein Mann in einer merkwürdigen Tracht, der ebenso merkwürdige Gesten vor jedem einzelnen der Spieler ausführte. Unwillkürlich hatte Chihiro den Eindruck, dass der Mann diese irgendwie zu segnen schien. "Ayaka, könntest du mir mal das Fernglas geben?" fragte sie ihre Freundin. Die machte eindringlich "Schschschscht!", drückte ihr aber das optische Wunderwerk ansonsten kommentarlos in die Hand. Mit fünfzehnfacher Vergrößerung und elektronischer Entwackelung rückte Chihiro dem Unbekannten nun zu Leibe. Doch da war nichts, überhaupt nichts zu sehen. Sie sah noch einmal ohne Fernglas hin. Da war er wieder, klarer als zuvor. Je mehr und länger sie sich auf die Gestalt konzentrierte, um so realer schien sie zu werden, bis Chihiro genau erkennen konnte, dass der Mann eine alte Hoftracht aus der Heian-Zeit trug und in der rechten Hand eine Art weißen Ball hielt, mit dem er kreisende Bewegungen bei jedem Spieler ausführte. Noch einmal versuchte sie ihn durch das Fernglas genauer zu erkennen, aber sobald sie durch die teure Optik blickte, war der Mann einfach verschwunden. Mittlerweile hatte der Mann den Brasilianer Ronaldo erreicht, den einzigen Spieler, den Chihiro neben Olli Kahn noch kannte und das auch nur, weil dieser vor dem Torwart Ayakas großes Idol als Stürmer gewesen und in vielfacher Ausfertigung an den Wänden ihres Zimmers zu bewundern war. Angestrengt versuchte sie Genaueres zu erkennen und konzentrierte sich verzweifelt auf die immer noch schemenhafte Gestalt. Doch plötzlich war es, als würde sie mit dem Scharfstellrad des Fernglases in den Fokus rutschen, und sie konnte den Mann genauso gut erkennen, wie die Spieler, vor denen er stand. Im gleichen Moment zuckte dieser zusammen, als hätte ihn eine Biene in den Nacken gestochen. Er begann sich ein wenig verwirrt umzuschauen, während er gleichzeitig Ronaldo weiterhin "segnete". Chihiro Herz begann ihr bis zum Hals hinauf zu schlagen. Was, wenn er mich entdeckt, dachte sie erschrocken und im selben Moment war es auch soweit. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen und doch unendlich langen Augenblick. Dann begann er langsam, aber herzlich zu lächeln, zwinkerte verschmitzt mit den Augen und winkte ihr freundlich mit der freien linken Hand zu. Während dieser ganzen Zeit führte er unaufhörlich seine kreisenden Bewegungen mit der rechten Hand, in der er immer noch den Ball hielt, vor und über Ronaldo fort, der langsam immer selbstsicherer wirkte. Als der Mann sich Ronaldo wieder zuwandte, führte er seine Handlung dann noch kurz fort, bevor er diese mit offensichtlichem Erschrecken abrupt beendete, einen Schritt zur Seite machte und mit dem "Segnen" bei dem nächsten Spieler fortfuhr, als wäre nichts geschehen. Zur Sicherheit wuchtete Chihiro das optomechanische Präzisionsinstrument noch einmal an ihre Augen, aber ebenso wie der Mann auf der Großbild-Videoleinwand von den Fernsehkameras nicht gezeigt wurde, war er auch beim Blick durch das Fernglas einfach nicht vorhanden. Verstohlen blickte sie sich noch einmal um. Wenn die anderen jemanden unten bei den Spielern sehen könnten, der auf der Videoprojektion nicht zu sehen ist, hätte das sicherlich doch für einen Tumult gesorgt. Da aber niemand reagierte, musste Chihiro davon ausgehen, dass die anderen den Mann nicht sehen konnten. Sie hatte in der letzten Zeit ja einige wirklich merkwürdige Erfahrungen gemacht, sodass sie sich nicht wirklich wunderte oder an ihrem Verstand zu zweifeln begann. Vielmehr war sie eher neugierig Sie wollte wissen, wer das da unten war, und was er dort tat. Mittlerweile hatte der Mann in der mittelalterlichen Hoftracht den letzten Spieler in der Reihe abgefertigt und die Nationalhymnen waren verklungen. Der glatzköpfige Schiedsrichter Collina hatte die beiden Mannschaftskapitäne, einen gewissen Cafu für Brasilien und natürlich Olli Kahn für Deutschland zu sich geholt, um mit einem Münzwurf darüber zu entscheiden, wer den Anstoß ausführen durfte, wie der Stadionsprecher erklärte. Das interessierte Chihiro im Moment jedoch nur peripher. Immer noch auf ihrem Sitz stehend, während alle um sie herum bereits Platz genommen hatten, beobachtete sie, wie der Mann würdevoll zum Spielfeldrand in Richtung des Stadiontors schritt, alldieweil die Spieler sich auf dem Rasen verteilten. Laute Sprechchöre feuerten entweder die Deutschen oder die Brasilianer an und es herrschte ein fast ohrenbetäubender Lärm. Chihiro wollte jetzt unbedingt wissen, was das für eine Figur war, die sich da vor aller Augen und trotzdem unsichtbar an den Spielern zu schaffen gemacht hatte. Wortlos stieg sie vom Sitz herunter und drückte Ayaka das Fernglas in die Hand, um sich dann an den sitzenden Zuschauern vorbei in Richtung Ausgang zu quetschen. "Chihiro, wo willst du denn hin?" brüllte Ayaka ihr verblüfft hinterher, als sie Chihiros Abgang bemerkte. "Du kannst doch jetzt nicht gehen. Das Spiel fängt doch an!" "O, äh, ich äh, ich muss nur mal kurz austreten", brüllte Chihiro zurück, indem sie die Hände zu einem Trichter vor dem Mund formte. Dann setzte sie ihren Weg fort und hatte kurz darauf den vollständig verwaisten Aufgang erreicht. Hastig rannte sie die Treppe hinunter, um den Mann, der bald in den Katakomben des Stadions angelangt sein musste, noch abzufangen. Es ging aber leider nicht so schnell, wie sie sich gedacht hatte, weil sie an jedem zweiten Treppenabsatz vor Schwäche eine kurze Pause einlegen musste. Nicht etwa, dass sie außer Atem geraten wäre. Immer öfter in letzter Zeit wünschte sie sich, dass sie sich überhaupt so stark anstrengen könnte, um außer Puste zu kommen oder sogar ins Schwitzen zu geraten. Aber es ging einfach nicht, denn immer schon lange bevor es soweit war, ging ihr einfach die Kraft aus, als ob sie jemand aus ihrem Körper heraussaugen würde. Und jetzt hinderte es sie daran, so schnell wie möglich nach unten in die Katakomben zu eilen. Endlich unten angelangt, musste sie leider feststellen, dass die entscheidenden Bereiche der Katakomben und insbesondere der Zugang zum Spielfeld mit Barrieren abgesperrt waren, die von Sicherheitsleuten und der Polizei bewacht wurden. Man scheuchte sie nicht weg, denn welche Gefahr sollte ein kleines Mädchen schon darstellen, sondern ignorierte ihre Anwesenheit einfach. Da musste man doch irgendwie vorbei kommen, überlegte Chihiro leicht genervt. Sie zog sich etwas zurück, um die Angelegenheit ein wenig aus der Ferne zu beobachten. Um die Absperrung herum gab es ordentlichen Betrieb. Fernsehteams passierten die Barriere, nicht ohne gründlich kontrolliert worden zu sein, an einer Seite saßen offensichtlich Journalisten auf dem Boden, die hektisch die Tastaturen ihrer Laptops bearbeiteten und einmal versuchte eine Person ohne Ausweis an der Absperrung vorbei auf das Spielfeld zu gelangen. Doch Chihiro musste nicht lange warten, denn schon erschien der Mann in seiner mittelalterlichen Tracht, ging würdevoll zwischen den Wachmännern und Polizisten hindurch, als wären diese nicht vorhanden und schritt einfach durch die Absperrung hindurch, als wäre diese immateriell. Offenbar ohne dass jemand außer Chihiro ihn wahrnahm, wandelte er majestätisch den Hauptkorridor der Katakomben entlang, vorbei an ihrer Position, wo sie so tat, als würde sie den Mann ebenfalls nicht sehen. Plötzlich bog er nach rechts ab und marschierte zielstrebig auf eine Seitentür zu, während im Stadion die Menge tobte. Er sah kurz nach rechts und links, als befürchtete er, dass ihn jemand beobachtete, bevor er dann die Türklinke herunterdrückte und energisch durch die Tür hindurchtrat. Kaum war er hinter der Tür verschwunden, eilte Chihiro hinter ihm her. Vor der Tür angelangt zögerte sie noch kurz. Vielleicht war es ja gefährlich, den Mann zu verfolgen und sie wusste auch nicht, was sich hinter der Tür verbarg. Vorsichtshalber überprüfte sie deshalb noch einmal den korrekten Sitz ihres violetten Haarbandes. Doch es war da, wo es sein sollte, hielt ihren Zopf zusammen und gab ihr die notwendige Sicherheit und Zuversicht. Vorsichtig drückte sie die Türklinke ebenfalls herunter, schob die schwere Feuerschutztür einen Spalt auf, durch den sie linste. Hinter der Tür befand sich ein weiteres, von Leuchtstoffröhren erhelltes Treppenhaus, welches tiefer hinein in die Eingeweide des Sporttempels führte. Gut fünf Meter ging es noch in die Tiefe, bevor Chihiro den Grund erreichte, wo sich eine weitere Tür gegenüber des Treppenabsatzes befand, die der geheimnisvolle Mann passiert haben musste, denn ansonsten gab es keinen weiteren Weg. Hinter dieser Tür war deutlich das Summen von Maschinen zu hören, während die Geräusche der Menschenmasse über ihr nur noch stark gedämpft herunterdrangen. Es roch deutlich nach feuchtem, unbehandeltem Beton, überlagert von einem leichten chemischen Geruch. Chihiro konnte sich nicht entscheiden, ob sie weitergehen oder ob sie besser umkehren sollte. Angst und Neugier hielten sich im Moment in etwa die Waage. Dann gewann die Neugier und sie öffnete die Tür. Die Maschinengeräusche, die vorher nur schwach zu hören gewesen waren, wurden mit einem Mal lauter. Sie trat durch die Tür hindurch und fand sich in einem kahlen und funktionellen Gang wieder, der sich nach rechts und links endlos zu erstrecken zu schien. Unter seiner Decke verliefen dick gedämmte Rohre und an den Wänden waren offene Kabelführungen angebracht. Der Gang war leicht gekrümmt und schien unterirdisch einmal rings um das Stadion zu führen. Mit gemischten Gefühlen trat Chihiro in den Gang hinaus und überlegte, in welche Richtung der Mann wohl gegangen sein mochte. Wenn der Gang aber tatsächlich einmal rings um das Stadion führte, mochte es ja auch egal sein, welche Richtung sie einschlug. Letztendlich würde sie ebenfalls Fall dort vorbei kommen, wo der Mann entlang gegangen sein musste. Ihrer Intuition folgend, wandte sie sich nach links und begann, dem Gang zu folgen. Nach vielleicht 100 m stieß sie auf eine Abzweigung nach rechts, einen weiteren Gang, der genau so aussah, wie der Hauptgang, und dessen Ende sich in der Ferne verlor. Sie wollte schon daran vorbei gehen, als sie stutzte. Neben dem Seitengang, an der Wand des Hauptganges, war eine kleine Zeichnung angebracht, die sie erschauern ließ. Es war die Zeichnung eines grinsenden Steinkopfes, genau eines solchen Steinkopfes, wie er auch bei ihr im Wald vor dem Tunnel durch das rote Gebäude stand. Mit heftig pochendem Herzen trat sie einen Schritt näher, um die Zeichnung genauer in Augenschein zu nehmen. "Hallo, kleines Mädchen", hörte Chihiro plötzlich eine sanfte, freundliche Stimme hinter sich. "Du interessierst dich wohl sehr für Fußball, oder?" Erschrocken wirbelte Chihiro herum. Der Mann stand nur etwa einen Meter von ihr entfernt und sie konnte sich überhaupt nicht erklären, wo er auf einmal hergekommen war, denn beide Gänge waren eben noch leer gewesen. Das erinnerte sie ganz stark an die Art, wie Manami manchmal auftauchte, wenn sie am See im Wald zum Baden waren. Im Licht der Leuchtstoffröhren konnte sie jetzt die ganze Pracht des golddurchwirkten Seidenstoffes erkennen. Der Mann hatte ein freundliches, offenes Gesicht und der Schalk blitzte ihm aus den Augen. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen Eboshi und seine Hände hatte er in den weiten Ärmeln seines Gewandes verborgen. Doch obwohl sie jetzt direkt vor dem Mann stand, konnte Chihiro überhaupt nicht abschätzen, wie alt der Mann überhaupt war. Genau wie bei Manami. Weil sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte, verbeugte sie sich vor dem Mann und sagte: "Guten Abend." "O, ja äh, so viel Zeit muss sein. Du bist ja die kleine Sen, nicht wahr? Kein Wunder, dass du mich gesehen hast. Guten Abend, Sen", gab er zurück und verbeugte sich ebenfalls. "Entschuldige, ich habe es ein wenig eilig, sonst würde ich mich noch ein wenig mit dir unterhalten. Ach, mein Name ist übrigens Seidaimyojin. So, jetzt muss ich aber wirklich weg, damit ich rechtzeitig zur zweiten Halbzeit wieder hier bin." Er wühlte ein wenig in seinen weiten Ärmeln, wobei der feine Seidenstoff leise raschelte, und holte dann den weißen Ball hervor, mit dem er vorhin vor den Spielern herumgefuchtelt hatte. "Hier, den schenke ich dir. Jetzt geh wieder brav nach oben und schau dir das Spiel an, ja? Auf Wiedersehen, Sen", sagte er, drückte Chihiro den Ball in die Hände und rauschte in den Seitengang, wobei er murmelte: "Ich hoffe doch nur, ich habe bei Ronaldo nicht zu viel ..." Dann war er verschwunden, einfach weg. Chihiro blickte vorsichtig in den Seitengang hinein, aber der sah genau so aus wie zuvor. Neugierig nahm sie dann ihr Geschenk in Augenschein. Der Ball bestand aus feinem weichem Leder, das angenehm duftete, hatte einen Durchmesser von vielleicht 25 cm und war federleicht. Chihiro hatte den starken Eindruck, dass der Ball ziemlich wertvoll war. So etwas Wertvolles konnte sie doch nicht einfach so annehmen und außerdem, was sollte sie den anderen erzählen, woher sie den Ball auf einmal hatte? Den konnte sie auf gar keinen Fall behalten. Diesem Impuls folgend, betrat Chihiro den Seitengang, wo sofort ein nur allzu vertrauter Sog einsetzte. Das entfernte Ende des Ganges schien zu verschwimmen und machte einem vertrauten Umriss mit runder Gewölbedecke platz. Schlagartig wurde ihr klar, was das hier sein musste. Es war ein ebensolcher Durchgang, wie der Tunnel im Wald und wenn sie hindurchging, würde sie bestimmt in dem Wartesaal landen. Dorthin musste dieser Seidaimyojin verschwunden sein! Sich einen Ruck gebend, marschierte Chihiro in den Gang hinein. Wie erwartet und ohne sich irgendwie zu wundern, kam sie in dem verlassenen Wartesaal heraus. Seidaimyojin war jedoch nicht hier! Draußen vor dem Ausgang herrschte eine goldene Abendstimmung und sie schaute sich noch außerhalb vor und hinter dem Gebäude um, aber dieser Seidaimyojin war nirgendwo zu sehen. Sanft strich der Wind über die grasbewachsenen Hügel, trug einen leichten, würzigen Duft nach Blumen und feuchtem Gras mit sich und die tief stehende Abendsonne tauchte die Landschaft in ein märchenhaftes Licht. Leise war in der Ferne das Rattern eines fahrenden Zuges zu hören. Einige Minuten ließ Chihiro diese Eindrücke auf sich wirken, während sie überlegte, was sie nun tun sollte. Sie hatte im Moment eigentlich noch keine Lust wieder ins Stadion zurückzukehren, zurück in dieses Getöse um ein Spiel, das sie nicht wirklich interessierte. Viel spannender fand sie derzeit die Frage, ob sie jetzt von hier aus zu sich nach Hause oder noch besser zum See gelangen konnte. Dann wäre sie ja innerhalb nur weniger Minuten von Yokohama in die Nähe ihres Zuhauses gelangt. Eine Strecke, für die man mit Auto und Zug über drei Stunden brauchte. Den weißen Ball unter den Arm geklemmt ging sie zurück zum mittleren Tunnel, dachte intensiv an den See, ging in das Tor hinein und hindurch. "Hallo Chihiro", begrüßte sie Manami, die es irgendwie schaffte, sich im Schneidersitz oben auf dem Grinsestein zu halten. "Was machst du denn hier? Wolltest du nicht nach Yokohama fahren, zu diesem Fußballdings?" Offenbar hatte sie gerade versucht, da oben auf dem Stein zu meditieren. "Hallo Manami", sagte Chihiro leicht verlegen, denn eigentlich mochte sie Manami nicht anlügen. Doch sollte sie ihr jetzt die Wahrheit sagen? Jedes Mal, wenn sie, Ayaka und Ichiyo im vergangenen Jahr an den See zum Baden gekommen war, war Manami über kurz oder lang zu ihnen gestoßen, hatte ihnen Geschichten erzählt, mit ihnen gespielt oder sich einfach nur mit ihnen unterhalten. Am Anfang war sie immer einfach aufgetaucht, wie aus dem Nichts. Ayaka und Ichiyo hatte das immer stark irritiert, weshalb sie der Frau gegenüber zurückhaltend und misstrauisch geblieben waren, wohingegen Chihiro Manami gleich gemocht hatte. Aber nach einer Weile hatte sie begonnen, von irgendwo her zu ihnen zu kommen, aus dem Wald, aus dem Schilf am Seeufer oder um den See herum geschlendert. Nach und nach begannen ihre Freunde dann ebenfalls Zutrauen zu Manami zu fassen. Erst gestern noch waren sie am See gewesen, hatten Manami alles über das WM-Finale erzählt und Ayaka hatte sie mit einer Komplettbiografie von Olli Kahn zugetextet. Diese hatte ihr geduldig zugehört und nicht das geringste Anzeichen von Ungeduld oder Desinteresse gezeigt. "Chihiro, du kannst mir ruhig die Wahrheit sagen", munterte Manami das zögernde Mädchen auf. "Ich habe bemerkt, dass du nicht von der anderen Seite aus dem Wald gekommen bist. Du hast das Tor benutzt, das Tor zu der anderen Welt, der Welt der Götter und Geister, nicht wahr?" Chihiro fühlte sich ertappt und hauchte mit gesenktem Blick ein: "Ja, Manami." "Na komm, ist ja nicht schlimm", beruhigte Manami sie und sprang gewandt von dem Stein herunter. "Möchtest du mal sehen, wo ich wohne? Komm, ich zeig's dir." Sie kam zu Chihiro, nahm sie an der Hand und zog sie den Weg entlang in Richtung des Sees. "Du, Manami, sag mal, kennst du einen Herrn Seidaimyojin?" fragte Chihiro, ihr erwartungsfroh folgend. Sie wollte immer schon wissen, wo Manami eigentlich wohnte, denn außer dem roten Gebäude gab es in der Nähe des Sees kein weiteres Haus. Manami hielt inne und blickte Chihiro verwundert an. "Zeig mir doch mal den Ball her", bat sie dann nach einer kurzen Denkpause, "Bitte Chihiro" Diese tat Manami den Gefallen und Manami untersuchte den Ball eingehend. "Wow, der ist ja tatsächlich echt!" staunte sie und fuhr dann fort: "Da bist du dem alten Narren tatsächlich begegnet. Den hat er dir geschenkt, ja? Aber es war ja eigentlich damit zu rechnen, dass er in Yokohama bei diesem Fußballdings sein würde" "Sooo alt schien er aber gar nicht zu sein", entgegnete Chihiro und da Manami ihn tatsächlich zu kennen schien, bohrte sie weiter: "Ja, aber wer ist denn nun dieser Herr Seidaimyojin, Manami?" "Hat man euch das in der Schule denn nicht erzählt?" meinte diese daraufhin, "Seidaimyojin ist der Gott des Sports, insbesondere des Fußballs. Ich wette, er hat mal wieder die Spieler heimlich mit einem Aufputschzauber behandelt, damit es ein besseres, flotteres Spiel gibt, der Quatschkopp. Ach, und das hier ist ein Kemari Ball, einer uralten japanischen Form des Fußballs. Er ist aus feinem weißem Hirschleder gemacht" * Sie gab Chihiro den Ball zurück, die ihn mit weit aufgerissenen Augen wieder entgegen nahm. * ) http://ww2.enjoy.ne.jp/~tia/en/vol32/culture.htm "Komm, ich zeig dir jetzt mein Haus und dort können wir uns ja in aller Ruhe weiter unterhalten", forderte Manami sie wieder auf und ging weiter zum See hin. "Ich wollte dir sowieso mal ein paar Fragen stellen, ohne dass deine beiden Freunde dabei sind." Chihiro trottete leicht verwirrt hinter ihr her. Am Seeufer angelangt, sagte Manami: "So, jetzt sind wir fast da. Am besten ist, wenn du deine Schuhe und Socken ausziehst. Barfuß geht es sich einfach besser!" Jetzt war Chihiro endgültig perplex. Wo sollte denn hier ein Haus sein und warum sollte sie ihre Schuhe ausziehen? Trotzdem tat sie, was Manami wollte, denn sie vertraute ihr und wusste nicht, was sie sonst hätte tun sollen. Manami nahm sie wieder an der Hand, als Chihiro ihre Schuhe, in die sie die Socken gestopft hatte, zusammengebunden um den Hals gehängt hatte. Dann tat Manami etwas, was Chihiro endgültig an ihrem Verstand zweifeln ließ: Sie ging in den See hinein. Da sie Chihiro an der Hand gepackt hatte, musste diese hinterher, ob sie nun wollte oder nicht. Nach ein paar Metern schaute sie irritiert nach unten, denn merkwürdigerweise wurden ihre Füße gar nicht nass. Dann stellte sie erstaunt fest, dass sie und Manami auf dem Wasser zu gehen schienen, welches sich kühl, trocken und leicht gummiartig federnd anfühlte. Bei jedem Schritt breiteten sich ringförmige Wellen aus. Abrupt blieb sie stehen. Das war jetzt einfach zu viel. "Manami? Duhu, wir gehen auf dem Wasser?" vergewisserte sie sich. Manami grinste sie an: "Genau! Ist nicht mehr weit. Komm weiter!" Mehr von Manami gezogen, als dass sie von alleine ging, bewegten sie sich immer weiter auf den See hinaus. Als sie mehrere hundert Meter vom Ufer entfernt fast in der Mitte des Sees angelangt waren, blieb Manami endlich stehen. "So, jetzt sind wir da", verkündete sie freudestrahlend und Chihiro entgegnete unsicher, nachdem sie sich umgeschaut hatte: "Ja aber, hier ist doch nichts." Nachdenklich blickte Manami zu ihrer kleinen Freundin hinab, ließ sie nach kurzem Zögern los und ging noch einen weiteren Schritt nach vorne. Dort machte sie eine weit ausholende Geste mit beiden Armen und es war, als würde die Luft vor ihnen kurz wabern. Dann schien eine Art billige Überblendung wie aus einem zweitklassigen Fernseh-Science-Fiction stattzufinden und innerhalb weniger Sekunden erschien Manamis Domizil vor ihren Augen. Auf einer etwa 30 cm erhöhten und vielleicht 20 x 20 Meter großen Plattform war ein klassischer Tempelbau erschienen, ein kleiner Schrein mit einem übergroßen, prächtigen, pagodenförmigen Dach. Das an sich wäre ja nicht weiter erstaunlich gewesen, wenn man einmal von dem Standort des Gebäudes in der Mitte eines Sees absah. Das Material jedoch, aus dem der Schrein bestand, stürzte Chihiro erneut in größte Verwirrung. Er bestand nicht etwa aus Holz oder Stein oder Eisen oder sonst irgendeinem festen Material. Der gesamte Schrein war weitestgehend durchsichtig und bestand offenbar vollständig aus Wasser! Wie selbstverständlich betrat Manami die Plattform und ging einige wenige Schritte in Richtung der Eingangstür, wo sie sich umdrehte, die Arme ausbreitete und Chihiro glücklich anlächelte. "Das hier ist mein Zuhause", frohlockte sie. "Ist es nicht wunderschön? Wenn du heraufkommst, zeige ich dir auch gerne das Innere." Unsicher eierte Chihiro näher und stellte vorsichtig einen Fuß auf die Plattform, die völlig real und solide zu sein schien. Sie stieg herauf, ging ein paar Schritte in Manamis Richtung und beobachtete dabei, wie kleine Wellen die nachempfundene Holzmaserung durchliefen. Am Eingang zum Inneren des Schreins angelangt, durch den Manami nun mit einer einladenden Geste zu Chihiro hindurchtrat, hielt sie kurz inne und glotzte wie blöd auf den rechten Türpfosten. Dort schwamm in Zeitlupe und aller Seelenruhe ein Fisch mit gelangweilter Mine, ein etwa 30 cm großer Karpfen, wenn sie in der Schule richtig aufgepasst hatte, senkrecht nach oben in Richtung des Daches, fleißig Wasser durch seine Kiemen pumpend. Unwillkürlich berührte Chihiro den Türpfosten auf Höhe des Karpfens, um zu überprüfen, ob der Fisch auch echt und nicht eingebildet war. Der Pfosten, der zunächst fest war, gab dann mit einem Mal nach und Chihiros Hand glitt in den Pfosten hinein, der nun so nass war, wie Wasser sein sollte. Dort patschte sie mit ihrer Hand gegen den Karpfen, der daraufhin erschrocken nach oben jagte und blitzschnell außer Reichweite schoss. Fünf Minuten später hatte Chihiro im Hauptraum des Tempels im Schneidersitz auf etwas Platz genommen, das aus Wasser bestand, sich aber wie eine Tatami-Matte anfühlte, trocken und weich. Manami servierte ihr aus einer wässernen Kanne heißen grünen Tee, den Chihiro aus einer ebenfalls wässernen Tasse trank. Irgendwo über ihrem Kopf schwamm ein Karpfen herum und im Moment tummelten sich einige Kaulquappen in der Platte des niedrigen Tisches, an dem sie saßen. Chihiro hatte den Ball aus weißem Hirschleder auf den Tisch gelegt, und beobachtete nun, wie er langsam auf der Tischplatte schwimmend hin und her trieb. Von draußen drang das warme Licht der tief stehenden Sonne, die allzu bald im Wald versinken würde, durch die angrenzende Wand herein, und erzeugte eine Stimmung, als wären sie auf dem Grund eines Schwimmbeckens. Aber Chihiro war das jetzt alles egal. Sie war einfach glücklich und zufrieden mit ihrem Tee, an dem sie mehrfach nippte, und hatte ein Gefühl, als würde sie schweben. "Und, wie gefällt es dir?" wollte Manami nach einer angemessenen Gewöhnungszeit wissen. Chihiro schreckte hoch, als wäre sie aus einem Traum aufgewacht und starrte kurz in ihre Teetasse, bis ihr Manamis Frage vollständig ins Bewusstsein gedrungen war. Dann sagte sie: "Es ist, na ja, ich weiß nicht wie ich es sagen soll, es ist sehr, äh, speziell." "Schade. Soll das bedeuten, dass es dir nicht gefällt?" Manamis Gesicht zeigte eine leichte Enttäuschung. "Nein, Manami. Es heißt nur, dass ich mich erst daran gewöhnen muss", sagte Chihiro langsam. "Das ist alles sehr neu für mich, weißt du" Sie überlegte eine Weile, richtete dann ihren Blick konzentriert auf ihre Freundin und wollte wissen: "Manami, wer bist du nur?" "Also gut, ich werde es dir sagen. Du musst wissen, dass ich es noch nie zuvor einem Menschen gesagt habe", erwiderte sie mit ungewohntem Ernst. "Mein vollständiger Name lautet: Shizunami Manami Nushi." Sie verbeugte sich kurz vor Chihiro. "Ich bin die Göttin des Sees, Chihiro. Jetzt habe ich mich dir vorgestellt, und nun sag mir bitte, wer du bist" Daran hatte Chihiro eine Weile lang zu knabbern, aber Manami zeigte keinerlei Anzeichen der Ungeduld, während sie auf die Antwort wartete. "Ich äh, ich bin Ogino Chihiro und ich bin ein Mensch", gab sie nach einer Weile angestrengten Nachdenkens zurück. Was sollte sie auch sonst sagen? "Siehst du. Ich kann zwar keinerlei Falschheit in deiner Antwort erkennen, aber trotzdem kann ich das nicht glauben. Du scheinst selbst nicht zu wissen, wer oder was du bist", entgegnete die Göttin ruhig, "lass uns doch mal versuchen, zusammen etwas herauszufinden" "Aber warum sollte das denn falsch sein?" fragte Chihiro kleinlaut und fuhr dann trotzig fort: "Mein Papa ist Akio Ogino und meine Mutter ist Yuuko Ogino. Beide sind Menschen, also ist das wahr, was ich gesagt habe!" Daraufhin musste Manami lächeln. "Ich glaube dir ja, dass du glaubst, dass das richtig sei, aber es gibt da so einige Punkte", führte sie aus. "Zunächst einmal, du siehst aus wie ein Mensch, riechst wie ein Mensch, benimmst dich wie ein Mensch und deine Eltern sind Menschen. Auf den ersten Blick scheint alles an dir menschlich zu sein." Dies sprach alles für Chihiros menschliche Abstammung, dann jedoch rückte Manami mit ihren Argumenten heraus: "Aber: Du kannst die Tore benutzen, Chihiro. Die lassen normalerweise keine Menschen passieren. Du verfügst zumindest über rudimentäre magische Fähigkeiten, obwohl ich den Verdacht habe, dass sie ziemlich ausgeprägt sind und es dir nur jemand mal richtig beibringen müsste" "Was denn für magische Fähigkeiten?" Chihiro musste unwillkürlich an den Papierschnipsel denken, den die durch den Raum hatte schweben lassen. Sie hatte es nach dem ersten Mal noch mehrfach versucht und es hatte auch geklappt. Dann hatte sie es aber irgendwann aufgegeben, weil es immer furchtbar anstrengend gewesen war, und wegen der heftigen Kopfschmerzen, die sie bekam, wenn sie es zu lange versuchte. "Hihi, du merkst es ja nicht mal. Als wir vorhin über meinen See gegangen sind, da habe ich dich bei der Hand genommen und mit meiner Zauberkraft dafür gesorgt, dass du auf dem Wasser gehen konntest und nicht versinkst. Als wir an meinem Haus angelangt sind, erinnerst du dich, da habe ich dich losgelassen. Seitdem stehst du von ganz alleine auf dem Wasser! Glaub mir, ich helfe dir nicht." "Und was ist, wenn ich versunken wäre?" entfuhr es Chihiro erschrocken nach dieser Offenbarung von Manami. "Du kannst schwimmen, das habe ich doch gesehen. Außerdem hätte ich dich dann wieder herausgeholt", entschuldigte sich Manami. "Ich glaube dir ist noch nicht klar, dass du's noch immer tust. Was glaubst du eigentlich, woraus dieses Haus ist, hm? Es ist aus Wasser! Und Wasser ist flüssig!" Zur Demonstration steckte sie ihre rechte Hand in den Boden und rührte ein wenig in der Wasser-Tatami-Matte herum. Wie hypnotisiert glotzte Chihiro auf Manamis Hand, als sie diese wieder aus dem Boden heraus zog und die Matte wie durch Zauberei, nein es war ja Zauberei, erneut ihre alte Form annahm. Einer plötzlichen Eingebung folgend und um das Gesehene zu überprüfen, steckte sie selbst ihre rechte Hand in den Boden. Mit einem kleinen Spritzer drang die Hand problemlos in die Matte ein. Sie war nass und flüssig und eben ziemlich wässerig. Wie konnte sie dann darauf sitzen? In diesem Moment wurde ihre Hose auch schon nass. Mit einem Mal begann sie in den Boden einzusinken, schneller und immer schneller. Es machte "platsch", als sie letztendlich in den See ein- und untertauchte. Überrascht sprang Manami auf und eilte zu Chihiro herüber, die sich gerade strampelnd wieder an die Oberfläche zurückkämpfte. "Manamiii, Hiiiiilfee!", brüllte sie, als sie die Oberseite der Tatami-Matte durchbrach. Die Göttin packte Chihiro am Arm, hob das Mädchen spielerisch aus dem Wasser und stellte es wieder auf den nachgiebigen Boden, der sich nun erneut fest anfühlte unter ihren Füßen. "Na du machst mir ja Sachen!" spöttelte Manami, "versinkst einfach. Da will ich dich doch mal trocknen. Wasser zurück!" Sie machte eine energische Geste und zeigte auf den Boden. Sofort sammelte sich das Wasser auf Chihiros Körper und in ihrer Kleidung, bildete mehrere dünne Fäden, in denen es in den Boden zurückfloss. Nach nur wenigen Augenblicken war Chihiro wieder vollständig trocken. Völlig verdattert schaute sie zu Manami auf. "Da-, Da-, Danke, Frau Manami Nushi", stotterte sie, aber Manami winkte ab. "He, wir sind doch Freundinnen. Fang jetzt bloß nicht an, mich anzubeten, oder so. Angebetet zu werden ist zwar ganz lustig, bringt aber auch jede Menge Verantwortung mit sich." Sie kniete sich direkt vor dem Mädchen hin, strich ihr durch das Haar und sah sie aus ihren unglaublich blauen Augen direkt an. "Weißt du, Chihiro, ich bin jetzt schon seit über 1500 Jahren die Göttin dieses Sees", fuhr sie fort, "glaub mir, das ist manchmal ganz schön langweilig, und seit ich mich vor 300 Jahren mit dem Gott der Wälder hier verkracht habe, ist es auch ziemlich einsam. Was glaubst du, warum der Wald nicht direkt bis an das Seeufer heranreicht?" Sie packte Chihiro zuerst an den Schultern und umarmte sie daraufhin. "Chihiro, ich glaube du kannst die gar nicht vorstellen, wie einsam ich manchmal bin", schluchzte sie, "darum wäre ich so froh, wenn du meine Freundin sein könntest" "Manami, das habe ich doch nicht geahnt", sagte Chihiro leise und berührte die Göttin leicht an der Wange, "ich möchte gerne deine Freundin sein. Das war, glaube ich, nur etwas zu viel für mich. Und du bist wirklich 1500 Jahre alt? So alt siehst du doch gar nicht aus" "Das ist schön. Sag mir doch, wie alt sieht man denn mit 1500 Jahren aus?" lächelte Manami sie glücklich an, "kannst du jetzt auch wieder alleine stehen?" Sie ließ das Mädchen los, welches erneut problemlos und ohne einzusinken auf dem flüssigen Untergrund stehen konnte. "Du Manami, ich glaube, ich habe jetzt wieder richtig Hunger bekommen", bemerkte Chihiro , nachdem sie sich gefangen hatte und die Aufregung nachließ. "Hups, da hast du mich auf dem linken Fuß erwischt", musste die Göttin diensteifrig eingestehen. "Eigentlich bin ich ja gar nicht auf Besuch eingerichtet und zu Essen hab ich schon überhaupt nichts im Haus. Ich glaube, ich könnte dir einen Fisch machen, mit Wald- und Wiesenkräutern, zum Beispiel den Karpfen von vorhin." Chihiro nickte zustimmend. Sie hatte jetzt richtig Kohldampf und der Rucksack mit ihrem Reiseproviant war ja außer Reichweite in Yokohama. "Also gut, dann lass mich doch mal schauen, was sich da so machen lässt. Karpfen, bei Fuß!" Manami stand auf, streckte die Hände aus und der Karpfen plumpste aus der Decke hinein. Er zappelte nicht einmal. "Du isst immer ziemlich viel, nicht wahr? Ich hab das häufig beobachtest, wenn du mit Ichiyo und Ayaka baden warst. Und trotzdem bist du so klein und dünn. Ist das nicht merkwürdig? Ich glaube, da ist auch Magie im Spiel", stellte Manami fest, während sie geschickt den Fisch ausnahm. "Ja, es fing alles vor zwei Jahren an, nachdem ich mit meinen Eltern zwei Wochen in der anderen Welt verschwunden war", erzählte Chihiro daraufhin, "seitdem muss ich die ganze Zeit über futtern, sonst kann man mir beim Verhungern zuschauen. Ich kann mich nur leider überhaupt nicht erinnern, was in diesen zwei Wochen passiert ist" "Ich weiß gar nicht, ob ich dir das erzählen sollte, denn ich hab's ja auch nur aus zweiter Hand erfahren, aber auf jeden Fall bist du seit dem unter den Göttern bekannt wie ein bunter Hund, hihi", deutete Manami fröhlich an, während sie dafür sorgte, dass sich der Karpfen gewissermaßen von selbst filettierte. "Jedenfalls stimmt etwas nicht mit dir. Dieses Etwas sorgt dafür, dass du mit deinen Eltern in die Geisterwelt gelangen konntest und lässt mich jetzt daran zweifeln, ob du wirklich nur ein Mensch bist." "Aber was ist dieses Etwas denn?" verlangte Chihiro zu wissen. "Wenn ich das doch so genau wüsste", gab Manami zu, während sie einige Bambussprossen kurz in heißem Wasser ankochte, "aber weißt du, und das ist der Hauptpunkt, warum ich nicht glaube, dass du ein Mensch bist, jedes Mal wenn, ich dich berühre, spüre ich es ganz eindeutig: Du fühlst dich an wie ein Fluss! Wie ein kleiner ruhiger, aber trotzdem kräftig strömender Fluss. Das ist sehr angenehm und beruhigend für jemanden wie mich. Ich mag das sehr!" "Wie ein Fluss? Aber das ist doch völlig widersinnig", zweifelte Chihiro. "Ich bin doch ein Mensch und kein Fluss!" "Tja, ich verstehe es ja auch nicht" Manami war jetzt fertig mit der Zubereitung des Fisches und servierte ihn auf dem niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes, wo Chihiro sich heißhungrig darüber hermachte. "Jedenfalls ist das der Hauptgrund, warum ich nicht glauben kann, dass du einfach nur ein Mensch bist. Ein Mensch fühlt sich nicht an wie ein Fluss!" "Aber ich bin doch nicht flüssig, also bin ich auch kein Fluss", argumentierte Chihiro, während sie sich mit Stäbchen aus Wasser den Fisch von einer Schale aus Wasser, die auf einem Tisch aus Wasser stand, zu Gemüte führte. "Mmmh, das schmeckt gut! Ich bin kein Gott, kein Geist und auch kein Dämon. Also muss ich doch ein Mensch sein." "Hahahahaha!" prustete die Göttin los, "deine Logik jedenfalls ist überwältigend." Wenig später hatte Chihiro den Karpfen und die übrigen Beilagen verdrückt und fühlte sich soweit gestärkt, dass ihre Unternehmungslust erneut zunahm. Sie dachte an ihre Freunde und Ayakas Vater, die sie in Yokohama zurückgelassen hatte und die sie bestimmt schon vermissen würden. Sie war jetzt mindestens schon eine halbe Stunde bei Manami in ihrem Schrein, wenn nicht länger. "Du Manami, ich glaube, ich sollte so langsam wieder gehen", setzte sie deshalb an, "ich glaube, die anderen warten schon auf mich, im Stadion in Yokohama." "O schade", machte Manami, "aber ich verstehe, dass du gehen musst. Ich werde dich bis zum Tor begleiten. Doch sollte ich dir, glaube ich, noch etwas darüber sagen, über das Tor, meine ich, bevor du es erneut benutzt. Und über die Welt der Götter und Geister" Sie machten sich auf den Weg zurück zum roten Gebäude und Chihiro ging wie selbstverständlich an Manamis Seite über die weite Wasserfläche des Sees, nachdem sie sich ihren Ball von der Tischplatte geschnappt hatte. "Zunächst mal solltest du wissen, dass die Zeit in der Welt der Götter und Geister nicht nach physikalischen Gesetzen abläuft, sondern nach magischen. Letztendlich bedeutet es, dass die Zeit dort genau so schnell läuft, wie die Mehrzahl der Leute an einem Ort möchte, dass sie läuft"; erklärte sie. "Wenn nun ein Mensch dort hineingerät, dann läuft seine persönliche Zeit weiter nach dem Takt dieser Welt. Da die Zeit in der anderen Welt aber mit einer anderen Geschwindigkeit läuft", erläuterte sie weiter, "mal schneller, mal langsamer als die persönliche Zeit des Menschen, kann es bei einer starken Laufzeitabweichung dazu kommen, dass der Mensch seinen physischen Zusammenhalt verliert und beginnt sich aufzulösen" Hierzu ergänzte sie: "Man kann sich jedoch mit der dortigen Zeit synchronisieren, indem man etwas von dort isst, aber damit wäre ich vorsichtig. Häufig werden die Nahrungsmittel dort in der einen oder anderen Weise von lokalen Autoritäten mit Schutzzaubern versehen. Wenn es gar nicht anders geht, würde ich es an deiner Stelle mal mit einem Büschel Gras versuchen, oder so. Das sollte gefahrlos sein" Bäh, sie sollte Gras essen, wenn sie längere Zeit dort bleiben wollte? Trotzdem hörte Chihiro aufmerksam zu, denn dies waren die ersten wirklich konkreten Informationen, die sie aus erster Hand von der anderen Welt bekam. "Am besten solltest du aber in der Nähe der Tore bleiben und nach Möglichkeit auch nur kurz dort verweilen, denn dort werden die Laufzeitabweichungen meistens nicht so groß, dass man in Gefahr gerät, sich aufzulösen", sorgte sich Manami um ihre kleine Freundin, "die Tore haben aber auch eine unangenehme Eigenschaft. Weil die Zeit in dieser Welt so schnell läuft, wie eine Mehrheit von Leuten an einem bestimmten Ort es wollen, passiert es, dass Zonen entstehen, in denen die Zeit schneller läuft und solche, in denen sie langsamer geht" "Boah, das hört sich ja richtig verrückt an!", warf Chihiro ein. "Du hast Recht, das ist auch ziemlich verrückt", konstatierte die Göttin, "wenn solche Zonen aneinander stoßen, kommt es zu einem Wirbel und es kann passieren, dass die Zeit dort kurzfristig rückwärts läuft. Um jetzt zu verhindern, dass man beim Durchqueren eines Tores sich selbst begegnet, falls man in einen solchen Wirbel geraten war, wurde deshalb beim Übergang eine Verzögerung eingebaut. Bei jedem Wechsel von einer Welt in die andere werden deshalb gut 20 Minuten als Sicherheitspuffer eingefügt" "Huch! Aber das bedeutet ja ...", entfuhr es Chihiro, die schlagartig die Bedeutung erfasste. "Ich bin von Yokohama einmal nach drüben und von dort wieder hierher. Dann habe ich ja nur für die zwei Tor-Passagen mindestens 40 Minuten verbraucht. Oje, da wird Herr Fukazawa aber sauer sein. ... Und für den Rückweg werde ich ja noch mal 40 Minuten verbrauchen!! Mit der Zeit, die ich bei dir verbracht habe, macht das dann zusammen ... O jemine!" "Da sollten wir uns wohl beeilen" Manami legte einen Schritt zu. In der einsetzenden Dämmerung hob sich der Wald dunkel vor dem klaren, orangeroten Himmel ab. "Am besten ist, ich komme mal mit auf die andere Seite. Mich würde doch wirklich interessieren, wo du da eigentlich herauskommst", schlug sie vor, als sie das Ufer erreichten, "dazu sollte ich dir vielleicht noch etwas erklären. Die Tore sind nämlich Teile eines weltweiten Transportsystems. Du kannst im Prinzip von jedem Tor in dieser Welt direkt zu jedem Tor in der anderen Welt gelangen und umgekehrt. Auf die Weise kann man um die ganze Welt reisen" Sie schaute sich nach Chihiro um, die nicht ganz mit ihr Schritt halten konnte, und wartete kurz, bis das Mädchen sie eingeholt hatte. "Das Problem ist nur, dass du den Zielort kennen musst, um das diesem nächstgelegene Tor ansteuern zu können. Den muss man sich nur deutlich vorstellen, damit das Tor einen dorthin bringt", ergänzte sie, "ach ja, und wenn man ein Tor von der Geisterwelt in die Menschenwelt nicht korrekt benutzt, also nicht an den Zielort denkt, während man hindurchgeht, dann wird einem jede Erinnerung an die Geisterwelt auf magische Weise genommen. Nur so zur Sicherheit, gegen unbefugte Benutzung oder wenn man Menschen wieder hinausexpediert" "Deshalb also haben ich und meine Eltern alles vergessen. Und Ayaka und Ichiyo auch, als ich die beiden Mal mit hinübergenommen habe", überlegte Chihiro, als sie fast am roten Gebäude angelangt waren, "meine Erinnerung ist aber teilweise zurückgekommen, als ich erneut hinübergegangen war" "Du hast die beiden auch mit herüber genommen?" Manamis Stimme klang leicht missmutig. "Das solltest du nicht. Menschen haben dort nichts verloren! Meistens gelangen sie sowieso nur dort hin, wenn so ein schusseliger Gott das Tor benutzt, während gerade Menschen hindurchgehen. Einige schaffen es und kommen wieder zurück, andere lösen sich auf und verschwinden auf nimmer Wiedersehen, und manchen stößt Schlimmeres zu" "Ich bin doch auch ein Mensch. Warum darf ich dann hindurchgehen?" fragte Chihiro. "Ich sage ja gar nicht, dass du dorthin gehen solltest. Am liebsten wäre mir ja, du bliebest hier", meinte Manami daraufhin sanft, "du kannst die Tore aber nun mal benutzen, wieso auch immer, und ich kann es dir nicht verbieten. Und wenn ich es dir verbiete, benutzt du sie irgendwann trotzdem. Da ist es doch besser, ich erkläre dir, wie es funktioniert und wo die Gefahren lauern. Dann weißt du wenigstens, woran du bist und passt auf. Ich will doch nicht, dass dir was passiert" Sie standen jetzt direkt vor dem Eingang zum Tunnel und das andere Ende war in der hereinbrechenden Dämmerung kaum noch zu erkennen. Chihiro und Manami schauten einander kurz an, bevor sie dann, Chihiro vorneweg, hineingingen. Im bereits beleuchteten Wartesaal unter dem Uhrenturm angelangt, bemerkte Chihiro, dass sich dort bereits die ersten Gestalten sammelten. Es waren Fährgäste, wie der Affe im Pagenanzug beim letzten Mal gesagt hatte, als sie mit Ichiyo und Ayaka hier gewesen war. Wohin diese Fähre wohl gehen mochte, überlegte sie. Manami ihrerseits sah sich interessiert um, so als würde sie diesen Ort das erste Mal betreten. "Also, hier kommst du immer heraus oder manchmal auch woanders?" wollte sie wissen. Chihiro schüttelte den Kopf. "Nein, ich komme immer nur hier heraus. Ich dachte bis jetzt gar nicht, dass man noch woanders hingelangen könnte", antwortete sie nachdenklich und fragte dann ihrerseits: "Weißt du denn, wo wir hier sind?" "Nein, hier bin ich vorher noch nie gewesen", gab Manami zurück, "ich kann ja einfach mal fragen." Damit ging sie zu einer Gestalt herüber, die auf einer der holzbeplankten gussstählernen Wartebänke saß und konzentriert in einer Papierrolle las, die sie von Zeit zu Zeit ein Stück weiter von der linken in die rechte Hand weiterdrehte. Die Gestalt trug einen weiten, mit großen Ornamenten bedruckten Baumwollumhang und einen mit Blättern und Zweigen dekorierten geflochtenen Korb über den Kopf gestülpt, weshalb man nicht erkennen konnte, ob sie weiblich, männlich oder möglicherweise etwas anderes war. Während Chihiro mit leicht mulmigem Gefühl zu Manami herüberblickte, die sich der Gestalt vorstellte und offenbar Höflichkeiten mit dieser austauschte, hörte sie plötzlich ein tiefes rumpelndes Brummen direkt hinter sich. "O Entschuldigung", rief sie erschrocken, als sie gewahr wurde, dass sie noch immer vor dem Tunnelausgang stand, durch den sie gekommen war und diesen so versperrte. Schnell trat sie einen Schritt zur Seite und starrte dann mit offenem Mund auf das Wesen, das jetzt in den Raum watschelte. Fast drei Meter groß und den Durchgang komplett ausfüllend, war es dicht mit flauschigem, dunkelgrauem Fell bewachsen, mit einer großen Blässe auf dem Bauch. * * http://myneighbortotoro.animexx.4players.de/fanarts/fanart.php4?id=16626&sort=thema Es hatte zwei große Augen, ein Paar pilzförmiger Ohren oben auf dem Kopf und einen scheunentorgroßen Mund mit einigen Schnurrbarthaaren darüber. Über dem rechten Arm trug das Wesen einen ziemlich alten zerfledderten Regenschirm mit Henkel. "Totoro ...", flüsterte Chihiro erschüttert, "es gibt dich ja wirklich." Das Wesen grinste sie an und deutete eine kurze Verbeugung an, die Chihiro mechanisch erwiderte, bevor es weiter ging und sich einen Platz auf einer der Bänke suchte. Manami hatte mittlerweile ihre Auskunft eingeholt und kehrte mit leicht besorgtem Gesichtsausdruck wieder zurück, während Chihiro immer noch mit großen Augen hinter dem Totoro herstarrte. "Na, hat dich der Waldgeist erschreckt?", neckte Manami Chihiro, "die tun nur so brummelig, sind aber meistens ganz nett. Es gibt 'ne ganze Menge von denen und sie wohnen häufig in großen alten Bäumen. Dass heißt, wenn man ihnen ihren Heimatbaum fällt, können sie auch schon mal grantig werden" "Aber ich dachte, der wäre nur erfunden. Ich habe so einen zu Hause, aus Plüsch", erzählte Chihiro, immer noch völlig fassungslos. "Du, ich glaube wir sollten jetzt gehen. Ich muss wieder zu den anderen zurück ins Stadion. Kommst du mit?" "Nein Chihiro, ich kann leider nicht mitkommen. Du hättest nicht viel von mir, wenn ich es versuchte. Aber lassen wir das besser", erwiderte Manami, "also, du gehst jetzt durch einen der Tunnel und denkst fest an das Stadion in Yokohama und ich benutze einen der anderen. Ach, und wenn du schon hierher kommst, dann bleib am besten hier in dem Raum und geh nicht nach draußen. Hier drin kann eigentlich nicht viel passieren. Nun geh, und komm mich bald wieder besuchen, ja?" Chihiro nickte. "Ja Manami, mache ich. Bis bald!" bestätigte sie der Göttin. Sie drehte sich um, ging in den Tunnel hinter sich und winkte noch einmal, bevor sie das Tor in die Welt der Menschen passierte und verschwand. Manami ihrerseits verließ den Wartesaal nach draußen. Da sie ja gerade schon mal hier war, konnte sie auch gleich den in der hereinziehenden Nacht langsam erwachenden Ort erkunden. Eigentlich hätte sie sich ja denken können, dass Chihiro hier an diesem Ort in die Geisterwelt gelangen würde und machte sich deshalb einige Sorgen um ihre kleine Freundin. Über die Hexe Yubaba und ihr Badehaus für die Götter hatte sie schon so einiges gehört, Gutes und auch weniger Gutes. Gerüchte. Hörensagen. Sie war eine ausgezeichnete Gastgeberin und äußerst geschäftstüchtig, wie man hörte. Doch auch verschwanden immer wieder Personen auf nimmer Wiedersehen in dieser Gegend. Zudem sollte auch dieser weiße Drache mit der grünen Mähne immer wieder in der Nähe ihres Badehauses gesichtet worden sein. Sie rief sich das Bild des Drachen in ihr Gedächtnis zurück, welches ihr einer der Agenten der göttlichen Geheimpolizei in den Geist projiziert hatte. Er hatte einige Zeit lang in ein paar Teilen der Geisterwelt Angst und Schrecken verbreitet, immer wieder wie aus dem Nichts erscheinend, raubend und mordend, bevor er dann wieder verschwand. Die göttliche Geheimpolizei fahndete bereits eine Weile nach ihm, doch seit fast zwei Jahren war dieser bösartige, aus der Art geschlagene Monsterdrache wie vom Erdboden verschluckt. Aber man wusste ja nie. Sie wagte gar nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn Chihiro in die Fänge dieses Ungeheuers geriete. Es war wirklich am sichersten für die Kleine, wenn sie das Gebäude mit dem Uhrenturm erst gar nicht verließ, damit sie in keine zu starke Zeitdrift geriet, der Hexe Yubaba nicht zu nahe kam, die Manami nicht ganz geheuer schien, und vor den Augen dieses gefährlichen Drachen verborgen blieb. Ja, sie sollte Chihiro einen anderen, sichereren Ort hier in der Geisterwelt zeigen, den sie gefahrlos für ihre Passagen benutzen konnte. Es war dunkel, vollständig finster, aber trotzdem war sich Chihiro sicher, dass sie wieder im Stadion in Yokohama war. Der Geruch war der gleiche, das Brummen der Maschinen war das Gleiche und leise drang Musik von oben herunter. Jemand musste wohl das Licht ausgeschaltet haben. Verwundert entdeckte sie jetzt, dass der Kemari-Ball in der Dunkelheit schwach leuchtete und, wenn sie ihn hin und her bewegte, eine schwache Funkenspur hinter sich her zog. Ob das die Magie war, die in dem Ball steckte? Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang, wechselte die Seite des Ganges und tastete sich weiter. Dabei fiel ihr siedend heiß ein, dass sie Manami nicht danach gefragt hatte, was das jetzt für ein Ort war, wo sie immer in der anderen Welt heraus kam. Der Totoro hatte sie einfach zu stark abgelenkt. Sie würde Manami dann beim nächsten Mal danach fragen. Nach einiger Zeit fand sie im schwachen Glimmen des Balles einen Lichtschalter und die Leuchtstoffröhren tauchten den Gang in ein diffuses Licht, was die Sache erheblich vereinfachte. Sie nahm die erste Tür, die sie fand, und machte sich auf den Weg nach oben, wo sie überrascht feststellte, dass die in dem abgesperrten Bereich am Hauptzugang ins Stadion herausgekommen war. Vor Schreck wollte sie schon wieder nach unten gehen und sich einen anderen Weg suchen, aber dann dachte sie sich, dass ihr jetzt nichts Schlimmes mehr passieren konnte und marschierte entschlossen zu einem der Polizisten an der Barriere, bei dem sie am Uniformrock zupfte. "Hallo, könnten sie mich bitte herauslassen?" lächelte sie den Beamten an. Dieser schaute sich überrascht um und entdeckte dann ein kleines, vielleicht acht- oder neunjähriges Mädchen ohne Ausweis, welches hier demnach absolut nichts zu suchen hatte. Er hatte seine Instruktionen! Die besagten, niemanden ohne gültigen Ausweis hereinzulassen und sei es der Kaiser höchstpersönlich. Über kleine Mädchen ohne Ausweis, die heraus wollten, besagten die Instruktionen nichts. So zuckte er mit den Achseln und hob Chihiro über die Absperrung. Dann fiel ihm plötzlich etwas ein. Das Mädchen entsprach genau der Beschreibung. "Sag mal, bist du vielleicht die kleine Chihiro?" fragte er. Chihiro nickte erschrocken. "Na, dann geh mal schnell zu deinen Eltern. Die haben dich schon ausrufen lassen und suchen dich überall", forderte der Beamte sie dann entschieden auf. "Husch, husch!" Wenige Minuten später war Chihiro wieder oben im Stadion auf der Tribüne, wo sie nur Ichiyo auf seinem Sitzplatz vorfand. Die anderen Plätze waren verlassen. Unten im Stadion war die Abschlussfeier der Weltmeisterschaften im Gange, man hatte einen riesigen Fujiyama aus Stoffbahnen über dem Mittelkreis errichtet und formatfüllende Flaggen von Deutschland und Brasilien auf das Spielfeld gebracht. Gleißendes Flutlicht beleuchtete die Szenerie. "Hallo Ichiyo, ich bin wieder da. Wo sind denn die anderen?" meldete sie sich mit klopfendem Herzen zurück und ließ sich neben dem Jungen auf ihren Sitz plumpsen. Der blickte sie überrascht, aber erleichtert an. "Mann Chihiro, wo bist du denn nur gewesen?" entfuhr es ihm und dann umarmte er sie. Chihiro wusste gar nicht, wie ihr geschah. "Ayaka und ihr Vater suchen dich schon überall, nachdem du verschwunden warst", informierte er sie, nachdem er sich ein wenig beruhigt und sie wieder losgelassen hatte. "Wir haben dich sogar über Lautsprecher ausrufen lassen. Ich sollte hier warten, falls du hier wieder auftauchst." "Wie lange bin ich denn weg gewesen?", fragte sie, sich ein wenig dumm stellend, denn auf der großen Anzeigetafel war die aktuelle Uhrzeit kaum zu übersehen. Es war kurz nach halb elf Uhr, was bedeutete, dass sie mehr als zweieinhalb Stunden fort gewesen war. Sie würde sich eine gute Ausrede einfallen lassen müssen. Vielleicht könnte sie ja erzählen, dass sie Risa getroffen hatte, ihre alte Freundin aus Tokyo, mit der sie sich dann verquatscht hatte. Eine halbe Stunde später kamen dann Ayaka und ihr Vater zurück. Chihiro musste sich einiges anhören, aber zu ihrer Erleichterung fragte niemand, wo sie denn nun gewesen war und was es mit dem weißen Ball auf sich hatte, den sie auf einmal besaß. Letztendlich waren alle nur froh, dass sie wieder da war. Gemeinsam sahen sie sich die Abschlussfeier zu Ende an und verließen gegen Mitternacht das Stadion. Sie gingen zum Bahnhof zurück, wo sie kurz vor 1:00 Uhr nachts den Shinkansen zurück nach Hause nahmen. Ayaka war völlig geknickt, weil gerade ihr Olli Kahn einen großen Fehler gemacht hatte, sodass Deutschland das Finale verloren hatte. Ausgerechnet Ronaldo hatte die beiden Siegtreffer für Brasilien erzielt. Aber dann erklärte sie allen, dass sie etwas daraus gelernt habe: Man gewänne Spiele nicht, indem man Tore verhindere, sondern indem man Tore schieße. Und sie wollte Spiele gewinnen, weshalb sie sich wieder voll auf das Stürmen konzentrieren wolle. Trotzdem, erklärte sie, hätte es ihr fast das Herz gebrochen, als Olli Kahn nach Spielende ganz alleine und traurig in seinem Tor gehockt hatte. Chihiro überlegte, ob sie Ayaka jemals erzählen sollte, was sie da unten auf dem Spielfeld beobachtet hatte: dass nämlich der Gott Seidaimyojin Ronaldo eine Überdosis Aufputschzauber verpasst hatte, weil sie, Chihiro, ihn abgelenkt hatte. Sie entschied sich dagegen und schenkte Ayaka zum Trost den Kemari-Ball des Fußballgottes. Vielleicht würde er ja bei Ayaka auch wirken. Gegen fünf Uhr am Morgen, es war kurz nach Sonnenaufgang, setzte Ayakas Vater Chihiro wieder zu Hause ab, die nur noch todmüde in ihr Bett schlich, wo sie sofort einschlief. Aber sie musste ja nicht zur Schule, weil an diesem Montag die Sommerferien begannen, sodass sie bis nach Mittag ausschlief. Als sie endlich aufwachte, war sie alleine zu Hause. Ihre Mutter war im Konbini kassieren und ihr Vater kümmerte sich bestimmt um die Häuser, die er verwaltete. Sie fand in der Küche Frühstück und Mittagessen für sich vorbereitet, wo sie sich erst mal darüber hermachte. Der ganze letzte Tag erschien ihr jetzt wie ein einziger Traum und sie beschloss bei einem heißen Bad, noch einmal darüber nachzudenken. Wenig später ließ sie sich mit Wohlbehagen in das warme Wasser sinken, als ihr plötzlich eine Idee kam. Ob es wohl gehen würde? Manami hatte gesagt, dass sie ihr nicht helfen würde, sondern dass sie es von ganz alleine vollbrächte. Chihiro stand auf und versuchte sich die Wasseroberfläche als fest vorzustellen. Dann hob sie ihren rechten Fuß aus dem Wasser und stellte ihn auf die Oberfläche. Zu ihrer Enttäuschung versank der Fuß ohne Widerstand erneut im Wasser. Wieso hatte es dann gestern geklappt, wunderte sie sich, war es nur ein Traum gewesen oder hatte Manami ihr doch geholfen? Sie versuchte sich zu erinnern, wie es gewesen war, an das Gefühl das sie hatte, als sie über das Wasser gegangen war. Es war ganz selbstverständlich gewesen, mühelos und einfach. Mit der Erinnerung an dieses Gefühl versuchte sie es erneut, stieg aus dem Wasser heraus und lief auf dem heißen Badewasser hin und her. Sie konnte kaum fassen, wie einfach es war. Warum hatte sie es nicht schon früher entdeckt? Träumerisch legte sie sich schließlich auf das leicht federnde Wasser, wo sie über Seegöttinnen, Fußballgötter, Dimensionstore, Karpfen, Zugfahrten und Totoros nachsinnend in der angenehmen Wärme unter sich erneut einschlief. Sie erwachte erst wieder, als sie spürte, wie jemand an ihr rüttelte. Schlaftrunken drehte sie sich um und blickte in das ausdruckslose Gesicht ihrer Mutter. Irgendwie war ihr kalt und dann entdeckte sie, dass sie im Badezimmer war. Was machte sie denn hier im Badezimmer, versuchte sie sich zu erinnern, und dann fiel ihr wieder ein, dass sie sich vorhin ein Bad eingelassen hatte. Sie musste dann wohl im Wasser eingeschlafen sein. Dann hatte sie so einen eigenartigen Traum gehabt, dass sie auf dem Wasser herumgelaufen wäre. Sie drückte sich hoch, setzte sich auf und blickte sich um. Dann stellte sie fest, dass sie noch immer auf dem mittlerweile kalten Wasser saß. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus und vor Schreck versank sie auf einmal in der kühlen Flüssigkeit. Wortlos hob ihre Mutter sie dann aus der Badewanne, trocknete sie ab, kleidete sie wieder an, ließ das Badewasser ab, machte die Badewanne sauber und begann dann das Badezimmer zu putzen. Von dem Vorfall erwähnte sie weder gegenüber Akio noch gegenüber Chihiro auch nur ein Wort. Für sie war das gar nicht passiert. Kapitel 14: Die Flucht ---------------------- Hallo ihr Lieben, endlich hab ich es geschafft, das vorerst letzte Haku-Kapitel fertigzustellen. Ist schon wieder so ein Monster mit mehr als 10000 Worten geworden, deshalb habe ich auch so lange gebraucht. Viel Spass beim Lesen, Pazu Die Flucht Yubaba zog an der Klingelschnur neben ihrem Schreibtisch. In Kürze sollte sich Aniyaku dann einfinden, um die Neuen in ihre Aufgaben einzuweisen. Die beiden, die gerade ihre neuen Verträge unterschrieben hatten, kauerten auf dem Teppich davor und warfen einander vielsagende Blicke zu, wenn sie sich unbeobachtet glaubten, als hätten sie der Hexe ein Schnippchen geschlagen. Dieser entging dies allerdings nicht und hämisch dachte sie: ,Den beiden wird das Lachen schon noch vergehen.' Dann ärgerte sie sich wieder, weil Aniyaku immer noch nicht auftauchte. Fast sehnte sie sich an die Zeit zurück, als diese Aufgabe noch von Haku ausgefüllt worden war. Wie schnell, leise, pünktlich und gehorsam ihr Lehrling immer gewesen war. Und vor allem wie "nützlich". Der Entschluss ihn endgültig los zu werden war nicht etwa plötzlich gekommen, sondern hatte sich über Monate hinweg entwickelt. So nach und nach hatten nämlich die Agenten der Geheimpolizei angefangen bei ihr herumzuschnüffeln, sodass ihr die ganze Angelegenheit langsam zu heiß zu werden begann. Die Entdeckung von Hakus kleiner Eigenmächtigkeit mit diesem Menschenmädchen hatte dann nur noch den letzten Ausschlag gegeben, ihn zu beseitigen. Trotzdem sehnte sie sich wieder nach diesem Rausch zurück, wenn sie die Kontrolle über den jungen Gott übernommen hatte, nach der Schnelligkeit und unglaublichen Kraft des Drachen und dem Gefühl der Macht, dass dieser ihr über das Leben anderer gab. Eine Macht und Freiheit, die sie hier im Badehaus aufgrund dieses vermaledeiten Vertrages mit ihrer älteren Zwillingsschwester Zeniba nicht hatte. "Sie wünschen, verehrte Meisterin", vernahm sie in diesem Moment die leicht unsichere Stimme Aniyakus, der geräuschlos den Raum betreten hatte. "Äh ja, diese beiden hier haben einen Arbeitsvertrag unterschrieben", teilte die ihm mit und kommandierte dann: "Weise sie ein und versorg sie mit Arbeit. Und nimm sie ruhig ordentlich ran." "Wie sie wünschen, Herrin", schleimte Aniyaku und bedeutete den beiden Fröschen mit einem energischen Wink, ihm zu folgen. Unterdessen rollte Yubaba leidlich gut gelaunt die Arbeitsverträge zusammen und lies mit einem kleinen Wink ihrer Hand, kurze Bändchen Schleifen binden, um sie zusammenzuhalten. Danach öffnete sie eine Schublade in der Kommode links vom Schreibtisch, in der sie die Verträge der Froscharbeiter aufzubewahren pflegte, und wollte die beiden Rollen hineinlegen, doch die neuen Verträge passten kaum noch hinein. Eigentlich war diese Schublade immer so halb gefüllt gewesen, da es ihr durch gewisse administrative Maßnahmen ja gelungen war, die Anzahl der Frösche nahezu konstant zu halten. Immer wenn ein Frosch verschied, löste sich auch dessen Vertrag zu Staub auf. Sie wühlte ein wenig tiefer, konnte aber kaum frischen Staub auf dem Boden der Schublade ausmachen. Das war doch schon sehr merkwürdig. Unwillkürlich musste sie an den Vertrag mit Haku denken, der in einer gesonderten Schatulle auf dem Kaminsims einen Ehrenplatz einnahm. Mit einem Wink lies sie die Schatulle zu sich herüberschweben, öffnete sie hastig und linste hinein. Der Vertrag war fort und nur noch etwas Staub bedeckte den Boden. Das konnte nur zweierlei bedeuten, dachte sie erschrocken. Entweder hatte Haku endlich ebenfalls das Zeitliche gesegnet oder aber seine Lehrzeit bei ihr war abgelaufen. Die erste Möglichkeit war allerdings eher unwahrscheinlich, wie sie sich eingestehen musste. Eine Zeit lang, zu Beginn seines Dienstes im Bergwerk, hatte sich sein Zustand erfreulich schnell verschlechtert, doch dann hatte er sich irgendwie gefangen. Er war zwar fürchterlich mager und hohlwangig geworden, doch funkelte er sie aus seinen grünen Augen immer wieder forsch und herausfordernd an. Sie hatte versucht ihn von den anderen zu isolieren, in dem sie ihn in eine Kiste sperren ließ, ihn vor den anderen zu diskreditieren, indem sie die Verantwortung für ihr Elend auf ihn übertrug und es schien Erfolg zu haben. Plötzlich wurden seine Augen stumpf und er wechselte mit keinem mehr auch nur ein Wort. Dies hatte sie mit Hoffnung erfüllt, dass es doch mit ihm zu Ende gehen würde und mehr oder weniger eingelullt, sodass sie nichts weiter unternommen hatte, doch dann vor fast einem Jahr war es, als wäre Haku wieder aufgewacht und das Funkeln war in seine Augen zurückgekehrt. Vor einem halben Jahr war dann dieser Typ von der göttlichen Geheimpolizei bei ihr vorstellig geworden, ohne sich ordentlich bei ihr vorzustellen, hatte Andeutungen gemacht, ihr richtig Angst eingejagt, mit seiner kalten, arroganten und fordernden Art. In feinste Seidenstoffe gehüllt und mit silbergrauer Haarmähne hatte er sie aus leuchtend roten Augen angeschaut, als wollte er sie im nächsten Moment zerreißen. Sein unwirklich gutes Aussehen hatte ihre Furcht dabei nur noch verstärkt. Irgendwie hatte sie es dann doch noch geschafft, ihn abzuwimmeln, aber die Furcht war geblieben. Wenn es dem Jungen gelingen würde, aus dem Bergwerk zu entkommen und dieser Typ von der Geheimpolizei Haku in die Finger bekam, würde es wegen seiner "Verbrechen" zu einem Prozess gegen ihn kommen, was richtigen Ärger für sie bedeuten konnte. Sie durfte ihn auf gar keinen Fall gehen lassen, denn wenn es zu einer "Befragung" Hakus durch diesen Typ kam, würde alles herauskommen. Was nur konnte sie tun, um das zu verhindern? Sie konnte versuchen, Haku weiterhin unten im Bergwerk fest zu halten. Das würde auf Dauer vermutlich jedoch nicht funktionieren. Aber der Vertrag war ja abgelaufen. Das bedeutete, dass Haku nicht mehr durch dessen Magie vor ihr geschützt wurde und die Sache mit direkten Methoden würde angehen können. Dieser verdammte Vertrag mit ihrer Schwester, auf den sie sich damals eingelassen hatte. Wenn sie gegen irgendeine Bedingung in diesem Vertrag verstieß, bedeutete dies, dass der gesamte Besitz am Badehaus an Zeniba überginge und sie und Boh dann mittellos wären. Daher hatte sie auch versucht vorzusorgen und sich durch "Nebeneinkünfte", genauer gesagt, durch Raub und Mord, ein finanzielles Polster für den Fall des Eintretens dieser Klausel zu schaffen. Da war ihr damals der junge Drache gerade recht gekommen, mit seinem Ansinnen, bei ihr das Zauberhandwerk zu erlernen. Wie einfach hatte der gutgläubige Junge sich dazu bringen lassen, ihren Wurm zu schlucken, mit dem sie ihn kontrollieren konnte. Doch jetzt war dies alles vorbei und Haku musste weg. Kurz überlegte sie, ob sie Haku einfach überraschend attackieren sollte, mit aller Wucht und Kraft, über die sie verfügte. So lange er dieses Halsband trug, welches sie ihm in erster Linie gegeben hatte, damit er die Loren auch wirklich mit eigener Kraft ziehen musste und keine Magie zur Arbeitserleichterung einsetzten konnte, würde er ihr nicht wirklich gefährlich werden können. Wie oft war sie erstaunt und auch besorgt über die Auffassungsgabe des Jungen in allen Bereichen gewesen, die Geschwindigkeit mit der er Wissen in sich aufsog und sein enormes magisches Talent. Wenn sie daran dachte, wie wenig sie ihm wirklich beigebracht hatte und wie viel er sich einfach bei ihr abgeschaut hatte. Das war einfach erschreckend gewesen. Sie musste sich eingestehen, dass dies auch ein Grund gewesen war, ihn los zu werden: Mit der Zeit hatte sie einfach Angst vor seinem magischen Potenzial bekommen. Ein paar Mal hatte sie dieses ausprobiert. Als die die Kontrolle über seinen Geist übernommen hatte, hatte ihre eigene magische Meisterschaft durch sein Talent in die Praxis umsetzten lassen und die Wirkung war im wahrsten Sinne des Wortes durchschlagend gewesen, herrlich und beängstigend zugleich. Wenn ihm jemand mal wirklich das Zauberhandwerk auf einer soliden theoretischen Grundlage beibrächte ... Yubaba wagte kaum sich vorzustellen, was dabei herauskommen mochte. Nachdenklich schaute sie auf die Ringe an ihrer rechten Hand. Ohne diese Klunker konnte sie nicht einmal eine Fliege in einen Floh verwandeln. Pah, und wenn schon. Sie musste ihn nur erwischen, bevor er seine Drachenform angenommen hatte, denn seine Schuppen waren ein zu guter Schutz gegen alle Arten von Attacken, physischen, als auch magischen. Als Drache musste man ihn entweder an den Augen treffen oder ihn dazu bringen, etwas zu verschlucken, dass ihn von innen her verletzte, ansonsten hatte man kaum eine Chance gegen ihn. Paff machte es und die Seitentür sprang in diesem Moment auf. Boh stand im Türrahmen, in einen himmelblauen einteiligen Strampelanzug gekleidet und machte ein unglückliches Gesicht. Der Yu-Vogel hockte auf seiner rechten Schulter und die drei Kashira umhüpften seine Patschefüße, wobei sie ihr übliches "Oi, oi, oi" von sich gaben. In den letzten drei Jahren war er deutlich selbstständiger geworden und machte Yubaba durch seine dauernden Eskapaden vor Sorgen fast wahnsinnig. Er hatte nämlich herausgefunden, wie er sich alleine in die Mausgestalt verwandeln konnte, wovon er reichlich Gebrauch machte, um immer wieder aus ihrer unmittelbaren Aufmerksamkeit zu entfliehen und im Badehaus umher zu streunen. Dies hatte zur Folge, dass er mittlerweile sehr gut gehen konnte und vor allem auch gut 80 Kg abgenommen hatte, sehr zur Beunruhigung seiner Mutter. So hatte er jetzt vielleicht nur noch 100 Kg Übergewicht. Weil Yubaba ihn aber weiterhin abgöttisch liebte, verzieh sie ihm jede Flucht und mochte auch keinerlei magische Mittel einsetzen, um seine Bewegungsfreiheit und seinen Tatendrang einzuschränken. Sonst wäre er am Ende noch böse auf sie geworden. "Baba, du hast doch versprochen, mit mir zu spielen!", quengelte er mit seiner Babystimme los, "und wann kommt Chihiro mich endlich besuchen?" Mist, schon wieder Chihiro, dachte Yubaba, werde ich dieses Gespenst denn überhaupt nicht los. Am Liebsten, das musste sie sich eingestehen, hätte sie die Kleine trotz aller Probleme sofort wieder eingestellt. Immer wieder fragten hochrangige Badegäste nach ihr und waren bereit Unsummen für ihre Gesellschaft zu zahlen. Chihiro, beziehungsweise Sen, wäre eine Goldgrube für sie und die Kleine würde nicht schwer zu arbeiten haben, müsste sich nur um diese besonderen Gäste kümmern und in ihrer sonstigen Zeit hätte sie mit Boh spielen oder sonst etwas tun können. Ja, wenn jemand wirklich von Nutzen für sie war, war sie auch bereit Zugeständnisse zu machen. "O, mein Kleiner, da habe ich dich doch fast vergessen", erwiderte sie schnell, "du weißt doch, dass Chihiro dich nicht besuchen kann. Sie ist doch ein Mensch und kann von alleine nicht in unsere Welt gelangen. Ich müsste sie abholen, weiß aber nicht, wo sie wohnt." "Buwäää!!", jaulte der Junge los. "Ich will aber, dass Chihiro mich besuchen kommt. Und wenn Chihiro nicht kommt, dann soll Haku kommen. Haku ist doch hier." Dabei kullerten große Tränen aus seinen Augen und tropften mit nachdrücklichem Plitschen auf den Teppich. "Aber Boh, Haku hat doch keine Zeit. Er muss doch für mich das Bergwerk leiten", versuchte sie ihn abzulenken, nahm ihn bei seiner Patschehand und zog ihn zurück in sein Kinderzimmer, "komm, wir gehen zusammenspielen." Boh spielte eine Stunde mit seiner Mutter, bevor diese sich unter einem Vorwand wieder von ihm verabschiedete und versuchte ihn ins Bett zu stecken. Diese Prozedur ließ er widerstandslos über sich ergehen und wartete, bis sie aus dem Zimmer gerauscht war. Dann stand er sofort wider auf, verwandelte sich in die Mausgestalt und schlüpfte durch ein Loch in der Wandverkleidung hinter dem Kissenstapel, dass er vor über einem Jahr entdeckt hatte, in die Tiefen des alten Baues. Die Idee, Haku zu besuchen, hatte sich in seinem Kopf festgesetzt und folgerichtig machte er sich daran, nach einem Zugang zu dem Bergwerk zu suchen, wo Haku sich aufhalten sollte. Haku fühlte sich gut; mit spielerischer Leichtigkeit zog er die Loren den Tunnel hinauf. Dies war die vierte und letzte Fuhre für heute, denn anstatt fünf Loren, die er zu Anfang seiner Zeit hier im Bergwerk kaum ziehen konnte, hatte er sich mittlerweile auf sieben Loren gesteigert. Es war kein Ehrgeiz, der ihn dazu trieb, immer schneller immer größere Lasten zu ziehen, sondern allein die Freude daran, seine eigene Kraft zu spüren und das Blut durch die Adern rauschen zu fühlen. In diesen Momenten konnte er das ganze Elend hier unten vergessen, die trostlose, deprimierende Umgebung und seine mittlerweile fast übermächtige Sehnsucht danach, Chihiro wieder zu sehen, die ihn manchmal so fürchterlich quälte. Und immer noch war da diese permanente, diffuse Sorge, dass Yubaba eines Tages die tatsächlichen Verhältnisse hier unten entdecken könnte. Immerhin war die Anzahl der Frösche hier unten auf immerhin 117 gestiegen und man hatte die Zucht der Käferratten stark ausbauen müssen. Wenn er sich beim Lorenziehen verausgabte, vergaß er diese Sorge für eine Zeit lang und fühlte sich besser, als es ihm eigentlich ging. 117 Frösche hier unten bedeuteten, dass inzwischen gut ein Drittel aller Froscharbeiter des Badehauses im Bergwerk schufteten. Haku erinnerte sich aus seiner Zeit als Yubabas rechte Hand gut daran, dass die Belegschaft der Froscharbeiter im Badehaus immer so um die 200 gelegen hatte. Dazu kamen noch etwa 150 Yuna, also die Schneckenfrauen, und gut 80 andere Beschäftigte, zu denen Füchse wie Lin, aber auch Kamaji, Torooru oder er selbst gehörten, von den Susuwatari, den Rußmännchen einmal ganz abgesehen, von denen es mehrere 1000 gab. In diesem Moment schoss er mit großem Geschwindigkeitsüberschuss in die Haupthöhle und hatte Schwierigkeiten, die Loren noch vor dem Ende des Schienenstranges am Aufzug zum Stehen zu bringen. Eine Gruppe von Froscharbeitern, die dort stand und offenbar einen Plausch führte, spritzte erschrocken auseinander, als der Drache auf sie zustürmte. Wiederholt hatte er versucht sich mit den Fröschen anzufreunden, aber es gab eine Art unsichtbarer Barriere zwischen ihnen, die zu überwinden Haku schließlich aufgegeben hatte, weil er durch das Belauschen verschiedener Gespräche unter ihnen darauf gestoßen war, dass sie ihn einfach fürchteten, ebenso wie Torooru. In aller Ruhe entlud er danach die Loren in den Aufzug, woraufhin er sich auf den Rückweg nach unten machte, um die Abbaumannschaft und Torooru abzuholen, der dann wie immer mit der Kohlenladung nach oben fahren und mit dem Essen zurück kommen würde. Boh glaubte nun endlich eine Möglichkeit gefunden zu haben, nach unten in das Bergwerk zu gelangen. Er brauchte nur dem Weg der Kohlen zu folgen. Eine Weile hatte er versucht in den Raum am Ende des Flurs zu gelangen, der zum Arbeitszimmer seiner Mama führte. Aus diesem kam immer dieser stinkende, hässliche Troll und der hatte wohl etwas mit dem Bergwerk zu tun, aber es war ihm einfach nicht gelungen, eine Möglichkeit zu finden, hinein zu gelangen. Boh vermutete wegen des Trolls, der irgendwas mit den Kohlen zu tun haben musste, weil er immer schwarz vor Kohlenstaub war, dass es in diesem Raum einen Zugang zum Bergwerk geben müsse. Seine Mutter hatte aber wohl irgendwelche magischen Siegel benutzt, um den Raum gegen den Zutritt von Unbefugten zu schützen, zu denen offensichtlich auch er selbst gehörte. Daher hatte er intensiv nachgedacht und war auf die Idee mit den Kohlen gekommen. Wo wurden die Kohlen nun gebraucht. Bei Kamaji! Den Weg zu Kamaji kannte er mittlerweile. Nicht nur den "Offiziellen" durch das Treppenhaus, sondern den Weg durch die Lüftungsschächte, Zwischenwände und Mauerspalte des riesigen, über hundert Jahre alten Baues. Eine halbe Stunde später hatte Boh sich bis in den Kesselraum heruntergearbeitet, wo er direkt unter Kamajis Podest herauskam. Dort gab es ein loses Brett, dass er beiseite drücken konnte. Er quetschte sich an den Büchern des alten Mannes vorbei, die neben seinem Podest gestapelt waren, und orientierte sich in dem Raum. Kamaji war momentan stark beschäftigt, wie immer in der Mitte einer Arbeitsnacht, sodass der alte Mann ihn nicht bemerkte. Fleißig wuselten die Rußmännchen hin und her, jedes ein Kohlestück für den stets gefräßigen Kessel schleppend. Diese Kohlestücke holten sie von irgendwo hinter der Wand mit den unzähligen Schubladen, in denen Kamaji seine Zutaten für die Kräuterbäder aufbewahrte. Die Löcher, in denen die Rußmännchen immer wieder verschwanden, um neue Kohlestücke zu holen, mussten zu einem Ort führen, an dem es einen Kohlevorrat gab. Da dieser Kohlevorrat aber nicht ewig reichen konnte, würde er wohl von Zeit zu Zeit aufgefüllt werden müssen. Von außerhalb, soviel wusste Boh durch das Belauschen seiner Mama, kamen keine Kohlelieferungen, also wurde der Kohlevorrat durch Kohle aus dem Bergwerk ergänzt. Daher nahm er an, dass es in diesem Lagerraum auch einen Zugang zum Bergwerk geben könnte, denn was wäre einfacher, als den Vorrat direkt aus dem Bergwerk nachzufüllen. Boh krabbelte zum Rand des erhöhten Holzfußbodens und blickte auf den Estrich herab, wo die Rußmännchen ihn noch nicht bemerkt hatten. Wenn er jetzt da heruntersprang, würde es wahrscheinlich Tumult geben, wenn die kleinen schwarzen Wesen ihn begrüßen. Dass heißt, falls sie ihn noch kannten. Also verkroch er sich unter dem Sitzkissen vor Kamajis Tisch und wartete, bis dieser eine Pause verordnete. Als es schließlich soweit war, krabbelte unter dem Kissen hervor, bis zum Rand des erhöhten Fußbodens an der Rückwand, vergewisserte sich noch einmal, dass Kamaji, der in Seelenruhe gerade eine Zigarette paffte, ihn nicht bemerkte, sprang die Stufe herunter und verschwand direkt im ersten Loch. Da er nicht wusste, was ihn erwartete und es zudem noch ziemlich dunkel war, tastete er sich vorsichtig vorwärts. Die Schnurrhaare, die er in dieser Gestalt besaß, leisteten ihm dabei gute Dienste, auch dank der vielen Praxis, die er beim Herumstreunen im Badehaus in allen möglichen und unmöglichen Ecken und Winkeln gewonnen hatte. Plötzlich war er von lauter kleinen Gestalten umrungen, die ihn berührten und wild durcheinander quiekten. Die Rußmännchen hatten ihn bemerkt. Leider war es so dunkel, dass er nur andeutungsweise ihre übergroßen Augen erkennen konnte. Unter diesen Umständen konnte er sich auf keinen Fall mit ihnen verständigen, weshalb er versuchte von hier fort an einen helleren Ort zu gelangen. Die Rußmännchen jedoch ließen ihn nicht gehen. Sie drängten ihn in eine bestimmte Richtung, quer zu dem Weg, den er zu nehmen vorgehabt hatte. Kurz darauf gelangten sie in einen niedrigen, kleinen Raum, dessen Größe er aufgrund der Dunkelheit nur ungefähr ausmachen konnte. Aber soviel konnte er ausmachen, dass er, wenn er sich hier zurückverwandelte, es ihn zerquetschen würde. Dann brachte eines der Rußmännchen ein glimmendes Kohlestück herein, welches den Raum in ein düsteres rotes Licht tauchte. Aber immerhin konnte man nun wirklich etwas erkennen. Die Wände und der Boden bestanden aus Beton und die Decke in vielleicht 50 cm Höhe aus rohen, unbehandelten Holzbrettern. Insgesamt hatte der Raum vielleicht 2 Quadratmeter. Auf etwa der Hälfte des Raumes war auf dem Boden eine Schicht aus Kohlestaub ausgebracht, in der sich hunderte kleiner Kuhlen befanden. Einige Rußmännchen ruhten sich in diesen Kuhlen aus. Links an der Wand war ein großer Vorrat an Zuckersternchen aufgeschichtet, mit denen die Rußmännchen gefüttert wurden. Alles hier war peinlichst sauber und ordentlich. Hier also wohnten die Rußmännchen. Nachdem sich die Rußmännchenmeute etwas beruhigt hatte, versuchte Boh sich ihnen durch Zeichen verständlich zu machen, denn reden konnte er in dieser Gestalt ja nicht. Dann erklang auf einmal ein leises, aber gut vernehmliches Klopfen von draußen; Kamaji rief die Rußmännchen mit seinem Holzhammer wieder zur Arbeit. Diese stürmten auch unter lautem Fiepen zum Ausgang des Raumes und verschwanden um die Ecke, neue Kohlen zu holen. Da ihn jetzt niemand mehr hinderte, hoppelte Boh hinter den Rußmännchen her. Dort wo sie jetzt zuerst hinliefen, würde es auch die Kohlen geben. Als er den Bereich außerhalb des Wohnraumes erreichte, kamen ihm die ersten Rußmännchen, ein jedes einen schweren Kohlebrocken über Kopf tragend, wieder entgegen. Zickzack bahnte Boh sich seinen Weg durch die geschäftigen Wesen hindurch, bis er in einen großen Raum gelangte, wie er an den Hallgeräuschen durch das Klackern der Kohlestücke hören konnte, die die Rußmännchen beim Aufnehmen der Brocken erzeugten. Dieser Raum war deutlich kühler, als der Kesselraum oder das Rußmännchenquartier, jedoch war er leider vollständig Dunkel, sodass Boh nichts erkennen konnte. Also machte er sich daran, sich den Raum mit seinen Schnurrhaaren zu ertasten. Er hatte an der einen Seite, an der sich auch der Zugang befand, eine gerade Wand und den Rest der Kammer schien ein großer Haufen Kohlestücke einzunehmen. Außer dem niedrigen Zugang für die Rußmännchen, schien es dagegen keinen weiteren Eingang zu geben. Wenn die Kohlen also nicht hier unten aufgeschüttet wurden, dann musste es von oben geschehen, dachte Boh bei sich, und begann, den Kohlenberg hinaufzukrabbeln. Mehrfach rutschte er ab und setzte so kleine Lawinen aus Kohlebrocken in Gang, die den Abhang herunterkullerten, schaffte es letztlich jedoch, die Oberkante des Kohlehaufens zu erreichen. Dort schloss sich ein etwa ein Meter breiter Betonsims an, der sich vielleicht drei Meter nach rechts und links erstreckte und in dessen Mitte sich eine Tür befand, wie Boh feststellte. Er konnte jedoch unter der Tür keinen Spalt feststellen, durch den er sich hätte hindurchquetschen können. In der Mitte wies die Tür allerdings einen senkrechten Spalt auf, wie die Aufzugtüren, die er aus anderen Teilen des Badehauses her kannte. Vielleicht war dies ja auch eine Aufzugtür? Um dies zu überprüfen, drückte er sich zur Sicherheit dicht an die Rückwand neben der Tür, verwandelte sich in seine Riesenbabygestalt zurück und tastete die Wand neben der Tür ab und fand letztlich einen Lichtschalter, den er betätigte. Eine einzelne, trübe Glühbirne, die an einem Draht in der Mitte des quadratischen Raumes herunterhing, erleuchtete daraufhin die Szenerie. In der Mitte der Wand auf dem oberen Sims befand sich tatsächlich eine fast drei Meter breite Fahrstuhltür, wie von einem großen Lastenaufzug. Unter dem Sims gab es eine etwa 5x5 Meter große und drei Meter tiefe Grube, in welche die Kohlen von dem Aufzug aus hineingekippt wurden, wie man anhand der Spuren erkennen konnte. Auf der anderen Seite, auf dem Boden der Grube gab es eine vielleicht 15 cm hohe und 1 m breite Öffnung, durch welche jetzt wieder die Rußmännchen hereinströmten, um Nachschub zu holen für den Kessel zu holen. Durch diese Öffnung war auch er vor einigen Minuten gekommen. Zu seinem Verdruss musste er feststellen, dass es keinerlei Knöpfe, Hebel oder Schalter gab, mit denen er den Aufzug von dieser Seite aus steuern konnte. Resigniert musste Boh am Ende feststellen, dass er von selbst hier nichts weiter unternehmen konnte. Daher machte er das Licht wieder aus, verwandelte sich in seine Mausgestalt zurück und wartete. Leise hörte er nach einiger Zeit dann das Anlaufen von Elektromotoren und gut zehn Minuten später öffneten sich die Aufzugtüren. Der hässliche Troll, den er schon so oft im Büro seiner Mama beobachtet hatte, stapfte aus dem erleuchteten Aufzug heraus, machte das Licht in dem Kohlesilo an und betätigte dann einen Hebel im Aufzug. Nun hob sich hydraulisch der Boden des Aufzugs, woraufhin die darin aufgeschichteten Kohlen begannen, durch die Tür in das Silo zu rutschen. Wenige Minuten später und unter Zuhilfenahme einer Schaufel und eines Besens hatte der Troll den Aufzug weitestgehend geleert. Er betätigte erneut den Hebel, sodass sich der Boden im Aufzug sich wieder senkte. Boh huschte hinter dem Troll, der ihn die ganze Zeit über nicht bemerkt hatte, in den Aufzug und versteckte sich hinter einigen Kohlebrocken, die ihren Weg nicht in das Silo gefunden hatten. Da sein Fell mittlerweile vom Kohlenstaub ganz schwarz geworden war, konnte man ihn auf den ersten Blick kaum von den Kohlestücken unterscheiden und so harrte er in die vordere rechte Ecke des Aufzugs gepresst, gespannt der Dinge, die da kommen mochten. Geschwätzig durcheinander quatschend stiegen die Froschmänner aus den Loren und machten sich auf den Weg in die Schlafhöhle, in der sie heute übernachten mussten. Nichts desto trotz hatten sie gute Laune, weil sie heute wieder etwas Vernünftiges zu essen bekommen würden und nicht die unvermeidliche Käferrattensuppe, die es sonst tagein, tagaus zu kosten gab. Heute würde es stattdessen Reis und eine Suppe geben. Einen Leckerbissen! Aber sie hatten heute unten im Bergwerk geschuftet und sich diese Belohnung im Schweiße ihres Angesichts verdient. Bis sie das nächste Mal wieder etwas Vernünftiges zu beißen bekämen, würden sie wieder eine Woche im Terrarium ausharren müssen. Währenddessen schnallte Torooru Haku von seinem Zuggeschirr los und machte sich dann auf den Weg, um die letzte Ladung Kohlen nach oben und das Abendessen nach unten zu bringen. Als sich die Aufzugtüren schlossen, sah er noch kurz, wie Haku wieder seine menschliche Gestalt annahm, bevor der Fahrstuhl gewohnt energisch nach oben beschleunigte. Haku setzte sich derweil auf seine Kiste, zog die Jacke seines ehemals weißen Suikans aus und machte sich daran, mit einer plumpen Nadel und einem groben grauen Garn, die Torooru ihm besorgt hatte, ein neues Loch zu stopfen. Trotzt mehrerer Versuche, seinen Suikan zu waschen, war der Stoff durch den allgegenwärtigen Kohlenstaub mittlerweile ebenso grau geworden, wie das Garn, und die häufigen Waschversuche machten das Baumwollgewebe zudem noch brüchig. Aber was sollte es? Wenn er hier unten nackt herumliefe, würde das auch niemanden kümmern. Seine Holzsandalen waren bereits vor einem guten Jahr zerbrochen und von den Ersatzsandalen, die er versucht hatte, aus einer alten Holzbohle zu machen, hatte er sich immer Holzsplitter in die Füße getreten, sodass er jetzt barfuß herumlief. Aber weder die Sandalen, noch der Suikan, den er trug, gehörte wirklich ihm selbst. All diese Dinge gehörten dem Badehaus und somit letztendlich Yubaba. Warum sollte er sich also darum kümmern, was damit geschah? Nein, so durfte er nicht denken! Die Sachen gehörten ihm nicht und waren in seine Obhut gegeben worden. Es hatte sie also so pfleglich und sorgsam zu behandeln, wie seine Situation es ihm erlaubte, ob die Sachen nun Yubaba gehörten oder nicht. Also gab Haku sich noch mehr Mühe und stopfte das Loch, so gut er nur konnte. Die einzigen Sachen, die ihm gehörten, hatte er vor langer, langer Zeit bei Kamaji in Verwahrung gegeben, und er bezweifelte, dass er in die Jacke und die Hose von damals noch hineinpassen würde. Flüchtig schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, wieso er in den Suikan, den er jetzt schon so lange trug, immer noch hinein passte. Hätte er nicht längst da herauswachsen müssen? In diesem Moment jedoch kehrte Torooru mit dem Abendessen zurück, sodass Haku diesen Gedanken nicht weiter verfolgte. Sorgfältig holte er seine Schüssel und seinen Becher hervor, um seine tägliche Essensration in Empfang zu nehmen, die er dann auf seiner Kiste hockend mechanisch und lustlos verzehrte. Wenigstens brauchte er keine Käferrattensuppe zu essen. Auf einmal fühlte er, wie etwas über seinen linken Fuß krabbelte, das kurz darauf versuchte, an seinem Schienbein hinaufzuklettern. Verwundert blickte er nach unten. War vielleicht eine der Käferratten entkommen? Nein, das konnte nicht sein, denn hier war es doch viel zu hell für diese Tiere. Haku erblickte ein schwarzes, etwa hamstergroßes Wesen, welches sich seltsam vertraut auf ungeschickte Weise bewegte. Aus runden Augen blickte ihn das Tier zuversichtlich an und machte "Chu". In diesem Moment fiel es Haku wie Schuppen von den Augen und er strich über das Fell des Wesens, sodass der Kohlestaub sich daraus löste und die hellgraue Farbe zum Vorschein kam. Es war Boh, Yubabas Sohn! Vorsichtig nahm Haku die kleine Gestalt auf die Hände und hob ich bis auf Kopfhöhe. "Boh, was machst du denn hier? Willst du mich besuchen?", flüsterte Haku. "Wehe, du verwandelst dich. Das könnte sonst Ärger geben." "Chu", fiepste Boh erneut, ein Küsschen der Zuneigung andeutend. Sachte reinigte er das Fell des Kleinen, gab ihm ein wenig von seinem Reis ab, was dieser wie selbstverständlich annahm, bevor er Boh auf seine Schulter setzte, aufstand und ihm das Bergwerk zeigte. Als sie aus dem Haupttunnel zurückkehrten, war das Licht in der Schlafhöhle bereits gelöscht worden und nur noch die Glühbirne direkt über dem Aufzug erzeugte eine dämmerige Beleuchtung. Die Aufzugtüren allerdings waren geschlossen, was bedeutete, dass der Aufzug von jemandem aus den oberen Etagen benutzt wurde. Durch Boh abgelenkt, beachtete Haku dies jedoch nicht und setzte sich erneut auf seine Kiste. "Boh, du solltest jetzt wieder nach Oben gehen, sonst vermisst deine Mutter dich am Ende noch", sagte er leise. Die Mausgestalt nickte beflissen. In diesem Moment öffneten sich die Aufzugtüren und Haku sah unwillkürlich hin. Niemand schien sich darin zu befinden. Trotzdem jagte ihm eine Gänsehaut den Rücken hinunter und seine Nackenhaare stellten sich auf. Sämtliche Alarmglocken in seinem Geist schienen mit einem Mal zu klingeln. Er packte Boh, schob ihn in seinen Suikan, bevor er sich dann entschlossen zur Seite und auf den Boden warf. Eine Feuerkugel löste sich aus dem Aufzug, zischte durch die Luft und prallte gegen die Kiste, auf der er gerade eben noch gehockt hatte. Die Kiste, in der er die letzten drei Jahre jede Nacht verbracht hatte, explodierte in einem Hagel aus Holzsplittern, die von der Hitze der Feuerkugel teilweise verkohlt waren oder sogar noch glimmten. Wäre Boh ihn nicht besuchen gekommen, wäre er jetzt in dieser Kiste gewesen, und Haku hatte keinen Zweifel daran, dass ihn die Feuerkugel zumindest schwer verletzt, wenn nicht sogar getötet hätte. Er kannte diese Feuerbälle und hatte schon öfters gesehen, wie Yubaba sie schleuderte. Nur war niemand im Fahrstuhl zu sehen, was jedoch nichts bedeuten musste; Yubaba kannte verschiedene Methoden, sich kurzfristig unsichtbar zu machen. Aus einem weiteren Reflex heraus machte Haku geschmeidig eine weiten und hohen Satz in die Mitte der Höhle. Gerade rechtzeitig, denn eine neuerliche Feuerkugel zischte aus dem Fahrstuhl heraus, dicht an seinem Kopf vorbei und sengte ihm die Haare auf der rechten Seite fort. Das war knapp gewesen. Irgendetwas musste er unternehmen, sonst würde ihn bald eine dieser Feuerkugeln erwischen. Am besten nahm seine Drachenform an, dann würden ihm seine Schuppen einen guten Schutz geben. Nur musste er vorher Boh in Sicherheit bringen, sonst lief er Gefahr, den Kleinen bei der Verwandlung zu zerquetschen. Haku spurtete in der Absicht los, in die Schlafhöhle der Frösche zu gelangen, um Boh dort abzusetzen und eine Felswand zwischen sich und den Angreifer zu bringen. In den Tunnel zu flüchten, der nach unten zum Kohleflöz führte, wäre keine gute Idee gewesen, denn dieser Weg war schnurgerade und ohne Deckung. Bis zum ersten Seitentunnel waren es zudem über 100 Meter. Bis dorthin wäre er den Feuerkugeln schutzlos ausgeliefert gewesen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine weitere Feuerkugel, die durch die Luft auf ihn zuraste. Durch den Haken, den er schlagen musste, um dieser auszuweichen, verfehlte er den Durchgang zur Nachbarhöhle, prallte schmerzhaft gegen die Felswand, zimmerte mit der Stirn gegen eine vorspringende Felsnase, weil er mit den Händen versuchte, Boh vor dem Zusammenstoß zu schützen, sodass er sich nicht abstützen konnte, und klatschte dann zu Boden, wo er benommen liegen blieb. "Du hast keine Chance zu entkommen, Junge", ertönte Yubabas Stimme bedrohlich aus dem scheinbar immer noch leeren Aufzug. Dann trat sie heraus, materialisierte gewissermassen in dem Moment, da sie die Tür passierte. "Heute werde ich dir den Garaus machen." Sie nahm ihre Hände hoch und erzeugte eine neue Feuerkugel zwischen ihnen, wobei sich ein süffisantes Lächeln in ihrem Gesicht abspielte. Boh war derweil aus Hakus Suikanjacke herausgekrochen, wo es seine Mutter erblickte, die sich gerade daran machte, seinen Freund Haku umzubringen. Das machte ihn sauer! Sehr sauer!! Er sprang von Hakus Bauch herunter, der sich gerade stöhnend an den Kopf fasste, und versuchte sich aufzusetzen, und verwandelte sich in seine normale Gestalt zurück. "Baba, du kannst doch ...", setzte er wütend an, kam aber nicht weiter, denn hatte die Hexe hatte ihre Feuerkugel im Moment der Verwandlung geschleudert und erwischte ihren Sohn, der jetzt direkt vor Haku stand, damit am linken Unterschenkel. "Ieeeeek", machte dieser, seiner Mutter vorwurfsvoll in die Augen blickend. Yubaba hatte fassungslos ihre Augen vor Schreck weit aufgerissen. "Mein Baby", brüllte sie los und stürmte zu Boh herüber, der jetzt mit erstauntem Gesichtsausdruck zu seinem linken Bein herunterblickte. Seine rosafarbene Haut war verkohlt und das Gewebe stellenweise bis zum Knochen weggebrannt, dort wo ihn die Feuerkugel erwischt hatte. Ein süßlicher, Übelkeit erregender Geruch nach verbranntem Fleisch breitete sich aus. Obwohl es offensichtlich noch nicht weh zu tun schien, gab das Bein jetzt allmählich nach, sodass Boh wie in Zeitlupe umkippte, noch bevor seine ihn Mutter erreichen und stützen konnte. "Was äst här los?", rumpelte Torooru, der von dem Lärm aufgewacht war und sich jetzt im Durchgang zur Nebenhöhle aufbaute. Die meisten Frösche waren mittlerweile auch wach und drückten sich, ängstlich und neugierig zugleich, hinter dem Troll herum. "O Härrän, wälch Glanz än onsärär Höhlä", säuselte er schließlich mit sarkastischem Unterton, als er Yubaba entdeckt hatte. "Mein Baby, mein Baby ist verletzt. So steht doch nicht herum, sondern helft mir", jammerte Yubaba mit Entsetzen im Gesicht. Boh fing mittlerweile an hilflos zu zappeln und begann vor Schmerzen herzzerreißend zu jaulen. Mit einem Grunzen gehorchte der Troll und eilte an Yubabas Seite. Haku hatte sich mittlerweile aufgesetzt. Blut rann aus einer Platzwunde an der Stirn, dort wo er mit dem Kopf gegen den Felsen gestoßen war, und sein rechtes Ohr schmerzte entsetzlich. Vorsichtig berührte er es und zuckte dann zurück. Die zweite Feuerkugel, die ihm das Haar weggesengt hatte, hatte auch ihm auch sein Ohr verbrannt. Er beobachtete, wie die Hexe mit einem Wink ihres linken Zeigefingers die große Wunde an Bohs Bein vereiste, während er überlegte, was er jetzt tun sollte. Seinen Fluchtreflex unterdrückend und obwohl ihm klar war, dass die Hexe gerade eben noch versucht hatte, ihn umzubringen, stand er auf und ging zu Boh, Yubaba und dem Troll herüber, um zu sehen, ob er vielleicht helfen konnte. Er fühlte sich schuldig, weil das große Baby, dass voller Vertrauen aus Freundschaft zu ihm gekommen war, die Feuerkugel abbekommen hatte, die ihm zugedacht war. Als Yubaba ihn erblickte, wurde sie schlagartig wütend. "Du, du, duuu bist schuld!", tobte sie, wobei bereits einige Flammen aus ihrem breiten Mund loderten. "Nur wegen dir war mein Junge hier unten. Na warte!" Damit holte sie aus und zeigte mit wütendem Gesichtsausdruck in seine Richtung. Er versuchte mit einem behänden Sprung ihrem Zauber auszuweichen, spürte dann aber, wie sein Körper rasant eine neue Form anzunehmen begann. Geistesgegenwärtig steuerte er dem entgegen, indem er seine eigene Verwandlung in seine Drachenform einleitete. Kurze Zeit behinderten sich die beiden Zauber gegenseitig, sodass weder die eine, noch die andere Verwandlung geschah, dann aber gewann seine eigene Drachenmagie die Oberhand und er vollendete seine Verwandlung als weißer Drache mit einer großen Lücke in der grünen Mähne hinter seinen Hörnern. Sofort jagte die Hexe vor Wut und Enttäuschung einen weiteren Feuerball hinter ihm her, der ihn am Hals erwischte und ein weiteres Loch in seine Mähne brannte. Durch die Schuppen drang die Hitze des Feuerballs jedoch nicht hindurch, sondern hinterließ nur einen dunklen Brandfleck auf seinem ansonsten makellos weißen Leib. Ärgerlich knurrte er Yubaba an, einen Sprung in ihre Richtung andeutend. Erschrocken zuckte die Hexe daraufhin zusammen, machte eine kreisende Abwehrbewegung und erzeugte so eine Art magischen Schild, der die Luft wabern ließ und den direkten Weg zu ihr versperrte. "Da, da sehr ihr es", rief sie hysterisch in Verkehrung der Tatsachen aus, "der Drache wollte mich und mein Baby umbringen. Aber glaubt mir, er wird nicht davonkommen!" Der Schild dehnte sich weiter und immer weiter aus, bis er sich zu einer Blase geformt hatte, die Yubaba, Boh, Torooru und einige Frösche umhüllte. Haku wurde klar, dass es zwecklos sein würde, zu versuchen da hindurch zu dringen, und um die Situation zu entspannen, setzte er zum Rückzug an, zog sich fliegender Weise in die dunklen Tiefen der Bergwerksstollen zurück, wo er sich in Menschengestalt zurückverwandelte, verharrte und über die Situation nachdachte. Dieser direkte Angriff auf sein Leben hatte ihn überrascht und gleichzeitig verwirrt. War nicht sein Leben durch den Ausbildungsvertrag mit Yubaba geschützt? Er wusste, dass Yubaba immer peinlichst genau auf die wortwörtliche Einhaltung der Verträge achtete und dass sie Konsequenzen zu befürchten hatte, wenn sie ihre Teile der Abmachungen nicht erfüllte. Das hielt sie natürlich nicht davon ab, die Verträge im Rahmen der Interpretationsmöglichkeiten zu ihren Gunsten auszulegen. Ein direkter Mordversuch ließ sich allerdings nicht uminterpretieren und Yubaba tat solche Dinge nur, wenn sie keine Folgen zu fürchten hatte und der Nutzen für sie größer war, als der absehbare Schaden. Dies bedeutet also, dass entweder sein Tod einen sehr großen Nutzen für sie darstellte oder dass ihr dadurch keine Nachteile entstehen würden. Sie hatte schon vorher versucht ihn zu töten, dabei aber immer indirekte Methoden verwendet, sodass er annehmen konnte, dass sein Tod für sie keinen unmittelbaren, übermäßigen Nutzen für sie haben konnte. Dies implizierte, dass sie also jetzt nichts zu befürchten hatte, wenn sie ihn offen und direkt umbrachte. Hakus Herzschlag setzte für eine Sekunde aus. Es bedeutete also, es musste besagen, es meinte: Sein Vertrag mit Yubaba war abgelaufen. Er war frei! Gut eine Stunde später kehrte Haku vorsichtig in seiner menschlichen Gestalt zurück in die Haupthöhle, wo Boh und Yubaba mittlerweile verschwunden waren. Torooru saß neben dem Aufzug auf dem Boden, wo er trübselig vor sich hinstarrte, und die Frösche waren wohl wieder in der Schlafhöhle verschwunden. Haku selbst bot einen fürchterlichen Anblick: Aus seiner Platzwunde an der Stirn war Blut über seine linke Gesichtshälfte gelaufen, wo es geronnen war, und auf seinem Suikan hatten sich auch einige Blutflecke gebildet. Sein rechtes Ohr hatte eine feuerrote Farbe angenommen, die Haut war geschwollen, begann sich bereits zu pellen und seine an der rechten Seite und von dem letzten Feuerball im Nacken weggesengten, nun asymmetrischen Haare verstärkten sein wildes Aussehen. Rasch eilte er zu Torooru herüber, der ihm stumpfsinnig entgegen sah. "Was ist passiert, Torooru?", wollte er von dem Troll wissen. "Sä äst förchtärläch wötänd gäwäsän", sagte er rau, "dann hat sä dä Aofzogtör mät aänäm Bannfäld värspärrt, das nor mäch händorchlässt. Sä wäll däch nämläch för ämmär här ontän gäfangän haltän." "Aber Torooru, deswegen musst du doch nicht traurig sein. Ich komm hier schon irgendwie heraus, und wenn ich mich durch den ganzen Felsen nach oben graben muss", versuchte Haku den Troll aufzumuntern. "So lange bleibt doch alles wie bisher." "Naän, do värstähst nächt", entgegnete Torooru verzweifelt. "Sä hat gäsagt, wänn äch däch tötä, dann lässt sä mäch gähän. Nach Haosä, nach Norwägän zo maänär Frao Fräda ond maänär Tochtär Ängäborg." Haku hockte sich rechts neben dem Troll auf den Boden. "So etwas Ähnliches hat sie mit mir auch schon versucht", erzählte er dem Troll, der jetzt seinen schweren Arm kumpelhaft über Hakus Schulter legte. "Du darfst ihr auf keinen Fall über den Weg trauen. Sie versucht nur, Hass und Zwietracht zwischen und zu säen." "Aof jädän Fall äst sä sähr got darän!", entgegnete Torooru, schnaufte einmal und presste den Jungen blitzartig mit seinem massiven, rechten Arm wie mit einer Schraubzwinge gehen seinen vernarbten Körper. Haku bekam kaum noch Luft und beide Arme waren so eingezwängt, dass er sie nicht mehr bewegen konnte. Wollte Torooru ihn umarmen, dachte er verstört. Dann brauchte er doch nicht so zuzudrücken. Langsam drückte der Troll ihn um seinen Körper herum, bis Haku hilflos vor seiner Brust hing. "Torooru, was tust du?", japste er völlig verwirrt. Dieser antwortete jedoch nicht und sah Haku mit versteinertem Blick direkt ins Gesicht. Dann griff der mit der linken Hand nach Yubabas Halsband, welches Haku noch nicht abgenommen hatte, es fest packend und begann zu ziehen. Schlagartig wurde Haku klar, war Torooru tun wollte. Er wollte ihn tatsächlich umbringen, indem er ihm Yubabas magisches Halsband herunterriss. Da Haku es sich selber umgelegt hatte, bewirkte die Magie des Bandes, dass auch nur er selber es sich wieder abnehmen konnte. Wenn Torooru dies jetzt tat, würde die Magie des Halsbandes ihn unmittelbar töten, zumindest wenn man Yubabas Worten Glauben schenkte. Aber Haku sah keine Veranlassung, es darauf ankommen zu lassen. Schnell überlegte er, ob es Sinn machte, in seine Drachengestalt zu wechseln, um sich aus Toroorus Umklammerung zu befreien, aber er kam zu der Überlegung, dass ein Wechsel in die Drachengestalt Toroorus Chancen, ihm das Halsband herunter zu reißen, eher noch erhöhte. Er saß in der Falle! Immer weiter zog Torooru an dem Halsband, dehnte es so weit, dass Haku problemlos den Kopf hätte herausziehen können, aber er bemerkte, dass dem Troll die Hand vor Angst zitterte. Verzweifelt streckte er seinen Kopf so weit vor, wie es seine Lage zuließ, um dem Zug am Halsband nachzugeben, so gut es eben ging. Dann auf einmal ließ Torooru das Halsband und wenige Augenblicke darauf auch Haku los, der keuchend zu Boden sackte. Schnell rappelte er sich auf, bevor er ein paar Schritte von dem Troll zurückwich, der jetzt förmlich in sich zusammenzusinken schien und sich hilflos die Hände vor das Gesicht schlug. "Äch kann äs nächt. Äch bän aän Värsagär!", schluchzte der Troll. "Äch wärdä här ontän stärbän ond maänä Frao ond maänä Tochtär nä wädär sähän." Schockiert über das eben Geschehene blickte Haku zu dem Troll herunter. Wenn er noch länger hier unten blieb, musste er damit rechnen, dass früher oder später entweder Yubaba oder Torooru ihn erwischen und töten würde, oder jemand anderes, den die Hexe hier unten einschleuste. Mit Erschrecken stellte er fest, dass ihn diese Aussicht in keinster Weise beunruhigte. Hätte er nicht beschlossen, sein Versprechen Chihiro gegenüber zu erfüllen, würde er sich längst aufgegeben haben, um sich von Yubaba abschlachten zu lassen. Doch jetzt er wollte leben und Chihiro wiedersehen. Vielleicht gab es ja doch noch eine Zukunft für ihn und deswegen musste er hier heraus. Schleunigst! Fieberhaft überlegte Haku, was er tun konnte. Durch den Aufzug konnte er nicht hinaus, doch probeweise ging er dorthin, wo er seine Hand nach dem Hebel ausstreckte, mit dem man die Kabine herunterholen konnte. Doch kurz bevor er den Hebel berührte, war es, als träfe ihn ein elektrischer Schlag, der fast sofort Brandblasen auf den Fingerkuppen seiner rechten Hand verursachte. Für einen erneuten Versuch verwandelte er sich in seine Drachengestalt, mit dem Ergebnis, dass seine Krallen teilweise angeschmolzen waren. Seine bloßen physischen Kräfte als Drache waren hier nicht ausreichend und über die Magie, die hinter diesem Bannfeld stand, wusste er nicht genügend, um damit fertig zu werden. Es musste doch irgendeinen Weg hier herausgeben. Natürlich konnte er sich durch den massiven Fels hindurchgraben, wie er es schon einmal getan hatte, als er die Wasserader gefunden hatte. Allein mit dem Tempo von damals würde er dazu Monate brauchen und seinerzeit waren seine Krallen nach 20 Metern graben durch den Fels schon teilweise abgenutzt gewesen. Wie tief sie hier waren, wusste er nicht genau, aber einen Kilometer waren sie mindestens unter der Erdoberfläche, wenn er die Dauer und die Geschwindigkeit einer Aufzugfahrt abschätzte. So lange würden seine Krallen niemals durchhalten und er würde immer wieder warten müssen, biss sie nachgewachsen waren. Bei dieser Methode würde Yubaba viel zu viel Zeit haben, um etwas gegen ihn zu unternehmen. Da fiel ihm ein, dass es doch außer dem Aufzugschacht noch weitere Schächte gab, die bis zur Oberfläche führten: die Lüftungsschächte. Rasch blickte er nach oben zur Decke, wo die beiden Ventilatoren des Zu- und Abluftschachtes angebracht waren. Gegen die Strömung zu arbeiten konnte sich als ungünstig erweisen, weshalb Haku sich für den Abluftschacht entschied, der die warme Luft nach außen beförderten. Er schnellte vom Boden hoch, krallte sich an die felsige Decke neben dem Ventilator, den er dann entschlossen aus seiner Verankerung und zu Boden riss. Von seiner Position unter der Decke blickte anschließend herunter und sah noch einmal kurz zu Torooru. Der Troll beachtete sein Tun in keinster Weise, sondern saß weiterhin an derselben Stelle auf dem Boden, wo er leise vor sich hinweinte. ,Ich werde dich hier herausholen', schwor sich Haku, bevor er in die nur freigelegte Öffnung tauchte und sich auf den Weg nach Oben machte. Der Weg erwies sich als einfacher, als er gedacht hatte. Zwar hatte der Luftschacht einen Durchmesser, der nur wenig größer war, als der seines Drachenkörpers, aber dennoch kam er relativ problemlos voran, bis auf die beiden Male, wo er stecken blieb und sich den Weg auf ein paar Metern freischarren musste. Er hoffte nur, dass niemand direkt unter dem Schacht stand und das Geröll abbekam, dass er weggekratzt hatte. Lediglich kurz vor dem Ziel seiner Flucht kam er an einer seitlichen Zuführung vorbei, aus der mehrere hundert Grad heißer Qualm in den Schacht strömte. Haku musste die Augen schließen und die Luft anhalten, um seine Lungen nicht zu verbrennen. Ansonsten schirmten seine Schuppen die Hitze in den wenigen Augenblicken wirkungsvoll ab, die vergingen, bis er plötzlich direkt neben dem Badehaus in die kühle Nacht hinaus schoss. Ein paar Mal kreiste er über dem Badehaus, sich die Gegend von oben besehend. Er war aus dem Schornstein herausgekommen, von dem er gedacht hatte, dass er nur dazu, diente die Rauchgase aus Kamajis Kessel abzuleiten. Offensichtlich diente er auch zur Entlüftung des Bergwerks. Kamaji. Spontan musste Haku an Kamaji denken, den alten Mann, der ihn hier vor so vielen Jahren hier freundlich aufgenommen hatte und ihm auch davon abgeraten hatte, Yubabas Lehrling zu werden. Außerdem hatte Kamaji ja auch noch seine alten Kleider. Wie Recht dieser damals doch gehabt hatte. Einem jähen Impuls folgend flog er zu dem Treppenabsatz vor der Tür zum Kesselraum herunter, wo er landete und in seine menschliche Gestalt wechselte. Als er den Türknauf drehen wollte, stellte er fest, dass seine Hand vollkommen schwarz geworden war. Über und über war er mit schwarzem Ruß bedeckt, den er sich beim Flug durch das letzte Stück des Schornsteins eingefangen hatte. Sein Suikan war mit schwarzem Puder bedeckt, sein Gesicht, seine Haare, seine Füße, einfach alles. So gut es ging versuchte er das Zeug los zu werden, indem er sich abklopfte, aber groß war sein Erfolg nicht. So betrat er denn, schmutzig wie er war, den Vorraum mit den wichtigsten Steuerventilen, eilte zielstrebig hindurch, bevor er den Kesselraum betrat. Der alte Mann war stark beschäftigt mit verschiedenen Anforderungen von Spezial-Kräutermischungen, dass er Haku zuerst nicht bemerkte. Die Rußmännchen jedoch bemerkten ich sofort und stellten unaufgefordert ihre Arbeit ein, was Kamaji seinerseits dann schnell auffiel. "Was ist hier los", polterte er los und klopfte mit seinem Holzhammer auf die Mauer. "Wollt ihr wohl weiterarbeiten oder muss ich euch wieder in toten Ruß verwandeln?" In diesem Moment erblickte er durch seine unentwegt getragene Sonnenbrille, mit dem er eigentlich nur das helle Licht abblocken wollte, wenn er in das grelle Feuer des Ofens schaute, eine ihm völlig unbekannte und entsetzlich abgerissene Person. Die Gestalt hatte eine kleine annähernd menschliche Gestalt, wies jedoch im wesentlich eine schmutzig graue Färbung auf und war entsetzlich abgemagert. Das halb zerfetze Kleidungsstück, das die Person trug, war wohl irgendwann ein Suikan gewesen und ihr Verfilztes, über Schulter langes Haar war auf der einen Seite merkwürdig asymmetrisch weggeschnitten. Auf der Stirn war eine weißliche Narbe auszumachen und vom rechten, feuerroten Ohr hingen Hautfetzen herunter, die sich abgepellt hatten. Kamaji war daran gewöhnt, dass ab und zu solche Gestalten bei ihm auftauchten und nach einer Arbeit im Badehaus fragten. Nach bestem Wissen und Gewissen versuchte er diese Leute von Yubaba fern zu halten, was ihm selten genug gelang. Diese Gestalt jedoch schien irgendwie anders zu sein, als die sonstigen Anwärter, die Lohn und Brot im Badehaus strebten. Ruhig und nachdenklich blickte die Erscheinung ihn an, ohne jede Nervosität oder Ängstlichkeit, die ihm so häufig entgegen geschlagen war. Unwillkürlich erwiderte Kamaji diesen Blick, sah in die großen, grünen Augen. Schlagartig wurde ihm dann klar, wer da vor ihm stand: Es war Haku, der Drache Haku, Yubabas Lehrling. "Haku, was ist denn mit dir passiert?", entfuhr es ihm bestürzt. Seine Kräuterbäder hatte er in diesem Augenblick vollkommen vergessen; die konnten warten! "Nichts, aber danke der Nachfrage", entgegnete Haku. "Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden. Meine Lehrzeit ist abgelaufen, ich werde fortgehen und ich möchte mich bei dir für deine Freundlichkeit bedanken, die du mir erwiesen hast." Formvollendet verbeugte er sich vor dem alten Mann und fügte dann unsicher hinzu: "Hast du vielleicht meine Sachen noch, mit denen ich vor acht Jahren hier angekommen bin? Wenn du willst, verschwinde ich auch wieder." Hastig kletterte Kamaji auf seinen sechs Armen von dem Podest herunter und stürzte zu Haku hin. "Meine Güte, nein Haku. Wer sagt denn, dass du wieder gehen sollst. Bitte bleib hier und ruh dich aus. Bist du sicher, dass es dir gut geht?", fragte Kamaji erneut, als er bei Haku angelangt war. "So sag mir doch, was Yubaba mit dir angestellt hat." Haku berührte den vor ihm stehenden Alten an der Schulter. "Also gut Kamaji, wenn du willst, leiste ich dir noch ein wenig Gesellschaft. Über Yubaba möchte ich nur ungern reden aber du kannst mir glauben, dass es mir nicht so schlecht geht, wie ich gerade aussehe", sagte er, indem er mit Kamaji zu dessen Tisch herüber ging. "Ich bin gerade aus dem Bergwerk unter uns geflohen. Durch den Schornstein. Deshalb bin ich auch so schwarz vor Ruß." "Das Bergwerk? Ich habe lange nichts mehr davon gehört", sagte der alte Mann, als sie am Tisch Platz genommen hatten. "Du bist von dort unten geflohen? Wieso? Hat das vielleicht mit dem Riesentheater vorhin um ihren Sohn Boh zu tun? Sie hat das ganze Badehaus in Aufruhr versetzt, weißt du." Er griff zu seinen Sachen herüber und holte eine Schachtel hervor, die Reisgebäck enthielt, wie sich herausstellte. Dieses bot er Haku an, aber dieser nur der Höflichkeit halber ein Stück, denn er hatte keinen Appetit. In diesem Moment klingelte es wieder und einige neue Badeplaketten fielen aus der Öffnung in der Decke, wo sie sich zu den Fünf bereits Vorhandenen hinzugesellten. Jetzt waren bereits Acht da. "Kamaji, ich glaube du solltest dich um deine Kräuterbäder kümmern. Wenn zu lange nichts passiert, kommt bestimmt jemand nachschauen, was los ist", machte er aufmerksam. "Wir können doch auch so weiterreden." "Ja, ja, ich glaube du hast Recht", brummelte Kamaji daraufhin, bevor er wieder auf sein Podest kletterte und eifrig anfing, die Plaketten abzuarbeiten. "Yubaba wollte mich nicht gehen lassen", berichtete Haku. Ihre Mordabsichten verschwieg er lieber. "Ich habe aber herausbekommen, dass mein Lehrvertrag abgelaufen war und ich gehen konnte. Da bin ich durch den Lüftungsschacht abgehauen, denn den Aufzug hatte sie mit einem Bann versiegelt. Dabei habe ich mich ein wenig verletzt, es ist aber nicht weiter schlimm. Bis morgen, glaube ich, ist bei mir alles verheilt. Ich bin ein Drache, bei mir heilt alles sehr schnell." "O Junge, das sieht Yubaba ganz ähnlich, dass sie dich nicht fortlassen will", meinte der Alte, während er gerade getrocknete Blutegel zusammen mit Ginseng für das nächste Kräuterbad zermahlte. "Aber du musst aufpassen. Du musst alles hier lassen, was dem Badehaus gehört, außer Yubaba hat ausdrücklich erlaubt, es mit fort zu nehmen. Ich glaube, das, was du da anhast, gehört auch dazu." Nachdenklich blickte Haku an sich herunter. Eigentlich hätte er das wissen müssen, aber er trug die Sachen jetzt schon so lange, dass er nicht mehr daran gedacht hatte. Alles was er gerade trug, hatte er aus dem Fundus des Badehauses erhalten, sogar seinen Lendenschurz und seine jetzt kaputten Holzsandalen, die er im Bergwerk zurückgelassen hatte. Yubaba würde es ihm als Diebstahl auslegen und wer wusste, mit welcher Magie die Kleidung geschützt war, was diese bewirken konnte, wenn er damit ohne ihre Erlaubnis den Bannkreis des Badehauses verließ. Die Hexe war da sehr einfallsreich. Er musste diese Sachen unbedingt los werden, weshalb er sich schweigend auszuziehen begann. Als Kamaji eine Zeit lang nichts von Haku hörte, drehte er sich nach ihm um und ließ beinahe seine Mahlscheibe von der Mauer fallen, als er ihn unbekleidet am Fuß der Rampe zur Öffnung der Ofenklappe stehen sah. Seine Sachen hatte er zusammengeknüllt und er schickte sich an, diese kurzerhand dort hinein zu befördern. "Aber Junge, was tust du denn da!?", entfuhr es dem sechsarmigen Meister des Kessels und er kletterte sofort vom Podest herunter, nicht ohne zuvor den Mechanismus zu deaktivieren, der die Klappe zum Brennraum periodisch öffnete. Etwas belämmert stand er jetzt auf dem Ausleger vor der Ofenklappe und blickte sich hilfesuchend nach Kamaji um. "Du hast es doch selbst gerade gesagt, Kamaji. Ich muss die Sachen los werden. Am besten ist es, sie zu verbrennen, dann kann Yubaba ihre Spur nicht verfolgen. Dass heißt, falls sie es denn versucht", sagte er, konsequent der Logik folgend. "Könntest du bitte die Klappe wieder öffnen?" "Ja willst du denn so von hier fortgehen?" Kamaji blickte Haku ungläubig an, nebenbei registrierend, wie ausgezehrt der Junge war; man konnte jede Rippe einzeln zählen. Zudem war seine Haut, dort wo unter seiner Kleidung kein Ruß hingelangt war, von einem fast gespenstisch hellem Ton, der durch die lange Zeit ohne Sonne im Bergwerk verursacht worden war. "Mir bleibt doch nichts anderes übrig, Kamaji. Wenn du mir meine alten Sachen gibst, werde ich damit schon irgendwie klar kommen. Es ist aber auch nicht schlimm, wenn du sie nicht mehr hast; sie werden ohnehin zu klein sein. Dann werde ich mir eben woanders etwas organisieren müssen", meinte der Junge ernsthaft. "Bitte öffne doch die Klappe, damit ich dieses Zeug endlich los werden kann." "Also gut", lenkte Kamaji ein, griff mit seinen Teleskoparmen nach dem Hebel, der die Ofenklappe aktiviert. "Trotzdem kannst du so nicht fortgehen. Ich werde mal schauen, wo ich deine Sachen verstaut habe. Äh, was ist übrigens mit dem komischen blauen Halsband, dass du da noch trägst? Willst du das nicht auch loswerden?" Haku schleuderte seine alten Sachen in die lodernden Flammen, bevor er den Verschluss des Halsbandes öffnete, welches daraufhin seine Farbe von Blau zu Grün zurückänderte und somit gewissermassen entschärft war. "Gut, dass du mich darauf aufmerksam machst. Dieses Halsband habe ich von Yubaba bekommen und es hat gewisse magische Eigenschaften. Es wäre schade, es zu zerstören. Ich glaube, ich werde es verstecken", sagte er und trat vom Steg zur Klappe des Ofens herunter. "Wenn du gestattest, gehe ich in den Vorraum und wasche mich dort am Waschbecken." "O ja, mach das ruhig", meinte Kamaji, während er sich am Kopf kratzte und zu erinnern versuchte, wo er Hakus Sachen versteckt hatte. Dann fiel es ihm wieder ein und er musste innerlich stöhnen. Kamaji fuhr seine Teleskoparme aus, um das Tongefäß zu holen, welches in Einer von zwei Reihen hoch über den Schubladen an der Seite mit der kleinen Schiebetür stand. Alle sechs Arme musste er zur Hilfe nehmen, denn das Tongefäß war schwer und befand sich in mehr, als fünf Metern Höhe. Mit einem Rumms krachte das Gefäß auf den Holzfußboden und Kamaji musste seinen müden alten Rücken durchstrecken, der ihm bei der Last eben fast den Dienst versagt hätte. Nebenan hörte er, wie Haku den Wasserhahn aufgedreht hatte, sich von den Geräuschen her wohl gerade einseifend. Dann schaute er in das Tongefäß und war froh, dass er das Richtige erwischt hatte. Unter mehreren Lagen alter Handtücher fanden sich Hakus fein säuberlich gefalteter, blauer Yukata mit Gürtel, seine weiße Hakama und ein Paar Sandalen. Das war alles, was der Junge damals mitgebracht hatte. Kopfschüttelnd hielt Kamaji die Sachen hoch. Da würde Haku niemals mehr hinein passen, außer, man nähte es um. Aber er hatte ja noch etwas zum Nähen, fiel ihm wieder ein. Er eilte zu seiner Kommode, in der er hastig kramte, bevor er ein altes, etwas löchriges, grüngelb kariertes Betttuch hervorzerrte, welches, im Gegensatz zu den Handtüchern, ihm selbst gehörte. Dann wühlte er noch eine Schere, einen Bindfaden, Nähnadeln und Garn hervor. Vielleicht konnte man damit ja etwas anfangen. "Hier, sind deine alten Sachen", sagte er zu Haku, als dieser immer noch in sichtbar schlechtem Zustand, aber zumindest sauber aus dem Vorraum zurückkehrte. "Ich habe nichts Besseres, aber nichts davon gehört Yubaba." Er gab Haku die Sachen und beeilte sich dann, mit dem Zubereiten der angeforderten Kräuterbäder fortzufahren, bevor noch jemand auf die Idee käme, nachzuschauen. "Danke Kamaji. Aber du hättest mir Bescheid sagen sollen, mit dem Tongefäß. Dann hätte ich dir doch geholfen", sagte Haku, bevor er mit einer Geste das Tongefäß zurück an seine Stelle hoch oben, über den Schubladen. Mit einem Seufzer setzte er sich dann an Kamajis Tisch, inspizierte seine Sachen, begann die Nähte seiner Hakama aufzutrennen und das Betttuch zuzuschneiden, um dann damit die Hose zu erweitern. Wegen der Brandblasen an den Fingerkuppen seiner rechten Hand fiel ihm das Nähen sehr schwer, doch er ignorierte den Schmerz und machte verbissen weiter. Gut eine Stunde später hatte er sich aus einem Stoffstreifen und einem Bindfaden einen neuen einfachen Lendenschurz gemacht, sowie Yukata und Hakama so erweitert, dass sie ihm wieder passten. Nicht jedoch die vielleicht etwas groben, aber zumindest geraden Nähte, sondern die Farbzusammenstellung mit dem grüngelb karierten Stoff des Betttuchs in Kombination mit dem Blau und Weiß seiner alten Sachen und die leicht verbesserungsfähigen Proportionen, die Sachen waren nun zwar weit genug, aber immer noch zu kurz, machten das Ergebnis etwas fragwürdig. Kamaji konnte sich ein Lachen nur mühsam verkneifen, als er das Resultat von Hakus Bemühungen erblickte. Der Junge sah einfach komplett idiotisch in diesem Aufzug aus und es hätte sehr lustig sein können, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. "Ja, ich glaube das geht", äußerte sich Kamaji dann, "jedenfalls ist es besser, als ganz ohne zu gehen." "Vielen Dank nochmal, Kamaji, für alles. Ich sollte jetzt gehen, bevor noch jemand kommt, oder Yubaba merkt, dass ich entkommen bin." Damit verbeugte er sich noch einmal feierlich vor Kamaji, bevor er sich dem Ausgang zuwandte und anschickte zu gehen. "Ja Haku, die Nacht ist bald zu Ende und dann kommt Lin und bringt mir und den Rußmännchen das Essen", murmelte der alte Mann mehr zu sich selber und fügte dann laut hinzu: "Ich wünsch dir alles Gute und halt dich von alten Hexen fern! Ach, und grüß mir Chihiro, wenn du sie wiedersiehst. Das ist es doch, was du willst, nicht wahr?" Haku drehte sich noch einmal zu Kamaji um und lächelte etwas verlegen, bevor er durch den Vorraum mit den Hauptventilen und durch die Tür nach draußen verschwand. War er denn so leicht zu durchschauen? Nachdenklich steckte sich Kamaji noch eine Zigarette an, nachdem Haku eine Weile verschwunden war und fragte sich dann, wo Lin mit dem Abendessen blieb. Dann fiel ihm siedend heiß ein, dass er noch sein Geschirr nach draußen stellen musste. Sonst würde Lin wieder mit ihm meckern. Auf dem Treppenabsatz vor der Tür zum Kesselraum wechselte Haku zurück in die Drachengestalt, wo er sich majestätisch in den Nachthimmel erhob und zu dem Steinfrosch oben an der Landungstreppe der Fähre, flog der die Grenze des Badehausbesitzes markierte. Im offenen Maul dieses Frosches versteckte er in einer Nische, die er vor langer Zeit entdeckt hatte, Yubabas Halsband, bevor er erneut losflog, um den Schienen der Unahara Eisenbahnlinie zu seinem Ziel zu folgen. So schnell, wie er konnte, viel schneller, als damals flog er, als er Chihiro von dort zurückgebracht hatte, wohin er jetzt erneut reiste: zu Zeniba. Damals hatte er nicht schneller durch die Luft sausen können, aus Rücksicht auf das kleine Mädchen und die beiden Verwandelten, Boh und den Yu-Vogel. Aber jetzt hinderte ihn nichts, auch Kamajis scherzhafte Warnung vor alten Hexen, so schnell wie er wollte dorthin zu preschen. Von Zeniba erhoffte er sich nämlich einen Hinweis darauf, wie er Chihiro in der Menschenwelt wiederfinden konnte, und herauszufinden, welches Tor er in ihrer Welt ansteuern musste, um in ihre Nähe zu gelangen. Immerhin hatte Yubabas Schwester Chihiro dieses magische Haarband geschenkt und besondere magische Gegenstände wie dieser hatten meistens eine starke magische Ausstrahlung, die man über große Entfernungen hinweg lokalisieren konnte. Wenn jemand wusste, wie man das Haarband in der Menschenwelt fand, dann Zeniba Zu seiner großen Enttäuschung fand er bei seiner Ankunft dort anstelle von Zenibas altem Bauernhof nur eine leere Wiese vor. Nichts deutete darauf hin, dass hier vor wenigen Jahren mal einige eingezäunte Gebäude und Gemüsebeete gewesen waren. Darauf, dass er hier richtig war, wies allerdings die Tatsache, dass der Weg, der durch den Sumpf zur Haltestelle der Eisenbahnlinie führte, immer noch noch vorhanden und in gutem Zustand war. Die ganze Angelegenheit erschien Haku sehr merkwürdig, sodass er versuchte, die Wiese eingehender zu untersuchen. Sobald er jedoch die Wiese betrat und sich der Mitte zu nähern versuchte, bekam er plötzlich ausnehmend gute Laune und irgendeine andere Stelle am Rand des Sumpfes wurde mit einem Mal sehr interessant. Verließ er die Wiese dann, sich dieser Stelle zu erfreuen, verflüchtigte sich dieser Effekt nach kurzer Zeit. Mehrmals probierte er dann, sich dem Zentrum der Wiese zu nähern, wo damals Zenibas Haus gestanden hatte, aber es passierte jedes Mal dasselbe und er ertappte sich immer wieder dabei, wie er fasziniert einen Stein, einen Stock, einen Grashalm oder eine Schnecke in einiger Entfernung von der Wiese betrachtete. Irgendwann wurde ihm das Ganze dann zu dumm und er dachte darüber nach. Dieser Effekt, der ihn immer wieder von der Wiese ablenkte, war eindeutig auf Magie zurückzuführen. Jemand wollte nicht, dass irgendwer die Wiese betrat. Dieser Jemand konnte im Grunde nur Zeniba sein, schloss er, die ihr Haus vor unliebsamen Gästen schützen wollte, ohne allerdings jemanden dabei zu schaden. Wenn man nicht gerade direkt zu diesem Haus wollte und einfach nur zufällig des Weges kam, würde dieser Zauber jedermann ohne groß Verdacht zu erregen, von dem Haus ablenken, welches wahrscheinlich immer noch dort stand und dem man sich vermutlich nur genügend nähern musste, um es zu sehen. Und warum hatte sie das getan? Vermutlich war sie abwesend und niemand sonst bewachte das Haus. Dass hieß, er würde warten müssen, bis Zeniba zurückkehrte. Gelassen suchte sich Haku einen nahen Baum, hockte sich im Schneidersitz darunter und begann zu warten. Kapitel 15: Chihiro und Kohaku, Teil 1 -------------------------------------- Hallo ihr alle, habe ich es endlich geschafft. Aber das ist eigentlich erst die erste Hälfte des neuen Kapitels, aber ich habe es geteilt, weil es wohl sonst noch einen Monat gedauert hätte. Ist aber auch so schon lang genug geworden ^^. Viel Spass beim Lesen, Pazu Chihiro und Kohaku, Teil 1 Chihiro räkelte sich wohlig auf dem Sofa im Wohnzimmer ihres Hauses. Es war etwa halb sechs Uhr am Abend und sie war erst vor wenigen Minuten vom Schulbus heimgebracht worden. Ihre Eltern waren noch nicht nach Hause gekommen und für die Hausaufgaben fühlte sie sich im Moment einfach zu gut. Dieses gute Gefühl wollte sie jetzt genießen. Vor etwas mehr als einem Monat hatte die Schule wieder begonnen und es war zunächst alles wie zuvor gewesen, außer dass sie nun in die achte Klasse in der Mittelschule ging. Aber vor fünf Tagen hatte sich dann doch etwas geändert, etwas Entscheidendes: Sie hatte keinen Hunger mehr. Es war nicht so, dass sie gar nichts mehr essen musste; sie musste nur nicht mehr andauernd etwas essen. Das war am Samstag passiert. Zunächst war es ihr kaum aufgefallen, bis ihre Mutter sie darauf aufmerksam gemacht hatte, als sie von ihrem Mittagessen nicht mal die Hälfte gegessen hatte. Mehr hatte sie einfach nicht herunterbekommen. Nicht dass es ihr nicht geschmeckt hätte, sie war nur pappsatt gewesen, sodass sie nichts mehr herunter bekam. So etwas war ihr seit drei Jahren nicht mehr passiert. Das nächste, was ihr dann auffiel, hatte sie am Sonntag entdeckt. Nach dem Frühstück wollte sie auf ihr Zimmer hochgehen. Oben angekommen bemerkte sie dann, dass ihr die Treppe überhaupt nichts ausgemacht hatte und die übliche Schwäche ausblieb. Es war ganz leicht gegangen. Probeweise lief sie die Treppe noch einmal hinunter, um erneut hinauf zu gehen. Es ging genauso leicht wie zuvor. Sie konnte zuerst überhaupt nicht glauben, dass ihr die Kraft nicht ausging, sodass sie es wieder und wieder machte. Das Ganze artete schließlich darin aus, dass die eine halbe Stunde lang immer die Treppe rauf und wieder herunter rannte, bis ihre Beine anfingen zu schmerzen, die Lunge zu brennen begann, ihr Herz raste und ihr die Knie zitterig wurden. Schließlich wurde ihre Mutter darauf aufmerksam und stoppte sie. Viel länger hätte sie ohnehin nicht durchgehalten, denn ihr begann von der ungewohnten Anstrengung übel zu werden. Den ganzen Rest des Sonntags konnte sie sich wegen eines Ganzkörpermuskelkaters kaum noch rühren, sodass sie sogar die Verabredung mit Ayaka und Ichiyo zum Baden am Waldsee absagen musste. Trotzdem hatte ihr die Sache ungeheuren Spaß gemacht und bereits am nächsten Morgen waren die Schmerzen wieder wie weggezaubert, sodass sie mit einem leichten, ja fast euphorischen Gefühl in die Schule ging. Jetzt konnte sie auch wieder richtig mit den anderen Kindern spielen. Am nächsten Morgen, dem Dienstag, wurde sie dann von ihren Eltern, wegen ihrer Besorgnis erregenden "Appetitlosigkeit", in das Krankenhaus zu Dr. Ito verfrachtet, der dann den ganzen Tag Untersuchung für Untersuchung an ihr durchführte, sie piekte, durchleuchtete, vermass und sie zum Schluss sogar wieder auf das Fahrradergometer setzte, um ihren Sauerstoffbedarf zu messen. Das Ergebnis des ganzen Untersuchungsmarathons war, dass sie außer ihrem drastischen Untergewicht und ihrem Minderwuchs in perfekter körperlicher Verfassung war. Nur ihr abnorm hoher Kalorienverbrauch war verschwunden; er war nur noch leicht erhöht, wie Dr. Ito sich ausdrückte, als wenn sie zwei Persönchen wäre, aber auf jedem Fall noch im oberen Normbereich für ihr Alter und Körpergewicht. Wie sie nun alleine war, stellte sie jedoch fest, dass eine gewisse Leere in ihr war, die zuvor immer von ihrem Dauerhunger überdeckt worden war. Sie spürte, dass ihr etwas fehlte, etwas, dass sie nicht genau identifizieren konnte, als wäre sie auf merkwürdige Weise unvollständig, und das führte zu einer zunehmenden inneren Unruhe. Chihiro streckte sich deshalb noch einmal, bevor sie zu Fernbedienung griff und die Glotze einschaltete, um diese Leere irgendwie zu füllen. "Sie sollten wissen, dass ich mich mit ganzer Kraft dafür einsetzen werde, dass die mehr als berechtigte Forderung eines jeden nach Teilhabe am sozialen Fortschritt, eine noch zielstrebige Hinwendung erfordert auf einen Plan, der endlich den legitimen Forderungen aller gerecht wird", schmetterte der Politiker mit pathetischem Gestus. "Übrigens kann ich heute mit voller Kenntnis der Sachlage behaupten, dass die Dringlichkeit der Probleme des Alltagslebens sich einfügen muss, in die globale Zweckbestimmung einer raschen Lösung, die den großen sozialen Anliegen gerecht wird." * * Georges Charpak (Nobelpreis Physik), Henri Broch; Was macht der Fakir auf dem Nagelbrett; Piper; ISBN 3-492-04518-9, S. 43 (Baukastensystem für politische Reden, die absolut Nichts sagen XD) Schnell zappte Chihiro weiter. Auf Politiker hatte sie im Moment überhaupt keinen Bock. Im nächsten Programm waren gerade die Sumoringer der Juryo-Division zugange und wenn nachher die besten Kämpfer der Makuuchi-Division, würde ihr Vater sicher wieder zusehen und hoffen, dass dieser Ausländer, dieser Mongole, der neue Yokozuna Asashoryu, endlich aus dem Ring geschubst werden würde. Einen Gefallen, den ihm dieser Asashoryu * allerdings nur zu selten tat. * Asashoryu hat die ersten beiden Turniere 2004 jeweils mit 15:0 gewonnen!! Dann schwärmte ihr Vater immer von den Zeiten, als die Taka-Waka-Brüder immer mit den hawaiianischen Panzern aufgeräumt hatten, diesen fetten Amerikanern, Konishiki, Akebono und Musashimaru, den größten und vor allem dicksten Rikishi aller Zeiten. * * Konishiki: 284 kg, Akebono: 238 kg, Musashimaru: 236 kg; (+- 10 kg); oft genug haben die japanischen Heldenbrüder, Takanohana und Wakanohana, aber auch gegen die Hawaiianer verloren: siehe "Sumo: Kampf der Giganten"; Alexander v. d. Gröben und Simone Mennemeyer; Verlag Dieter Born Das wollte Chihiro aber auch nicht sehen, denn Sumo langweilte sie, weshalb sie eine Weile weiterzappte, ohne jedoch ein Programm zu finden, welches ihr zusagte. Sie blieb dann an dem Film "Das Millionending" * hängen, wie sie aus dem Videotext erfuhr, von dem sie zwar nur das Ende sah, der sie aber dennoch kurzfristig ein wenig aufheiterte. * in stillem Gedenken an Sir Peter Ustinov, der immer ein großes Herz für alle Kinder (und sicherlich auch für einen kleinen Drachen) gehabt hat; von 1968 (mein Geburtsjahr); mit Sir Peter, Karl Malden (die alte Kartoffelnase, Lt. Mike Stone aus "Die Strassen von San Francisco"), Robert Morley (Edelkomparse und lebendes Inventar des britischen Films) und Maggie Smith (-> Minerva McGonagall aus Harry Potter); Drehbuch: Sir Peter; Regie: Eric Till Nach Ende des Filmes kehre ihre innere Unruhe aber zurück und es wollte ihr einfach nicht gelingen, ihr körperliches Wohlbefinden zu genießen, sodass sie dann frustriert auf ihr Zimmer ging. Das hatte sie mit ihrem Vater zusammen noch vor den Sommerferien so umgestaltet, dass sie sich nun viel wohler darin fühlte. Aus dem Umbau eines Hauses, welches ihr Vater verwaltete, hatte dieser nämlich einige, fast neue Tatamimatten entsorgen sollen, die durch pflegeleichtes Parkett ersetzt werden sollten. Doch anstatt sie wegzuwerfen, hatte er sie statt dessen Chihiro geschenkt. Damit hatte sie nun ihr Zimmer so eingerichtet, wie sie es seit ihrem Umzug hierher vorhatte, nach traditioneller japanischer Art. Ihr altes Bettgestell flog zusammen mit der Matratze heraus, ebenso wie die Stühle. Die Tischbeine ihres Schreibtisches wurden so weit gekürzt, dass sie auch auf dem Boden sitzend problemlos daran arbeiten konnte und von ihrer Mutter bekam sie einen Futon geschenkt, den sie tagsüber in ihrem alten Kleiderschrank verstaute. Auf diese Weise hatte sie nun viel mehr Platz in ihrem Zimmer und auf dem Futon schlief sie auch deutlich besser, als auf ihrem Bett, genau so wie sie sich es erhofft hatte. Ihre Freunde, Ichiyo und Ayaka, waren völlig baff gewesen, als sie das Zimmer in dieser neuen Ausstattung erlebten. Vor diesen Schreibtisch hockte sie sich jetzt hin, um die Hausaufgaben zu machen, was sie jedoch auch nicht ruhig stellte. Noch vor einer Woche hatte sie immer etwas knabbern, mampfen oder schlecken können, was sie dann abgelenkt und befriedigt hatte. Das entfiel jetzt glattweg, weil sie einfach nichts mehr herunter bekam und dieses Gefühl, dass etwas fehlte, machte Chihiro fast wahnsinnig. Für die Hausaufgaben brauchte sie weniger als eine hektische Stunde, bevor die wieder in die Luft starrend dasaß. Wenn doch endlich der fünfte Harry Potter Band auf Japanisch erscheinen würde, dann hätte ihr das sicherlich Erleichterung verschafft, aber ihr Englisch war für die britische Originalausgabe, die vor kurzem erschienen war, immer noch zu schlecht. Eifrig schnappte sie sich daraufhin ihr Englischbuch und begann ungeduldig zu lernen, doch auch das bewirkte keinerlei Verbesserung ihres Gemütszustandes. Fast war sie zuguterletzt bereit, zum See zu eilen, Manami zu besuchen und dieser ihr Leid zu klagen. Doch was sollte das ändern. Lieber sollte sie glücklich sein, dass es ihr jetzt so gut ging. Mit einer Geste ihrer Hand ließ sie die Schulbücher Pirouetten in der Luft tanzen, genau so, wie Manami es ihr gezeigt hatte. Was hatte sie früher nur für einen Unsinn gemacht, als sie versuchte die Flugbahn der Gegenstände vollständig mit ihrem Willen zu kontrollieren, als würde sie so etwas wie Telekinese benutzen. Magie funktionierte jedoch anders. Manami hatte sie dann gelehrt, dass die den Sachen nur eindeutige Befehle zu geben brauchte, die diese dann ohne ihr Zutun ausführten, weil sie ihrer Zauberkraft gehorchen mussten. Kein Wunder, dass sie von diesem Versuch, Dinge auf eine Bahn zu zwingen, Kopfschmerzen bekommen hatte, bedeutete es doch, wie Manami ihr erklärt hatte, dass sie Millimeter für Millimeter dem Gegenstand, den sie bewegen wollte, Befehle aufzwang und damit ihre eigene Magie immer wieder selber behinderte und blockierte. Lustlos nahm sie später am gemeinsamen Abendessen mit ihren Eltern teil, die versuchten, sie über ihren Tag in der Schule auszufragen, ihre Freunde oder ihre Interessen, aber sie blockte all dies ab, so gut sie konnte, und zog sich danach in ihr Zimmer zurück. Spät in der Nacht versuchte Chihiro dann einzuschlafen, doch ihre innere Unruhe verhinderte dies, sodass sie bis in die frühen Morgenstunden wach liegend nachdachte. Es regnete in Strömen. Haku ignorierte das, so gut es ging, bei dem Versuch zu meditieren, um die Wartezeit nicht wahrnehmen zu müssen. Die äußeren Umstände machten ihm nicht viel aus, zumal es ihm, seitdem er das Bergwerk verlassen hatte, Tag für Tag immer besser ging. Sein Ohr war nach nur einer Nacht narbenlos verheilt gewesen, ebenso wie die Platzwunde an der Stirn und auch seine Fingerkuppen. Dennoch störten ihn die Regentropfen, die auf ihn herniederprasselten, so sehr in seiner Konzentration, dass es ihm nicht gelang, in die Versenkung zu gelangen. Er würde noch viel üben müssen, aber er hockte ja auch bereits seit sechs Tagen hier, langsam daran zweifelnd, ob Zeniba jemals wieder erscheinen würde. Yubaba musste seine Flucht längst entdeckt haben, sicherlich schnaubend und tobend vor Wut. Dieser Gedanke verbesserte seine Stimmung kurzfristig, doch dann musste er wieder an sein eigentliches Ziel denken: das Versprechen, das er Chihiro gegeben hatte. Je länger er jedoch darüber nachdachte, um so größer wurden seine Zweifel, ob ihn Chihiro überhaupt wiedersehen wollte. Bestimmt hatte der Zauber des Tores ihr beim Verlassen der Geisterwelt damals das Gedächtnis gelöscht, sodass sie sich nicht mehr an ihn erinnerte. Würde sie ihn akzeptieren in einer Situation, in der sie nicht in Not war, nicht von ihm abhängig? Wie würde die Begegnung mit Chihiro verlaufen, wenn er plötzlich in ihr Leben hineinbrach? Wenn sie ihn zurückwies, was dann? Nun, er hatte sich noch geschworen, Torooru aus dem Bergwerk zu befreien, aber eigentlich musste er dieses ganze Bergwerksunternehmen von Yubaba stoppen. Den Schlüssel dazu hatte ebenfalls Zeniba in der Hand, denn auf dem Streit zwischen den Hexenschwestern beruhte die ganze Miesere im Badehaus. Und falls es ihm gelang, was danach? Ein großer Zauberer wollte er nicht mehr werden, wie vor acht Jahren, als er zornig und wütend auf die Menschen, die ihm seinen Fluss genommen hatten, zu Yubaba gegangen war. Seit Chihiro ihn aus Yubabas geistiger Umklammerung befreit hatte, war Friede in sein Herz eingekehrt; er wollte keine Rache mehr an den Menschen nehmen. Gerade dieser Hass war es gewesen, der es der Hexe ermöglicht hatte ihn unter ihre Kontrolle zu bringen, ihn letztendlich zu versklaven. Wie dumm war er damals nur gewesen, zu glauben, man könne Probleme mit Magie lösen, wie ein großer und mächtiger Gott. So war er zu einem kleinen Würstchen in Yubabas Fängen geworden, die ihn benutzt hatte, um vielen Leuten zu schaden und weh zu tun. In der zweiten Nachthälfte hörte es allmählich auf zu regnen und der Himmel klarte sogar auf, sodass die Sterne sichbar wurden, sodass der Sumpf in das fahle Licht des fast vollen Mondes getaucht wurde. Leider wurde es dadurch auch so kalt, dass sein Atem zu Wölkchen zu bilden begann und er, völlig durchnässt, wie er war, zu Zittern anfing. Erneut begann Haku zu meditieren, wobei er sich vorzustellen versuchte, dass in seinem Inneren ein warmes Feuer brennt, das die Kälte vertreibt. Es funktionierte zu seiner Erleichterung ganz gut, sodass er sich entspannen und versonnen den herrlichen, klaren Sternenhimmel betrachten konnte. Direkt über ihm war das Sternbild Orion zu sehen, mit den beiden hellen Hauptsternen, oben links, dem tiefroten Beteigeuze, und unten rechts, dem hellblauen Riegel. Darunter konnte man wunderbar den Hasen erkennen und links davon den großen Hund mit dem gleißenden Stern Sirius. Doch dann erblickte Haku etwas, was nicht dort hingehörte. Zuerst dachte er es wäre eine Sternschnuppe oder so etwas Ähnliches, doch dazu bewegte sich das Objekt viel zu langsam. Vielleicht war es ja einer dieser närrischen Satelliten der Menschen, dachte er, um dann zu bemerken, dass das Objekt rhythmisch blinkte. Also wohl doch nur ein Flugzeug! Aber Moment mal, hier von der Geisterwelt aus, waren die Satelliten und Flugzeuge der Menschen doch unsichtbar, fiel ihm dann mit einem Mal ein. Es konnte demnach nichts Künstliches, von den Menschen Erschaffenes sein! Aufmerksam verfolgte er, wie das Objekt immer langsamer wurde, bis es letztendlich am Himmel still zu stehen schien, nur noch heller werdend. Wenn etwas still steht und heller oder größer wird, so bedeutet das in den allermeisten Fällen, dass sich dieses Objekt direkt auf einen zu bewegt und man besser den Beobachtungsort wechselt, wenn man nicht getroffen werden will. Doch das mittlerweile brillant blinkende und blitzende Objekt faszinierte Haku so sehr, dass er daran nicht dachte und still sitzen blieb. Inzwischen konnte er erkennen, dass das Ding offenbar ein scheibenförmiges Aussehen hatte, mit mehreren umlaufenden, bunten Lichterreihen, die ein farbenfrohes Spektakel boten, indem sie schillernde Lichtstrahlen in den dunklen Himmel warfen. Fast unmittelbar über seinem Standort verharrte das Ding kurz in der Luft, um sich dann, die ganze Umgebung in flackerndes Leuchten tauchend, majestätisch abzusenken und mit dem flachen Unterboden leise auf der Wiese aufzusetzen, die mit dem Abwehrzauber geschützt wurde. Nun konnte er auch sehen, dass auf der Oberseite des diskusförmigen Fluggerätes eine Halbkuppel mit darin eingelassenen Bullaugen aufgesetzt war, aus denen ein leicht flackerndes, gelbliches Licht herausdrang, wie von einer Kerze. Schon öffnete sich in dieser Halbkuppel eine Luke mit dumpfem metallischem Geräusch und eine verzauberte Laterne, mit einer einzelnen Kerze in sich, hüpfte auf ihrer weißen Hand heraus, die sich am Ende eines langen Stiels befand. Haku erinnerte sich, dass Chihiro ihm von dieser Laterne auf dem Rückflug von Zeniba damals erzählt hatte. Der Laterne folgte direkt das Ohngesicht, welches die Arme voll mit einem Stapel Bücher hatte, dies es kaum tragen konnte. Leicht schwankend ging es zum Rand des Diskus', wo nun mit einem hydraulischen Summen eine Treppe ausfuhr, die zum Boden herunterführte. Diese Treppe wäre das Ohngesicht fast heruntergefallen, weil es ja wegen der Bücher nicht nach unten sehen konnte, hätte es die Laterne im entscheidenden Augenblick nicht gestützt. Haku erwartete, dass nun auch Zeniba dem merkwürdigen Gefährt entsteigen würde, aber Nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil. Die Luke schloss sich automatisch, die ausgefahrene Treppe verschwand wieder in dem Diskus und die Lichter erzeugten ein neuerliches Leuchtfeuerwerk, sodass Haku dachte, dass sich das Gefährt erneut in die Luft erheben würde. Doch zu seinem Erstaunen gingen die Lichte plötzlich aus, woraufhin das Gebilde im hellen Mondlicht auf einmal zu schrumpfen begann. Das glatte, metallische Silbergrau der nahtlosen Hülle verwandelte sich allmählich in etwas anderes, nahm eine mehr strähnige Beschaffenheit an, die ihn eher an etwas Faseriges, wie Fell erinnerte. Weiter und weiter schrumpfte das Gebilde, bis Haku dachte, dass es bei diesem Tempo gleich verschwinden müsse. Doch dann wurden Füße unter der sich nun labberig durchbiegenden Scheibe sichbar und kurz darauf auch der Saum eines blauen Rüschenkleides. Flugs hatte sich die Verwandlung auch schon vollendet und aus dem diskusförmigen, metallischen Fluggerät war Zenibas Haarknoten geworden. Sie machte eine gebieterische Geste, die kleine Funken von ihrer Hand springen ließ, sodass es wie eine Welle ringförmig über die Wiese lief. Von der Mitte ausgehend wurden nach außen hin zuerst ihr Bauernhaus, dann links die Scheune und die anderen Nebengebäude sichtbar, ebenso wie die bereits abgeernteten Gemüsebeete und der das gesamte Areal umschließende Zaun. Dem Ohngesicht bedeutend, ihr in das Haus zu folgen, öffnete sie die Tür und verschwand im innereren, wo rasch darauf die Beleuchtung anging und sich emsige Aktivität entfaltete. Das Ohngesicht betrat ebenfalls das Haus, den Bucherstapel balancierend. Im Inneren hörte man dann einen Rumms, als Ohngesicht offenbar die Bücher ablud, gefolgt von einem lauten Gepolter und Zenibas lautstarkem Ausruf: "Ohngesicht, du Tollpatsch. Kannst du nicht aufpassen, die Bücher sind sehr wertvoll!" Nachdem sich kurz darauf die Tür wie von alleine schloss, kehrte Ruhe im Haus ein. Haku gab sich einen Ruck und versuchte aufzustehen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht, weil er sechs Tage still hier gesessen hatte. Nach mehreren Versuchen und dank seiner Übung, jeden Tag mit eingeschlafenen Gliedmaßen aus jener Kiste aufzustehen, schaffte er es schließlich doch, zu Zenibas Haus herüber zu staksen. Noch bevor er dort gegen die Tür klopfen konnte, öffnete sie sich plötzlich und Zeniba erschien im Türrahmen, die Hände in die Hüften gestemmt, abschätzig zu ihm herüberblickend. "Was bist du denn für einer? ... Wenn du etwas zu essen willst, dann gebe ich dir etwas und schlafen kannst du in der Scheune, wenn du magst", sagte sie in spontanem Mitleid zu der abgerissenen mageren Gestalt, die sie erblickte. "Dann können wir weitersehen. Warte einen Moment, ja!" Damit wollte sie nach innen verschwinden, wohl um das in Aussicht gestellte Essen zu holen. "Nein danke, ich möchte nichts zu essen", gab Haku sofort zurück, "ich wollte sie nur etwas Fragen, verehrte Frau Zeniba." "Nanu, du weißt ja, wie ich heiße." Sie drehte sich wieder zu ihm hin, diesmal mit offener Neugier. "Du hast eine Frage, sagst du. Gut, dann stell sie mir. Vorher sag mir aber, wer du bist." "Mein Name ist Haku, verehrte Frau Zeniba", sagte er, sich höflich vor ihr verbeugend, "und ich wollte sie fragen, wie ich Chihiro finden kann." Vor Überraschung riss Zeniba weit ihre Augen auf, bevor sie einen Schritt auf Haku zu trat und ihm skeptisch direkt in die Augen blickte. Konnte es wirklich sein, dass dieses armselige Etwas der stolze Drache Haku war, der Lehrling ihrer Schwester. Doch der Blick in diesen ruhigen und unglaublich grünen Augen sagten ihr, dass es wahr sein musste. Es waren die gleichen Augen, in dies sie schon mehrfach gesehen hatte, zuletzt als er das bezaubernde kleine Menschenkind Chihiro von hier abgeholt hatte. In seiner menschlichen Gestalt hatte sie ihn allerdings zuvor noch nie gesehen, weshalb sie bei seinem Anblick nicht sofort geschaltet hatte, ebenso wie damals, als sie die eigenartige Beziehung der beiden zueinander nicht erkannt hatte. Doch jetzt hatte sie eine unerwartete Gelegenheit, Licht in die Sache zu bringen. Hastig trat sie deshalb jetzt ins Freie, einen wachsamen Blick auf den Himmel und die Umgebung werfend, um Haku dann in ihre Stube zu schieben. "Los, komm schnell herein", drängte sie ihn, "man sucht nach dir. Ich hoffe, niemand hat dich gesehen, wie du hergekommen bist." "Sie suchen nach mir?", fragte Haku leicht verwirrt, als er von Zenibas Schubser zum Stehen kam, "wer und warum?" "Na du machst mir Scherze. Jahrelang hast du doch für meine Schwester gearbeitet!", erwiderte sie ein wenig barsch. "Ich hoffe doch nur, dass nicht sie dich hierher geschickt hat." Haku musste schlucken. Was er unter Yubabas Kontrolle getan hatte, wusste er ja, zumindest so ungefähr. Also war jemand auf diese Aktivitäten aufmerksam geworden und wollte nun ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Sein erster Impuls nun war, sich zu stellen, wer auch immer ihn da suchte. Tief atmete er einmal durch, um einen klaren Gedanken zu fassen. Wenn er sich stellte und für Yubabas durch ihn begangene Verbrechen mit dem Leben büßen musste, dann konnte er sein Versprechen nicht mehr halten. Zuerst musste er Chihiro wiedersehen und sich bei ihr verabschieden, danach noch dafür sorgen, dass Torooru freikam, dann konnte er sich immer noch stellen. "Nein, Yubaba hat mich nicht zu ihnen geschickt. Im Gegenteil, ich bin vor ihrer Schwester geflohen, aber ich bin bereit, für meine Untaten zu bezahlen. Doch sie müssen wissen, dass ich Chihiro ein Versprechen gegeben habe, welches ich zuerst erfüllen muss, auch wenn es mich mein Leben kostet! Danach muss ich noch etwas anderes in Ordnung bringen und dann können sie mit mir machen, was sie wollen." "Na, nun mach aber mal halblang. Dass ihr jungen Leute aber auch immer gleich so ungestüm sein müsst. Ich weiß doch, was meine Schwester mit dir angestellt hat. Dazu kenne ich sie ja schließlich gut genug", beschwichtigte Zeniba. "Jetzt setz dich erst einmal und trink eine Tasse Tee mit mir, wenn wir uns ein wenig unterhalten. ... Ohngesicht! Würdest du uns bitte Tee machen?" Aus dem Nebenraum erschien Ohngesicht, bereitwillig den Tee am Herd zubereitend, während Haku sich mit leicht widerstreben auf einer der Holzbänke an Zenibas Bauerntisch niederließ. "Willst du mir erzählen, wie es passiert ist, dass du in diesen Zustand gekommen bist?", begann sie das Gespräch. "War das meine Schwester oder jemand anderes? Vor drei Jahren hat sie ja schon mal versucht, dich umzubringen." Leicht überrascht blickte Haku daraufhin die Hexe an. "Ich kann auch eins und eins zusammenzählen. Meine Schwester wusste von dem Schutzzauber auf dem Siegel. Ich hab's ihr ja extra gesagt, damit sie auf keine dummen Gedanken kommt. Wegen des Fluchs darauf konnte sie damit nichts anfangen. Dass sie es dich hat stehlen lassen, kann nur bedeuten, dass sie wollte dass der Fluch dich umbringt. Nur war ich damals zu wütend, um das zu erkennen. Ich weiß nur bis heute nicht, wie du dem Fluch entgangen bist, denn selbst ich kenne keinen Gegenzauber." "Chihiro hat den Fluch gebrochen. Sie hat mir eine Kräuterkugel gegeben", berichtete Haku. "Woher sie die hatte, weiß ich aber nicht; sie hat es mir nicht erzählt." "Eine Kräuterkugel? Ja, das könnte möglich sein. Ich habe davon gehört. Sie sollen starke fluchbrechende Eigenschaften besitzen, aber nur sehr mächtige Götter können sie herstellen", bestätigte Zeniba, "doch jetzt erzähl mir doch, was du in den letzten drei Jahren gemacht hast." Haku erzählte es ihr, woraufhin Zeniba mit der Zeit einen sehr ernsten und traurigen Gesichtsausdruck bekam. Nachdem er geendet hatte, sank sie mit einem Seufzer in ihrem Stuhl zurück, den Kopf schüttelnd. "Ich hätte nicht gedacht, dass sie so weit geht. Aber nach dem, was sie mit dir angestellt har, war damit wohl zu rechnen. Und das nur, weil sie nicht bereit ist, auch nur einen fußbreit nachzugeben. Ich denke, ich werde sie wohl stoppen müssen." Haku blickte sie fragend an, überlegend, was sie wohl damit meinen mochte. "Aber lassen wir das jetzt. Ich habe sehr viel über dich und deine Chihiro nachgedacht, seitdem du sie vor drei Jahren hier abgeholt hast, und je mehr ich das tue, umso unmöglicher erscheint mir das alles. Dabei habe ich mittlerweile den Eindruck, dass die ganzen Ereignisse von damals damit zutun haben, mit der Beziehung zwischen dir und Chihiro. Deshalb erklär mir doch erst mal, warum du Chihiro finden möchtest?", fuhr Zeniba fort, als der Tee fertig war. Genießerisch schlürfte sie demonstrativ an ihrer Tasse. "Ich hab es ihr versprochen", murmelte Haku nach einer Denkpause verlegen, mit gesenktem Kopf lustlos in seinem Tee rührend. "Ja wenn du es versprochen hast, dann musst du dein Versprechen auch halten", meinte die Hexe, hakte dann jedoch nach, weil sie Hakus Zögern bemerkt hatte: "Sag, findest du sie schön?" Erschrocken musste Haku schlucken, denn er fühlte sich ertappt. Weshalb fragte sie so etwas? "Wenn sie's genau wissen wollen: Chihiro ist das schönste Mädchen der Welt!", entgegnete er deshalb trotzig. "Ach so ist das. Ich habe es mir ja fast gedacht", erwiderte Zeniba gelassen. "Weist du, wenn man ein kleines Kind fragt, ob seine Mutter schön ist, dann antwortet es zweifelsohne, dass seine Mama die schönste Frau der Welt sei. Das ist die übliche Antwort. Sie bedeutet letztendlich: Das Kind hat keine Ahnung, ob sie schön ist, aber es liebt seine Mutter aus tiefster Seele!" Zeniba stand von ihrem Stuhl am Kopf des Tisches auf und setzte sich direkt neben Haku, der am liebsten im Boden versunken wäre, weil ihm bewusst wurde, dass sie recht hatte. Ob Chihiro schön war, oder nicht, darüber hatte er nie nachgedacht, und was noch schlimmer war, er hatte auch nicht die geringste Vorstellung von menschlicher Schönheit. Allenfalls konnte er sagen, ob ein anderer Drache schön war. Er erinnerte sich da an einen Vorfall, als er für einen besonderen Gast die schönsten Yuna des Badehauses aussuchen sollte. Das Ergebnis seiner Wahl war sehr fragwürdig gewesen, der Gast indigniert abgereist und Yubaba fuchsteufelswild geworden. Noch wochenlang hatten die Frösche sich hinter seinem Rücken darüber lustig gemacht und die Yuna ihre Nasen gerümpft, wenn er gerade nicht hingesehen hatte. Danach hatte er niemals mehr eine ähnliche Aufgabe von Yubaba bekommen. "Du liebst sie und weiß gar nicht, wieso eigentlich. Haku, du bist ein Drache und du solltest dich für Menschen eigentlich kaum interessieren. Dass du Chihiro liebst, ist vollkommen widersinnig und unlogisch. Deswegen kann ich nur vermuten: Mit dir und Chihiro stimmt etwas nicht!" "Warum soll das widersinnig sein? Und unlogisch? So ist das nun Mal, vollkommen unlogisch! Und für Menschen habe ich mich schon immer interessiert, seit ich ganz klein war. Was soll mit mir und Chihiro also nicht stimmen?", entgegnete Haku widerborstig. "Könnten sie mir nicht einfach nur sagen, wie ich sie finden kann? Bitte Frau Zeniba." "Die meisten Götter bringen den Menschen bestenfalls so etwas wie freundliche Indifferenz entgegen, aber dass jemand wie du sich in ein ganz normales Mädchen verliebt, ist vollkommen ungewöhnlich, zumal du offensichtlich zu den Göttern gehörst, die nichts mit menschlicher Schönheit anfangen können. Und das sind die meisten!", holte Zeniba aus. "Dass du in sie so gerne hast, muss einen besonderen Grund haben." "Ist sie denn schön? Bitte sagen sie es mir", entfuhr es Haku. "Naja, ich will dir die Wahrheit nicht verschweigen", antwortete die Hexe sanft. "Sagen wir einmal so, Chihiro ist nicht unbedingt hässlich, aber eine große Schönheit wird sie wohl nie werden. Vor einiger Zeit habe ich mich eingehend mit Schönheits- und Liebeszaubern beschäftigt und daher weiß ich, wovon ich rede. Du Haku, wirst dergleichen aber nie nötig haben, das kann ich dir versichern." Etwas verwirrt blickte er neben sich zu Zeniba. Dass Chihiro nicht schön sein sollte, berührte ihn zu seiner Verwunderung nicht weiter, doch was meinte sie damit, dass er keine Liebes- und Schönheitszauber benötigen würde? Und außerdem, was sollte das Ganze? "Bitte Frau Zeniba, das ist doch alles völlig unwichtig. Wichtig ist doch nur, dass ich zu ihr gelange", sagte er deshalb flehentlich. "Wenn sie mir nicht helfen wollen, dann ist das auch in Ordnung, aber dann möchte ich jetzt lieber gehen." "Im Gegenteil, Haku, ich möchte dir helfen, aber ich glaube, dass es sehr wichtig ist, diese Sache zuerst zu klären. Ich habe beobachtet, wie die Kleine dich in deiner Drachengestalt erkannt hat, nachdem du mir das Siegel geraubt hattest, obwohl sie vorher offensichtlich gar nicht wusste, dass du dieser Drache bist. Intuitiv hat sie dann sogar gespürt, dass du von dem Fluch des Siegels tödlich verwundet warst, woraufhin sie Kopf und Kragen riskiert hat, um dich zu retten. Schließlich hat sie dich wie eine Löwin vor mir verteidigt", antwortete die alte Frau. "Daraus und aus dem, was sie mir später erzählt hat, muss ich schließen, dass du ihr vorher entscheidend geholfen hast." "Worauf wollen sie denn hinaus?", wollte Haku verwundert wissen. "Aber sie haben recht, ich habe Chihiro geholfen. Als ich sie damals auf der Brücke zum Badehaus fand, konnte ich nicht anders. Ich musste ihr einfach helfen." "Ja, siehst du. Eben gerade das ist so merkwürdig", sagte Zeniba. "Du standest damals unter dem Einfluss des schwarzen Wurms meiner Schwester. Ich kenne den Zauber, der dahinter steckt, sehr gut und weiß daher, dass du nicht in der Lage hättest sein dürfen, dem Mädchen zu helfen! Du hättest dich niemals dem Willen Yubabas widersetzen können, auch wenn du ein Gott bist, es sei denn, sie hätte etwas verlangt, was deinem Wesen als Gott widerspricht, also zum Beispiel dem Fluss Schaden zuzufügen, dessen Wächter du bist. Du bist doch ein Flussdrache, oder doch ein Seegott oder etwas anderes?" "Doch, ich bin, nein ich war ein Flussdrache", bestätigte Haku traurig. "Nur gibt es meinen Fluss nicht mehr. Die Menschen haben ihn zugeschüttet, also konnte Yubaba nichts von mir verlangen, was meinem Wesen zuwider handelt." "Pffffft. Du bist ein Flussdrache ohne Fluss?", entfuhr es Zeniba überrascht und sie ließ sich gegen die Lehne der Sitzbank sinken. "Wie kann es dann sein, dass du hier neben mir sitzt und dich mit mir unterhältst? Du dürftest gar nicht nicht mehr leben, wenn das wahr wäre. Deine Lebenskraft ist doch an den Fluss gebunden und mit ihm, wäre auch dein Leben versiegt." "Ich weiß, dass es besser wäre, ich wäre tot, denn ich habe es nicht geschafft, meinen Fluss zu beschützen und verdiene es nicht anders. Aber vielleicht gibt es unterirdisch noch eine Strömung oder die Quelle hat noch ein wenig Wasser und ich bin deshalb noch am leben", sagte Haku, in sich zusammensackend vor Scham. Zeniba seufzte und dachte eine Weile nach, bevor sie fragte: "So langsam beginnt die Sache, richtig interessant zu werden. Ich glaube allmählich, meine Schwester hat doch etwas von dir verlangt, was deinem Wesen widerspricht. Anders kann ich mir dein Verhalten nämlich nicht erklären. Sag mal, Haku, wie war das damals, als du Chihiro an der Brücke zum Badehaus entdeckt hast?" Haku war jetzt sehr betroffen, von dem, was Zeniba sagte und brauchte eine Weile, um seine Gedanken zu ordnen. Seinem Wesen als Flussgott widersprochen? Und was hatte denn Chihiro damit zu tun? Schließlich hatte er sich so weit gesammelt, um mit seinem Bericht zu beginnen: "Es war damals im Sommer, da gab es auf einmal eine große Aufregung im Badehaus. Menschen waren in unsere Welt eingedrungen und hatten sich an den Speisen für die Götter gütlich getan. Yubaba war sehr böse deswegen. Zwei Menschen waren bereits durch ihren Zauber gefangen, in Schweine verwandelt, aber da war noch ein Dritter, ein Kind. Ich erhielt von ihr den Auftrag, es zu fangen und zu sich zu bringen. Da ich Yubaba kannte, wusste ich, dass das Kind entweder in der Grube unter ihrem Büro verschwinden oder als Schwein im Stall landen würde, zum Mästen und Schlachten freigegeben. Auf jeden Fall aber würden alle drei Menschen sterben. Das war mir aber zu diesem Zeitpunkt egal, ich wollte nur Yubaba gehorchen. Doch dann fand ich das Kind auf der Brücke und ich sah, dass es Chihiro war. Es war, als würde ich plötzlich aus einem langen dunklen Traum erwachen. Mein einziger Gedanke war nur noch, entgegen Yubabas Befehl, dass ich das Mädchen retten musste, doch der Wunsch Yubaba zu gehorchen war immer noch sehr stark in mir, sodass ich es zuerst nur schaffte, sie fort zu schicken, fort aus Yubabas direktem Machtbereich. Dabei fasste ich sie an, um sie in die notwendige Richtung zu stoßen, und in dem Moment, als ich sie berührte, war es als wäre ein Blitz in mich gefahren, sodass mein Verstand auf einmal ganz klar und ruhig wurde. Seitdem sehne ich mich immer stärker und stärker nach Chihiro, immer nur nach ihr. Ich kann sie nicht vergessen." "Das bestätigt meinen Verdacht", meinte Zeniba, die sah, dass es Haku große Überwindung gekostet hatte, ihr dieses zu erzählen, nach einer kleinen Pause. Wenn dieser Verdacht sich bestätigte, konnte es schlimm werden, für Haku und Chihiro, viel schlimmer, als es jetzt bereits war. Aber nur, wenn jemand es herausfand, jemand aus der Geisterwelt und es an die Behörden meldete. Doch vorher musste sie sicher gehen. "Also gut, Haku. Nichts von deinem Bericht lässt mich darauf schließen, dass bei deiner Begegnung mit Chihiro an der Brücke, etwas wirklich Entscheidendes passiert ist. Daher muss ich vermuten, dass es bei eurer ersten Begegnung passiert ist, von der mir Chihiro erzählt hat. Was ist damals genau passiert? Und lass bitte kein noch so unwichtig erscheinendes Detail aus! Das kann von entscheidender Bedeutung für euer beider Zukunft sein." "Nein Bitte, Frau Zeniba, das können sie nicht von mir verlangen. Das war damals, äh, sehr persönlich und geht nur mich und Chihiro etwas an. Aber bitte glauben sie mir, dass ich mich damals ganz bestimmt nicht in sie verliebt habe; sie war doch noch ein kleines Kind. Wenn überhaupt, ist das auf der Brücke oder kurz danach passiert", sträubte sich Haku, dem dieses ganze Gespräch zunehmend peinlich wurde. "Trotzdem muss ich darauf bestehen, Haku, und es müsste auch deinem Anliegen zugute kommen. Wenn es so ist, wie ich jetzt vermute, dann kann es uns einen guten Hinweis geben, wie du deine Chihiro finden kannst", drängte Zeniba den Jungen weiter. "Und glaub mir, es kann lebenswichtig für dich und Chihiro sein, dass wir Klarheit darüber bekommen." "Lebenswichtig für mich und Chihiro? Und es kann mir helfen, sie zu finden?", zweifelte Haku. "Können sie mir nicht einfach sagen, was sie für eine Vermutung haben? Dann sage ich ihnen, ob sie richtig liegen, wenn ich kann." "Lieber nicht Haku. Allein der Verdacht macht mir Sorge, sodass ich erst Gewissheit haben will", erwiderte Zeniba sanft. "Erzähl mir von eurer ersten Begegnung, bitte." Jetzt seufzte Haku. So langsam bekam er den Eindruck, dass ihm Zeniba nichts weiter sagen würde, wenn er ihr diese Sachen nicht berichtete. "Also gut, wenn sie es unbedingt erfahren wollen. Werde ich es ihnen erzählen, auch wenn es wirklich nicht glorreich von mir gewesen ist." Damit begann Haku seine Erzählung. Es war ein wunderbarer Spätsommertag vor gut zehn Jahren, und es war nun fünf Jahre her, seitdem Kohaku in diesem Fluss erwacht war. An das, was vorher gewesen war, falls vorher überhaupt etwas gewesen war, konnte er sich nicht erinnern und soweit es ihn betraf, hatte er seine gesamte bisherige Existenz in diesem Fluss verbracht. Alles was er wusste, war sein Name, Nigihayami Kohaku Nushi, und dass er der Wächtergott dieses Flusses war, des Kohakugawa. Allmählich begann er nun, sich in seine Aufgabe als Wächter des Kohakugawa hineinzufinden, sich seiner Verantwortung bewusst zu werden, den Fluss, alle seine Bewohner und alle die zum Fluss hinkamen, zu beschützen. Deswegen gab er sich besonders große Mühe, dieser Verpflichtung gerecht zu werden. An einer Biegung seines Flusses gab es eine große Zone ruhigen, seichten Wassers, wo sich am Ufer eine große Wiese anschloss. Dort versammelten sich häufig am Nachmittag viele Eltern aus dem nahen Tokyo mit ihren kleinen Kindern, um das schöne Wetter bei einem Picknick zu genießen und ihren Nachwuchs sich austoben zu lassen. Kohaku sah es nun als seine Aufgabe an, zu verhindern, dass den Kindern am Fluss etwas zustößt, aufzupassen, dass keines von ihnen darin ertrinkt. Zuerst hatte er deshalb begonnen, das Treiben der Menschen an seinem Ufer zu beobachten, um dann vor zwei Jahren damit zu beginnen, seit es ihm gelungen war, menschliche Gestalt anzunehmen, sich unerkannt direkt unter die Kinder zu mischen. Mit den Kindern zu spielen, die ihn vorbehaltslos als eines der ihren akzeptierten, machte ihm immer großen Spaß, sodass er sich den ganzen Winter hindurch wieder den Sommer und mit dem Sommer die Kinder zurücksehnte. Die ganze Zeit über war es jedoch zu keinem schwerwiegenden Unfall gekommen, weil die Eltern, wie Kohaku festgestellt hatte, ebenfalls gut auf ihre Kinder aufpassten. An diesem Tag spielte er gerade mit einigen Kindern Fangen, wobei er sich wie immer stark zurückhalten musste, da die anderen Kinder sich so ungeschickt und langsam bewegten. Mühsam hatte er am Anfang lernen müssen, dass die Kinder viel schwächer waren, als er, viel zerbrechlicher und empfindlicher. Wenn es in der Hektik des Spiels mal zu einem Puff oder Schubser kam, den er selbst kaum registrierte, fingen die Kinder sofort an zu heulen, was dann sofort deren Eltern auf den Plan rief. Wenn diese dann ansetzen, um mit ihm zu schimpfen, verpuffte dann aber meistens spontan ihr Ärger und vor Entzücken strahlten sie ihn an, direkt in seine Augen blickend. Sie vergaßen dann unwillkürlich das Gejammer ihrer eigenen Kinder, streichelten ihn am Kopf und sagten solche Sachen, wie: "Na, was bist du denn für ein Hübscher?" oder "Schau mal Schatz, was für ein süßes Kerlchen. Und er hat grüne Augen!" oder so etwas Ähnliches. So war nie etwas passiert. Trotzdem wurde er vorsichtiger, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, zumal er nicht verstand, was die erwachsenen Menschen an ihm fanden, was ihn von den anderen Kindern unterschied. Öfters betrachtete er sein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche, aber er konnte keinen signifikante Besonderheit bei sich erkennen. Vor allem aber wurde er deshalb vorsichtiger, weil er den anderen Kindern nicht weh tun wollte, denn er hatte sie sehr gerne. Dann spürte er mitten beim Fangenspiel, dass etwas nicht stimmte. Jemand war in großer Not, sich verzweifelt nach Hilfe sehnend. Erschrocken blickte Kohaku sich um, den Ursprung dieses Hilferufs nachgehend, doch keines von den Kindern hier auf der Wiese und keines der im flachen Wasser Badenden schien in Schwierigkeiten geraten zu sein. Er konzentrierte sich auf das Gefühl, um dann festzustellen, dass es seinen Ursprung etwa einen Kilometer flussaufwärts nahm. Fieberhaft blickte er sich um, um einen Weg zu finden, wie er sich möglichst schnell und unauffällig verdrücken konnte. Schließlich konnte er ja nicht einfach ins Wasser springen, untertauchen, seine Drachengestalt annehmen und dann den Fluss hinauf schwimmen. Das hätte wohl für einen heftigen Aufruhr unter den Menschen gesorgt und er hätte nie wieder mit den Kindern spiele können. In diesem Moment fing ihn ein kleiner Junge, der vor Triumph kreischend umherhüpfte, weil Kohaku nicht aufgepasst hatte. Jetzt war er an der Reihe, musste bis 10 zählen, bevor er losstürmen durfte. Diesmal nutzte er seine ganze Schnelligkeit, sodass er fast sofort ein anderes Kind gefangen hatte, um sich dann, wären dieses an der Reihe mit zählen war, unauffällig in ein Gebüsch am Ufer zu verdrücken, von wo er unbemerkt in den Fluss gleiten konnte. Im Wasser wurde die Empfindung, dass jemand um sein Leben kämpfte, so übermächtig, dass Kohaku fast in Panik geriet. Schnell wechselte er in seine Drachengestalt zurück, seine Gestalt konnte er nur im Wasser seines Flusses wechseln, schoss die Strömung hinauf, nach der Quelle der Pein suchend. Auf einmal fand er ein kleines rosa Schühchen, das unschuldig in der Mitte der Strömung dahinschwamm. Kurz hielt Kohaku inne, um das Objekt zu untersuchen, denn möglicherweise hatte es etwas mit dem Hilferuf zu tun, der nun Besorgnis erregend rasch schwächer wurde. So nahm er die Witterung von dem Schuh auf, folgte dem Geruch durch die Strömung, bis sie an den Ursprung des Problems führte: Ein kleines Mädchen trieb, Gesicht nach unten, etwa einen Meter tief unter der Wasseroberfläche und schien nicht mehr zu atmen. Schleunigst eilte Kohaku zu dem Mädchen hin, dessen Herz zwar noch schlug, wie er feststellte, das sich jedoch nicht mehr bewegte. Mehrfach versuchte Kohaku, es an die Wasseroberfläche zu drücken, doch das Mädchen wollte und wollte nicht mehr atmen, sank immer wieder leblos unter die Wasseroberfläche zurück. Verzweiflung und Panik ergriffen immer mehr von dem jungen Drachen Besitz, dem einfach keine Möglichkeit einfallen wollte, wie er das Kind retten konnte. Regelrecht konnte er fühlen, wie das Leben aus dem kleinen Körper strömte, wie es schwächer und schwächer wurde, jeden verstreichenden Augenblick, wie die Lebenskraft es verließ, doch er war hilflos und konnte nichts tun. In seiner Ratlosigkeit versuchte er schließlich, ihre schwindende Lebenskraft zu stärken, indem er probierte, die Kraft der Flussströmung durch sein Selbst in Lebenskraft zu transformieren, um sie durch ihren kleinen Körper hindurchzuleiten. Doch es war, als würde etwas in ihrem Inneren sich dagegen sträuben, ein Widerstand, der seine Absicht vereitelte, den er, wie er fühlte, nur durch Gewalt hätte überwinden können. Dann mit einem Mal verschwand dieser Widerstand und es gelang. Staunend öffnete das kleine Mädchen öffnete seine Augen, ihn unverwandt anstarrend, spuckte eine große Luftblase aus und ließ sich danach mühelos zur Oberfläche befördern. Wie selbstverständlich ergriff das Mädchen dort die Hörner des kleinen Drachen, zog sich auf seinen Rücken, um sie sich von ihm an das Ufer befördern zu lassen. An der Uferböschung, vor einem kleinen Bambusgestrüpp angelangt, ließ sich das Kind fröhlich giggelnd ins flache Wasser platschen, wo es sich hinsetzte und mit seinen Patschehändchen Kohakus Kopf auf den Schoß zog. Intensiv begann das Mädchen nun ihn hinter den Ohren und zwischen den Augen zu kraulen, wobei es kichernd immer wieder "Dache, Dache!" rief. Kohaku wusste nicht, wie ihm geschah. Es sah sich nicht nur völlig außerstande sich gegen die Knuddelattacke des Mädchens zu wehren, sondern genoss dessen Streicheleinheiten, die ihm eine wohlige Wärme im gesamten Körper verursachten, ihn ganz schwach machend. Hinzu kam seine unendliche Erleichterung darüber, dass es ihm in letzter Sekunde doch noch gelungen war, das Leben des Kindes zu retten. Er hatte nicht versagt, doch in Zukunft würde er wachsamer sein müssen. Viel zu viel Zeit hatte er damit vergeudet, sich von dem Spiel mit den anderen Kindern zu lösen und ins Wasser zu gelangen. Das durfte nicht wieder passieren. Deshalb schwor sich Kohaku, die Wasser des Kohakugawa nie mehr ohne triftigen Grund zu verlassen. Diesmal hatte er noch einmal Glück gehabt, doch beim nächsten Mal konnte es auch anders ausgehen. Wie lange er nun dort lag, verwöhnt von dem kleinen Mädchen, konnte er nicht genau sagen, doch plötzlich hörte er leise die besorgte Stimme einer Frau, die aufgeregt rief: "Chihiro, Chihiiiiiiiro, wo bist duuuuu. Komm her zu Mamiiiiiii!" Näher und näher kam die Stimme, systematisch das Flussufer absuchend, sodass Kohaku sich gut ausrechnen konnte, wann die Frau bei ihnen anlangen würde. Widerwillig entzog er sich dem kleinen Mädchen, in die Mitte seines Flusses gleitend, von wo aus er den Rest der Szene beobachtete. Die Frau brach, dem Gekicher des kleinen Mädchens folgend, letztlich durch das Schilfdickicht am Ufer, wo sie das Kind im seichten Wasser sitzend vorfand. "Chihiro, was machst du denn nur?", schimpfte sie los, "musst du denn immer verschwinden? Ach du je, wo hast du denn nur deinen linken Schuh gelassen? Na wenigstens ist dir ja nichts passiert." Damit hob sie das ziemlich nasse kleine Mädchen ein wenig unsanft auf den Arm, welches seiner Mutter daraufhin mit großem Ernst erklärte: "Mami, ich hab Dache sehen. Lieben weißen Dachen. Hat mich reiten lassen." Die Frau blickte das Kind ein wenig missmutig an. "Was erzählt du denn da nur wieder für einen Unsinn, Chihiro. Wenn Papi davon erfährt, wird er bestimmt wieder böse, also halt deinen Brabbel, ja?", motzte sie weiter, stapfte durch das Schilfdickicht zurück, wo die Beiden letztendlich aus Kohakus Seh- und Hörweite verschwanden. Bevor er sich zurück auf den Weg zu der großen Wiese machte, verharrte Kohaku noch eine Weile in der Mitte der Strömung an dieser Stelle. ,Chihiro, Chihiro ist also dein Name, kleines Mädchen', dachte er. ,Chihiro, ich werde dich niemals vergessen. Du wirst immer willkommen sein, an meinen Ufern.' Hiermit endete Hakus Bericht und Zeniba schwieg eine Weile, das Gehörte sortierend, während es draußen bereits hell wurde. Alle ihre Vermutungen hatten sich bestätigt und zudem hatten sich noch einige weitere Fragen ergeben. "Das war sehr aufschlussreich, Haku, oder möchtest du lieber, dass ich dich Kohaku nenne?", sagte Zeniba, nachdem sie die Erzählung rekapituliert hatte. "Schließlich ist das dein richtiger Name." "Nein, lassen sie nur. Nennen sie mich ruhig weiter Haku", meinte er daraufhin hastig. "An den Namen Haku habe ich mich so sehr gewöhnt, dass dieser andere Name nicht mehr der Meinige zu sein scheint. Habe ich ihnen denn weitergeholfen, mit meiner Schilderung, Frau Zeniba? Ich habe Chihiro mit viel Glück das Leben gerettet und sie hat mich dafür gestreichelt. Weiter ist nichts passiert! Also lassen sie uns das Ganze einfach vergessen, ja?" "Nein Haku, du hast es immer noch nicht begriffen. Alles ist passiert! Weißt du, du hast damals keineswegs Chihiros Leben gerettet. Bevor ich dir aber erkläre, was damals mit dir und Chihiro passiert ist, möchte ich dir noch einige Fragen stellen", entgegnete die Hexe schlicht. "Du bist wirklich erst fünfzehn Jahre alt? Ich frage das, weil ich noch nie von einem Gott gehört habe, den man gewissermassen schon als Baby mit einer Wächteraufgabe betraut hätte. So etwas geschieht doch erst, wenn ein junger Gott von seinen Eltern gründlich ausgebildet und zudem eine Position frei ist. Also frühestens, wenn er 200 bis 300 Jahre alt ist und seine Eltern gute Beziehungen haben. Kennst du eigentlich deine Eltern?" Haku blickte die Hexe ratlos an. Über solche Dinge hatte er weder jemals nachgedacht, noch sich mit einem anderen Gott darüber unterhalten. "Ich weiß nur, als ich im Kohakugawa erwacht bin, war ich als Drache vielleicht so groß:" er hielt zur Demonstration seine Hände etwa einen knappen Meter auseinander. "Und nein, meine Eltern kenne ich nicht, und die können mir auch gestohlen bleiben. Sagen sie doch bitte lieber, wieso ich Chihiro damals nicht gerettet haben soll? Immerhin lebt sie ja noch, also muss ich sie doch gerettet haben!" "Ach Haku, wenn deine Eltern oder meine Schwester dir ein wenig mehr über Magie beigebracht hätten, dann wärst du ganz von alleine darauf gekommen. Wahrscheinlich hättest du als erfahrener Wächtergott ganz anders gehandelt, denn das was du getan hast, ist eigentlich streng verboten und unter den Göttern allgemein geächtet, weil es mehrfach in böser Absicht gemacht worden ist", sagte Zeniba. "Ich habe jedoch nicht gesagt, dass du sie nicht gerettet hättest, ich habe nur gesagt, dass du ihr Leben nicht gerettet hast, denn in Wahrheit hast du ihr nämlich ein neues Leben gegeben!" Jetzt war Haku völlig perplex. Zweifelnd blickte er Zeniba an, die immer noch neben ihm saß, gutmütig auf ihn hinabblickend. "Das kann doch nicht sein. Wie soll ich ihr denn ein neues Leben gegeben haben? Ich weiß doch überhaupt nicht, wie so etwas geht, noch hätte ich die Macht, etwas zum Leben zu erwecken." "O Haku, du hast es immer noch nicht begriffen. Du hast Chihiro nicht irgendein neues Leben gegeben, du hast ihr dein eigenes Leben gegeben", entgegnete Zeniba. "Lass es mich dir erklären. Du hast versucht, Chihiros versiegende Lebenskraft mit der Energie aus deinem Fluss zu stärken. Doch ihre und deine Lebenskraft sind nicht miteinander vereinbar, sie stoßen einander ab. Das war der Widerstand, den du gespürt hast. Doch dann versiegte ihr Leben, Chihiro starb." Gequält blickte Haku zu Zeniba auf. "Sie sagen, dass Chihiro gestorben ist? Das kann nicht sein, das darf nicht sein!" Doch Haku, sie ist in dir ertrunken! In diesem Moment, dem kurzen Augenblick, der das Leben vom Tor trennt, konntest du ihren noch lebensfähigen Körper mit der Lebenskraft deines Flusses, die damals identisch war, mit der deines Flusses, zu neuem Leben erwecken. Dies ist nur in diesen kurzen Augenblicken nach Eintritt des Todes möglich, bevor sich die Seele verflüchtigt, oder unter Anwendung von magischer Gewalt, wenn du dein Opfer in eine seelenlose Puppe verwandeln möchtest, die deinem Willen bedingungslos gehorcht." Es brauchte eine Weile, bis Haku das Gesagte verarbeitet hatte. Sein Kopf schwirrte von sich überstürzenden Gedanken und sein Herz hämmerte wie verrückt. Doch wenn er sich die Ereignisse in das Gedächtnis zurückrief, ließ die Erinnerung keine andere Interpretation zu. Er hatte Chihiro mit seiner eigenen Lebenskraft zurück ins Leben geholt. "Ich glaube, ich verstehe, Frau Zeniba, doch was hat dies alles jetzt für konkrete Bedeutung? Ich meine, ändert das etwas zwischen Chihiro und mir?" "Du hast es noch immer nicht begriffen, nicht wahr Haku?", ächzte Zeniba. "Mann, die Menschen haben deinen Fluss zerstört und damit deine Lebensgrundlage vernichtet. Trotzdem stehst du hier quicklebendig vor mir. Das liegt daran, weil ein Teil deiner Lebenskraft übrig geblieben ist, nämlich genau der Teil, mit dem du Chihiro damals ins Leben zurückgeholt hast. Das bedeutet, Haku, dass du jetzt kein Flussgott mehr bist, sondern gewissermassen der Gott von Chihiro; sie ist die Trägerin deiner Lebenskraft. Man könnte auch sagen, Chihiro ist jetzt dein Fluss! Ihr Beiden teilt euch ein Leben. So etwas Verrücktes!" "Ja aber Chihiro. Ich meine, sie kann doch nicht ...? Aber wenn sie stirbst, was ...?", sabbelte Haku zusammenhanglos, dem das Herz vor Freude zu platzen schien. Sein Leben hatte jetzt auf einmal wieder einen Sinn und dieser Sinn bestand ausgerechnet in dem, was er ohnehin tun wollte: zu Chihiro zu gehen und sie zu beschützen. "Warum hat mir das denn keiner ... Und Chihiro hat doch auch Nichts gemerkt!" "Haku, beruhige dich. Ich denke, du solltest jetzt ein Stück Kuchen essen", sagte Zeniba verständnisvoll, bevor sie aufstand, um das Gebäck zuzubereiten. Innerhalb nur weniger Minuten hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes aus den Zutaten eine herrliche Sahnetorte gezaubert, die sie Haku vor die Nase setzte. Dieser starrte den Kuchen ungläubig an. "Was soll das, Frau Zeniba, ich habe keinen Hunger. Ich will jetzt nur noch möglichst schnell zu ihr." "Na, mein Junge, an das Essen solltest du dich gewöhnen", meinte Zeniba leicht spöttisch. "Ich habe davon gehört, dass insbesondere Flussgötter nur wenig essen, weil sie ja genügend Energie aus ihrem Fluss bekommen. Aber was glaubst du, wo die Energie herkommt, die du jetzt zum Leben brauchst? Von Chihiro! Willst du vielleicht, dass Chihiro immer für dich mitessen muss? Schau dich doch nur an, wie dünn du bist. Chihiro müsste genauso dünn sein, wie du!" Ungestüm schnappte sich Haku eine Gabel, um den Kuchen in sich hinein zu schaufeln, doch hatte er schon Mühe, überhaupt das erste Kuchenstück herunter zu bekommen. Das lag daran, dass er die Jahre im Bergwerk nur sehr wenig gegessen hatte und seit einer Woche überhaupt nichts, sodass Nichts mehr in seinen Magen hineinpassen wollte. Vorher, als Flussgott, hatte er sowieso nie etwas gegessen; es war einfach nicht notwendig gewesen. Während Haku nun an dem Kuchenstück arbeitete, überlegte Zeniba weiter: "Lass uns mal darüber nachdenken, was das Implikationen hat, diese Verbindung zwischen dir und dem Mädchen. Chihiro jetzt ist also die Trägerin deiner Lebenskraft, der Lebenskraft, an die auch deine magischen Fähigkeiten gebunden sind. Daher sollte sie im Prinzip über dieselbe Zauberkraft verfügen, wie du. Möchtest du noch ein Kuchenstück?" Mit großen Augen glotzte Haku verzweifelt auf seinen gerade mühsam geleerten Teller. Noch ein Stück Kuchen? Er war jetzt pappsatt, doch eingedenk Chihiros mutmaßlicher Nahrungsmangels nickte er eifrig. Nachdem Zeniba ihm ein weiteres Stück auf den Teller platziert hatte, fuhr sie fort: "Deine Drachenlebenskraft sollte sie auch immun gegen nahezu jede Krankheit machen, ebenso wie sie für eine schnelle Wundheilung sorgen sollte." Sie schenkte sich eine weitere Tasse Tee ein, bevor sie weitermachte. "Wenn ich es so recht überlege, glaube ich jetzt auch verstanden zu haben, wie Chihiro mit ihren Eltern zusammen überhaupt in die Geisterwelt gelangen konnte. Das Tor muss sie, mit deiner Lebenskraft in sich, für einen Gott gehalten und sie deshalb zusammen mit ihren Eltern passieren lassen haben. Es passt alles zusammen. Da Chihiro beim Durchqueren des Tors sich bestimmt kein vorgestellt hatte, hat das Tor vermutlich die Verbindung zwischen euch erkannt und sie dorthin gebracht, wo du dich gerade aufhieltest: zum Badehaus meiner Schwester. Dass Chihiro dort auftauchte, war also letzten Endes kein Zufall!" In diesem Augenblick durchzuckte Haku eine Idee. Wenn das bei Chihiro funktionierte, warum nicht auch bei ihm? "Frau Zeniba. Wenn ich nun ein Tor in die Menschenwelt passieren würde, ohne mir ein Ziel vorzustellen, könnte es dann sein, dass mich das Tor ebenfalls in Chihiros Nähe bringt?", fragte er deshalb hoffnungsvoll. "Nun ja, das ist anzunehmen", meinte Zeniba, nach einer kurzen Denkpause, "nur ergibt sich hier ein weiteres Problem. Wenn jemand ein Tor in die Menschenwelt ohne Zielangabe benutzt, wird ein Gedächtnislöschzauber aktiv, der vermutlich auch das Gedächtnis eines Gottes beeinträchtigt. Der Zauber wird jedoch erst aktiv, sobald man den unmittelbaren Bereich des Tores verlässt. Du könntest also hindurchgehen, dir merken, wo du herauskommst, zurückgehen und dann noch einmal gezielt dorthin steuern. So könntest du den Löschzauber umgehen. Ja, das müsste funktionieren." "Dann wäre es ja ganz einfach, Chihiro zu finden. Nur durch das Tor gehen und an nichts denken ... schon bin ich bei ihr", jubelte Haku, Zeniba vor Freude anstrahlend. "Nur Haku, so einfach ist das leider nicht. Vielleicht ist Chihiro mitten aus einer der Riesenstädte der Menschen gekommen. Aus Tokyo, zum Beispiel", bremste Zeniba seinen Überschwang. "Wusstet du, dass in Tokyo und Umgebung mehr als 30 Millionen Menschen leben? Es ist die größte Stadt der Welt. Und in ganz Japan leben fast 130 Millionen Menschen." So rasch, wie sie gekommen war, verflog nun seine Hoffnung auf eine einfache Möglichkeit, Chihiro zu finden und vor der möglichen Größenordnung seines Problems wurde ihm bang. "Kann man denn da nichts machen? Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit, Chihiro dort in der Menschenwelt zu orten. Sie haben ihr doch diesen Talisman gegeben ..." "Hm ja, möglicherweise geht das. Doch müssen wir uns auch um das Problem kümmern, dass du nicht in der Lage sein wirst, deine physische Gestalt beizubehalten, sobald du die Geisterwelt verlassen hast. Dein Körper wird sich auflösen, sodass nur noch dein geisterhaftes Selbst übrig bleiben wird", gab Zeniba zusätzlich zu bedenken. "Erst, wenn du Chihiro berührst, wirst du dich wieder verwandeln und nur in ihrer Nähe deine Gestalt beibehalten können." "Ich weiß, sonst wäre ich auch nicht zuerst zu ihnen gekommen", sagte Haku leise. "Es wird genauso sein, wie damals, als ich meinen Fluss verloren habe. Ohne Augen und Ohren bin ich dann auf meine magischen Sinne reduziert, die in der Menschenwelt kaum von Nutzen sind, weil Magie dort so schlecht funktioniert." "Das liegt daran, weil in der Welt der Menschen die Dinge viel, ... äh, realer sind, als hier in der Geisterwelt. Man benötigt einfach riesige Energiemengen, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen", erklärte Zeniba. "Hier in der Geisterwelt, funktioniert die Magie ja einfach so." Zur Untermalung ihrer Aussage schnippte sie mit den Fingern, woraufhin sich die Torte in einen Apfelkuchen verwandelte. "Hinzu kommt, dass das, was die menschlichen Wissenschaftler Raumzeit nennen, magische Schwingungen nur sehr schlecht überträgt. Du wirst dich immer in einem Umkreis von vielleicht 100 bis maximal 200 Metern um Chihiro aufhalten müssen, sonst wird das Energieband zwischen dir und dem Mädchen zu schwach, als dass du deinen Körper erhalten könntest", erläuterte sie weiter. "Einzig die Tatsache, dass die Barriere zwischen dieser und der anderen Welt nur sehr dünn ist und somit die Energie von ihr problemlos in diese Welt übertreten kann, wo sie fast ohne Widerstand fließt, sorgt dafür, dass du hier ausreichend mit Lebenskraft versorgt wirst. Aber lassen wir das, ich gleite ein wenig zu sehr in die Theorie ab." Dieser kurze, beiläufige Exkurs Zenibas machte Haku wieder einmal klar, wie wenig er immer noch über Magie wusste und was Yubaba ihn alles nicht gelehrt hatte. "Das bedeutet also, mein Hauptproblem ist immer noch, Chihiro zu finden", stellte Haku sachlich fest. "Wenn ich in ihrer Nähe bin, hat sich das andere Problem ja wohl erledigt." "Du hast Recht, wir müssen deine Chihiro jetzt nur noch aufspüren. Ich schätze am einfachsten würde es sein, es auf direktem Weg zu versuchen. Die Menschen haben nämlich so genannte Telefonbücher, in denen sie ihre Adressen und eigenartige Zahlenkombinationen hinterlegen, um sich gegenseitig zu finden", bestätigte Zeniba. "Hach, aber ich fürchte ohne Körper wirst du diese Telefonbücher kaum benutzen können. Da Chihiro in ihrem Alter vermutlich in eine der Schulen der Menschen geht, könnte man zum Beispiel alle diese Schulen in der Umgebung um das Tor absuchen, an dem du herauskommst. Das denke ich, wäre eine einigermassen vielversprechende Taktik. ... Nein, um es ehrlich zu sagen, es wäre reines Glück, das Mädchen auf diese Weise zu finden. Wir werden wohl auf deine Idee mit dem Talisman zurückkommen müssen." Zeniba stand von der Bank auf, öffnete die kleine Truhe neben der Eingangstür, aus der sie eine kleine hölzerne Schatulle herausholte, welches sich als ein Nähkästchen herausstellte. Aus diesem entnahm sie eine Garnrolle, auf der nur noch ein wenig Garn aufgewickelt war, die sie vor Haku auf den Tisch stellte. "Dies ist der Rest des Garns, welches Boh, der Yu-Vogel, das Ohngesicht und meine Wenigkeit vor drei Jahren gesponnen haben, um daraus jenen Talisman Form eines Haarbandes für Chihiro zu machen, von dem sie dir erzählt hat", erklärte sie freundlich. "Durch die Mitwirkung von Boh und insbesondere des Ohngesichts, ist der Zauber, den wir in das Garn hineingewoben haben, dann sehr stark geworden, stärker als ich eigentlich beabsichtigt hatte. So stark, denke ich, dass man aus diesem Rest tatsächlich eine Art Kompass machen könnte, der die Richtung zu Chihiro, beziehungsweise zum Talisman anzeigt, zumindest wenn man bis auf ein paar Kilometer an sie herangekommen ist." Mit großen Augen schaute Haku auf das unscheinbare, beschfarbene Garn. "Es wäre wundervoll, wenn das wirklich funktionieren würde. Chihiro hat mir von dem Haarband erzählt, und ich habe auf dem Rückflug damals die Kraft gespürt, die davon ausging. Dieser Talisman, sagen sie, warum haben sie ihn Chihiro gegeben?" "Ja warum habe ich ihn ihr gegeben. Ich konnte ihr damals nicht direkt helfen, weil sie bei meiner Schwester unter Vertrag war, also habe ich ihr den Talisman gegeben, damit Yubaba sie nicht einfach so in ein Tier oder etwas anderes verwandeln, nur um ihre Macht auszukosten", seufzte Zeniba. "Trotzdem haben wir immer noch ein Problem", fuhr sie dann fort. "Wenn dein Körper sich in der Menschenwelt auflöst, dann kannst du diesen Kompass nicht halten. Du kannst ihn also nur in unmittelbarer Nähe des Torausganges benutzen, solange das Tor geöffnet ist. Solange es nämlich noch offen ist, durchdringen sich ihre und unsere Welten teilweise, sodass du deine physische Gestalt beibehalten und den Kompass benutzen kannst. Wenn du dort aber keinen Ausschlag bekommst, ist sie nicht in der Nähe und wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen." "Also gut, lassen sie mich zusammenfassen", sagte Haku wild entschlossen. "Ich muss durch ein Tor in die Menschenwelt gehen, ohne an ein Ziel zu denken. Wenn wir mit unserer Vermutung richtig liegen, sollte mich das Tor dann in die Nähe von Chihiro bringen, weil es die Verbindung zwischen uns erkennt. Dort soll ich mir den Ausgang einprägen, um dann sofort durch das Tor in die Geisterwelt zurückzukehren, sodass der Gedächtnislöschzauber nicht aktiv wird. Dann muss ich erneut das Tor benutzen, diesmal mit dem Ziel im Kopf, welches ich mir zuvor gemerkt habe. Nun muss ich, ohne den Torausgang ganz zu verlassen, damit sich mein Körper nicht auflöst, den Kompass verwenden und mir die Richtung merken, in die er zeigt, bevor ich dann diese Richtung in gerader Linie nach Chihiro absuchen kann." "So in etwa sollte das gehen", pflichtete Zeniba, die aufmerksam zugehört hatte, ihm bei. "Das Ganze hört sich doch ziemlich verrückt an, wenn ich ehrlich bin. Tatsächlich würde es mich wundern, sollte das wirklich funktionieren. Wer weiß denn, ob sie das Haarband noch hat? Trotzdem, ein Versuch kann ja nicht schaden." Damit begann sie, aus dem Garnrest kunstvoll eine kurze Schnur zu flechten, welche sie in ein kurzes hohles Bambussegment applizierte, dass sie an einem Faden aufhing. Weil das Flechten jedoch einige Zeit in Anspruch nahm, sah sich Haku derweil neugierig die Bücher an, die das Ohngesicht vorhin in Zenibas Haus getragen hatte und die nun einen Stapel auf dem Tisch rechts neben ihm bildeten. Das oberste Buch, es war klein, mit sandgrauem Einband, ziemlich unscheinbar und abgegriffen, hatte einen Titel, der mit Romajis in einer Sprache geschrieben war, die Haku nicht kannte. Doch zumindest den Namen des Autors konnte er entziffern: "Erich von Däniken". Da er mit dem Buch nicht viel anfangen konnte, legte er es zur Seite, sich dem nächsten Werk zuwendend, welches den vielversprechenden Titel "Handbuch der Quantenmagie" trug. "Dieses Buch hat mich auf die Idee gebracht", sagte Zeniba plötzlich, während sie den Faden flocht. "Auf welche Idee? Dieses Buch?", fragte Haku, indem er auf das kleine sandgraue Buch deutete. "Ja genau. Das Buch!", bestätige die Hexe. "Ich meine vorhin, als ich von dem Kongress über angewandte Zauberkunst zurückgekehrt bin. Du hast doch meine Ankunft beobachtet, nicht wahr? Hast du dich nicht gefragt, als was ich da gelandet bin? Die Menschen nennen so was ein UFO. Die Idee habe ich aus diesem interessanten Buch von diesem Herrn v. Däniken, einem Schweizer, aber manchmal frage ich mich, wie die Menschen mit derartig abstrusen Schlussfolgerungen eine so fortgeschrittene Zivilisation errichten konnten. Hah, wenn die wüssten!" Haku verstand zwar nicht ganz, was Zeniba meinte, dazu würde er wohl erst schweizerisch lernen und dann das Buch lesen müssen, aber neugierig geworden nahm er es erneut in die Hand, um ein wenig darin zu blättern und sich die Abbildungen anzusehen. Eine davon zeigte tatsächlich ein solches Gebilde, wie das, in welches Zeniba sich für die Reise verwandelt hatte. Diese hatte mittlerweile ihre Arbeit fertig gestellt. Probeweise hielt sie den "Chihiro-Kompass" an dem Faden vor sich in die Luft. Nun nahm sie das letzte, nur einen Zentimeter lange Garnstück, es um den "Kompass" herumbewegend, der dem Garnstück wie einem Magneten immer sauber folgte. Das Ende des Holzstücks, welches auf den Garnrest zeigte, markierte sie mit etwas roter Farbe, damit Haku wusste, in welcher Richtung er zu suchen hatte. "Hier, es ist fertig" sagte sie schließlich, es vor Haku, der immer noch in dem kleinen Buch blätterte, auf den Tisch legen. Dieser legte das Buch sorgfältig auf den Stapel zurück, nahm den "Kompass" in die Hand, ihn interessiert untersuchend. "Es sieht völlig unscheinbar aus", bemerkte er, das Bambusstück träumerisch hin und her kreisen lassend. "Haku, bevor du dich jetzt aufmachst, sollte ich dich noch einmal darauf hinweisen, dass du gesucht wirst, zumindest du in deiner Drachengestalt", ermahnte ich Zeniba, die seine Gedankenverlorenheit bemerkt hatte. "Vor nur einem Monat war jemand von der Geheimpolizei hier und hat mir viele unangenehme Fragen zu meiner Schwester und eben auch zu dir gestellt. Ich kann dir versichern, dass mir diese Person richtig Angst eingeflößt hat und mir macht normalerweise niemand so schnell Angst. Fast hatte ich den Eindruck ... Aber nein, es gibt ja keine Großdämonen mehr. Jedenfalls solltest du dich hüten, dich in Drachengestalt sehen zu lassen, auch in der Menschenwelt. Man weiß nie, von wem man gesehen wird. Vielleicht möchtest du ja noch ein paar Tage bleiben und dich ausruhen?" "Nein, ich möchte mich lieber sofort auf den Weg machen", lehnte Haku ihr Angebot voller Ungeduld ab; er wollte jetzt nur noch so schnell wie möglich zu Chihiro. "Wenn sie mich in der Geisterwelt suchen, bin ich wohl in der anderen Welt besser aufgehoben. Zeigen sie mir doch bitte, Frau Zeniba, wo sich das nächste Tor in der Umgebung befindet." "Na, na, na, du bist ja vielleicht stürmisch", sagte Zeniba nachsichtig. "Willst du dich denn nicht ausruhen. So wie du aussiehst, machst du auf mich nicht den Eindruck, als würde es dir besonders gut gehen und an deinem Aufzug müssen wir auch etwas machen. So kannst du dich jedenfalls nirgendwo sehen lassen." "Nein bitte, Frau Zeniba", entgegnete Haku. "Wie ich aussehe, ist mir egal, und ausgeruht habe ich mich schon in der Woche, die ich hier auf sie gewartet habe. Es geht mir wirklich gut, bitte glauben sie mir doch. Wenn sie mir das Tor nicht zeigen möchten, dann will ich mich herzlich bei ihnen für alles bedanken und werde mir selber ein Tor suchen." "Haku, jetzt stell dir doch mal vor, du tauchst in diesen Sachen bei Chihiro auf", versuchte Zeniba es ihm auf andere Weise klar zu machen. "Als du vorhin hier aufgetaucht bist, habe ich dich zuerst für eine Art Bettler gehalten und weil du so jung und ausgemergelt warst, hatte ich sofort Mitleid mit dir. Wenn du zu Chihiro gehst, wird es ihr vielleicht egal sein, aber auf Dauer wirst du dein Vorhandensein ihrer Umgebung nicht verheimlichen können. Was werden ihre Eltern von dir halten? Du wirst dich irgendwie mit Chihiros Leben arrangieren müssen, wenn du bei ihr bleiben willst, oder dich für immer verstecken müssen!" Das gab Haku zu denken. Bis jetzt hatte er immer nur vorgehabt, sein Versprechen gegenüber Chihiro zu halten, um danach zu sehen, wie es weitergehen konnte, um Torooru und den anderen aus dem Bergwerk zu helfen und Yubaba in ihre Schranken zu verweisen. Sein eigenes Leben war ihm dabei zuletzt völlig gleichgültig gewesen, doch jetzt war die Situation eine ganz andere. Sein Eigenes war gleichzeitig auch Chihiros Leben und das schon seit vielen, vielen Jahren. Schlagartig wurde ihm seine ganze Verantwortung bewusst, sodass ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief, als er an seinen Selbstmordversuch im Bergwerk zurückdachte und die anderen Gelegenheiten, bei denen er fast den Tod gefunden hatte. Wenn er damals umgekommen wäre, im selben Moment wäre auch Chihiro gestorben, denn sie beide zusammen teilten sich eine Lebenskraft, vereint im Leben, wie im Tod. Machte das Chihiro für ihn nicht zu so etwas Ähnlichem, wie zu seiner Schwester, oder war er doch mehr ihr persönlicher Schutzgott? Je mehr er darüber nachdachte, desto verwirrender wurde das alles für ihn. Seine Lebenskraft steckte in Chihiro, also hatte sie das Sagen und es war seine Pflicht, ihr zu gehorchen, sie zu beschützen, was auch einschloss, sein eigenes Leben zu erhalten, um jeden Preis. Aber war es dann tatsächlich Liebe, die seine Sehnsucht nach dem Mädchen erklärte, oder einfach nur der Instinkt eines Naturgottes, seine Wohnstatt zu beschützen. Wenn es nun gar keine Liebe war, wenn Chihiro ihn nicht akzeptierte, was dann? Haku kam zu dem Schluss, dass das Nichts ändern würde. Er würde bei ihr sein müssen, so lange sie lebte, und wenn sie starb, würde auch er vergehen. "Also gut, Frau Zeniba", sagte er deshalb, "was meinen sie, sollten wir mit meiner Kleidung machen, damit ich für die Menschen akzeptabel bin?" "Du solltet auf jeden Fall etwas anziehen, womit du dich unauffällig unter ihnen bewegen kannst", sagte Zeniba. "Junge Menschen tragen heutzutage häufig etwas, dass man Jeans und T-Shirt nennt. Mal schauen, ob ich nicht irgendwo ein Bild davon in meiner Bibliothek davon habe." Sie ging durch die Tür neben der Küchennische in einen Nebenraum, in welchem sich anscheinend diese Bibliothek befand, wie Haku an den Regalen darin erkennen konnte, ging kurz die Regalzeilen durch, bis sie zielstrebig ein Buch herausholte. Dann kehrte sie zurück an den Küchentisch, schlug das Buch auf einer bestimmten Seite auf und legte es vor Haku offen hin. "Hier, sieh mal", meinte sie zu Haku, auf das großformatige farbige Foto deutend. "So scheinen sich junge Menschen momentan anzuziehen." Neugierig nahm Haku das Bild in Augenschein, welches einen jungen Mann zeigte, der rosa gefärbte Haare hatte, die ihm wild vom Kopf abstanden, wie die Stacheln eines Igels. Durch die Augenbraue hatte der Junge einen Ring, ebenso wie durch die Unterlippe und seine Ohrläppchen. Die Kleidung, die der Junge trug, waren ein weißes T-Shirt, in welches wie zufällig mehrere Löcher hineingeschnitten waren, und eine in Oliv- und Grüntönen gescheckte Hose mit etlichen aufgesetzten Taschen, die an den Knien ebenfalls aufgerissen war. Was für Schuhe er trug, war leider nicht zu erkennen. Nachdem er ein wenig in dem Buch geblättert hatte, die mehr oder weniger fantasievollen Outfits der abgebildeten jungen Menschen betrachtend, kam er zu dem Schluss, dass er am liebsten einen Sommerkimono oder wieder einen Suikan, wie im Badehaus tragen wollte. Aber was er selbst wollte, war jetzt nicht wichtig, denn die Kleidung, die er jetzt brauchte, musste dazu geeignet sein, sich unauffällig unter Menschen zu bewegen. "Meinen sie wirklich, dass ich so etwas tragen sollte, Frau Zeniba?", fragte er ein wenig unsicher, "ich meine, was der Junge das trägt und wie er sich zurechtgemacht hat, erscheint mir etwas eigenartig. Und sollte ich mir auch die Haare bunt zaubern und die Ringe durch mein Gesicht bohren?" "Nein, nein, Haku", gab die Hexe zurück, "ich dachte nur, wir könnten die Kleidung auf diesem Bild als Vorlage, für deine Kleider verwenden. Ich gebe zu, was die jungen Menschen heute so alles Tragen ist, naja, gewöhnungsbedürftig, aber wir müssen ja auch nicht alles Nachahmen. Deine unfreiwillig asymmetrische Haartracht hat mich allerdings auf den Gedanken gebracht, in genau diesem Buch nachzuschauen." Sie tippte kurz gegen Hakus umgenähte Jacke und seine Hose, die sich sofort in exakte Kopien der dargestellten Kleider verwandelten, inklusive aller Löcher und Flecken. "Na, das sieht doch nicht so schlecht aus", meinte sie und beäugte Haku kritisch von allen Seiten. "Es steht dir jedenfalls besser als dem Jungen auf dem Foto, aber ich habe den berechtigten Verdacht, dass du in jeder Kleidung besser aussiehst, als der. Wenn du willst, machen wir uns jetzt auf den Weg zum Tor." Haku stand auf, um an sich herunterzublicken. Die Kleidung fühlte sich eigenartig an, ein Gefühl des Unwohlseins bei ihm erzeugend. Wenn junge Menschen so etwas trugen, dann musste es wohl sein. Jedenfalls hatten die Kinder, die früher an seinen Ufern gebadet und gespielt hatten, immer Anderes angehabt, leichte Sommerkleider, wie sie auch Chihiro getragen hatte, und wenn sie sich ausgezogen hatten, Badesachen oder manchmal auch gar nichts. Probehalber bewegte er sich in den Sachen, zu dem Schluss kommend, dass ihn die Hose, obwohl sie nicht eng anlag, weil er selbst so mager war, ihn in seiner Bewegungsfreiheit einschränkte. Doch was sollte es. Wenn er in der Menschenwelt nicht auffallen wollte, würde er sich an diese Kleidung gewöhnen müssen. "Also gut, Frau Zeniba", meinte er letztendlich, "ich glaube, wir können jetzt gehen." Bevor sie das Haus verließen, instruierte Zeniba noch schnell das Ohngesicht, bevor sie das Haus als Ganzes verschwinden ließ, ohne jedoch diesmal den Ablenkungszauber zu aktivieren. Das Ohngesicht passte ja auf das Haus auf und sie würde ja auch nicht lange wegbleiben. Über den Feldern hatte sich durch den Regen in der Nacht ein leichter Bodennebel gebildet, der aber bald von den Strahlen der gerade aufgehenden Sonne aufgelöst werden würde. Unter dem lauten Gezwitscher der Vögel machten sie sich auf den Weg in den Wald hinein, folgten kurz dem Pfad zur Haltestelle der Eisenbahnlinie, um dann links abzubiegen und tiefer in den Wald vorzudringen. Nach etwa einem halben Kilometer erreichten sie eine kleine Lichtung mit einem riesenhaften Kampferbaum in der Mitte, der den umgebenden Wald Haushoch überragte. Genau auf diesen Baum marschierte Zeniba zielstrebig zu, um ihn dann, am Fuß des Baumes angelangt, zu umrunden. Schon wurde das Ziel ihres Ausflugs sichtbar, denn der Baum hatte, was von der Seite, aus der sie die Lichtung betreten hatten, zunächst nicht sichtbar gewesen war, ein großes Loch in seinem Stamm, welches eine tiefe Höhlung bildete, in der selbst Torooru aufrecht hätte stehen können. "Hier, Haku, das ist das Tor in die Menschenwelt", sagte Zeniba auf die Öffnung im Stamm weisend. "Ich werde hier eine Weile warten, falls du auf der anderen Seite nichts erreichst. Und nun geh zu deiner Chihiro." "Vielen Dank für ihre Hilfe und ihr Verständnis, verehrte Frau Zeniba", erwiderte Haku, indem er sich vor der alten Hexe verneigte. Damit wandte er sich der Öffnung zu, sich bereitmachend, für den Übergang. "Warte noch einen Moment", sagte Zeniba dann mit einem Male. "Irgendwie fühle ich mich mitverantwortlich für die Taten meiner Schwester und wie wenig sie dir über Magie beigebracht hat, ist einfach unverantwortlich. Deshalb biete ich dir an, bei mir die Magie zu erlernen, als mein Schüler und ohne jede Verpflichtung. Ach ja, und Chihiro als meiner Schülerin selbstverständlich, falls du sie findest. Überleg es dir, denn ich verstehe mindestens ebenso viel von Magie, wie meine Schwester." Haku nickte ihr zum Zeichen des Verständnisses kurz zu, bevor er seinen Geist leerte, um dem Tor beim Durchgang kein Ziel zu geben. Dann betrat er entschlossen vorangehend das Innere des Baumes, welches sich plötzlich immer weiter tunnelartig in die Tiefe weitete und dessen Wände nach und nach von Hölzernen in Steinerne wechselten. Das andere Ende des Tunnels erreicht, hütete Haku sich davor, den Durchgang zu verlassen, damit das Tor sich nicht verschloss. Bereits jetzt verspürte er eine lähmende Schwäche, die durch die Magieunverträglichkeit dieser Welt verursacht wurde. Schnell prägte er sich deshalb den Anblick ein, der sich ihm nun darbot, den Anblick eines Laubbedeckten und friedlichen, gepflasterten Waldwegs, und dem markanten Grinsenden, doppelgesichtigen Steingeist direkt vor ihm, mit dem das Tor in der Menschenwelt gekennzeichnet wurde. Zur Probe holte er dann noch Zenibas "Kompass" hervor, um zu sehen, ob Chihiro, bzw. ihr Talisman sich irgendwo in der Nähe befand. Langsam, nervtötend langsam drehte sich das Bambusstöckchen an dem Faden in eine bestimmte Richtung, doch das konnte ja auch nur Zufall sein. Er verdrillte deshalb den Faden ein wenig, gab dem Stöckchen einen kleinen Stups, sodass es rasch um sich selbst rotierte. Mit Spannung verfolgte Haku, wie sich die Bewegung des Kompasses verlangsamte, schließlich zum Stillstand kam, um wieder in dieselbe Richtung zu weisen wie zuvor. Was er auch ausprobierte, immer zeigte er nach einiger Zeit in diese Richtung, etwas schräg nach links. Die Aufregung darüber ließ Haku seine Vorsicht vergessen und er trat hinaus aus dem Torbogen auf das Kopfsteinpflaster des Waldweges. Im selben Moment schloss sich das Dimensionstor, die Verbindung zur Geisterwelt wurde gekappt und Haku wurde mit einem Mal ganz schwindelig. Erschrocken blickte er an sich herunter, um festzustellen, dass seine Füße bereits verschwunden waren und auch seine Hände wurden bereits durchsichtig. Nur wenige Augenblicke später hatte er seinen Körper komplett verloren, sodass der Kompass, nun nicht mehr von einer Hand gehalten, kurz vor dem grinsenden Steingeist zu Boden fiel. Nur auf seine magischen Sinne reduziert, denn Augen, Ohren oder jedwede andere Sinnesorgane besaß er nun nicht mehr, versuchte er verzweifelt sich zu orientieren und einen klaren Gedanken zu fassen. Er musste sofort wieder zurück in die Geisterwelt, sonst würde bald der Gedächtnislöschzauber bei ihm wirksam werden, fuhr es ihm siedend heiß in den Sinn. Am Rande seines Wahrnehmungsradius', der vielleicht gerade fünf Meter groß war, konnte er noch so gerade den Eingang zum Tunnel des Tors ausmachen, auf welchen er sofort zuschwebte. In seiner Panik und Verwirrung stellte er sich beim Durchqueren des Tors allerdings das Ziel vor, welches ihm am vertrautesten war und deshalb als Erstes in den Sinn kam: den Wartesaal von Yubabas Fährstation. Dort angelangt nahm er sofort wieder seine menschliche Gestalt an, bevor er sich auf eine der Bänke setzte, um seiner Aufregung wieder Herr zu werden. Er hatte, in dem Moment als er festgestellt hatte, dass Chihiro in der Nähe sein könnte, einfach alles vergessen, was Zeniba ihm gesagt hatte und er hatte auch vergessen, wie unangenehm es war, ohne Gestalt zu sein. Diese Schwäche, Hilflosigkeit und fast völlige Blindheit, die jede Orientierung stark erschwerte. Wie hatte er das nur verdrängen können, wo er es doch, nachdem sein Fluss zugeschüttet worden war, fast zwei Monate hatte erdulden müssen, bevor er endlich einen Zugang zur Geisterwelt gefunden hatte. Doch es half nichts, wenn er zu Chihiro wollte, dann würde er es erneut durchstehen müssen. Entschlossen stand Haku wieder auf, ging energisch auf den mittleren Durchgang zu, sich auf das Bild konzentrieren, welches er vom Ausgang auf Chihiros Seite noch frisch im Kopf hatte. Wieder dort angelangt, blickte er kurz auf den Kompass, der jetzt kaum von anderen Aststückchen zu unterscheiden im Laub vor dem Steingeist lag. Doch ein Versuch, den Kompass mit Magie zu ihm herüberschweben zu lassen, schlug wegen der erneut einsetzenden Schwäche fehl. Das Bambusstückchen wollte einfach nicht auf seinen Zauber reagieren. Bald sah Haku ein, dass es zwecklos war. An den Kompass konnte er jetzt nicht mehr herankommen, also würde er sich auf die Erinnerung an vorhin verlassen müssen, als er den Kompass noch in der Hand gehabt hatte. Im Tunnelausgang stehend, drehte er sich nach links, bis er genau in die Richtung blickte, in die der Kompass vorhin gezeigt hatte, um dann ein paar Schritte auf das Kopfsteinpflaster hinaus zu machen. Schon setzte der Auflöseprozess erneut ein, doch diesmal war Haku darauf vorbereitet. Als er seine physische Gestalt vollständig verloren hatte, begann er nun in gerader Linie weiter zu schweben, in der Hoffnung auf diese Weise das Mädchen, die Trägerin seiner Lebenskraft, in der Menschenwelt zu finden. Es stellte sich alsbald als schwierig heraus, einen geraden Weg durch den Wald zu nehmen, denn einige der Bäume, die auf seinem Pfad lagen, waren von närrischen Baumgeistern bewohnt, die ihn partout nicht vorbeilassen wollten. Diesen Bäumen auszuweichen und dann wieder die genaue Richtung zu finden war fast unmöglich, insbesondere da seine Wahrnehmung gerade einmal von einem Baum zum nächsten reichte. Nachdem er zweimal von vorne beginnen musste, weil er deswegen die Richtung verloren hatte, fand er einen Ausweg, indem er einfach über dem Wald hinwegschwebte. Auf diese Weise gelangte er nach vielleicht einem Kilometer an den Waldrand, an den sich eine abschüssige Wiese anschloss. Hier hielt Haku kurz inne, um sich zu orientieren, doch er konnte nichts in seiner unmittelbaren Nähe wahrnehmen, ebenso wenig, wie er in der Lage war, die Größe der Wiese auszumachen. Das Einzige was er mit Sicherheit sagen konnte war, dass die Wiese sich über mehr als als fünf Meter erstreckte. Sein Gefühl allerdings sagte ihm, da er bereits über einen Kilometer weit gekommen war, dass Chihiro nicht mehr weit sein konnte. Weiter seiner Richtung folgend, schwebte er nun über die Wiese, bis er auf eine kleine Straße traf, auf deren gegenüberliegender Seite sich ein Haus befand, welches er aufgeregt zu untersuchen begann. Immerhin fand er den Briefkasten des Hauses, wo er den Namen der Bewohner lesen konnte: Abe. Chihiro trug den Nachnamen Ogino, also schien sie hier nicht zu wohnen. Etwas enttäuscht schwebte Haku zum Nachbarhaus rechts daneben weiter, wo er ebenfalls den Namen las: Shikishima. Auch hier wohnte Chihiro offenbar nicht und so machte Haku weiter, bis er das Ende der Häuserzeile erreicht hatte, dass von einer Querstraße begrenzt wurde. In keinem der Häuser wohnte eine Familie Ogino. Verzweifelt wünschte sich Haku, den Kompass benutzen zu können. Doch möglicherweise war sie ja bei jemandem zu Besuch, bei jemandem der nicht Ogino hieß. Um das festzustellen, würde er jedes dieser Häuser einzeln durchsuchen müssen. Mit einem geistigen Seufzer schwebte Haku zum Haus der Abes zurück, um sich dessen Bewohner genauer anzusehen. Hier bemerkte er dann, dass sich links von diesem Haus sich noch ein weiteres Gebäude befand, bei welchem er noch nicht nachgesehen hatte. Gerade wollte er auf den Briefkasten dieses Anwesens zuschweben, als die Haustür aufging. "Schatz, willst du denn gar nichts zu essen mitnehmen", drang eine weibliche Stimme heraus, die Haku merkwürdig vertraut vorkam. "Nein Mama, ich habe keinen Hunger mehr", erwiderte Chihiro, "aber wenn es noch lange dauert, verpasse ich den Schulbus! Auf Wiedersehen, Mama. Bis heute Abend. Du weißt ja, Ayaka hat nach der Schule noch ein Ligaspiel und da muss ich hin." Damit trat Chihiro rückwärts aus der Tür heraus und wurde für Haku sichtbar. Gerade zwei Meter von ihm entfernt stand sie in der Eingangstür ihres Hauses und ihr ganzer Körper strahlte so hell vor magischer Energie, dass er hätte blinzeln müssen, wenn er Augen gehabt hätte. Mit ihren Abschiedworten, die Haku nicht direkt gehört, sondern mehr als geistige Schwingungen vernommen hatte, wirbelte Chihiro herum, um den Gehweg von der Tür zur Grundstücksgrenze herunterzustürmen, genau durch Haku hindurch, der dort unsichtbar schwebte. Das Gefühl, das er in diesem kurzen Moment der Berührung mit Chihiro hatte, war unbeschreiblich intensiv, als würde auf einmal alle Schwäche und Hilflosigkeit von ihm abfallen. Er kannte dieses Gefühl, doch es schien lange vergessen. Es war das Gefühl, das er früher immer gehabt hatte, wenn er in seinem Fluss gewesen war, ein Gefühl unbeschreiblichen Glücks, das für immer verloren schien. Doch bei Chihiro war es anders, irgendwie noch viel lebendiger, schöner als er es in Erinnerung hatte. Nachdem das Mädchen durch ihn hindurchgerannt war, hielt es plötzlich inne, sich verwirrt umblickend, als hätte es etwas gespürt. "Hallo, ist da jemand?", rief sie verwirrt. Doch dann besann sie sich wieder und rannte weiter zu diesem Schuldings. Haku überlegte, ob er ihr folgen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Er wollte Chihiro begegnen, wenn sie alleine war, sodass er sich entschloss Haku zu warten, bis sie aus dieser Schule zurückkam. Kapitel 16: Chihiro und Kohaku, Teil 2 -------------------------------------- Chihiro und Kohaku, Teil 2 Die ganze Zeit über, die Busfahrt zur Schule, die morgendliche Schulversammlung hindurch und auch den größten Teil der ersten Schulstunde, in der sie Matheunterricht hatte, ging Chihiro das merkwürdige, und doch so vertraute Gefühl nicht mehr aus dem Kopf, dass sie beim Verlassen des Hauses kurz gehabt hatte. Es beschäftigte sie so sehr, dass sie sich auf nichts anderes mehr konzentrieren, weder ihre Freunde richtig wahrnehmen, noch dem Unterricht folgen konnte, einzig in dem Versuch sich zu erinnern, was an dem Gefühl dermaßen vertraut gewesen war. Der Mathematiklehrer erläuterte gerade den Satz des Pythagoras an der Tafel, wozu er ein formatfüllendes, rechtwinkliges Dreieck mit der Kreide auf der dunkelgrünen Fläche platzieren wollte. Leider quietschte das Kreidestück dabei so sehr, dass es Chihiro aus ihren Gedanken riss und wohl bei der Hälfte aller anderen Schüler, eine Gänsehaut verursachte. Ayaka krümmte sich übertrieben unter dem unangenehmen Geräusch, wohingegen Ichiyo sich nichts anmerken ließ und emsig das Dreieck von der Tafel in sein Schulheft übertrug. Bei der Hypotenuse wurde es Chihiro zu viel und sie beschloss, etwas zu unternehmen. Dazu kam ihr eine Entdeckung zugute, die sie erst vor kurzem beim Ausprobieren ihrer magischen Fähigkeiten gemacht hatte. Einen ganzen Nachmittag hatte sie nämlich versucht, einen Kieselstein in eine Glasmurmel zu verwandeln, die sie beim Murmelspiel auf dem Schulhof verwenden wollte. Diese Umwandlung war ihr zwar nicht gelungen, so viel Mühe sie sich auch gegeben hatte, aber als sie nach einigen Stunden enttäuscht aufgeben und den Kiesel zu Seite schnippen wollte, zerplatzte der in einer Staubwolke. Nach einigem weiterem Experimentieren gelang es ihr, diesen Effekt konstant zu reproduzieren und hinterher sogar, den zu einem Häufchen zusammengeschobenen Staub gewissermassen festzubacken und in der Form des Häufchens zu fixieren. Genau das beschloss sie nun, an dem Kreidestück des Lehrers auszuprobieren. Dazu deutete sie mit dem Finger kurz auf die Kreide, während sie sich den notwendigen Vorgang vorstellte. Das Deuten mit dem Finger war zwar nicht unbedingt notwendig, um den Zauber auszuführen, aber es half, wie ihr Manami erklärt hatte, die Gedanken, und damit auch die Zauberkräfte, auf den zu behexenden Gegenstand zu fokussieren. Die Wirkung trat unmittelbar und drastisch ein. Eben noch zog der Lehrer, Herr Mochizuki, mit großem Elan sein kreischendes Kreidestück an dem großen Kunststofflineal entlang, welches er krampfhaft gegen die Tafel presste, um nicht abzurutschen, als plötzlich die Kreide in ihrer Papierhülle nachgab und als Pulver zu Boden rieselte. Da Herr Mochizuki die Kreide relativ stark gegen die Tafel gedrückt hatte, fasste er plötzlich ins Leere, prallte er mit der rechten Hand gegen das Lineal, welches er dadurch zur Seite schob, bis er damit ebenfalls abrutschte und haltlos mit der Schulter gegen die Tafel taumelte. Überrascht fing er sich ab und nahm dann verwundert die mittlerweile leere Papierhülle des Kreidestücks in Augenschein. Anschließend begutachtete er noch sprachlos den Kreidestaub, der sich in einer dünnen Schicht auf den Fußboden gelegt hatte. Nachdem er sein Jackett unständlich von einigen weißen Flecken gesäubert hatte, nahm er achselzuckend ein neues Kreidestück aus der Schachtel auf dem Lehrerschreibtisch. Dann setzte er das Lineal erneut an, ohne weiter das Gemurmel der Schüler zu beachten, um seine Hypotenuse zu vollenden. Das neue Kreidestück gab allerdings ähnlich lästige Kratzgeräusche von sich, wie das zu Staub Gezauberte, sodass Chihiro, von ihrem Erfolg ermutigt, spontan einen weiteren Zauber von sich gab. Diesmal wendete sie den entdeckten Umkehrzauber an, der das Kreidestück so verfestigte, dass es die Härte von Marmor annahm. Ebenso unvermittelt, wie vorher das erste Kreidestück zerbröselt war, hörte das Neue nun auf, sich auf der Tafelfläche zu verteilen und einen Strich zu zeichnen. Aus dem Quietschen wurde dabei ein eher schrammendes Geräusch, das Chihiro erschreckte, denn sie wollte nicht, dass die Tafel beschädigt würde. Herr Mochizuki hörte mit dem Zeichnen auf, wobei er jetzt die Stirn kraus zog, während er die funktionsuntüchtige Kreide nachdenklich betrachtete. Gleichzeitig nahm die Unruhe in der Klasse für japanische Verhältnisse ungewöhnliche Ausmaße an. "Liebe Schüler", sagte er dann mit spürbarer Resignation, den die Situation war ihm sichtlich peinlich, "mit dieser Packung Kreide scheint etwas nicht zu stimmen. Ich muss wohl kurz in das Lehrerzimmer gehen und eine neue Packung holen." Damit verließ er mit seinem charakteristisch schlurfendem Schritt den Klassenraum. Erleichtert dass sich auf der Tafel zum Glück kein Kratzer abzeichnete, sackte Chihiro, ihren Kopf gedankenversunken mit den Händen stützend, auf ihr Schreibpult, um sich abermals auf die Empfindung vom Morgen zu konzentrieren. In diesem Moment wurde sie auch schon von Ayaka angestoßen. "Mensch Chihiro, was ist denn nur los mit dir?", zischte sie. "Den ganzen Morgen bist du schon so abwesend. Hast du das mit Herr Mochizuki denn gar nicht bemerkt? Das war doch zum Schießen komisch." Jetzt musste Chihiro lauthals losprusten, sodass Ayaka sie mit aufgerissenen Augen verstört anstarrte. Ob die es bemerkt hatte, fragte Chihiro sich dabei? Aber dass sie mit ihrer Zauberkraft das Missgeschick des Lehrers verursacht hatte, konnte sie Ayaka ja kaum sagen. Als ihr das in den Sinn, erstarb ihr Gelächter ebenso rasch, wie es ausgebrochen war. Jetzt bemerkte sie auch, dass die ganze Klasse zu ihr hinüberstarrte, mit Ausnahme von Ichiyo, der sich in sein Schulheft vergraben hatte. "Du entschuldige Ayaka", flüsterte sie beschämt, "ich bin wohl heute ein wenig Durcheinander. Vorhin ist mir was passiert ... du das hat mich abgelenkt ..." "Echt, was denn?", wollte Ayaka erfahren. "Das kann ich so genau nicht sagen", erwiderte Chihiro, der das Thema unangenehm war. "Aber das ist es ja, was mich so ablenkt, dass ich es nicht weiß." In diesem Moment öffnete sich die Tür und Herr Mochizuki kehrte zurück, eine frische Kreidepackung in der Hand. Das Getuschel der Schüler erstarb augenblicklich und Ayaka tat auf der Stelle, als studiere sie intensiv ihr Mathebuch. Am Nachmittag, gegen 16:30, hockten Chihiro und Ichiyo auf der kleinen Holztribüne des Fußballplatzes der Schule, um das zweite Ligaspiel der Saison zu verfolgen, gegen die Mädchenmannschaft der Mittelschule von Fukuji. Nach dem Fußballboom des vorangegangenen Jahres durch die WM hatte allerdings die Begeisterung der Mitschüler stark abgenommen. So saßen außer Chihiro und Ichiyo, die nur Ayaka zu liebe gekommen waren, gerade einmal 20 weitere Schüler auf der Tribüne, um die Schulmannschaft zu unterstützen. Nicht dass das Spiel besonders interessant gewesen wäre oder die Mannschaft eine explizite Unterstützung benötigt hätte. Dafür sorgte allein Ayaka, deren überdimensionale Adidas-Sporttasche sie bewachten. Gerade eben hatte diese das 11:0 geschossen, ebenso wie zuvor das 10:0, das 9:0, das 8:0 und all die anderen Tore vorher auch. Mit dem rechten Fuß lupfte Chihiro vorsichtig die Abdeckung der Sporttasche, um auf den Ball darin zu linsen, der unter der Autogrammkarte von Birgit Prinz hervorlugte, Ayakas neuestem Schatz. Den Ball allerdings, den Ayaka hütete als ihren Talisman wie den eigenen Augapfel. Es war der Kemari-Ball aus Hirschleder, den der Fußballgott Saidaimyojin Chihiro geschenkt und den sie dann an ihre fußballverrückte Freundin weitergereicht hatte, was sie wohl besser nicht hätte tun sollen. Seit sie den hatte, steigerten sich die Erfolge Ayakas als Stürmerin schier ins Unermessliche. Sie brauchte nur jenseits der Mittellinie den Ball irgendwie zu bekommen und auf das Tor der gegnerischen Mannschaft zu halten, schon landete die Lederkugel wie durch Zauberei im Netz. Nein, korrigierte Chihiro sich. Es war Zauberei! Nicht dass Chihiro den Eindruck hatte, dass Ayaka dadurch besser spielte, als früher. Eher spielte sie schlampiger und verließ sich einzig auf diese neue "Gabe". Doch sie traf und traf und traf und traf ... Oft hatte Chihiro überlegt, ob sie Ayaka den weißen Hirschlederball wieder wegnehmen sollte, doch ihre Freundin nahm die übernatürliche Treffergenauigkeit hin, als wäre sie gottgegeben (was sie ja in Wirklichkeit auch war) und sah darin keinen eigenen Verdienst, der sie zur Überheblichkeit hätte verleiten können. Stattdessen nutzte sie ihre Zuversicht, die anderen Mädchen der Mannschaft aufzumuntern. Das nützte jedoch nicht viel, denn Ayaka entschied die Spiele ohnehin alleine, egal, wie viel Mühe sich die Restmannschaft gab. Man gewann ja sowieso. Auf jeden Fall wurden die Ligaspiele dadurch sehr eintönig, was dem Zuspruch durch die Zuschauer nicht unbedingt gut tat. Besser gesagt, sowohl die Gegner, in Erwartung einer schmachvollen Niederlage, als auch die Fans der Schulmannschaft, in Aussicht auf die Vergeudung eines erholsamen Nachmitttages, enthielten sich der zunehmend unbeliebten Teilname an dem vorhersehbaren Ereignis. Die meisten anderen ihrer Mitschüler, die sich dennoch zum Spiel eingefunden hatten, verfolgten allerdings das Spiel. Einige machten Hausaufgaben, ein Junge hatte sich in ein Buch vertieft und eine Gruppe Mädchen spielte Karten. Einzig Ichiyo bildete hier scheinbar eine Ausnahme, so begeistert, wie er mit dem Spiel mitging, aber Chihiro hatte den begründeten Verdacht, dass er nicht der Mannschaft, sondern einzig Ayaka zujubelte. Endlich pfiff der Schiedsrichter das Spiel ab und die beiden Mannschaften versammelten sich, um einander die Hände zu geben. Einzig die gegnerische Torhüterin verweigerte Ayaka den Händedruck, sie gekränkt und herausfordernd anfunkelnd. Danach kam sie fröhlich winkend auf ihre Tribüne zugerannt, wurde aber am Aufgang von Kotaro Kamisaka abgefangen, dem Kapitän der Baseballmannschaft. Er war der beste Schüler der neunten Klasse, groß gewachsen und sah auch noch gut aus. Ayaka wurde richtig gehend verlegen, grinste dümmlich und scharrte mit den Füßen. Chihiro fand zwar auch, dass Kotaro gut aussah und bewunderte ihn für seine Treffsicherheit mit dem Schläger, das war jedoch schon alles. Die Hysterie jedenfalls, in die die meisten anderen Mädchen, auch aus ihrer Klasse, bei seinem Erscheinen verfielen, konnte sie nicht wirklich nachvollziehen. Das galt, wenn sie darüber nachdachte, für alle Jungen der Schule. Schließlich hatte keiner von denen grüne Augen, hallte es aus ihrem Unterbewusstsein, und plötzlich musste sie wieder zum Morgen zurückdenken, als sie aus dem Haus gekommen war. Jetzt wusste sie, woran sie das vertraute Gefühl erinnert hatte: als wenn sie jemand aus großen grünen Augen angesehen hätte. Dabei hatte sie sich ganz wohlig, sicher und geborgen gefühlt. Wenn sie sich doch nur erinnern könnte, wer das gewesen war. Eines wusste sie jetzt jedoch ganz sicher: Sie hatte dieses Gefühl früher schon einmal gehabt und wollte sie es wieder haben. Irritiert schüttelte Chihiro sich. Was dachte sie da eigentlich gerade? Es gab ja doch einen Jungen, der sie interessierte, fiel ihr ein. Ichiyo natürlich, und der hatte keine grünen Augen. Welcher Junge in Japan hatte schon grüne Augen? In diesem Moment ging ihr auf, dass sie von Ichiyo bisher gar nicht als Jungen gedacht hatte; er war einfach nur ein Spiel- und Klassenkamerad gewesen. Rasch spähte sie zu ihm hin und stellte fest, dass er mit hängendem Kopf wie ein Häufchen Elend dasaß und die unter ihm liegende Sitzreihe anstarrte. Sie blickte wieder zu Ayaka hinunter, die weiterhin von Kotaro bearbeitet wurde. Dabei genierte sie sich offenbar, denn einige andere Mädchen waren auf den Vorgang aufmerksam geworden und beobachteten das Geschehen neidisch. Chihiro sah noch einmal zu Ichiyo herüber, der sich intensiv bemühte, nicht zu Ayaka zu schauen, und erkannte den Zusammenhang. Jetzt galt es, etwas zu unternehmen, und zwar rasch. Der schüchterne Junge würde von alleine nicht trauen, etwas zu tun, also musste sie ihm einen Anstoß geben. Ayaka war die ganze Situation offenbar selber unangenehm, also würde es nicht viel benötigen, um sie von Kotaro loszueisen. "Du Ichiyo, lass uns zu Ayaka gehen, sonst quatscht Kotaro sie noch endlos voll", dirigierte sie Ichiyo deshalb, "und wir kommen gar nicht mehr nach Hause." "Ist gut", murmelte er und schickte sich an, hinter Chihiro herzutrotten. Chihiro drehte sich um und sah Ayakas Sporttasche, die unübersehbar immer noch zwischen den Sitzreihen der Tribüne stand. Ichiyo schien im Moment nicht die notwendige Geistesgegenwart zu besitzen, um sich die Tasche zu nehmen, also machte sie kehrt und schulterte das Ungetüm mit der Zuversicht ihrer neu entdeckten Kraft. Die Tasche erwies sich jedoch als so schwer, dass Chihiro sie kaum hochwuchten konnte und beinahe umfiel, als sie um ihren Rücken herum auf die Seite schwang. Verdammte Ayaka, schimpfte sie in Gedanken auf ihre Freundin, was hatte sie außer dem Kemari-Ball noch alles da drin? In diesem Moment wurde sie auch schon von Ichiyo gestützt, der ihr die schwere Tasche spielerisch leicht abnahm, bevor er die Tribüne herunter zu Ayaka zu stapfen begann. "Wenn du an diesem Wochenende keine Zeit hast, dann können wir auch nächstes Wochenende gehen", baggerte Kotaro unbeirrt, "glaub mir, das mach gar nichts." "Äh, ich weiß nicht, Kotaro", stammelte Ayaka hilflos, "ich weiß doch nicht, ob ich dann Zeit habe." "Hallo Ayaka, hallo Kotaro", rief Chihiro mit aufgesetzter Fröhlichkeit. "Komm wir müssen jetzt gehen, der Bus fährt gleich." Ichiyo stand derweil bedröppelt, Ayakas Sporttasche geschultert, neben Chihiro, die er dankbar ansah. "Ja aber, ich wollte doch noch duschen", protestierte Ayaka. "Das kannst du doch auch zu Hause", zischte Chihiro, nahm ihre Freundin bei der Hand und begann sie von Kotaro wegzuziehen. "Tschüss Kotaro, und viel Glück für dein Spiel morgen." Etwas irritiert sah Kotaro ihnen hinterher, sagte jedoch nichts. "Was ist denn los, Chihiro?", beschwerte Ayaka sich, als sie an der Bushaltestelle angelangt waren. Der Schulbus war schon lange weg, sodass sie die öffentlichen Verkehrsmittel würden nehmen müssen. "Du benimmst dich den ganzen Tag schon so komisch." "Och nichts", erwiderte sie, "ich wollte dich nur vor Kotaro retten. Er ist übrigens nicht der einzige Junge, der sich für dich interessiert." Ichiyo bekam einen Ausdruck des Entsetzens und sein Kopf wurde wieder feuerrot. Wenn Ayaka nun begriff, dass Chihiro nur ihn meinen konnte? Sie jedoch ging weder darauf ein, noch bemerkte sie seine Verlegenheit. "Ach, o ja, vielen Dank", meinte sie dann. "Der Doofkopp wollte mich in Matrix, Teil 3, schleppen. Mit hat aber das phisolophische Geblubber in Teil 2 schon nicht gefallen. Sag mal, ist da nun 'ne Matrix in der Matrix, oder nicht .... Ich meine, weil Neo ..." Und Ichiyo war höllisch erleichtert, weil sie sich nichts aus Kotaro zu machen schien. Nachdem Chihiro gegangen war, hatte Haku nichts weiter zu tun, sodass er begann, sich umzusehen. Als Erstes das Haus Zimmer für Zimmer und hatte ihren Raum rasch gefunden; es war der Einzige im Haus, der ihm wirklich gefiel, der Einzige, der in japanischer Tradition eingerichtet war, während alle Anderen sehr stark westlich geprägt waren. Er mochte besonders die drei Blumengestecke, die Chihiro in ihrem Zimmer verteilt hatte und von denen er spüren konnte, dass sie von ihr selbst arrangiert worden waren. Eine Weile versank Haku im Betrachten der Gestecke, ließ jedes Einzelne auf sich wirken. Nach einer Weile kam es ihm in den Sinn, dass es wichtig sein könnte, wenn er etwas mehr über die nähere Gegend erfuhr. Also begann er, die nähere Umgebung zu erkunden. Er entdeckte den uralten Baum am Waldrand unterhalb von Chihiros Haus, doch er fand ihn verlassen. Kein Geist mehr wohnte in ihm, obwohl er den schwachen Nachklang einer uralten, mächtigen Aura in seinem hohlen Inneren wahrnehmen konnte. Einst musste ein Waldgeist in dem Baum gewohnt haben, aber er hatte den Baum wohl verlassen, als der umgebende Wald gerodet worden war und mit den Bauarbeiten begonnen wurde, mutmaßte Haku. Von dem Baum ausgehend folgte er dann dem Waldweg, sodass er nach kurzer Zeit wieder am Ausgangspunkt seiner Expedition in die Menschenwelt anlangte: dem Tor in die Geisterwelt. Kurzweg entschloss er sich, zu Zeniba zurückzukehren, um ihr zu sagen, dass er Erfolg gehabt hatte. Erneut in der Geisterwelt, bei ihrem Haus angelangt, musste Haku feststellen, dass alle bereits schlafen gegangen waren. So hinterließ er nur eine Nachricht, die er mit einem Stein in den Lehmboden vor Zenibas Haustür ritzte, bevor er eilig wieder zu Chihiros Haus zurückkehrte, denn er wollte ihre Rückkehr auf keinen Fall verpassen. Aber es war noch nicht einmal Mittag, als er am Haus der Oginos anlangte, und so streifte er unruhig hin und her, glücklich, dass er Chihiro gefunden hatte und voller Zweifel über die Zukunft. Endlich ging die Sonne unter und es wurde Abend. Die einsetzende Dämmerung nahm er in seinem Zustand nicht wahr, denn einzig und allein auf seine magischen Sinne reduziert, gab es für ihn keinen Unterschied zwischen Hell und Dunkel, aber das Verschwinden der Sonne konnte Haku erkennen. Nacheinander kehrten Chihiro Eltern nach Hause zurück, die er bisher nur in Schweine verwandelt kennen gelernt hatte und er beobachtete, wie Vater Ogino ein Gerät einschaltete, das, wie Haku feststellte, eine sehr unangenehme Ausstrahlung besaß. Wozu es gut war, konnte er nicht ausmachen, jedoch die Art und Weise, wie Herr Ogino gebannt das Gerät fixierte, ließ ihn vermuten, dass es etwas zu sehen und vielleicht auch zu hören gab. Aber er hielt es in der Nähe dieses Apparates nicht aus, sodass er in die Küche schwebte und Frau Ogino bei der Zubereitung des Essen beobachtete. Aus seiner Erfahrung in der Küche des Badehauses, deren Rezepte er alle auswendig kannte, kamen ihm sofort etliche Verbesserungen in den Sinn, die man bei der Zubereitung der Speisen machen konnte. Auf der Wiese und auch im Wald hatte er vorhin eher unbewusst, gewissermassen im Vorbeischweben, viele Kräuter registriert, die man hier zum Einsatz bringen konnte. Möglicherweise hatten Menschen jedoch ein anderes Geschmacksempfinden, als Götter, wenn sie so einfach zu beschaffende Zutaten ignorierten. Nein, das konnte auch nicht sein, denn Chihiros Eltern hatten mit so großer Gier das Essen für die Götter verschlungen ... In diesem Augenblick entdeckte Haku ein helles Gleißen, welches sich dem Haus zielstrebig näherte. Chihiro kam heim. Eine gute Stunde, nachdem sie vom Sportplatz in Nakaoka aufgebrochen waren und sie von der Haltestelle unten an der Route 21 den Hügel hinauf geschnauft waren, verabschiedete Chihiro sich von Ayaka und Ichiyo. Eine Minute später gelangte Chihiro zu Hause an. Es war kurz vor acht Uhr am Abend und bereits komplett dunkel. Bald würde der Herbst beginnen. Sie wollte gerade die Haustür aufschließen, da fiel ihr wieder der Morgen ein und sie blickte sich eingehend um, doch dieser überwältigende Eindruck beobachtet zu werden, stellte sich nicht wieder ein. Da war Nichts. Kurz wartete sie, ließ die Nacht auf sich wirken, bevor sie sich einen Stoß gab und doch die Haustür aufschloss. "Hallo Papa, hallo Mama, ich bin wieder da." "Und? Wie hoch habt ihr gewonnen?", wollte ihr Vater vom Wohnzimmer aus wissen. "Gleich gibt es Abendessen!", rief ihre Mama aus der Küche. "Wir ... Ayaka hat 11:0 gewonnen", brüllte Chihiro. "Ich geh nur eben nach oben und leg meine Schulsachen ab." Damit stürmte sie die Treppe hoch in ihr Zimmer. Haku schwebte hastig durch die Außenwand der Küche hinaus, eine Etage nach oben, wo er vor dem Fenster von Chihiros Zimmer verharrte. Sie legte ihre Schulsachen auf ihren Schreibtisch, ging dann zum Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Dabei leuchtete ihre Lebenskraft so hell aus ihr, dass Haku es kaum aushalten konnte und fast sofort zu ihr hingeglitten wäre. Es war dasselbe Leuchten, welches früher der Kohakugawa ausgesendet hatte, wenn er ihn mit seinen magischen Sinnen wahrgenommen hatte. Doch dieses Leuchten war sanft und milde gewesen. Bei ihr jedoch war es, als würde das Licht des ganzen Flusses in ihrem Körper konzentriert sein, so gleißend, so strahlend. Chihiro konnte es eindeutig fühlen. Dort draußen vor dem Fenster war irgendetwas, etwas, das dort wartete. Der Eindruck war viel schwächer als heute Morgen, aber eindeutig. Doch im Gegensatz zum Morgen hatte sie jetzt Zeit, um den Eindruck au sich wirken zu lassen. Konzentriert blickte sie aus dem Fenster, versuchte etwas zu erkennen, doch sie sah nur die Reflexe ihrer eigenen Gestalt im Licht der Flurbeleuchtung in der Scheibe. "Haku", flüsterte sie, was ihr in den Sinn kam, "Haku, bist du da?" Chihiro war sich plötzlich ganz sicher, dass es ein Haku-Gefühl war, dass sie hatte, was auch immer das sein mochte. Wer oder was um alles in der Welt war eigentlich ein Haku? "Chihiro, wo bleibst du denn?", ließ sich ihre Mutter laut von unten vernehmen. "Das Abendessen ist fertig. Wir warten auf dich!" Mühsam riss Chihiro sich von der Fensterscheibe los, von der sich fast magnetisch angezogen fühlte. Kaum war sie wieder im Hausflur, wurde ihr leichter ums Herz, und sie stürmte die Treppe mit frischem Elan herunter. Zu ihrer Erleichterung merkte sie, dass sie jetzt wieder ein wenig Hunger hatte und das vertraute Gefühl beruhigte sie. Wenn sie Hunger hatte, war alles in Ordnung! Haku beobachtete, wie Chihiro ihn direkt durch das Fenster ihres Zimmers anblickte, ohne seiner jedoch gewahr zu werden. "Haku, Haku bist du da?", vernahm er ein leises, unsicheres Echo direkt in seinem Geist. Es stammte eindeutig von Chihiro. Schlagartig wurde Haku klar, dass Chihiro seine Anwesenheit fühlen konnte, dass sie jedoch ihren eigenen Sinnen nicht traute. Eilig schwebte er wiederum zur Küche herunter, von wo aus er der Familie Ogino beim Abendessen zusah. Das unkontrollierte Schlingen, das zu dem Unfall in der Geisterwelt geführt hatte, konnte er allerdings nicht beobachten. Die unersättlichen Gierschlünde, als die die Menschen in der Geisterwelt verschrien waren, konnten schienen sie gar nicht zu sein. Das Abendessen ging doch sehr gesittet vonstatten. Chihiro selber schien kaum Hunger zu haben, denn sie sah mehr aus dem Fenster, genau in seine Richtung, anstatt zu essen. Er fragte sich nur, für wen die riesige Schüssel mit Reisbällchen auf dem Tisch war, da offenbar keiner von ihnen davon etwas nahm. Nach dem Abendessen ging Chihiro hoch in ihr Zimmer, wo Haku beobachtete, wie sie sich vor ihren Schreibtisch hockte und konzentriert immer das gleiche Schriftzeichen in ein Heft schrieb, offenbar um es zu üben. Er überlegte, ob er jetzt zu ihr hinschweben sollte, um sich dann bei ihr in seine menschliche Gestalt zu verwandeln. Doch ihre Zimmertür stand offen, sodass ihre Eltern es bestimmt bemerken würden, wenn er jetzt wie aus dem Nichts auftauchte und Chihiro zweifellos erschrecken würde. Er wollte zuerst alleine mit ihr reden, ohne dass die Eltern dazwischen funken konnten. Vielleicht würde sie ihn ja wieder fortschicken, dann brauchten ihre Eltern auch nicht zu erfahren, dass es ihn überhaupt gab, und erschrecken wollte er Chihiro auch nicht. Am besten würde es sein, dachte Haku bei sich, wenn er wartete, bis sie und ihre Eltern schliefen. Dann konnte er sich ihr vorsichtig nähern, bis er sie berührte, um sich verwandeln zu können und sie danach behutsam zu wecken. Hinterher könnte er sich ungestört mit ihr unterhalten .... Abrupt blickte Chihiro auf, kniff die Augen zusammen und spähte aus dem Fenster. Haku bemerkte jetzt, dass er bis direkt an die Scheibe herangeglitten war, weniger als zwei Meter von ihr entfernt, als wäre er hypnotisiert von der Helligkeit ihrer magischen Aura. Sie konnte ihn bestimmt wieder seine Anwesenheit wahrnehmen und so entfernte sich Haku ein wenig hinaus in die Nacht, wo er wartete. Chihiro konnte sich kaum auf die Hausaufgaben konzentrieren, denn dieses "Haku"-Gefühl -was ist ein Haku? - ging nicht mehr weg. Manchmal war es stärker, manchmal schwächer und einmal hatte sie den Eindruck, dass sie nur den Arm ausstrecken musste, um es zu berühren - was zu berühren? Was auch immer es war, sie hatte den Eindruck, dass es direkt vor dem Fenster war. Doch da war nichts zu erkennen und dann wurde es plötzlich wieder schwächer. Chihiro seufzte in Gedanken. Die Leere, die sie in den letzten Tagen in sich bemerkt hatte, seit sie plötzlich keinen Hunger mehr hatte, war zurückgekehrt. Sie war nichts anderes als das Fehlen des "Haku"-Gefühls gewesen, wie sie jetzt erkannte. Wenn sie sich doch bloß erinnern könnte, warum es ein "Haku"-Gefühl war, denn sie fühlte, dass sie eigentlich wissen musste. Mit einem erneuten Seufzer legte sie das Schulheft zur Seite und holte einen Blumentopf aus Ton, den sie mit Granulat füllte. Einige Blumen, Gräser und Farne, die sie gestern auf der Wiese vor ihrem Haus gepflückt und in einer Vase in Wasser gestellt hatte, kamen noch hinzu, sodass sie beginnen konnte, ein neues Blumengesteck zu machen. Es half ihr, die Leere in sich zu verdrängen und als sie fertig und zufrieden mit dem Ergebnis war, verspürte sie nur noch eine normale abendliche Müdigkeit. So stellte sie das fertige Blumengesteck auf die Fensterbank, putzte sich kurz die Zähne im Badezimmer, holte sie ihren Futon aus dem Schrank, breitete ihn auf dem Boden aus und legte sich schlafen. Nur wenige Minuten später war sie eingeschlummert. Seltsam berührt beobachtete Haku, wie Chihiro ihre Blumen arrangierte. Die Geschicklichkeit, mit der sie dabei vorging, ließ auf jahrelange Übung schließen, doch der Sanftmut, den sie dabei ausstrahlte, löste eine derartige Sehnsucht bei ihm aus, dass er beinahe die Beherrschung verloren und sich ins Zimmer zu ihr gestürzt hätte, um ihr bei dem Arrangement zu helfen. Als sie fertig war und das Gesteck auf die Fensterbank stellte, hatte Haku den Eindruck, dass sie es nur für ihn dort hinstellt hatte. Sie verschwand dann kurz nach Nebenan in das Badezimmer, sodass er kurz näher kommen und ihr Gebinde bestaunen konnte. Er wich wieder vom Haus fort, während Chihiro ihren Futon für die Nacht fertig machte und sich endlich schlafen legte. Er schätzte, dass es noch gut zwei Stunden dauerte, bis letztlich ihre Eltern auch zu Bett gingen, doch diese Zeit kam ihm endlos vor. Zur Sicherheit wartete er noch mehr als eine weitere Stunde, bis alle, wie er hoffte, tief schliefen, schwebte näher, glitt durch die Fensterscheibe und den Vorhang dahinter hindurch, die ihm in seinem Zustand kaum einen Widerstand boten, und verharrte einige Momente ungefähr einen Meter über der schlafenden Chihiro in der Luft, unschlüssig, wie er vorgehen sollte. Chihiros Atem ging ganz langsam und ruhig, doch wie sie jetzt aussah und ob sie sich verändert hatte, konnte er kaum erkennen, so gleißend nahm er das Leuchten seiner eigenen - und auch ihrer - Lebenskraft aus ihrem Körper wahr. Vorsichtig dehnte Haku sich ein wenig aus, sodass er sie berührte und hatte sofort wieder dieses beispiellose Glücksgefühl, dass er auch schon am Morgen gehabt hatte, als sie durch ihn hindurchgelaufen war. Dieses Gefühl endlich wieder zu Hause und vollständig zu sein. Ohne groß nachzudenken, benutzte er die magische Energie, die ihn plötzlich von Chihiro zu strömte, um wieder eine physische Gestalt anzunehmen, seine menschliche Gestalt. Leise stöhnte Chihiro in diesem Moment auf und das Leuchten aus ihr schien kurz zu flackern, bevor es scheinbar völlig verlosch, weil er jetzt mit seinen Augen sah und nicht mehr mit seinen magischen Sinnen. Doch da konnte Haku schon fast überhaupt nichts mehr erkennen, denn Chihiro hatte die Vorhänge zugezogen, sodass es in ihrem Zimmer ziemlich dunkel war. Haku schwebte immer noch fast einen Meter über der schlafenden Chihiro, den rechten Arm ausgestreckt, mit dem er sie leicht an der Schulter berührte. Gerade wollte er ihr Gesicht genauer betrachten, welches er nur vage erkennen konnte, weil ihre offenen Haare darüber hingen. So nahm er seine Hand von ihrer Schulter weg, um die Haare beiseite zu schieben, als plötzlich die Schwerkraft ihr Werk zu verrichten begann und ihn abrupt zu Boden zog. Nur mühsam konnte er sich abstützen und so verhindern, dass er mit seinem ganzen Gewicht auf das Mädchen prallte, doch genügte es, um Chihiro sofort aus dem Schlaf zu reißen. Mit einem leisen Quieken, das Haku so laut wie das Heulen einer Sirene vorkam, riss sie die Augen auf und versuchte zu erkennen, was da plötzlich auf ihr drauflag. Während Chihiro versuchte, sich freizustrampeln, verfluchte Haku sich innerlich, dass er so unbedacht vorgegangen war. Er hatte vergessen, dass er hier nicht in der Geisterwelt war, dass die physikalischen Gesetzte sich hier viel konsequenter verhielten und es viel größerer Anstrengung bedurfte, sie zu überwinden. In dem Moment, da er seine Hand von ihrer Schulter genommen hatte, war der direkte Körperkontakt zu ihr unterbrochen, sodass er ganz einfach nicht mehr genügend magische Energie gehabt hatte, um sich in der Schwebe zu halten. Mittlerweile hatte Chihiro sich unter Haku von ihrer Decke frei gekämpft, war aufgesprungen und zur Tür gerannt, wo sie den Lichtschalter betätigte. Irgendjemand war in ihr Zimmer eingedrungen, doch merkwürdiger Weise hatte sie überhaupt keine Angst. Das "Haku"-Gefühl war war im Moment nahezu überwältigend und sie wollte jetzt wissen, ob das dieses "Haku" war, woran sie sich immer erinnert fühlte. Ruckartig wirbelte sie nach dem Umlegen des Schalters herum, um endlich zu sehen, wer oder was Haku war, denn sie war sich völlig sicher, dass es nur das "Haku" sein konnte, was da in ihrem Zimmer war. Halb in ihre Decke gewickelt hockte ein magerer Junge in abgerissenen Jeans und löchrigem T-Shirt auf ihrem Futon und blickte sie hilfesuchend aus seinen leuchtend grünen Augen an. Er hatte lange Haare, die ihm halb den Rücken herunterhingen, die aber auf der rechten Seite seltsamerweise unsymmetrisch abrasiert waren, was den verwilderten Eindruck noch verstärkte, den er machte. Doch es war Haku, ganz eindeutig ihr Haku. Und er war gekommen, um sein Versprechen einzulösen, das Versprechen, welches er ihr vor so langer Zeit an der Treppe zu Yubabas Badehaus gegeben hatte. In diesem Moment, als wäre ein Damm gebrochen, stürzten all die Erinnerungen an ihre Zeit in der Geisterwelt lawinenartig auf sie herein, was dazu führte, dass sie mit einem Gesichtsausdruck unsäglicher Dämlichkeit und gleichzeitig geistloser Glückseligkeit auf Haku hinunterglotzte. Haku seinerseits, voller Schuldgefühle, dass er sich so ungeschickt angestellt hatte, konnte endlich Chihiro so sehen, wie sie war, ohne dass er von seiner magischen Lebenskraft in ihr geblendet wurde. Sie hatte sich kaum verändert in den drei Jahren, seit sie aus der Geisterwelt entkommen war, hatte immer noch das gleiche runde Kindergesicht, an das er sich erinnerte, nur war sie viel dünner geworden. Der rosa Schlafanzug, den sie trug, schlabberte weit um ihren Körper herum, obwohl er in der Länge richtig zu sein schien. Es war alles richtig gewesen, was Zeniba gesagt hatte. Er hatte die ganze Zeit all seine Kraft von Chihiro bekommen und so war sie ebenso abgemagert, wie er selbst. Und er hatte es nicht einmal geschafft, zwei Stücke Torte bei der Hexe zu essen. Haku wagte sich gar nicht vorzustellen, wie viel sie hatte essen müssen. Dann erinnerte er sich an das Abendessen von vorhin und an die große Schüssel mit Reisbällchen, die unberührt auf dem Tisch gestanden hatte, und ihm wurde voller Schrecken klar, dass sie für Chihiro gedacht gewesen sein musste. Nur musste sie im Moment nicht so viel Essen, weil er keine Loren mehr ziehen musste. Am liebsten wäre Haku vor Scham im Boden versunken und wie sie ihn ansah. Er deutete Chihiros Blick als Missbilligung und in seiner Verzweiflung warf er sich flach vor ihr auf den Boden. "Bitte, liebe Chihiro, verzeih mein unerlaubtes Eindringen. Wenn du willst, werde ich wieder verschwinden und nie mehr wieder kommen", schluchzte er mit gebrochener Stimme. Dann würde er eben den Rest seines und ihres Lebens als Geist in ihrer Nähe bleiben. Es dauerte eine Weile, bis das Gesagte in ihr Bewusstsein vordrang, nachdem Chihiro ihre Gedanken sortiert und die Erinnerung an die Geisterwelt verarbeitet hatte. Er wollte wieder verschwinden? Für immer? Aber er war doch gerade erst gekommen. Eines wusste sie jedoch genau: Sie wollte, dass er bleibt. Für immer! Deshalb trat sie zu ihm hin und versuchte ihn an den Schultern hochzuziehen. Es ging doch nicht an, dass sich ein Gott vor ihr auf den Boden warf. Wenn das jemand sah! "Haku, steh auf. Bitte. Du kannst doch jetzt nicht sofort wieder gehen. Bitte steh auf und schau mich an", flüsterte sie eindringlich. "Ich bin dir nicht böse, dass du gekommen bist. Ich freu doch so, dass du hier bist. Bitte bleib doch noch." Während sie versuchte, ihn hochzuziehen, berührte sie ihn, wobei das "Haku"-Gefühl wieder so stark wurde, dass sie fast neben ihm auf den Boden gesackt wäre, weil es sie so glücklich machte. Doch dann rappelte Haku sich etwas unbeholfen auf und kam mit untergeschlagenen Beinen vor ihr zu sitzen, wo er mit Tränen in den Augen zu ihr aufsah. Sie wollte ihn nicht fortschicken, sie wollte, dass er bleibt! Chihiro sah nur, dass Haku weinte, weshalb verstand sie nicht. Doch genau so, wie er sie damals getröstet hatte, als sie vor den Erbsensträuchern im Gemüsegarten des Badehauses geweint hatte, wollte sie jetzt für ihn da sein. Also nahm sie ihn in die Arme und drückte seinen Kopf an ihren Bauch, bis er aufhörte. Dann ließ sie sich vor ihm nieder, sodass sie einender gegenüber knieten und gegenseitig in die Augen blickten. "Chihiro, ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe", sagte er leise, als er seine Fassung wieder gewonnen hatte. "Ich bin auch froh, froh, dass du gekommen bist, wie du es versprochen hast", versicherte Chihiro. "Ach Haku, ich bin ja so glücklich! Bist du in deine Welt zurückgekehrt, ja? Hast du deinen Fluss wiedergefunden?" Jetzt nahm Haku Chihiros rechte Hand und lächelte sie an, wobei er erneut die Kraft genoss, die bei der Berührung von ihr zu ihm herüberströmte. "Ja Chihiro, ich habe meinen Fluss wiedergefunden", sagte er geheimnisvoll. "Und wenn mein Fluss mich nicht zurückweist, bin ich auch in meine Welt zurückgekehrt." Verwirrt sah Chihiro auf ihre rechte Hand und genoss gleichzeitig die berauschende Nähe von dem jungen Drachen. "Das verstehe ich nicht, Haku. Wie kann dein Fluss dich zurückweisen? Aber es ist mir auch egal, solange du hier bist." "Du wirst es verstehen, Chihiro, und ich bin sicher, dass du es bereits fühlen kannst", fuhr Haku fort. "Weißt du, mein Fluss, das bist du!" Verständnislos starrte Chihiro ihn daraufhin an. Sie sollte sein Fluss sein? Aber hatte Manami nicht auch so etwas Ähnliches gesagt? Dass sie sich anfühle wie ein Fluss. Doch was sollte das bedeuten? Haku erklärte es ihr, erzählte ihr, was damals wirklich passiert war, als sie in ihn hineingefallen war, was geschah, nachdem Chihiro mit ihren Eltern aus der Geisterwelt entkommen war und wie es ihm gelungen war, sie zu finden. Tief in der Nacht schlief Chihiro in seinen Armen schließlich ein und Haku, der seit gut einer Woche nicht mehr geschlafen hatte, dämmerte in wohliger Glückseligkeit kurze Zeit später ebenfalls weg. "Chihiro, aufstehen, Schule!", rief ihre Mutter, indem sie die Zimmertür aufriss. Sie ärgerte sich ein wenig, weil Chihiro das erste Mal, seitdem sie hier wohnten, verschlafen zu haben schien. Deshalb wollte möglichst lautstark hineinpoltern, die Vorhänge aufreißen und das Sonnenlicht herein lassen, um ihre Tochter aus den Federn zu scheuchen. Doch zu ihrer Überraschung war das Licht bereits eingeschaltet und die Futon-Decke lag unordentlich vor der Tür. Was sie jedoch am meisten erstaunte, war Chihiro, die in ihrem rosa Schlafanzug mit "Hello Kitti"-Aufnäher in den Armen eines erbärmlich mageren, unbekannten Jungen lag, der mit seinen zerrissenen Jeans, dem löchrigen T-Shirt und seiner verwegenen Frisur einen ziemlich abgerissenen Eindruck auf Yuko Ogino machte. Ihr erster Impuls war, Chihiro von dem Jungen fortzuziehen, doch die unendliche Seligkeit, die von den beiden ausging, so wie sie da lagen, hielt sie zurück. Stattdessen trat in das Zimmer hinein, sah sich den Jungen genauer an und konnte die Augen nicht mehr von ihm abwenden. Irgendwo in ihrem Hinterkopf schrie eine moralische Instanz Zeter und Mordio, während der einzige bewusste Gedanke war, den sie zustande brachte: "Bei den Kami, ist der süß!" Es war der hübscheste Junge, den sie jemals gesehen hatte, trotz seiner Kleidung und seiner Magerkeit. Als Frau konnte sie ihre Tochter voll und ganz verstehen. Den hätte sie auch nicht weggeschickt. Aber als Mutter wusste sie nicht, was sie jetzt denken sollte. In dem Versuch, zu einer Entscheidung zu gelangen, was sie jetzt tun sollte, tat sie das Einzige, was ihr einfiel. "Akio, Aakiooo. Komm doch mal her. Da gibt es etwas, dass du dir ansehen solltest", rief sie, ohne den Blick von Haku abzuwenden. Dieser öffnete, von dem Ruf geweckt, ruhig die Augen und schaute Yuko Ogino wachsam an. Während Chihiros Mutter wie paralysiert diese unglaublich grünen Augen fixierte, hörte man bereits die schweren Schritte von Chihiros Vater die Treppe hinaufstampfen. "Was gibt's denn so Wichtiges, Schatz, dass du mich vom Frühstück wegholst?" In diesem Moment war er oben angekommen und schaute um die Ecke durch die offene Tür in Chihiros Zimmer. Beim Anblick der Szene, die sich ihm darbot, erstarrte er. Dann begann sein Gesicht, vor Zorn rot anzulaufen. Mit einem Schnauber stapfte er hinein zu diesem unverschämten Straßenbengel, der sich erdreistet hatte, sich seiner kleinen Chihiro unsittlich zu nähern. Er bückte sich, packte Haku am Hosenbund und warf ihn wie einen nassen Sack über die Schulter. Haku seinerseits schimpfte wiederum innerlich mit sich, dass er erneut nicht aufgepasst hatte. Wie hatte er hier nur mit Chihiro seelenruhig einschlummern konnte, um dann so von ihren Eltern überrascht zu werden. Sollte er sich jetzt gegen Chihiros Vater wehren, überlegte er, und er war ziemlich sicher, dass er mit dem massigen Mann fertig werden konnte, denn der war ja nur ein Mensch. Wenn er aber bei Chihiro bleiben wollte, musste er sich auch mit ihren Eltern arrangieren, das hatte Zeniba schon gesagt. Also entschloss er sich, keinen Widerstand zu leisten und alles hinzunehmen, was Herr Ogino mit ihm auch anstellen mochte, um es sich nicht ein für alle Mal mit ihm zu verderben. Der Blickkontakt mit Chihiros Mutter jedenfalls hatte ihm verraten, dass diese ihn bereits akzeptiert hatte, auch wenn sie es noch nicht wusste. Sie hatte ihn genau so angesehen, wie manchmal die Eltern der Kinder, die an seinem Fluss spielten, ihn früher angesehen hatten. Durch den Ruck, als Akio Ogino Haku von ihr fortriss war nun auch Chihiro aufgewacht. Sie sah noch gerade, wie ihr Vater mit Haku auf der Schulter durch die Tür marschierte, wodurch sie auf einmal einen riesigen Schreck bekam. "Bitte Papa, tu ihm nicht weh", schrie sie voller Angst, sprang auf und wollte hinter ihm herlaufen. Doch ihre Mutter hielt sie zurück. "Nicht Chihiro. Dein Vater ist gerade sehr wütend. Mach ihn nicht noch wütender." Keuchend vor Zorn stürmte Akio Ogino die Treppe hinunter, wobei er unbewusst stolz darüber war, wie leicht er den stinkenden Straßenjungen hochgehoben hatte. Vielleicht sollte er es nochmal mit Sumo versuchen? Die nötige Kraft war offenbar noch da. In der Absicht seine Wut noch einmal zu steigern und sein Handeln innerlich zu rechtfertigen, roch er mit einem tiefen Atemzug an dem Jungen. Doch entgegen seiner Annahme stank er überhaupt nicht, sondern hatte einen nicht zu definierenden, aber angenehmen Geruch. Endlich war er an der Haustür angelangt, die er aufriss, bevor er Haku an der Hüfte packte und mit aller Kraft, die er hatte, in hohem Bogen hinausschleuderte. Am liebsten hätte er das Bürschchen ja direkt aus dem Fenster des Kinderzimmers geworfen, aber da hatte er sich gerade noch beherrschen können. Ja das Fenster, das Fenster, das musste er sichern. Dennoch hoffte er jetzt, dass es das Jüngelchen ordentlich auf den Gehweg klatschen möge, damit es ihm so richtig weh täte. Den Gefallen tat ihm Haku jedoch nicht, sondern wirbelt mit fast verächtlicher Lässigkeit in der Luft herum, sodass er geschmeidig wie eine Katze auf seinen bloßen Füßen landete. "Hau bloß ab, du Penner", brüllte Chihiros Vater, "und wehe du näherst dich noch mal meiner Tochter. Ich will dich hier nie wieder sehen, sonst setzt's was!" Haku öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch alles was er hätte sagen können, wäre nur dazu angetan gewesen, den Zorn von Chihiros Vater zu vergrößern. Also schwieg er und verbeugte sich so artig und formvollendet, wie er konnte, bevor er sich umdrehte, über die Straße rannte, über den Zaun auf die Wiese sprang und den Abhang hinunter lief, auf den großen alten Baum zu. Nebenan schaute Bunzo Abe aufmerksam aus dem Fenster seines Zimmers. Durch Zufall hatte er die ganze Szene an der Haustür der Oginos mitbekommen und überlegte, ob er es in der Schule herumerzählen oder doch lieber für sich behalten wollte. Nein, das sollte er wohl besser keinem erzählen, dachte er bei sich, vielleicht konnte er es benutzen, um sich irgendwann doch an Chihiro zu rächen. Das passive Verhalten den Jungen und seine höfliche Verbeugung hatten den Zorn von Akio Ogino weitestgehend verrauchen lassen, obwohl er sich das nicht eingestehen wollte und versuchte, an seiner Wut festzuhalten, indem er die Haustür mit Gewalt zuschmiss. Auf eine eigenartige Weise war es angenehm gewesen, ihn auf der Schulter getragen zu haben, doch das mochte er sich nicht eingestehen. Trotz seiner Wut hatte er sich so zufrieden und stark gefühlt, wie schon lange nicht mehr. Chihiro würde er dennoch jetzt etwas erzählen. "Los Tochter, ab in die Küche, wir müssen reden", schnauzte er vom Treppenabsatz nach oben, setzte sich an den Tisch und kippte in hektischer Folge mehrere Tassen Tee herunter, wobei er unruhig mit den Füßen wippte. Dann kam auch schon Chihiro mit hängendem Kopf in die Küche geschlichen, immer noch im Schlafanzug, dicht gefolgt von seiner Frau Yuko. "So Schätzchen, was hast du dazu zu sagen", sagte er mit ernstem Nachdruck, nachdem Chihiro sich ihm gegenüber hingesetzt hatte. Yuko Ogino war stehen geblieben, die Arme verschränkt, und sah ihren Mann ermahnend an, nicht zu streng zu sein. Mit gesenkten Augen kauerte Chihiro auf ihrem Stuhl und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie fühlte sich schrecklich, weil ihr Vater so böse war und sie nicht wusste, ob Haku jemals wiederkommen konnte. Wie sollte sie ihren Eltern auch erklären, dass Haku ein Drache war und wen man so sagen konnte, ihr persönlicher Gott. "Ich habe keine Erklärung", hauchte sie verschüchtert. "Bitte sei nicht böse, Papa." "Ist irgendwas passiert?", wollte ihr Vater weiter wissen. "Ich meine, hat er dir etwas getan?" Chihiro schüttelte den Kopf. Was sollte auch schon passiert sein? "Also gut. Trotzdem wirst du mir jetzt sagen, wie der Junge heißt und wo er wohnt", sagte Herr Ogino mit strenger Mine. "Außerdem will ich wissen, wie er in dein Zimmer gekommen ist! Ich werde mich dann mit seinen Eltern in Verbindung setzen und sie über den Vorfall informieren. Also los, sag schon! Wie heißt er und wo wohnt er?" Chihiro setzte mehrfach an, darauf zu antworten, aber ihr fiel nichts halbwegs Plausibles ein. Alles, was sie da sagen konnte, war gleichermaßen unglaubwürdig, also sagte sie am Ende trotzig die Wahrheit: "Sein Name ist Haku, nein, äh, ich meine Nigihayami Kohaku Nushi und er wohnt hier!" Mit unmissverständlicher Geste patschte sie sich dabei demonstrativ gegen den Brustkorb. "In mein Zimmer ist er gekommen, indem er aufgetaucht ist." "Wie, was, Nigihayami Kohaku Nushi", schalt Akio Ogino seine Tochter erbost. "So heißen doch höchstens Götter, aber keine Jungen. Und was meist du damit, er würde hier wohnen und wäre einfach aufgetaucht. Erzähl mir nicht so einen Unsinn!" Er fuhr hoch, beugte sich über den Tisch uns schüttelte das Mädchen, damit es endlich die Wahrheit sagte. Wie vor den Kopf geschlagen riss Yuko Ogino in dem Moment, wo Chihiro den Namen nannte, die Augen auf. Sämtliche Alarmglocken schrillten in ihrem Kopf und sie erinnerte sich an ein Gespräch, dass sie vor mehr als zwei Jahren mit Dr. Ito geführt hatten. Der Fluss in den Chihiro damals gefallen war, war doch der Kohakugawa gewesen und hatte Dr. Ito nicht gesagt, dass, wenn man Shintoist wäre, man zu dem abwegigen Schluss kommen müsste, dass Chihiro dem Gott dieses Flusses begegnet war. Nigihayami Kohaku Nushi, würde das das nicht genau der Name sein, den man für den Gott des Kohakugawa erwarten sollte? Auf einmal kam ihr diese Schlussfolgerung gar nicht mehr so abwegig vor. Dann musste sie wieder an den Jungen zurückdenken, dessen Anblick sie trotz seiner extremen Magerkeit und seines geschmacklosen Aufzuges, tief berührt hatte. Eigentlich war er genauso dünn gewesen, wie Chihiro, kam es ihr erschrocken in den Sinn, und der Verdacht, dass ihre Tochter die Wahrheit sagte. Energisch packte sie ihren Mann an den Schultern und riss ihn auf seinen Stuhl zurück, sodass er aufhören musste, Chihiro zu schütteln. Dann ging sie neben Chihiros in die Hocke, drehte sie zu sich und sah ihr in die Augen. "Willst du damit etwa sagen ... der Kohakugawa?" Chihiro, der von dem Geschüttel noch ganz wuschig war, nickte eifrig. "So Akio, Chihiro muss sich jetzt für die Schule fertig machen, sonst verpasst sie noch den Bus", sagte sie bestimmt. "Du gehst jetzt nach oben, Schatz, und ich mach das Frühstück für dich fertig." Sie nahm Chihiro bei der Hand und zog sie vom Stuhl hoch, in Richtung Hausflur. "Aber Schatz", wollte Akio Ogino protestieren. "Wir können sie doch nicht einfach damit durchkommen lassen. Dass sie uns so hintergeht und dann auch noch anlügt." "Jetzt beruhige dich doch, Schatz", meinte Yuko Ogino sanft, "womit hat sie uns denn hintergangen, hm? Und glaube auch nicht, dass sie gelogen hat. Aber ich weiß auch noch nicht, was die Wahrheit ist." Damit ging sie zum Schrank und begann das Frühstück für Chihiro zu machen. Haku hatte sich unten am Baum auf eines der Steinhäusschen gesetzt und beobachtete von dort das Haus der Oginos, sodass man ihn von dort aus nicht sehen konnte. Er fühlte bereits ein starkes Ziehen in seinem Bauch, das daher rührte, dass er fast zu weit von Chihiro entfernt war. Noch ein wenig weiter, und sein Körper würde sich wieder auflösen. Vielleicht eine halbe Stunde nachdem ihn Chihiros Vater im wahrsten Sinne des Wortes herausgeworfen hatte, erschien sie vor dem Haus und blickte sich suchend in alle Richtungen um. Dann kam noch ihre Mutter, nahm das Mädchen bei der Hand und brachte sie die Straße hinab. Bereits, nachdem sie wenige Meter gegangen waren, wurde Haku ganz schwach zumute und ehe er sich's versah, war er nur noch ein unsichtbarer Geist. Einem Impuls folgen, jagte er hinter dem Baum hervor, zur Straße hinauf, hinter den beiden her. Chihiro würde sich bestimmt Sorgen machen und deshalb musste er ihr sagen, dass es ihm gut ging. Als er sie erreichte, umhüllte er Chihiro mit seinem Selbst, woraufhin sie abrupt stehen blieb und umherschaute. ,Chihiro, hab keine Angst, es ist alles in Ordnung mit mir. Ich werde hier warten und heute Abend werden wir uns wiedersehen', projizierte er direkt in ihren Kopf hinein, was viel müheloser ging, als er gehofft hatte. ,Haku? Haku, bist du da? Wo bist du denn?', hörte er Chihiros bewusste Gedanken und antwortete: ,Ich bin hier, direkt bei dir. Aber ich gehe jetzt und werde beim Haus auf dich warten. Mach dir keine Sorgen, mir geht's gut.' Noch bevor Chihiro antworten konnte, zog er sich zurück, was ihm jedoch sehr schwer fiel, da er von Chihiros Lebenskraft, die ja auch seine Eigene war, angezogen wurde, wie die Motte vom Licht. Mit einiger Mühe schaffte es ihre Mutter, Chihiro zum Weitergehen zu bewegen und endlich in den Schulbus nach Nakaoka zu verfrachten. Ichiyo saß darin und Ayaka stieg kurz darauf zu. Der ganze nun folgende Schultag fand für Chihiro irgendwie nicht statt. Die ganze Zeit konnte sie an nichts anderes denken, als an Haku. Nachdem sie der Bus gegen 17:00 Uhr wieder zu Hause abgesetzt hatte, hätte sie nicht sagen können, was sie im Unterricht durchgenommen hatte. Ebenso wenig hätte sie sagen können, über was sie in den Pausen mit ihren Freunden geredet hatte, ob sie überhaupt mit ihren Freunden gesprochen hatte. Sie hatte nicht einmal wahrgenommen, wie der Lehrer sie in der Kalligrafiestunde mehrfach ermahnt hatte, weil sie die ganze Zeit über unruhig auf ihrem Stuhl gekippelt hatte, ohne auch nur einmal das geforderte Kanji zu pinseln. Stattdessen hatte sie immer nur "Haku" geschrieben. Endlich zu Hause angekommen, waren weder ihr Vater, der anscheinend noch Häuser verwalten war, noch ihre Mutter zu Hause, die die mittlerweile die Filialleitung des Konbini hatte und deshalb viel Büroarbeit machen musste. In ihrem Zimmer stellte sie fest, dass ihr Vater das Fenster mit einer verschließbaren Einbruchsicherung versehen hatte, sodass sie es nicht mehr öffnen konnte. Er hatte wohl vermutet, dass Haku durch das Fenster gestiegen war und gedachte das wohl in Zukunft zu unterbinden. Plötzlich wurde das "Haku"-Gefühl wieder überwältigend stark. Sie versuchte heraus zu finden, aus welcher Richtung es kam, aber sie konnte nichts entdecken. Mit einem Mal wurde ihr derart schwindelig, dass sie beinahe umgefallen wäre. Doch Haku stand plötzlich neben ihr und stützte sie. "Nicht umfallen, Chihiro", flüsterte Haku direkt in ihr Ohr. "Entschuldige, dass ich so plötzlich auftauche. Ich glaube, wenn ich mich verwandele, brauche ich sehr viel Energie von dir." Chihiro drehte sich herum und fiel Haku sofort um den Hals. "Haku, wie schön dass du da bist", jubelte sie. "Mein Vater war ganz schön böse, wegen dir. So böse habe ich ihn vorher noch nie gesehen. Wir müssen aufpassen, dass er dich nie mehr erwischt, ich glaube sonst haut er dich windelweich. Er war mal ein guter Sumo-Ringer, weißt du, und ist sehr stark." Haku schüttelte den Kopf, musste aber lächeln. "Nein Chihiro, das ist der falsche Weg. Wir dürfen deinen Eltern nicht verheimlichen, dass es mich gibt. So etwas funktioniert vielleicht in Geschichten und für eine Zeit lang auch in der Realität. Aber wenn wir nicht mit einer Lüge leben wollen, müssen deine Eltern über uns Bescheid wissen. Das hat auch Zeniba gesagt." "Aber was sollen wir dann tun", wollte Chihiro wissen. "Mein Vater wird dich bei uns wohnen lassen, jedenfalls nicht nachdem, was gestern passiert ist. Ich hab solche Angst, dass er dich nicht mag und dass er dir was tut." "Aber deine Mutter mag mich, dass habe ich in ihren Augen gelesen", entgegnete Haku. "Vielleicht hilft sie uns ja mit deinem Vater. Aber glaub mir, dein Vater kann mir so leicht nichts tun, Chihiro. Ich bin doch ein Drache." "Hm, da sollte ich ja wohl eher Angst haben, dass du ihm was tust, oder?", grinste sie und dann fiel ihr etwas ein: "Einen kleinen Jungen kann er vielleicht rauswerfen, aber mit einem Drachen das soll er doch mal versuchen. Du aber ich habe auf einmal so furchtbar Hunger, ich glaube von deiner Verwandlung. Ich muss kurz in die Küche, mir etwas zu essen holen." Sie ließ den überraschten Haku los, rannte aus dem Zimmer, hinunter in die Küche. Dort riss sie den Kühlschrank auf, schnappte sich einige Reisbällchen aus der noch vollen Schüssel von gestern Abend, die sie gierig in den Mund stopfte. Da hörte sie, wie jemand das Türschloss betätigte. "Chihiro, ich bin wieder da", rief ihre Mutter prophylaktisch in den Hausflur hinein, ohne zu wissen, ob ihre Tochter nun tatsächlich zu Hause war, oder nicht. Oh jemine, ihre Mutter kam und Haku war doch noch oben in ihrem Zimmer, erschrak Chihiro. Schnell rannte sie aus der Küche, durch den Flur, "Hallo Mama", die Treppe hoch in ihr Zimmer. Haku war jedoch weg, einfach fort, genau so, wie er vorhin aufgetaucht war. Um sicher zu gehen, suchte sie alles ab, schaute in alle Schränke in ihrem Zimmer, durchsuchte das Gästezimmer und auch das Bad, aber Haku war nirgendwo zu finden. Auf einmal wurde das "Haku"-Gefühl wieder überwältigend stark. ,Chihiro, du brauchst nicht nach mir zu suchen', hörte sie laut und deutlich Hakus Stimme in ihrem Kopf, ,ich bin doch hier. Hör mir zu, ich werde jetzt noch einmal zu Zeniba gehen, um mit ihr zu sprechen. Wir sehen uns heute Nacht, ja. Und hab keine Angst.' Diese Sache, dass er Chihiro immer berühren musste, um genügend Energie zu bekommen für die Verwandlung, war doch sehr störend, und er in einem Radius von vielleicht 150 m um das Mädchen bleiben musste, um seine Gestalt nicht zu verlieren. Vielleich wusste die Hexe ja Rat. ,Nein Haku, bitte geh nicht weg', flehte Chihiro, die Angst davor hatte, dass das leere Gefühl der letzten Woche zurückkehren würde. Doch das "Haku"-Gefühl verblasste rasch und hinterließ die befürchtete Leere. Unglücklich hockte sich Chihiro hinter ihren Schreibtisch und versuchte Hausaufgaben zu machen, bis ihr auffiel, dass sie gar nicht wusste, was sie heute in der Schule gemacht hatte, denn sie hatte nur an Haku gedacht. Irgendwie musste sie sich jetzt ablenken, sonst würde sie noch wahnsinnig werden, bis Haku zurückkam. Deshalb ging sie in die Küche, um ihrer Mutter mit dem Abendessen zu helfen. "Sag mal, Chihiro, der Junge von heute Morgen", fragte ihre Mutter zögerlich, während Chihiro einen Rettich wusch, "wo hast du den kennen gelernt?" Mittlerweile waren ihr nämlich starke Zweifel an der Schlussfolgerung gekommen, zu der sie am Vormittag gekommen war. Es erschien ihr mit zunehmendem Abstand alles so unwirklich. "Ach, so richtig kennen gelernt, habe ich ihn vor drei Jahren", erzählte Chihiro vorsichtig, "als wir alle für zweieinhalb Wochen verschwunden waren. Da hat er uns allen geholfen, sonst wären wir nämlich wohl für immer verschwunden. Aber wir sind uns schon vorher einmal begegnet." "Soll das heißen, du weißt, was während dieser zwei Wochen passiert ist?", entfuhr es ihrer Mutter. "Und was meinst du damit, wir wären beinahe für immer verschwunden?" Chihiro schüttelte den Kopf. "Nein Mama, wenn ich dir das erzähle, glaubst du mir sowieso nicht und wirst am Ende auch noch böse." "Also gut, dann lassen wir das. Du sagtest, sein Name wäre Nigihayami Kohaku Nushi", hakte Yuko Ogino nach, in dem Versuch an einer anderen Stelle weiter zu kommen. "Das heißt doch, so rein namenstechnisch, er ist der Wächter des Kohaku *). Soll das bedeuten, er ist ein Kami, der Gott des Kohakugawa? Der Kohakugawa ist doch nicht mehr vorhanden, er wurde zugeschüttet. Wie kann er dann der Gott davon sein?" *) Der Name Nigihayami Kohaku Nushi stellt ein Wortspiel dar, welches sich nur jemandem mit guten Japanisch-Kenntnissen erschließt. Kristin Olsson hat auf ihrer Webseite den Versuch unternommen, das Puzzle auseinander zu nehmen: http://www.sekaiseifuku.net/... "Er war früher einmal der Gott des Kohakugawa", antwortet Chihiro leise, "aber jetzt, jetzt ist er nur noch ... mein Gott." "Wie, dein Gott? Meinst du, er ist dein Prinz oder so? Du bist in ihn verliebt?" Darüber hatte Chihiro noch gar nicht nachgedacht. Sie wollte ihn, dass er für immer da bleibt und fühlte sich unendlich wohl, wenn er bei ihr war. Bedeutete das, dass sie in ihn verliebt war? Gestern beim Fußballspiel hatte sie noch gedacht, dass kein Junge der Schule sie interessierte, weil sie keine grünen Augen hatten. Haku hatte grüne Augen und sie war sich ziemlich sicher, dass sie die anderen Jungen nicht interessierten, weil sie nicht Haku waren. Aber besagte das, dass sie Haku liebte. Das war alles sehr verwirrend. "Nein Mama, das meinte ich nicht", sagte Chihiro nach einer Denkpause, tat den Stöpsel in den Ausfluss des Spülbeckens und ließ Wasser hinein. "Hier, schau mal. Was glaubst du, warum ich das kann?" Als das Becken voll gelaufen war, legte sie unter den erstaunten Blicken ihrer Mutter den Rettich auf das Wasser, als wäre es gefroren. Zur Verdeutlichung nahm sie noch einige Gläser, die Frisch gespült neben dem Becken standen, und stellte sie ebenfalls auf das Wasser. Dann fasste sie in das Wasser hinein und formte einen Bogen daraus, als würde sie mit Knete hantieren. Im Laufe des letzten Jahres hatte Chihiro festgestellt, dass so beschränkt ihre magischen Fähigkeiten auch waren, sie mit Wasser nahezu alles anstellen konnte, was sie wollte. Ein paar Mal hatte sie sogar Manami mit ihren Fähigkeiten verblüfft. Aber wenigstens wusste sie jetzt, wieso sie es konnte, und das stärkte ihr Zutrauen darin viel mehr, als Manami das jemals gekonnt hätte. Sie musste der Seegöttin unbedingt erzählen, was mit ihr los war, und sie musste ihr unbedingt Haku vorstellen. Yuko Ogino konnte nicht fassen, was ihre Tochter da tat. Mit großen Augen beobachtete sie, wie die Kleine den Wasserbogen zu einer Art vierarmigen Kerzenleuchter erweitert und auf jeden Arm ein Glas gestellt hatte. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an letztes Jahr, als sie Chihiro in der Badewanne gefunden hatte, wo sie auf dem Wasser eingeschlafen war. Sie hatte das vollkommen verdrängt, weil es nicht sein konnte, nicht sein durfte. Und jetzt machte Chihiro wieder so etwas Verrücktes. Leicht ärgerlich zog sie das Mädchen von dem Spülbecken weg. Das konnte doch nicht real sein! Sie nahm eines der Gläser von der Spitze eines Armes fort und versuchte es dann wieder darauf zu stellen. Das Glas fiel einfach durch den Arm hindurch und landete mit einem Platscher im Spülwasser. Das war gut so, fand Yuko Ogino! Genau so sollte sich ein Glas benehmen. Nur hatte der Arm des Leuchters seine Form nicht verändert, schwabberte aber immerhin wassermäßig leicht hin und her. Durch diesen Erfolg ermutigt, versuchte sie den Stiel des Leuchters zu packen. Das erwies sich jedoch als schwierig, weil er durch und durch flüssig war. Sie schaffte es jedoch, den Stiel komplett zu durchtrennen, woraufhin das Wassergebilde in sich zusammenfiel und in das Spülbecken zurückklatschte. Dass dabei zwei der Gläser zu Bruch gingen, erhöhte ihre Befriedigung nur noch. Dann stutzte sie. Der Rettich lag immer noch ganz friedlich auf dem Wasser, als würde er dorthin gehören, während die Wellen des zurückgeklatschten Wassers unter ihm hindurchliefen. Verwundert, als würde sie gerade aus einem Traum aufwachen, nahm sie den weißen Rettich von der Wasseroberfläche herunter und betrachtete das Gemüse angestrengt. Was hatte Chihiro noch mal gesagt? Warum sie das hier tun könne? Das musste also etwas mit diesem Jungen zu tun haben, mit diesem, ... diesem Kohaku!? In diesem Moment öffnete sich die Haustür und Papa Ogino kam von der Arbeit nach Hause. Sein erster Weg führte ihn in die Küche, denn er hatte wie immer mächtigen Kohldampf, wenn er Heim kam. "Was ist denn hier passiert?", wollte er wissen, als er das Tohuwabohu an der Spüle sah, wobei er dann misstrauisch zu Chihiro linste. Die Art jedoch, in der seine Frau einen Rettich anstarrte, gefiel ihm gar nicht. "Schatz, geht es dir gut?", fragte er vorsichtig, "hat Chihiro wieder etwas angestellt?" Als ob sie schon einmal groß etwas angestellt hätte, ärgerte sich Chihiro. Mit einem leichten Schreck löste sich Yuko Oginos Blick von dem Rettich und wandte sich ihrem Ehemann zu. "Nein Schatz, Chihiro hat nichts gemacht. Mir ist da nur ein kleines Missgeschick passiert, nichts Ernstes", meinte sie. "Komm Schatz, setzt dich schon mal ins Wohnzimmer. Sumo fängt gleich an. Ich mach dir derweil etwas zu essen und Chihiro hilft mir weiter mit dem Abendessen." Den ganzen Rest des Abends sah Chihiro zusammen mit ihren Eltern Sumo im Fernsehen, wobei sie unruhig die ganze Zeit hoffte, dass Haku endlich zurückkommen würde. Spätestens alle fünf Minuten warfen entweder ihr Vater oder ihre Mutter einen prüfenden Blick nach ihr, was ihre Nervosität nicht gerade verringerte. Bald, nachdem die Sonne untergegangen war, erreichte Haku die freie Fläche vor Zenibas Haus, doch als er dort die prächtige Kutsche sah, mit Intarsien und Gold verziert, jedoch von einer Art plumper, grüner, zweiköpfiger Echse gezogen, stutzte er. Vorsichtshalber blieb er am Waldrand, wo er sich versteckte, um abzuwarten und zu beobachten. Nachdem ungefähr eine Stunde vergangen war, öffnete sich die Tür und ein hochgewachsener Mann trat heraus, in luxuriöse und farbenprächtige Seidengewänder gehüllt, wie man sie in früheren Jahrhunderten am kaiserlichen Hof getragen hatte. Der Mann hatte langes silbergraues Haar, das überhaupt nicht zu seiner ansonsten jugendlichen Erscheinung passen wollte. Als er in der Kutsche platzgenommen hatte und er den Blick aufmerksam in die Runde kreisen ließ, sah Haku kurz im Schein der Laterne am Tor, dessen emotionslose orangeroten Augen. Einige Momente schien dessen Blick genau in seine Richtung zu gehen und holte tief Atem, als würde er Haku riechen können. Obwohl er noch mehrere hundert Meter entfernt war, konnte er die Gefährlichkeit des Mannes fühlen, dessen starke dämonische Ausstrahlung. Mit einer affektiert wirkenden Geste nahm dieser die Zügel in die Hand und zupfte einmal daran, woraufhin sich das Echsentier mit erstaunlicher Behändigkeit auf flammenden Füßen in die Luft erhob. Noch mehrere Minuten beobachtete Haku, wie das eigenartige Gefährt in der Weite des nächtlichen Himmels immer kleiner wurde. Als es ganz verschwunden war, rannte er sofort zu Zenibas Haus herüber, wo er die Hausherrin mit kreidebleichem Gesicht sitzend am Tisch vorfand. Blicklos drehte sie den Kopf in seine Richtung, als er in der Türöffnung erschien. "Haku, gut, dass du da bist", krächzte sie. "Hast du ihn gesehen? Hast du ihn gesehen, diesen aufgeblasenen Gockel?" Haku nickte ernsthaft. "Hatte ein Schreiben dabei, dass ihn als Agenten der Geheimpolizei im untersten Dienstrang auswies", schnaubte Zeniba, die sich jetzt etwas zu fangen schien. "Unterschrieben vom Chef der Geheimpolizei persönlich, dieser unfähigen kleinen grünen Kröte. Wer's glaubt, wird selig." "Hat er sie bedroht", fragte Haku besorgt. "Ich meine, weil sie so, so ..." "Meinst du, weil ich mit meinen Nerven so am Ende bin?" Zeniba ließ sich im Stuhl zurücksacken. "Nein, jedenfalls nicht direkt. Er war sogar sehr freundlich und von ausgesuchtester, vornehmer Höflichkeit. Aber diese ganze Person an sich ist eine Bedrohung. Wenn du in seine Augen gesehen hättest ..." "Ich habe seine Augen kurz gesehen", sagte Haku leise. "Er ist sehr gefährlich, nicht wahr?" "Wenn du sie gesehen hast, dann solltest du sie dir merken", grunzte die Hexe. "Er ist nämlich einer von denen, die nach dir suchen. Deswegen war er auch hier. Man hat dich bei deiner Flucht in der Nähe des Badehauses gesehen. Und er hat mich über Yubaba und ihr Aktivitäten befragt; insbesondere ob du, beziehungsweise ein gewisser weisser Drache, etwas damit zu tun haben könntest." "Sie meinen, ich wäre in Gefahr gewesen?" Haku trat noch einmal vor die Tür und schaute in den Nachthimmel hinaus, aber es war Nichts zu sehen. Zeniba stand auf und kam ebenfalls vor die Tür. "Nein, ich glaube nicht wirklich. Er sucht nach einem weißen Drachen. Wie du als Mensch aussiehst, weiß er nicht, und meine Schwester wird dich sicher nicht verraten. Dann wäre sie selber in Schwierigkeiten. Trotzdem ist es gut, dass er dich hier nicht gesehen hat. Er hat dich doch nicht gesehen?" "Nein, ich habe mich im Wald verborgen", versicherte Haku. "Trotzdem hatte ich kurz den Eindruck, dass ..." "Das war richtig von dir", meinte Zeniba besorgt. "Jetzt komm erst mal herein und setzt dich. Ich muss dir nämlich etwas Wichtiges erzählen, was dich und Chihiro betrifft." Zeniba erzählte Haku die Geschichte eines Bergdrachen, der vor mehr als 1000 Jahren herausgefunden hatte, wie er Menschen beliebig unter seine Kontrolle bekommen konnte. Er hatte eine Methode gefunden, wie er deren eigene Lebenskraft durch einen Teil seiner ersetzte. Die so umgewandelten Menschen waren scheinbar unversehrt und benahmen sich auch im Großen und Ganzen normal, es sei denn, der Bergdrache übernahm die Herrschaft über sie. Nach und nach gerieten so immer mehr Menschen in seine Gewalt, was das magische Potenzial des Drachen stetig vergrößerte. Es erlaubte ihm auch, sich weit von seinem Berg zu entfernen, da ihn jederzeit kontrollierte Menschen überall hinbegleiten und mit Energie versorgen konnten. Nach einiger Zeit hatte er heimlich die gesamte Bevölkerung der Insel Kyushu derartig unter seinen Einfluss gebracht, dass er die Insel vollständig beherrschte. Schließlich begann er in seinem Machthunger, die Sonnengöttin Amaterasu herauszufordern. Doch diese ließ sich das nicht bieten, bekämpfte und besiegte schließlich den Drachen. Als Strafe wurde der Drache in einem großen Schauprozess verurteilt und mit der Auslöschung bestraft. Durch die Auslöschung wird die Existenz eines Wesens vollständig eliminiert und aus der Zeit entfernt, erläuterte Zeniba, was letztendlich bedeutet, dass es diese Person niemals gegeben hat. "Nur dank der Tatsache, dass die Prozessakten, in einem speziellen Archiv aufbewahrt werden, das gegen die Manipulation der Zeit gesichert ist, wissen wir heute überhaupt davon. Aus den Akten wurde zur Sicherheit jedoch der Name des Drachen getilgt. Seit dem steht auf das, was der Drache getan hat, die Strafe der Auslöschung", beendete Zeniba ihren Vortrag mit bedrücktem Gesichtsausdruck. "Aber was ist denn mit den ganzen Menschen passiert, die mit dem Drachen die Lebenskraft teilten?", wollte Haku sichtlich erschrocken wissen, als ihm klar wurde, was das für ihn und Chihiro bedeutete. "Im Moment seines Todes müssen sie doch alle gestorben sein." "Nein Haku, du hast das nicht ganz richtig verstanden", erklärte Zeniba. "Durch die Auslöschung hat es den Drachen nie gegeben und das alles ist niemals passiert. Die Menschen brauchten also nicht zu sterben, weil sie ja nie in die Gewalt des Drachen geraten waren, nie ihre Lebenskraft mit seiner geteilt hatten." "Aber wenn man mich auslöscht, würde das doch bedeuten, Chihiro wäre als kleines Kind im Kohakugawa ertrunken, weil ich ihr kein neues Leben hätte geben können, denn hätte mich ja nie gegeben." Haku schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und sackte vornüber mit dem Kopf auf die Tischplatte, wobei er ein Schluchzen nur mühsam unterdrücken konnte. "Haku, wir wissen nicht, was passiert wäre. Wenn du nicht der Gott des Kohakugawa gewesen wärst, wäre es jemand anderes gewesen", versuchte Zeniba ihn zu trösten. "Dieser Jemand hätte Chihiro vielleicht ebenfalls gerettet. Außerdem müssen sie dich erst einmal finden, das mit Chihiro herausbekommen und dich verurteilen. Trotzdem dürfte es sicherer sein, wenn sie dich nicht kriegen. Aber jetzt erzähl mir von Chihiro, wie du sie gefunden hast. Die Nachricht von dir habe ich nämlich gefunden." Kurz dachte Haku über das nach, was Zeniba gesagt hatte und kam zu dem Schluss, dass es keinen Sinn machte, sich über die Zukunft sorgen zu machen. Gefasst berichtete er der Hexe, wie er Chihiro in der Menschenwelt aufgespürt hatte und als er erzählte, wie er von Chihiros Vater aus dem Haus befördert worden war, musste Zeniba laut lachen, was auch Hakus Stimmung wieder etwas verbesserte. "Es ist nur so entwürdigend, dass ich in der Menschenwelt völlig von Chihiro abhängig bin. Wenn ich sie nicht berühre, kann ich kaum etwas zaubern, und wenn ich zu weit von ihr entfernt bin, löse ich mich einfach auf. Sie hatten mich ja darauf vorbereitet, aber dass es so unangenehm sein würde, hatte ich nicht erwartet." "Du bist halt ein Drache, Haku, und hier in der Geisterwelt gewohnt, immer deine Zauberkräfte zu benutzen. Versuch dich einmal in die Lage eines Menschen zu versetzen, der gar nicht zaubern und auch seine Gestalt nicht wechseln kann", wandte Zeniba ein. "Menschen müssen damit ihr ganzes Leben zurechtkommen. Aber du hast Glück, denn ich habe ein wenig nachgeforscht und vielleicht eine Lösung gefunden, für dein, ... äh euer Problem." "Sie haben vollkommen Recht, Frau Zeniba", meinte Haku, "ich muss damit klarkommen, wenn ich bei Chihiro bleiben will. Wenn ich unter Menschen leben will, muss ich auch wie ein Mensch leben. Nur wenn ich mich immer auflöse ... wie kann ich dann als Mensch leben?" Zeniba stand auf und holte aus dem Nebenraum einen kleinen Lederbeutel, dessen Inhalt sie auf den Tisch schüttete. Es befanden sich dutzende von Edelsteinen darin, die funkelten und glitzerten. "Im Prinzip müssen wir nur dafür sorgen, dass es einen direkten Energiefluss zwischen euch gibt. Die Tore, die es zwischen dieser und der Menschenwelt gibt, wären eigentlich dafür geeignet, einen solchen Fluss zu unterhalten, aber sie sind in ihrer Form natürlich völlig ungeeignet für diesen Zweck." "Wofür haben sie die Juwelen geholt?" Haku betrachtete neugierig die Steine. Solche und ähnliche hatte er schon häufiger bei Yubaba gesehen. "Das ist eigentlich mein Anteil an den Einnahmen des Badhauses, den mir meine liebe Schwester regelmäßig schickt", erklärte Zeniba und fischte dann einen glitzernden weißen Stein heraus. "Das hier ist ein Phenaktit, oder auch Betrüger. Es ist nur Beryllium-Silikat, nicht besonders wertvoll, weshalb Yubaba immer wieder versucht, ihn mir unterzujubeln. Aber sag, sieht er nicht aus, wie ein Diamant?" Haku nickte zustimmend. Yubaba liebte Diamanten. "Nun jedenfalls basiert die gesamte Tor-Technomagie auf diesem Mineral und mit ein wenig Geschick könnte es gelingen, mithilfe dieses Edelsteins, eine Art direkter magischer Brücke zwischen Chihiro und dir herzustellen", fuhr Zeniba fort, dem staunenden Jungen zu erläutern. "Das wäre dann so, als würdet ihr euch immer berühren. Bring sie nur her zu mir, dann können wir es versuchen." "Meinen sie wirklich, das könnte klappen?", fragte Haku hoffnungsfroh, nahm den Phenaktit in die Finger und beäugte ihn eingehend. "Doch, ich denke schon", bestätigte Zeniba, "aber garantieren kann ich für Nichts. Der Zauber ist ein wenig kompliziert und ihr werdet für immer jeder eine Hälfte des Steins in euch herumtragen müssen. Du wirst es ja sehen." Haku und Zeniba unterhielten sich noch etwa für eine weitere Stunde, bis der junge Gott sich auf den Rückweg in die Menschenwelt machte. Es war immer noch weit vor Mitternacht und er musste eine Weile warten, bis endlich alle Oginos zu Bett gegangen waren. Chihiro lag zwar auf ihrem Futon, doch er konnte spüren, dass sie nicht schlief. Aber jetzt brauchte er sich auch nicht mehr zu verbergen. Haku glitt durch das verriegelte und einbruchgeschützte Fenster hindurch, ebenso wie die Vorhänge, die nicht den Hauch einer Regung dabei zeigten. Diesmal brauchte er sich nicht zurückzuhalten, tauchte ein in das Leuchten seiner Lebenskraft, die aus ihrem Körper strömte. Überlegter als beim ersten Mal, materialisierte er allerdings nicht über Chihiro, sondern vorsichtshalber so, dass er direkt neben ihr zu Knien kam. Das Mädchen, das sein Auftauchen schon längst gefühlt hatte, drehte sich in aller Ruhe um und lächelte ihn an, wie er in der Dunkelheit des Zimmers so gerade erkennen konnte. "Hallo Haku, ich habe schon so auf dich gewartet", begrüßte sie ihn flüsternd. "Ich bin auch froh, dass ich wieder bei dir bin", erwiderte er, ebenfalls flüsternd. "Jetzt müssen wir überlegen, was wir wegen deiner Eltern machen." Über eine Stunde diskutierten sie das Für und Wieder verschiedener Szenarien, wie sich ihr künftiges Zusammenlegen gestalten konnte und am Schluss hatten sie sich einen, zugegebener Massen etwas drastischen, Plan zurechtgelegt, wie sie Papa und Mama Ogino von der Notwendigkeit von Hakus Anwesenheit überzeugen konnten. Am nächsten Morgen kam Yuko Ogino erneut nach ihrer Tochter zu schauen, da diese wiederum nicht pünktlich zum Frühstück erschien. Fast erwartete sie, dass der Junge von gestern wieder aufgetaucht war und sich in Chihiros Zimmer geschlichen hatte. Sie öffnete die Tür, doch diesmal konnte sie nicht viel erkennen, denn das Licht war aus und die Vorhänge zugezogen. Mit einem Seufzer, weil Chihiro offenbar verschlafen hatte, schaltete das Licht an und dann sackte ihr der Unterkiefer herunter, denn mit dem, was sie jetzt sah, hatte sie im Leben nicht gerechnet. Chihiro lag friedlich schlafend auf ihrem Futon auf der Seite, was ja an sich nicht außergewöhnlich war. Dass sie dabei ihren rechten Arm auf den Körper eines weißen Drachen gelegt hatte, der sich fast zweimal um sie herumkringelte und ebenfalls zu schlafen schien, allerdings schon. Was sollte sie jetzt nur tun, überlegte Yuko Ogino. Möglicherweise war der Drache ja gefährlich, obwohl er einen friedlichen Eindruck machte. Erst dieser Junge und jetzt ein Drache. Und dann noch, was Chihiro gestern mit dem Wasser im Waschbecken gemacht hatte. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Vielleicht hatte sie sich das ja doch nicht eingebildet, dass Chihiro einmal auf dem Wasser in der Badewanne geschlafen hatte. Leise machte sie das Licht wieder aus, schloss die Tür und blieb einige Momente regungslos stehen. Dann rief sie: "Akio, Aakiooo. Komm doch mal her. Da gibt es etwas, dass du dir ansehen solltest!" "Was gibt es denn jetzt schon wieder, Yuko?", regte sich Chihiros Vater auf, während er die Treppe hochschnaufte. "Ist dieser Junge wieder da? Na diesmal wird der nicht so einfach davon kommen. Ich werde die Polizei holen." Chihiro und Haku ihrerseits hatten allerdings nur so getan, als würden sie schlafen, während sie voller Nervosität darauf warteten, was passieren würde. ,Hi, hi. Ich wette meine Mutter hat ein total dämliches Gesicht gemacht', giggelte Chihiro in Gedanken zu Haku, nachdem sie deren Ruf nach ihrem Vater gehört hatte. Gemeinsam hatte sie im Laufe der Nacht festgestellt, dass sie problemlos Gedanken und Bilder austauschen konnten, die ihnen durch den Kopf gingen, solange sie einander nur berührten. Es war genau wie damals in dem kleinen Garten am Badehaus, als Haku ihr den Weg zu Kamaji gezeigt hatte. Diese Fähigkeit war jedoch nicht nur einseitig, sondern Chihiro konnte es genauso gut, wie Haku, nachdem sie einmal begriffen hatte, wie es ging. ,Du darfst dich nicht über sie lustig machen', kam Hakus ernste Antwort. ,Sie ist immerhin deine Mutter und sie hat noch nie zuvor einen Drachen gesehen.' In diesem Moment riss ihr Vater die Tür auf, machte das Licht wütend schnaubend wieder an. Das Schnauben wurde dann immer leiser, bis Chihiro hörte, wie er die Tür sachte zuzog, ohne allerdings wie ihre Mutter das Licht auszumachen. "Da ist ein Drache, Yuko", flüsterte Akio Ogino zu seiner Frau. "Und er scheint Chihiro in seiner Gewalt zu haben. Was machen wir denn jetzt?" "Dass da ein Drache ist, sehe ich selbst, schließlich habe ich Augen im Kopf. Ich dachte, du wüsstest, was wir jetzt machen können", zischelte Yuko Ogino zurück, wobei sie ihm auf die Brust tippte. "Wir müssen Chihiro jedenfalls unbedingt aus dem Zimmer heraus bekommen. Dann können wir weiter sehen." "Ich könnte die Feuerwehr rufen, die Polizei, die Nationalgarde oder die Armee", raunte Akio unsicher zurück. Einen Jungen hinaus zu werfen, war eine Sache, aber einen Drachen ... "Ich werde da jedenfalls nicht nochmal hereingehen. Hast du seine Klauen gesehen? Vielleicht will er Chihiro ja fressen. Nein, da sollten Profis herangehen." "Ach du alter Feigling", blökte Yuko Ogino entrüstet los. "Bei kleinen Jungen kannst du den Starken markieren, aber wenn mal etwas Unvorhergesehenes passiert, ziehst du gleich den Schwanz ein. Auf mich hat der Drache nicht besonders gefährlich gewirkt. So ich werde jetzt Chihiro da rausholen." Damit riss sie die Tür auf und wäre fast mit ihrer Tochter zusammengeprallt, die selber gerade die Tür öffnen wollte. "Guten Morgen Mama, guten Morgen Papa", sagte sie und gähnte demonstrativ. Dann marschierte sie, in ihrem rosa Schlafanzug mit dem "Hello Kitti"-Aufnäher, zwischen den beiden hindurch vorbei in das Badezimmer, wo sie seelenruhig begann, sich die Zähne zu putzen. Verstört sahen Chihiros Eltern ihrer Tochter hinterher und danach wieder in ihr Kinderzimmer. Der Drache war noch da, hatte sich nicht von der Stelle gerührt, sah sie jetzt aber neugierig aus seinen grasgrünen Augen an. Genau dieselben Augen hatte der Junge gestern auch gehabt, dachte Yuko Ogino unwillkürlich, und ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Rasch lief sie zu Chihiro, die gerade gurgelte. "Chihiro, da ist ein Drache in deinem Zimmer, ein ziemlich großer, wie ich meine", sagte sie in vorwurfsvollem Tonfall. "Kannst du mir das bitte erklären. Wie ist der da hereingekommen? Hast du ihn rein gelassen?" "Mama, if putf mir gerade die Fähne", sagte Chihiro mit Schaum vor dem Mund. "Können wir daf nift befprefen, wenn if fertif bin?" Mit sauber kreisenden Bewegungen fuhr sie fort, ihre Zähne zu bearbeiten. Immerhin säuberte Chihiro gerade ihre Zähne. Nicht alle Kinder taten das freiwillig, dachte Yuko Ogino. Wenn sie es schon von alleine tat, sollte man sie auch nicht davon abhalten! Sie ging zurück zu Akio. "Sie putzt sich die Zähne", meinte sie zu ihrem Mann. "Wir sollten warten, bis sie fertig ist." "Ich sehe selber, dass sie die Zähne putzt", schimpfte Akio. "Ist das denn jetzt so wichtig? Da ist immer noch der Drache!" Er deutete energisch in das Kinderzimmer. Angestrengt nachdenkend zog Yuko Ogino ihre Stirn kraus, was sie nicht häufig tat, denn davon konnte man ja Falten bekommen. Chihiro war im Badezimmer und der Drache lag im Kinderzimmer. Vielleicht hatte das ja etwas zu bedeuten? Wenn Chihiro im Badezimmer war und der Drache im Kinderzimmer, dann bedeutete das ... ja, der Drache hatte Chihiro aus dem Kinderzimmer gelassen! "Ich glaube nicht, dass der Drache gefährlich ist", sagte sie deshalb. "Er hat Chihiro ja gehen lassen." Chihiro war jetzt mit dem Zähneputzen fertig, gurgelte noch einmal und trocknete sich dann den Mund ab. "Vielleicht ist der Drache gefährlich, vielleicht ist er es auch nicht", argumentierte Akio Ogino entnervt. "Ich finde, wir sollten es nicht darauf ankommen lassen." "Könntet ihr Mal Platz machen", sagte Chihiro, die aus dem Badezimmer gekommen war. "Ihr versperrt ja die Tür." Reflexartig trat ihr Vater einen Schritt zurück, sodass Chihiro in ihr Zimmer zurückgehen konnte. "Warum hast du sie wieder zu dem Drachen gelassen", meckerte Yuko. "Jetzt wo sie gerade in Sicherheit war." "Aber du hast doch gemeint, der Drache wäre nicht gefährlich", versuchte sich Akio Ogino zu verteidigen. "Da sieh doch. Er tut ihr nichts." Entgeistert beobachteten sie, wie Chihiro ganz geschäftsmäßig über den Leib des Drachen hinwegstieg, ihren Futon zusammenfaltete, erneut über den Drachen stieg, ihn im Schrank verstaute und sich ihre Anziehsachen holte, bevor sie wieder aus dem Zimmer herauskam. "Was schaut ihr so? Das ist mein Drache und der bleibt jetzt hier", meinte Chihiro schnippisch, als sie sich an ihren Eltern vorbeiquetschte, um wieder ins Badezimmer zu gelangen, wo sie sich duschen und dann anziehen wollte. Ihr Vater hielt sie diesmal aber an der Schulter fest. "Moment mal, was meinst du damit: Er bleibt hier?", fuhr er sie an. "Ich glaube, Tochter, wir müssen mal reden." "Au Papa, du tust mir weh", jammerte das Mädchen. "Ich muss mich doch jetzt anziehen und dann zur Schule. Lass mich bitte los." In diesem Augenblick knurrte der Drache nachdrücklich aus dem Kinderzimmer, wobei er den Kopf zur Tür heraussteckte und seine Zähne blitzen ließ. Mit einem Aufschrei des Schrecks ließ Akio Ogino seine Tochter los und spurtete erstaunlich behände die Treppe hinunter. Chihiro trat zu dem Drachen hin, nahm seinen Kopf in die Arme und streichelte ihn unter den schockierten Blicken ihrer Mutter. "Du darfst doch meinem Papa nicht solche Angst einjagen", sagte sie vorwurfsvoll, schob ihn in das Zimmer zurück und machte die hinter ihm zu. Dann ging sie mit zufriedenem Gesichtsausdruck ins Bad. Eine Viertelstunde später kam Chihiro fröhlich mit ihren Schulsachen in die Küche, um sich ihr Frühstück zu holen. Ihr Vater saß mit leerem Gesichtsausdruck am Tisch und stützte den Kopf schwer auf seine Hände. Ihre Mutter stand mit verschränkten Armen am Kühlschrank und blickte Chihiro skeptisch an. Als sie ihre Eltern so sah, bekam sie sofort ein schlechtes Gewissen, setzte sich ganz still an den Tisch, wo sie begann, ein wenig Müsli zu essen. "Der Drache", fragte ihre Mutter nach einer Weile peinlichen Schweigens, "das war doch ein Drache, oder? Ist der noch oben?" Chihiro nickte. "Wo hast du den her? Wie ist der in dein Zimmer gekommen?" "Ich, wir, ... der Junge von gestern ... ist der Drache", stammelte Chihiro daraufhin. "Du meinst, der Drache ist dieser, dieser ... Nigidings Kohaku Nushi?", hakte Yuko Ogino nach. "Aber warum ist er denn jetzt auf einmal ein Drache?" "Mama, er ist eben ein Drache, Nigihayami Kohaku Nushi", entgegnete Chihiro. "Wir hatten uns nur gedacht, einen Drachen kann Papa nicht hinauswerfen und dann müsstet ihr uns zuhören." "Warum sollen wir euch zuhören?", schnauzte ihr Vater los. "Dieser unverschämte Drache taucht einfach auf, will sich wohl bei uns einnisten und macht sich dazu an meine Tochter ran. So etwas werde ich nicht zulassen." "Papa bitte, du verstehst das nicht. Ich und der Drache, wir gehören zusammen, ob es dir gefällt oder nicht", gab Chihiro trotzig zurück. "Wir teilen uns ein Leben und das lässt sich jetzt nicht mehr ändern." "Ihr teilt euch das Leben. Soll das heißen, du willst ihn heiraten?", zeterte ihr Vater weiter. "Das kommt gar nicht in die Tüte. Dazu bist du noch viel zu klein. Mit 13 darf man noch nicht heiraten." Haku heiraten, dachte Chihiro verdutzt. Auf den Gedanken war sie noch gar nicht gekommen, aber sie konnte ja mal darüber nachdenken, für später. "Nein Papa. Ich meine das so, wie ich es sage. Wir beide zusammen haben nur ein Leben. Deshalb hatte ich ja auch immer so einen furchtbaren Hunger, weil er die ganze Zeit so schuften musste, im Bergwerk." "Chihiro, du sprichst völlig in Rätseln." Yuko kam zum Tisch und stützte sich neben Chihiro auf. "Soll das heißen, dieser Drache hat etwas mit deiner Krankheit zu tun?" "Dass soll heißen, Mama, der Drache ist meine Krankheit. Nur dass ich nicht krank bin", sagte Chihiro und versuchte ihren konsternierten Eltern zu erklären, was mit ihr und Haku los war. "Und deswegen muss er jetzt hier bleiben. Wo soll er denn sonst hin", schloss sie ihren Bericht und sah dann flehentlich abwechselnd ihre Eltern an. "Das ist nur sehr schwer vorstellbar, was du uns da erzählst", brach ihre Mutter das Schweigen. "Aber es passt mit allem zusammen, was uns Dr. Ito gesagt hat. Vielleicht möchtest du uns deinen Nigihayami Kohaku Nushi ja vorstellen." "Yuko, du kannst doch nicht diesem zusammenhanglosen Geschwätz einer Dreizehnjährigen glauben", polterte ihr Vater los. "Götter und Drachen gibt es doch überhaupt nicht. Das ist doch alles nur Einbildung. Sie sind nur eine Erfindung dieser Shinto-Priester, um das Kaiserhaus zu legitimieren." "Schatz, du übersiehst da eine Kleinigkeit", versuchte Yuko ihren Mann zu beruhigen. "Da oben in Chihiros Zimmer ist ein Drache. Du hast ihn doch selber gesehen. Wie kannst du dann sagen, es gäbe keine Drachen. Chihiro, geh doch bitte nach oben und hol deinen Freund hierher, ja?" Akio Ogino starrte schwer atmend seine Frau an, und setzte mehrfach an, etwas zu sagen, wusste jedoch, dass das alles Unsinn war. Deshalb sagte er am Ende lieber Nichts. Chihiro stand auf und machte sich schweigend auf den Weg in ihr Zimmer, wo sie sich neben Haku auf den Boden hockte und seinen Kopf sanft in ihre Arme nahm. Sie berichtete ihm über das Gespräch mit ihren Eltern, bevor Haku dann in seine menschliche Gestalt wechselte. Im Moment der Verwandlung dann klappte Chihiro beinahe zusammen, weil Haku dafür so viel magische Energie von ihr brauchte, wie ihr kleiner Körper gerade noch in der Lage war, zu liefern. Die Folge war, dass Chihiro fast augenblicklich eine Heißhungerattacke bekam, die sie nur mit ihrer jahrelangen Hungererfahrung beherrschen konnte. Trotzdem wäre sie fast Hals über Kopf in die Küche gestürzt, um irgendetwas zu essen zu bekommen. "Komm mit", sagte sie stattdessen, nahm Haku bei der Hand und zog ihn die Treppe hinunter zu ihren Eltern. Haku folgte ihr widerstandslos. "Mama, Papa, darf ich vorstellen:", sagte sie dort angekommen, "der Drache Kohaku, der einmal der Gott des Kohakugawa gewesen ist." Kohaku, der immer noch die zerrissenen Jeans und das löchrige T-Shirt trug, die Zeniba ihm verpasst hatte, verbeugte sich wohlerzogen vor Herrn und Frau Ogino. Akio Ogino dachte nur: Und das soll ein Kami sein? Yuko Ogino dachte: Bei allen Göttern! Er ist noch viel hübscher, als ich von Gestern in Erinnerung hatte. Kapitel 17: Bei den Oginos -------------------------- Bei den Oginos Es dauerte den ganzen Vormittag, bis Chihiro und Kohaku alle Fragen ihrer Eltern beantwortet und erreicht hatten, dass Kohaku in Zukunft bei den Oginos wohnen durfte. Er würde das Gästezimmer im ersten Stockwerk beziehen, direkt neben Chihiros Raum, obwohl dort bis auf ein einzelnes Notbett nichts darin stand. Auf Kohakus Bemerkung hin, eine Kiste wäre genug für ihn, um darin zu Wohnen, runzelte Chihiros Vater nur verständnislos die Stirn. Noch immer tat er sich schwer damit, Kohaku als neues Mitglied des Haushaltes zu akzeptieren und lediglich ein inneres Schuldgefühl, weil er an der Trockenlegung des Kohakugawa beteiligt gewesen war, für die er jedoch innerlich jegliche Verantwortung ablehnte, liess ihn letztendlich sein Misstrauen vorläufig vergessen. Um kurz vor Mittag wurde Chihiro ins Auto und mit einem fadenscheinigen Entschuldigungsschreiben versehen, in die Schule verfrachtet. Chihiros Mutter wollte sich derweil um vernünftige Kleidung für Kohaku kümmern, obwohl sie sich eigentlich um ihren Konbini kümmern musste. Da sie aber mittlerweile Filialleiterin war, hatte sie noch kurzfristig eine Vertretung für sich organisieren können. Die betroffene Frau war nicht sehr glücklich gewesen, denn sie hatte eigentlich die Frühschicht im Konbini gehabt und wollte eigentlich Feierabend haben, aber sie konnte schlecht ihrer Chefin absagen. Nachdem nun Chihiro mit ihrem Vater weggefahren war, wollte sie sich um Kohaku kümmern, seine Größe nachmessen und ihn fragen, was er denn gerne anzieht, doch plötzlich war der verschwunden. Sie suchte im ganzen Haus nach ihm und als sie ihn nirgendwo fand, wurde sie doch ein wenig ärgerlich. Jetzt musste sie die Sachen für ihn auf Verdacht kaufen und das, wo sie das Konto schon wieder überzogen hatten. Kohaku versuchte derweil, sich Chihiros Mutter bemerkbar zu machen, denn er hatte sich in dem Moment aufgelöst, als Chihiro mit ihrem Vater am Ende der Strasse Richtung Nakaoka abbogen. Doch es gelang ihm einfach nicht, einen geistigen Kontakt zu der Frau zu bekommen, so wie er es mit Chihiro tun konnte. Wenn Chihiro nicht da war, waren seine magischen Fähigkeiten in der Menschenwelt nahe Null, dachte er resigniert. Zu Zeniba zu gehen machte Tagsüber keinen Sinn, denn die alte Hexe würde tagsüber vermutlich schlafen. Fast wollte er sich schon aufmachen, um Chihiro in ihrer Schule zu besuchen, doch hatte er keine Ahnung, wo diese lag und sah ob des eingeschränkten Orientierungsvermögens in seinem jetzigen Zustand kaum eine Möglichkeit, Chihiro erneut zu finden. Letztendlich kam er zu dem Schluss, dass er Chihiro dort auch sicher eher stören, als dass er ihr helfen würde. So zog er sich am Ende in sein neues Zimmer zurück, wo er schwebend verharrte und wartete, bis Chihiro aus dieser Schule zurückkommen würde. Um kurz vor fünf Uhr am Nachmittag kam Chihiros Mutter vom Einkauf wieder zurück, bepackt mit einer großen Plastiktüte, in der sie die neuen Anziehsachen für den jungen Gott hatte und einem Flechtkorb, in dem sie Lebensmittel für das Abendessen mitgebracht hatte. Da sie hoffte, dass der Junge wieder aufgetaucht war, rief sie laut nach ihm, und seufzte, als niemand antwortete. Die Tüte mit den Kleidern legte sie auf den Küchentisch und stellte den Korb daneben, bevor sie aufräumte, spülte und putzte. Kohaku hatte ihr Eintreffen bemerkt und war durch die Decke nach unten in die Küche geschwebt. Gerne wäre er Chihiros Mutter zur Hand gegangen, er war zur Untätigkeit verdammt, in seiner jetzigen Form. Eine knappe Stunde später war sie damit fertig und begann nun das Abendessen vorzubereiten. Offensichtlich wollte sie einen guten Endruck auf das neue Familienmitglied machen. Deshalb bereitete sie die Zubereitung von Sushi vor. Nach einigen wenigen Handgriffen bemerkte Kohaku aber bereits, dass Yuko Ogino keine Ahnung hatte, wie man Sushi richtig machte. Zudem hatte sie ein Kochbuch zu Rate gezogen, aus dem sie Schritt für Schritt die notwendigen Handgriffe entnahm. Als sie schließlich versuchte, den mitgebrachten Aal zu filettieren, hätte Kohaku ihr am liebsten das völlig ungeeignete Messer aus der Hand gerissen, wenn er das gekonnt hätte. Irgendwie schaffte es Chihiros Mutter dann aber doch, sich nicht die Finger abzusäbeln und den Fisch in annähernd gleichmäßige Scheibchen zu zerteilen. Die weitere Zubereitung, das Kochen des klebrigen Reis', die Herstellung der Sauce und der Häppchen erfolgten bemüht, aber fantasielos, strickt nach Kochbuch. Wenn den Gästen im Badehaus so etwas vorgesetzt worden wäre, hätten die sich bestimmt bei Yubaba beschwert und der Koch wäre im Bergwerk gelandet, dachte Kohaku grimmig. Er kannte die Küche im Badehaus in und auswendig, kannte alle Rezepte und wusste auch, wo man die Zutaten herbekam und wie sie zu verarbeiten waren. Chihiros Mutter bräuchte nur auf die Wiese vor ihrem Haus zu gehen, dachte er bei sich, und fände dort genügend Kräuter, die die ganze Sache schon viel annehmbarer machen würden. In diesem Moment nahm Kohaku vor dem Haus ein helles Leuchten wahr: Chihiro kam endlich von der Schule nach Hause. "Hallo Mama, bin wieder da! Kohaku, wo bist du?" rief sie, nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte. Yuko Ogino unterbrach ihre Sushivorbereitungen und kam in den Hausflur. "Guten Abend, Schatz. Hör mal, dein komischer Kohaku ist einfach abgehauen, nachdem Papa dich zur Schule gebracht hatte. Ich bin ehrlich gesagt ein bisschen Böse auf ihn. Das war nicht besonders nett, auch wenn er ein Drache ist. Immerhin will er ja bei uns wohnen." Chihiro schaute ihre Mutter entgeistert an und überlegte, wohin Kohaku wohl gegangen sein könnte. Vielleicht zu Zeniba? Aber dann fiel ihr ein, was passiert sein musste und sie begann zu lachen. In diesem Moment spürte sie auch schon, wie Kohakus Präsenz sie einhüllte. "Was findest du daran denn so lustig?" entrüstete ihre Mutter sich. "Ach nichts, Mama. Kohaku war nie weg. Er war die ganze Zeit hier", giggelte Chihiro. "Wie meinst du das, Chihiro? Wo denn? Ich habe das ganze Haus nach ihm abgesucht." "Na hier!" Chihiro hob die Arme und machte eine Pirouette wie eine Ballerina. "Er ist hier, hier, hier", jubelte sie glücklich. "Mädchen, du sprichst in Rätseln." Yuko Ogino schüttelte verständnislos den Kopf. Gerade wollte Chihiro ihrer Mutter erklären, was mit Kohaku los war, da wurde ihr plötzlich schwindelig und sie spürte, wie jemand ihre Hand hielt. Chihiros Mutter aber konnte überhaupt nicht fassen, was sie da sah. Es war wie eine Überblendung in einem Fernsehfilm und auf einmal stand der Junge Kohaku neben Chihiro. Er verbeugte sich vor Frau Ogino. "Entschuldigen sie, dass ich solche Umstände mach. Ich hatte durchaus nicht die Absicht, zu verschwinden", bat er zögerlich um Nachsehen, weil er sich dafür schämte, "ich hätte es ihnen heute Morgen erklären sollen. Wenn ich zu weit weg bin von Chihiro, dann ... dann löse ich mich auf." Chihiros Mutter kam ein wenig näher und blickte Kohaku fragend an. Der ließ Chihiros Hand los und wurde wieder zu einem Geist, diesmal aber absichtlich. Frau Ogino sah, wie seine Gestalt blasser wurde, dann durchsichtig, und nicht einmal eine Sekunde später vollständig verschwunden war. Kurz danach tauchte er wieder auf, erneut Chihiros Hand haltend. In dem Moment wurde Chihiro ganz blass, verdrehte ihre Augen und klappte ohnmächtig zusammen. Kohaku konnte sie gerade noch so auffangen. "Chihiro, Chihiro, was ist mit dir?" rief ihre Mutter erschrocken und eilte hastig zu ihr hin. Sie wollte ihre Tochter dem Jungen abnehmen, aber Chihiro öffnete schon wieder die Augen und stöhnte leise. "Uuuh, ich glaube du solltest nicht zu oft deine Gestalt wechseln. Zwei mal kurz hintereinander ist wohl zu viel für mich", meinte sie und stellte sich wieder auf ihre Beine, "Mama, ich brauch jetzt was zu essen." "Schatz, geht es dir auch wirklich gut?", wollte ihre Mutter besorgt wissen. "Ja, Mama. Es ist alles in Ordnung", entgegnete Chihiro etwas genervt, "komm mit, Kohaku, du bist schließlich schuld." Sie marschierte stracks in die Küche und zog ihn an der Hand hinter sich her. Dort stopfte sie sich zwei der vorbereiteten Sushi-Häppchen in den Mund und gab Kohaku ein weiteres. "Hier, du kannst auch mal was essen", bestimmte sie. Unsicher betrachtete Kohaku das angebotene Häppchen, denn er fand, dass es unhöflich wäre, schon jetzt etwas von dem vorbereiteten Abendessen zu essen. Gleichzeitig fühlte er sich schuldig, weil er durch sein unbedachtes Handeln Chihiros kurze Ohnmacht und ihren jetzigen Heißhunger verursacht hatte. Da er ohnehin zu dem Schluss gekommen war, dass er Chihiro beschützen musste, konnte er in dieser Situation nur gehorchen, denn wenn es Chihiro half, wenn etwas zu essen, dann musste er es eben tun, ungeachtet aller Konsequenzen. Also aß er, so schwer es ihm auch fiel, das Sushi-Häppchen. "Du Chihiro, sag mal, willst du mich jetzt immer Kohaku nennen?" fragte er nach dem Herunterschlucken. "Ja, ich dachte, das wäre besser, äh angemessener", meinte Chihiro daraufhin, "warum fragst du, Haku ... Kohaku?" "Es ist nur ... so ungewohnt", entgegnete er, "an den Namen Haku hatte ich mich schon vollkommen gewöhnt. Eigentlich hat mich fast nie jemand jemals mit meinem richtigen Namen angesprochen und so ist Haku zu meinem Namen geworden." "Aber Haku ist der Name, den Yubaba dir gegeben hat, nachdem sie den Rest deines Namens gestohlen hatte", erklärte Chihiro sich, "aber du bist doch ein Gott und verdienst es, mit deinem richtigen Namen angeredet zu werden! Möchtest du trotzdem lieber wieder mit Haku angeredet werden?" Kohaku wusste nicht so recht, ob er irgendetwas verdiente, wenn er an seine bisherige Existenz zurückdachte. "Nein, nein, Chihiro. So meinte ich das nicht. Du darfst mich anreden, wie du willst. Ich bin jetzt dein Gott, nicht mehr der Gott des Kohakugawa. Nenn mich so, wie du willst. Das ist dann mein richtiger Name." "O, Kohaku, was ist denn nur los mit dir", flüsterte Chihiro und nahm den Jungen in den Arm. "Du bist so ganz anders, als ich dich in Erinnerung habe, so ... so traurig." Kohaku entgegnete dazu nichts, sondern hielt nur Chihiros Hand fest und blickte zu Boden. "He, ihr zwei, wollt ihr unser Abendessen jetzt schon aufessen?" fuhr Yuko Ogino dazwischen, die die ganze Szene beobachtet hatte und sie das Ganze nicht länger mehr ansehen konnte. "Komm her, Kohaku, ich habe etwas zum Anziehen für dich besorgt. Schauen wir doch mal, ob es passt." Sie holte die Tüte mit den neuen Sachen und legte sie auf den Küchentisch. Irgendwie schaffte es Kohaku, sich von Chihiro zu lösen, bevor er sich umstandslos seiner Kleidung entledigte. Erstaunt stellten Chihiro und ihre Mutter fest, dass er keine Unterhose anhatte, sondern einen Lendenschurz unter der kunstvoll durchlöcherten Jeans trug. Darauf angesprochen wollte er sich auch von diesem Kleidungsstück trennen, konnte von Mutter Ogino noch gerade davon abgehalten werden. An Unterhosen für ihn hatte sie nämlich nicht gedacht, so dass sie noch einmal los musste, etwas zu kaufen. Auf die Frage, ob er sich denn gar nicht genieren würde, schaute Kokaku nur verständnislos zu Chihiros Mutter. Nichts desto trotz stellte diese fest, dass Kohaku viel kräftiger war, als sie gedacht hätte, ganz anders, als es bei seinen grazilen Händen, seinen dünnen Handgelenken und seinen hervortretenden Rippen zu erwarten gewesen wäre. Jeder seiner schlanken Muskeln war vollständig definiert, wie bei einem Hochleistungsathleten. So etwas hatte sie noch ne gesehen. Seine gespenstisch helle, samtglatte Haut, verstärkte den unwirklichen Eindruck noch, den er erweckte. Dazu kam, dass er trotz allem einfach zu hübsch war, für einen richtigen Jungen und sich auch nicht wie ein richtiger Junge benahm. Aber das hatte er auch nie behauptet. Sie wusste nur, dass sie dieses eigenartige Wesen bereits jetzt in ihr Herz geschlossen hatte. Es stellte sich heraus, dass die Jeans und die T-Shirts, die sie gekauft hatte, etwas zu groß waren. Der sicherheitshalber erstandene Gürtel fixierte das Problem. Anschließend wandten sie sich Kohakus Frisur zu. Seine Haare waren in den drei Jahren, die er im Bergwerk verbracht hatte, fast bis auf Hüftlänge gewachsen, nur waren sie auf der einen Seite auf der sie von Yubabas Feuerball abgesengt worden waren, in der kurzen Zeit nach der Flucht erst wenige Millimeter nachgewachsen. Kohaku mochte die Frage, wie es dazu gekommen sei, nicht antworten, denn er wollte Chihiros Mutter nicht erschrecken. Aber er erklärte sich einverstanden, sich die Haare gleichmäßig kurz schneiden zu lassen, wozu sie den Rasierer von Chihiros Vater zweckentfremdeten. Wenn er sie irgendwann anders tragen wollte, musste er eben warten, bis sie nachgewachsen waren. Mit seiner neuen Kurzhaarfrisur wirkte Kohaku nun viel jungenhafter und auch etwas älter, was Chihiro gar nicht gefiel. Das war einfach nicht der Kohaku, den sie kannte. Dann sah er ihr in die Augen und lächelte. Das machte Chihiro wieder glücklich. Um acht Uhr am Abend kam endlich Chihiros Vater nach Hause. Er war völlig geschafft, weil er nach der ganzen Diskussion am Morgen und dem Abliefern von Chihiro in der Schule erst gegen zwei Uhr seinen Hausverwalteraufgaben nachkommen konnte. So musste er alles unter Zeitdruck erledigen. Sehr zufrieden zeigte er sich mit Kohakus verbesserter äußerer Erscheinung, so dass er entschied, das Abendessen zur Begrüßung des neuen Familienmitgliedes im Wohnzimmer einzunehmen. Dort nahmen sie am Wohnzimmertisch platz, Herr und Frau Ogino nebeneinander auf dem alten, sandfarbenen Sofa und Chihiro auf einem der beiden dazu passenden Sessel. Etwas unsicher setzte sich Kohaku auf den anderen Sessel. Offenbar sollte er dort sitzen, denn vor diesem Platz war das einzige noch freie Gedeck. Chihiro blickte zwischen ihren Eltern und Kohaku hin und her. Dann nahm sie ihr Gedeck, schob es neben Kohakus und quetschte sich neben ihn auf seinen Sessel, wobei sie frech grinste. Der Junge blickte fragend zu Chihiro und die Eltern waren etwas überrascht. ,Meine Eltern sitzen zusammen, wir sitzen auch zusammen', begründete Chihiro ihr Verhalten bei Kohaku telepathisch, während sie zufrieden in die Runde blickte. Als Antwort rückte Kohaku etwas zur Seite, so dass Chihiro auch bequem sitzen konnte. Beim anschließenden Essen selber gab sich Kohaku alle Mühe, aber bereits nach nur zwei Sushihäppchen war er so voll, das er das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen. Langsam fragte er sich, ob er es jemals schaffen würde, für Menschen normale Essensportionen herunter zu bekommen. Es war ja nicht so, dass ihm das Sushi nicht geschmeckt hätten, trotz mancher Unzulänglichkeiten bei der Zubereitung, nur war er bereits nach dem einen, den Chihiro vorhin in der Küche zu essen gegeben hatte, vollkommen satt gewesen. Chihiro selbst allerdings und auch ihr Vater langten herzhaft zu, wohingegen ihre Mutter sich eher zurückhielt, der schlanken Linie wegen. "So, mein Junge", begann Chihiros Vater nach dem Essen. Er war nach dem Essen nun viel entspannter und beschloss noch einmal zu versuchen, sich mit Kohaku auseinander zu setzten, zu versuchen, sich daran zu gewöhnen, dass jetzt ein Drache in Gestalt eines kleinen Jungen bei ihnen wohnen würde. "Ich habe da noch eine Frage zu vorgestern. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich dich rausgeworfen habe." "Es ist ihr gutes Recht, mich hinauszuwerfen", entgegnete Kohaku, "ich bin ihnen deshalb nicht zornig auf sie." "Aber ich verstehe nicht, warum du dich nicht dagegen gewehrt hast", wunderte er sich, "du hast es nicht einmal versucht." "Aber sie sind doch Chihiros Vater. Wenn ich mich gewehrt hätte, hätte ich ihnen vielleicht wehgetan. Dann währen sie jetzt böse auf mich und wir könnten hier nicht sitzen und miteinander reden", gab Kohaku zurück. Das war keine Antwort, die Herr Ogino von einem kleinen Jungen erwartet hätte, der Kohaku zu sein schien. Dass Kohaku in Wirklichkeit ein Drache war, hatte er immer noch nicht verinnerlicht. "Sag mal Junge, wie alt bist du eigentlich?" wollte er deshalb wissen. "Fünfzehn. Jedenfalls ungefähr", antwortete Kohaku. "Schon fünfzehn. Ich hätte dich für jünger gehalten. Du bist ja kaum größer als Chihiro. Wie solltest du mir wehtun können? Ich bin ein ausgewachsener Mann und war einmal ein sehr guter Sumo Kämpfer. Du weißt doch was Sumo ist?" "Ich habe davon gehört, es aber noch nie gesehen. Die Kämpfer sollen sehr dick und sehr stark sein", meinte Kohaku. "Ja, das ist richtig", sagte Herr Ogino. "Möchtest du es einmal sehen?" Eigentlich interessierte Kohaku das Sumo-Ringen nicht besonders. Am liebsten währe er jetzt mit Chihiro alleine gewesen, aber die Höflichkeit gebot, dass er auf Chihiros Vater einging: "Wenn sie es mir zeigen möchten ..." Kohaku stand auf und verbeugte sich, bereit von Herrn Ogino im Sumo unterwiesen zu werden. "Nein, nein, nein, so meinte ich das nicht", beeilte Herr Ogino sich. "Bevor du dich darauf einlässt, solltest du dir erst einmal ansehen, worum es dabei geht. Die Rikishi sind nicht umsonst so groß und schwer. Jemand, der so klein und leicht ist, wie du, müsste schon äußerst stark und auch geschickt sein, um eine Chance zu haben." Er griff zu einem kleinen schwarzen Kasten mit vielen Knöpfen darauf, den er auf die merkwürdige Maschine richtete, die ihn bei Kohakus erstem Besuch in diesem Haus so in den Bann gezogen hatte. Damals hatte er nicht ergründen können, was Herrn Ogino so an diesem Apparat faszinierte. So war er jetzt umso neugieriger, was geschehen würde und sah aufmerksam hin. Im nächsten Moment brach für ihn die Hölle los. Das Gerät erwachte zum Leben, in einer unerträglichen Kakophonie aus jaulendem Gepiepe, untermalt von einem dumpfen Brummen und Rauschen. Unwillkürlich presste Kohaku die Handflächen gegen seine Ohren. Dann begann die vordere glatte Glasfront des kastenförmigen Dings in einem unerträglichen Geflimmer zu leuchten. Blinzelnd lugte Kohaku kurz hin und konnte so etwas wie ein unscharfes Bild erkennen, welches sich ruckartig veränderte. Das Bild setzte sich aus einzelnen Zeilen zusammen, die aus roten, grünen und blauen Punkten bestanden, wie Kohaku bemerkte. Mühsam gelang es ihm aus dem Geflimmer den Eindruck einer Abfolge von Bildern zu gewinnen, doch es erforderte seine ganze Aufmerksamkeit und Konzentration, bis er verstand, daß das Gezeigte dieser Bilder offenbar Sumo sein sollte. Nach nur wenigen Augenblicken war es soweit, dass er Kopfschmerzen bekam und seine tränenden Augen schließen musste. Nicht nur, dass seine Ohren von dem kreischenden Geräuschen des Kastens malträtiert wurden und seine Augen das undeutliche Geflacker nicht mehr aushielten. Die sonstigen übertragenen Geräusche waren so unnatürlich dumpf und schal, dass er nur mühsam in ihnen eine menschliche Stimme entdecken konnte, welche die Geschehnisse kommentierte. Hinzu kam noch das eigenartig prickelnde Gefühl, welches von der Glasfront der Kiste ausging und ihn sehr irritierte. ,Haku, was ist denn los mit dir?', drangen Chihiros besorgte Gedanken auf einmal in seinen Geist. ,Du bist plötzlich ganz blass geworden.' ,O, es ist nicht so schlimm', gab er zurück, ,sag deinem Vater nur, er soll dieses fürchterliche Ding ausmachen. Aber, sag mal, wolltest du mich nicht Kohaku nennen?' Kohaku blinzelte noch ein paar Mal und bekam so gerade mit, dass Chihiro auf ihren Vater einredete, wovon er wegen des Getöses kaum ein Wort verstand. "Papa, mach die Glotze aus!", kommandierte Chihiro energisch. "Du tust ihm weh!" Enttäuscht sackte Akio Ogino im Sofa zurück. Wie gerne hätte er dem Jungen sein geliebtes Sumo gezeigt. Und gerade jetzt wurde doch die Wiederholung der Makuuchi-Division der Kämpfe der besten Rikishi vom Nachmittag gezeigt. Das musste man doch sehen! Kohaku, dieser vorgebliche Drachengott, saß zusammengekauert neben Chihiro auf dem Sessel und hielt sich mit verkniffenem Gesicht krampfhaft die Ohren zu. Ziemlich erbärmliche Vorstellung für einen Kami, dachte Akio Ogino enttäuscht. Damit hob er erneut die Fernbedienung und schaltete die Kiste aus. "Sag mal Junge, als Gott scheinst du ja nicht viel auszuhalten", spottete er daraufhin. "Ich glaube nicht, dass ein Gott stärker ist, als ein Mensch. Deshalb fordere ich dich heraus!" Wenn er wirklich ein Gott war, musste ihn doch etwas von einem Menschen unterscheiden. Er erinnerte sich an das Märchen von der Drachenprinzessin, das er als Kind gelesen hatte, in dem ein Drache in Menschengestalt um die Hand einer Fürstentochter anhielt, um dann vom Fürsten betrogen zu werden. Dieser Drache war auch als Mensch viel stärker gewesen, als jeder normale Mann und hatte schwer verwundet noch ein Pferd überholen können. "Akio, Schatz, was soll denn dieser Unsinn", entfuhr es Yuko Ogino, der langsam dämmerte, worauf das Ganze hinauslief. "Du benimmst dich, wie ein kleiner Junge. Wenn ich nicht genau wüsste, dass du schon einundvierzig bist, würde ich glauben, du wärst zwölf, oder so." "Nein, Schatz, dass siehst du völlig falsch. Du und Chihiro sagen zwar, er sei ein Drache, aber glauben kann ich es trotzdem nicht, so wie er da sitzt, ein kleiner, schwacher Junge, auch wenn ich heute Morgen so etwas wie einen Drachen gesehen habe", verteidigte sich Chihiros Vater entrüstet. "Deshalb muss ich es ausprobieren, um Gewissheit zu bekommen, um es verstehen zu können. Er hält ja nicht mal aus, fernsehen zu gucken!" Akio beugte sich vor, über den Wohnzimmertisch, stemmte seinen Ellenbogen auf die Tischplatte, den Unterarm in 45° abgewinkelt. "Los, drück zu, Junge." Fragend schaute Kohaku auf die hingehaltene, offene Hand von Chihiros Vater. ,Chihiro, was soll ich jetzt tun?' dachte er zu ihr herüber. ,So etwas habe ich noch nie gemacht.' ,Och, das ist Armdrücken. Du musst deinen Ellenbogen auch auf den Tisch setzen und deine Hand in seine legen', dachte Chihiro zurück. ,Dann drücken beide so stark sie können und wer als erster die Hand des anderen auf den Tisch drückt, der hat gewonnen.' ,Und wozu soll das gut sein? Er ist ein Mensch und ich ein Drache. Ich könnte ihm den Arm auskugeln oder sogar brechen, wenn ich mit aller Kraft drücke. Menschen sind nicht sehr widerstandsfähig', gab Kohaku zu bedenken. Chihiro konnte sich noch gut an die enorme Kraft erinnern, mit der Kohaku sie damals zum Badehaus gezogen hatte, nachdem er sie vor dem Auflösen bewahrt hatte. Sie konnte sich auch sehr gut vorstellen, dass ihr Vater sogar noch stärker war, als Kohaku, den er war ja so viel größer. Aber auf jeden Fall, konnte er nicht so schnell rennen. ,Dann halt doch einfach nur dagegen', schlug Chihiro dann vor. ,Er wird dann vielleicht müde und gibt auf. Oder gib nach und verlier.' ,Aber wenn ich verliere, dann werden seine Zweifel nur noch größer', erwiderte Kohaku, ,ich glaube, es ist besser, wenn ich nicht verliere.' "Na, was ist nun, Junge?" forderte Papa Ogino und öffnete und schloss seine Hand ein paar Mal. "Traust du dich nicht?" Von dem kurzen Gedankenaustausch zwischen den Kindern hatte er nichts mitbekommen. Kohaku beugte sich vor und tat, was man von ihm erwartete. Seine feingliedrige Hand verschwand fast in der Pranke von Akio Ogino. Wegen des Gewichtsunterschieds - Chihiros Vater war nach Kohakus Schätzung viermal so schwer, wie er selbst - verkeilte er seine Beine vorsorglich an den Füssen des Sessels, in dem er saß. "Bist du bereit?" fragte Herr Ogino, Kohaku angriffslustig anfunkelnd. Dann drückte er zu und es passierte ... Nichts. Weder gab Kohakus Hand gab auch nur einen Millimeter nach noch war in dessen Gesicht auch nur eine Spur von Anstrengung zu erkennen. Herr Ogino machte ein ziemlich dummes Gesicht, bevor er mit noch größerer Entschlossenheit zu drücken versuchte. Erste Schweißperlen zeigten sich auf seiner Stirn und bei jedem Ruck, mit dem er probierte, Kohaku zu besiegen, grunzte er lauter. "Das gibt's doch gar nicht", entfuhr es ihm schnaufend, "ist dein Arm aus Eisen oder benutzt du Magie? Der rührt sich ja überhaupt nicht." Damit nahm er noch den linken Arm zur Hilfe, setzte sein ganzes Körpergewicht von gut einhundert Kilo und all seine Kraft ein. Das reichte zwar nicht, um Kohakus Arm von der Stelle zu bewegen, aber es reichte, um den viel leichteren Jungen, samt dem Sessel, auf dem er und Chihiro saßen, aus dem Gleichgewicht zu bringen und umzuwerfen. Plötzlich war der jetzt Widerstand weg, woraufhin Chihiros Vater nun ebenfalls das Gleichgewicht verlor und schräg nach vorne auf den Tisch krachte, der unter der Belastung umstürzte, für die er nicht vorgesehen war. Die Teetassen, die Chihiros Mutter nach dem Abendessen serviert hatte, zusammen mit der Teekanne, landeten auf dem Fußboden und vergossen ihren Inhalt auf den Boden, wo dieser sich mit dem aufgetragenen Reisgebäck vermischte. Zwei Tassen und die Teekanne zersprangen. Chihiros Mutter sprang mit einem empörten Aufschrei hoch, stemmte die Arme in die Hüften und raunzte: "Akio, was soll der Unsinn! Und wer darf das alles wieder sauber machen?" Der Sessel war auf der Seite zu liegen gekommen und Chihiro über Kohaku gekullert. Besorgt sprang sie auf und zog ihn dann am rechten Arm hoch. "Haku, ist dir was passiert?" wollte sie atemlos wissen. "Hast du dir wehgetan?" "Nein Chihiro. Es ist nichts passiert. Dein Vater war wohl etwas ungestüm", meinte er beschwichtigend, "wir sollten schauen, ob nicht er sich weh getan hat." Tatsächlich lag ihr Vater platt auf dem Bauch in einer Teepfütze und der Tisch war ihm mit der Platte nach unten auf den Kopf geknallt. Mit einem Stöhnen schob er den Tisch zur Seite und drückte sich hoch, wobei sich ein Bluttropfen von seiner Nase löste und sich mit dem Tee auf dem Boden vermischte. Er hustete, denn der Sturz hatte ihm die Luft aus den Lungen gedrückt. ,Komm Chihiro. Wir müssen ihm helfen', hörte sie Kohakus Stimme in ihrem Kopf. Er nahm sie bei der Hand und zog sie zu ihrem Vater hin, der nun mit allen Vieren auf dem Boden kauerte. Dort hielt Kohaku Papa Ogino die rechte Hand hin und zog ihn auf die Beine. Dann tippte Kohaku kurz auf die Nase von Chihiros Vater und sagte: "Im Namen des Wasser und Windes in dir, Schmerz weiche." Verwundert berührte Herr Ogino seine Nase. "O, sie tut auf einmal nicht mehr weh", staunte er und sah Kohaku dankbar an. Ein neuerlicher Tropfen Blut allerdings löste sich von der Nasenspitze und tropfte auf sein Hemd. ,Du hast ihn doch nicht geheilt, oder?' wollte Chihiro in Gedanken wissen. ,Nein, das kann ich nicht. Aber spürt es nicht mehr, bis die Wirkung des Zaubers nachlässt. Bis dahin sollte das Nasenbluten aufgehört haben. Die Nase ist jedenfalls nicht gebrochen', gab Kohaku in Gedanken zurück und sagte weiter, "Verzeihen sie Herr Ogino. Es ist alles meine Schuld. Ich habe eben nicht aufgepasst, bei diesem Armdrücken." Dabei verbeugte er sich vor Herrn Ogino. "Wieso deine Schuld, Junge", dröhnte Herr Ogino und klatschte mit seiner Hand so stark auf Kohakus Schulter, dass der nach vorne stolperte. "Wenn ich zu blöd zum Armdrücken bin, dann kannst du doch nichts dafür und schließlich bist du der Gast in unserem Haus. Ich kann nur sagen: Alle Achtung. Dass jemand, der so ... , äh ... , jung ist, wie du, schon solche Kraft hat ..." Damit nahm er den Tisch und stellte ihn wieder auf die Beine, während sich ein weiterer Bluttropfen unbemerkt von seiner Nasenspitze löste und auf die Tischplatte platschte. Kohaku hoffte, dass die Nase ihren Flüssigkeitsverlust bald einstellen würde und wünschte sich insgeheim, einmal richtige Heilzauber zu beherrschen. So lange jetzt der Zauber anhielt, der die Schmerzen ausschaltete, bemerkte Chihiros Vater nicht einmal, dass er noch immer blutete, was Kohaku sehr unangenehm war. Abgesehen davon fand er jedoch, dass Chihiros Vater sich ihm gegenüber reichlich merkwürdig benahm, so als ob er nicht wüsste, wie er sic ihm gegenüber verhalten sollte. Aber er war nun Mal Chihiros Vater und so beschloss Kohaku es zu ignorieren. Endlich kam Frau Ogino mit einem Wassereimer und einem Aufnehmer, um das Malheur zu beseitigen, sowie mit einem Taschentuch, dass sie ihrem Mann gegen die Nase drückte, der dann das Blut darauf endlich bemerkte und die Flecken auf seinem Hemd dann ganz erstaunt betrachtete. Chihiro überlegte, ob sie helfen sollte, aber ihre Mutter war schon mit dem Wischen fertig und hatte begonnen, die Scherben aufzusammeln. "Mama, Papa, ich muss noch Hausaufgaben machen", kündigte sie dann an, denn sie wollte endlich mit Kohaku alleine sein, "ich nehme Kohaku mit nach oben, und zeig ihm, was man da machen muss." "Ist gut, Schatz", gab ihre Mutter zurück, erleichtert, dass nichts wirklich Schlimmes passiert war. Ihr Vater hatte sich mittlerweile in einen Sessel sinken lassen, wo er sich das Taschentuch mit in den Nacken gelegtem Kopf gegen die Nase drückte. Er grunzte zustimmend. Chihiro nahm Kohaku an der Hand und zog ihn nach oben in ihr Zimmer, wo sie ihre Schulsachen aus der Schultasche holte. Sie setzte sich im Schneidersitz vor dem Schreibtisch auf den Boden und bedeutete Kohaku sich neben sie zu setzten. ,In den letzen Tagen hab ich gar keine Hausaufgaben gemacht, wegen dir', erklärte sie in Gedanken und grinste ihn an, ,du hast mich total abgelenkt.' ,Ich bin schuld? Das tut mir aber leid. Ist das sehr wichtig, diese Hausaufgaben?', wollte Kohaku wissen. Er rückte noch etwas dichter an Chihiro heran und beugte sich über ihr Japanisch-Heft. ,Doch, das ist sehr wichtig. Wenn ich später mal auf einer guten Universität studieren möchte, muss ich sehr gut in der Schule sein', erläuterte Chihiro in Gedanken, ,und vor allem muss ich gut schreiben und lesen können. Jedes Jahr lernen wir in der Schule gut 300 Schriftzeichen und deren Bedeutung. Ich kann jetzt etwa 1500 Kanjis, brauche aber mindestens 1900, besser aber 3000 - 4000, um alles richtig verstehen zu können.' ,Du kannst nur 1500 Schriftzeichen?' wunderte Kohaku sich, während Chihiro begann ein neues Schriftzeichen in die Kästchen in ihrem Heft einzutragen. Danach wiederholte sie es mehrfach und notierte dahinter die Kun- und On-Lesung in Katakana und Hiragana. Staunend sah Kohaku dabei zu und wunderte sich, wie mühsam für Chihiro das Erlernen der Schriftzeichen war. ,Wieso, 1500 ist doch normal, für mein Alter', gab Chihiro zurück, ,wie viele kannst du denn?' ,Yubaba hat mir zu Beginn meiner Lehrzeit mehrere Wörterbücher gegeben. Sie meinte, wenn ich wirklich richtig zaubern können wollte, müsste ich erst einmal perfekt schreiben und lesen können. Deshalb sollte ich sie auswendig lernen und das habe ich getan', meinte Kohaku, ,darin waren alle chinesischen Schriftzeichen und die daraus abgeleiteten japanischen. Ich kenne sie alle. Über 50000. Jetzt kann ich sogar Chinesisch lesen und schreiben, sprechen oder verstehen kann ich es aber leider nicht.' ,Du, du hast das auswendig gelernt?!' staunte Chihiro mit großen Augen. ,Und du hast noch nichts davon vergessen?' ,Chihiro, Götter vergessen nie etwas, was ich jemals gesehen, gehört oder gelernt haben. Ausser natürlich, sie wollen er vergessen, oder weigern sich, zu erinnern', erzählte Kohaku und wollte dann wissen: ,Aber fällt es denn allen Menschen so schwer, zu lernen?' ,Lernen ist immer mühsam. Manche lernen leichter und andere schwerer. Es gibt bestimmt auch ein paar, die 50000 Schriftzeichen beherrschen', sinnierte Chihiro, ,und du vergisst wirklich nie etwas? Ich meine, weil du doch auch ein Gott bist. Ich jedenfalls vergesse andauernd Sachen. Das ist bei uns Menschen nunmal so. Das meiste, was wir gesehen, gehört oder gelernt haben, vergessen wir irgendwann wieder, sonst würde uns irgendwann der Kopf platzen.' ,Das macht mich irgendwie traurig, dass ihr so viel wieder vergesst', dachte Kohaku, ,aber warte Mal, ich habe eine Idee. Halt mal still.' Er drehte sich etwas zu Chihiro und berührte sie mit der Hand an der Stirn, genau so, wie er es damals in dem kleinen Garten vor dem Badehaus getan hatte, als er ihr den Weg die Treppe hinunter zu Kamaji gezeigt hatte. Und dann ertrank Chihiro in einem Strudel aus Schriftzeichen. Akio Oginos Nasenbluten hatte sich mittlerweit beruhigt und er hatte sich auch ein neues Hemd, ebenso wie eine frische Hose angezogen, denn die andere war voller Tee- und Blutflecken gewesen. Außerdem hatte Yuko darauf bestanden, sie sofort einzuweichen, da sonst die Flecken nicht mehr herausgingen. Ohne wirkliches Vergnügen schaute er sich die Zusammenfassung des Sumo-Kampftages an. Die ganze Zeit konnte er nur an die verrückte Kraft des Jungen denken und daran, wie lächerlich er sich gemacht hatte. Gut, der Junge war klein, hatte dünne Ärmchen und schmale Hände, aber wenn er nun wirklich ein Drache war, konnte er sich kaum beschweren, dass er verloren hatte. Was zum Henker, wollte dieser Drache nur von seiner Tochter. Diesen ganzen Krempel mit der geteilten Lebenskraft mochte ja glauben wer wollte ... Nein, das war ganz bestimmt nur ein Vorwand, um sich bei ihnen einzunisten, dachte er. Aber Drachen sollten ja auch Glück bringen .... Seine Frau saß auf dem Sofa gegenüber und blätterte mit verschlossener Mine, unzufrieden in einem Modemagazin. Was die beiden Kinder, falls man den jungen Drachen überhaupt als Kind bezeichnen konnte, wohl da oben machten? So langsam machte Herr Ogino sich Sorgen, denn seit über einer Stunde hatte er nichts von oben gehört. Wenn zwei Kinder zusammen waren, musste man doch ab- und zu etwas von ihnen hören, oder nicht? Da er sich nicht traute, nachzuschauen, brütete er schlecht gelaunt vor sich hin. "Sag mal Schatz, es ist so ruhig. Was meinst du wohl, machen sie oben?" fing er nach einer Weile zögerlich an. "Hausaufgaben. Sie machen Hausaufgaben", antwortete sie, ohne aus dem Modemagazin aufzuschauen. "Das hat Chihiro doch gesagt." "Glaubst du das wirklich? Ich meine, vielleicht machen die beiden etwas ganz anderes?" Unruhig rutschte er in seinem Sessel hin und her. "Ist ja gut, Akio, ich geh ja schon nachschauen." Seelenruhig blätterte sie noch eine Seite weiter, legte das Modemagazin auf den Tisch und machte sich dann auf den Weg die Treppe hinauf. Die Tür zu Chihiros Zimmer stand weit offen und fast dachte sie, niemand wäre darin, weil es so still war. Aber als sie hinein schaute, sassen die Beiden vor dem Schreibtisch, auf dem Chihiros Schulsachen ausgebreitet waren. Doch wie sie da hockten war schon sehr eigenartig. Einander zugewandt saßen sie da, Chihiro im Schneidersitz und Kohaku mit untergeschlagenen Beinen direkt vor ihr, wobei er sie mit der rechten Hand an der Stirn berührte. Beide hatten die Augen geschlossen, wobei Chihiro einen etwas verkniffenen, angestrengten Ausdruck hatte, wohingegen Kohaku so entspannt aussah, als würde er gerade der Erleuchtung zuteil. Yuko Ogino beobachtete die Beiden noch einige Minuten, wobei sie ein eigenartiges Kribbeln in der Magengrube hatte. Im tiefsten Inneren wünschte sie sich, dort an Chihiros Stelle zu sitzen und zu erfahren, was der junge Drache gerade mit ihrer Tochter anstellte. Schließlich riss sie sich von dem Anblick los und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo sie sich wieder auf das Sofa setzte und das Modemagazin erneut zur Hand nahm. "Und, was ist?" entfuhr es Akio Ogino, der es vor Spannung kaum noch aushielt. "Sie machen Hausaufgaben, Schatz", schnappte Yuko Ogino, "was sonst?" Nur wenige Augenblicke nachdem Kohaku begonnen hatte, sie mit Schriftzeichen zu überfluten, hörte es auch schon wieder auf und mit einem Seufzer sackte Chihiro nach hinten. Ihr war total schwindelig und leichte Kopfschmerzen hatte sie auch. ,Was ...', dachte sie, wobei ihr plötzlich der Schädel zu explodieren schien. Instinktiv stieg sie auf verbale Kommunikation um. "Was hast du mit mir gemacht?" verlangte sie zu wissen. Das war schon viel besser so. Reden tat längst nicht so weh, wie denken. "Ich hab alle Schriftzeichen, die ich kenne, in dich hinein gespiegelt", flüsterte Kohaku sanft, "wenn es funktioniert hat, kennst du jetzt auch alle Schriftzeichen, die ich kenne." Chihiro mochte das so einfach nicht glauben, denn bis auf die Kopfschmerzen fühlte sie sich genauso, wie vorher. "Du meinst, ich kenne jetzt auch über 50000 Schriftzeichen?" Kohaku nickte. Chihiro versuchte sich irgendwelche Schriftzeichen vorzustellen, die sie eigentlich noch nicht kannte, aber es gelang ihr nicht. Es waren anscheinend nur die 1500 da, die sie auch schon vorher gekannt hatte. Die aber ganz klar und deutlich. Dann stutzte sie. Diese 1500 Schriftzeichen standen so klar vor ihrem geistigen Auge, dass sie diese problemlos in genau der Reihenfolge hätte niederschreiben können, in der sie sie erlernt hatte. Und auf einmal begriff sie das System, nach dem die Schriftzeichen zusammengesetzt waren. Etwas war anders als zuvor, aber noch konnte sie nicht genau sagen, was. "Kohaku, es sind aber nur die Schriftzeichen da, die ich bereits kenne", stellte sie zögerlich fest. "Woher soll ich wissen, ob ich jetzt all die anderen Zeichen kann?" "Schau nur in dein Schulbuch. Schau dir die Zeichen an, die du noch lernen sollst", gab er leise zurück und schlug das Buch im Verzeichnis der Zeichen am Anhang auf. Chihiro erblickte die Schriftzeichen, die sie noch zu lernen hatte, und es war, als würde sie sich nur an bereits gelerntes erinnern. So ein: Ach ja, das Zeichen gab es ja auch noch. Wie konnte ich das nur vergessen? Sofort waren die neuen Schriftzeichen präsent und sie wusste sowohl, was sie bedeuteten, als auch, wie man sie schreiben musste. Augenblicklich waren ihre Kopfschmerzen vergessen und aufgeregt sprang sie auf und holte ein Buch, das sie bisher noch nicht hatte lesen können, weil sie einfach zu wenige Schriftzeichen kannte. Sie schlug eine x-beliebige Seite auf und konnte sie problemlos herunterlesen. Mehrere dutzend Schriftzeichen wechselten dabei von ihrem passiven Sprachschatz in den aktiven. "Kohaku, das ist ja so irre", jauchzte sie begeistert, "sobald ich ein unbekanntes Zeichen lese, erinnere ich mich und dann kenne ich es, so als hätte ich es schon immer gekannt. Glaubst du, es funktioniert auch noch morgen?" Sie zog ihn hoch und begann ausgelassen um ihn herum zu hüpfen, während sie ihn an den Händen haltend um die eigene Achse drehte. "Ja bestimmt, Chihiro", erwiderte Kohaku und musste das erste mal seit vielen Jahren wieder lachen, "jetzt wist du nie wieder ein Schriftzeichen lernen müssen." Nachdem sie eine Weile getobt hatten, stand plötzlich Chihiros Mutter im Türrahmen. Sie lächelte ebenfalls, schaute dann jedoch demonstrativ auf ihre Uhr. "Chihiro, du solltest so langsam ins Bett gehen. Denk daran, morgen musst du auf jeden Fall wieder in die Schule." "Ins Bett, jetzt schon?", protestierte Chihiro, "Wir haben doch höchstens kurz nach Neun" Hilfe suchend sah sie sich nach ihrem Wecker auf dem Regal neben dem Fenster um und erschrak. Er zeigte 23:08 Uhr abends, was bedeutete, dass der Schriftzeichendownload von Kohaku nicht nur einige Augenblicke gedauert hatte, wie es ihr Eindruck gewesen war, sondern mehr als zwei Stunden. "Ja, jetzt schon. Und Kohaku wird auch in sein Zimmer gehen und dort übernachten. Was sollen denn die Leute von uns denken, wenn wir wildfremde Jungen bei unserer Tochter schlafen lassen." Ihr Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. Chihiro und ihre Mutter ging mit Kohaku in das Gästezimmer herüber, welches von nun an das Zimmer des jungen Drachen sein sollte. Sie zeigten ihm, wie das Schlafen in einem Bett westlichen Zuschnitts gedacht war und danach kehrte Chihiro allein in ihr Zimmer zurück, wo sie ihren Futon auf dem Boden ausbreitete. Gegen Mitternacht kam Chihiros Mutter noch einmal nach oben, um nach dem Rechten zu sehen. Es war vollkommen ruhig und beide schliefen artig in getrennten Zimmern und Betten, so, wie sich das gehörte. Was Akio sich nur immer vorstellte? Doch Kohaku konnte unter der Bettdecke keineswegs zur Ruhe gelangen. Wieder für sich alleine kamen die Gedanken an das Elend der Frösche im Bergwerk hoch und er fühlte sich schuldig, weil er hier jetzt so Glücklich bei Chihiro war. Was wohl Torooru gerade machte? Lange konnte die Sache im Bergwerk nicht mehr gut gehen und irgendwann musste Yubaba einfach entdecken, was dort los war. Bei diesem Gedanken fühlte Kohaku sich sehr elend und wäre am liebsten in seiner vertrauten Kiste verschwunden, an deren Totenstille und klaustrophobische Enge er sich so lange gewöhnt hatte. Er musste sie einfach aus dem Bergwerk befreien, sonst würde Yubaba am Ende noch alle umbringen und mit dieser Schuld würde er bis ans Ende leben müssen. Er würde es bald tun müssen. Doch auch Chihiro konnte nicht einschlafen. Die ganze Zeit überlegte sie, was Kohaku gerade machte und jedes Mal, wenn sie wegdämmerte, schreckte sie wieder hoch, mit einem Wirbel aus Schriftzeichen in ihrem Kopf. Kurz nach Mitternacht bemerkte sie, wie ihre Mutter nach dem Rechten sah, wobei sie so tat, als wäre gar nicht da. Chihiro ließ sich nichts weiter anmerken und nach einer weiten Stunde, fühlte sie plötzlich, wie Kohaku sich neben sie setzte. Er war dabei viel leiser gewesen, als ihre Mutter zuvor. So leise, dass sie ihn nur deswegen bemerkt hatte, weil das Gefühl seiner Nähe auf einmal viel stärker geworden war. Irgendwann war Kohaku innerlich so unruhig geworden, dass er es nicht mehr aushielt. Er musste Chihiro einfach erzählen, dass Zeniba ihnen Unterricht im Zaubern geben wollte. Dann würde er wieder in die Geisterwelt kommen und mit Zeniba darüber reden können, wie man Yubaba stoppen konnte. Zudem wollte die alte Hexe mit diesem Phenaktit-Stein irgendwie dafür sorgen, dass er nicht immer in der Nähe von Chihiro bleiben musste. Gleichwohl war Chihiro das Wichtigste für ihn. Er durfte sie auf gar keinen Fall in Gefahr bringen, bei dem Versuch, die Frösche und Torooru aus dem Bergwerk zu befreien. Vorsichtig berührte er das Mädchen an der Schulter. ,Chihiro, ich bin es', dachte er zu ihr hinunter. ,Hallo Kohaku', gab Chihiro in Gedanken zurück, ,Mama hat doch gesagt, dass du in deinem Zimmer schlafen sollst.' ,Wenn du willst, gehe ich wieder zurück', antwortete er. ,Nein, ich möchte lieber, dass du hier bleibst', gab sie nach, ,ich kann nämlich nicht schlafen.' ,Ich kann auch nicht schlafen', dachte Kohaku. ,Die ganze Zeit wollte ich dir schon sagen, dass Zeniba uns beide eingeladen hat. Sie ist bereit uns beiden das Zaubern beizubringen.' "Oma Zeniba?!", entfuhr es Chihiro und als ihr auffiel, dass sie laut geredet hatte dachte sie weiter: ,Wir gehen sie besuchen, ja? Da freue ich mich aber schon. Und sie will uns beiden das Zaubern beibringen? Ich dachte, du kannst schon zaubern.' ,Ach Chihiro. Ich war zwar der Lehrling von Yubaba, aber alle was ich kann, habe ich mir nur bei ihr abgeschaut. Beigebracht hat sie mir fast Nichts, jedenfalls Nichts über Magie', erwiderte Kohaku, ,Kochbücher habe ich auswendig gelernt, Bücher über Kräuter, Bücher über Viehzucht und über Landwirtschaft. Um die Gäste unterhalten zu können, musste ich Gedichte lernen, Shamisen spielen und sogar Tanzen wie eine Geiko. Selbst Buchhaltung habe ich von Aniyaku gelernt. Jetzt weiß ich alles darüber, wie man erfolgreich ein Badehaus leitet, aber in Zauberei wurde ich nicht ausgebildet.' Chihiro drehte sich herum und blickte zu Kohaku auf. Gerade so konnte sie in der Dunkelheit seine Umrisse erkennen. ,Für so gemein habe ich Yubaba gar nicht gehalten. Als ich damals das Rätsel mit den Schweinen gelöst hatte - bis heute weiß ich nicht, woher ich es wusste - fing ich sogar ein wenig an, sie zu mögen. Aber ich glaube, sie hat wohl zu sehr an Zeniba erinnert.' Sie strich ihm über die Haare. ,Weißt du Chihiro. So wichtig wie damals ist mir das Zaubern heute nicht mehr. Ich war damals sehr wütend auf die Menschen und wollte die Zauberkraft benutzen, um mich zu rächen und meinen Fluss zurück zu erlangen', meinte Kohaku, ,aber jetzt habe ich ja dich. Du bist jetzt mein Fluss und ein Mensch bist du auch. Wozu sollte ich da noch ein mächtiger Zauberer werden wollen?' Um Yubaba zu besiegen und die Leute aus dem Bergwerk zu befreien, fügte er noch hinzu, ohne diesen zu Chihiro dringen zu lassen. ,Ich glaube aber auch, du solltest lernen, wie man mit den magischen Fähigkeiten umgeht, die du mit mir teilst. Sonst machst du irgendwann aus Unachtsamkeit noch etwas Schlimmes, weil du deine Magie nicht beherrscht', fügte Kohaku hinzu, ,und wenn ich noch etwas hinzulerne, kann das auch nicht schaden.' ,Ja! Dann gehen wir beide zu Zeniba und lernen Zaubern', jubelte Chihiro in Gedanken, ,morgen zeige ich dir, was ich jetzt schon Zaubern kann und am Wochenende gehen wir zu Zeniba.' ,Wochenende? Was ist denn ein Wochenende? Und wie lange ist das noch hin?', wunderte Kohaku sich. Eigentlich wollte er möglichst bald zu Zeniba. ,Du weißt nicht, was das Wochenende ist?' Chihiro war sehr erstaunt, aber dann sagte sie sich, dass er ja die meiste Zeit seines Lebens in der Geisterwelt verbracht hatte und sicher Vieles über die Menschenwelt nicht wusste. ,Das Wochenende ist am Samstag und Sonntag. Dann haben alle Leute frei, außer denen, die arbeiten müssen. Mama muss dann aber trotzdem in den Konbini und Papa macht seine Abrechnungen und so. Also eigentlich müssen ziemlich viele Leute am Wochenende arbeiten ....' Chihiro stutzte. Irgendwie schien ihre Erklärung nicht so ganz stichhaltig zu sein. ,Jedenfalls ist am Wochenende keine Schule und ich kann tun und lassen, was ich will ... außer ich muss Hausaufgaben machen oder Lernen oder Mama im Haushalt helfen.' Sie musste ganz unbedingt einmal genau darüber nachdenken, warum das Wochenende eigentlich das Wochenende war, beschloss sie innerlich. ,Morgen ist jedenfalls Freitag und danach ist Wochenende und dann habe ich keine Schule. Aber weil ich morgen zur Schule muss, sollten wir jetzt schlafen. Sonst bin ich den ganzen Tag müde und kann nicht aufpassen. Legst du dich auch hin, ja? Wenn du da so sitzt, dann muss ich immer daran denken, wie du da so sitzt und ... und ...' So langsam fing sie an Blödsinn zu reden und dann merkte sie auch noch, wie sie plötzlich gähnen musste. Deshalb verstummte sie. Kohaku spürte die starke Müdigkeit, die von Chihiro ausstrahlte und allmählich auch von ihm selbst Besitz ergriff. Ihre Nähe beruhigte ihn und so streckte er sich neben Chihiro aus und ließ sich einfach treiben, wie seit so vielen Jahren nicht mehr, seit er seinen Fluss verloren hatte. Chihiro spürte das, kuschelte sich unwillkürlich an ihn ran und schlief praktisch sofort ein. Wie eine Welle schwappte das Schlafbedürfnis von Chihiro auch zu Kohaku hinüber. Fast erschrocken rollte er ein Stück zur Seite und in dem Moment, in dem er sie nicht mehr berührte, verschwand seine Schlaftrunkenheit und wich einer leichten Müdigkeit. Einige Momente dachte er über diesen Effekt nach, bevor er wieder zurückrollte, seinen Arm um Chihiro legte und sich fallen lies. Kaum berührte er sie, wurde der Schlaf augenblicklich übermächtig und Kohaku schlief ein. Nach weniger als zwei Stunden wachte Kohaku erfrischt wieder auf. Chihiro hatte sich neben ihm zusammengerollt und seinen linken Arm umklammert. Vorsichtig und ohne das Mädchen zu wecken, versuchte er sich von ihr zu lösen. Nach einer Weile gelang es ihm auch, so dass er sich aufsetzen und die schlafende Chihiro voller Glück betrachten konnte. Im Gegensatz zu einem Menschen konnte er in der fast vollkommenen Dunkelheit des Zimmers noch immer ausreichend sehen. Den ganzen Rest der Nacht hockte er neben dem Mädchen, bewachte und betrachtete sie. Lange, unendlich lange hatte er sich nicht mehr so Wohl gefühlt wie jetzt, und doch musste er immer wieder an das Bergwerk, die gefangenen Froschmänner und Torooru denken. Als er kurz vor Morgengrauen den Wecker von Chihiros Eltern klingeln hörte, kehrte er ebenso leise, wie er gekommen war, in sein Zimmer zurück, wo er sich in das Bett legte, als ob er dort geschlafen hätte. Dort wartete er, bist Chihiros Mutter kam, um nach dem Rechten zu sehen und sie beide aufzuwecken. Kapitel 18: Zenibas Plan ------------------------ Zenibas Plan "Ihr wollt was?" brüllte Herr Ogino und sprang vom Küchenstuhl hoch. Frau Ogino schaute etwas irritiert erst zu ihrer Tochter und dann zu Kohaku hinüber, der Chihiro gegenüber sitzend, unbeteiligt wirkte. Sie waren gerade mit dem gemeinsamen Abendessen fertig geworden, als Chihiro etwas kleinlaut ihre Absichten für das Wochenende ankündigte. Zusammen mit Kohaku wollte sie zu so einer Hexe, einer gewissen Zeniba, um dort Zauberunterricht zu nehmen. Dazu beabsichtigten sie jeweils die Nacht von Freitag auf Samstag, sowie von Samstag auf Sonntag in einem Sumpf verbringen, den sie irgendwie über den Weg durch den Wald erreichen wollten. Jedenfalls erschien Yuko Ogino die ganze Angelegenheit nicht geheuer. "Das kommt überhaupt nicht in Frage!" polterte Akio Ogino weiter, die Arme in die Hüften gestemmt. "Ihr werdet mal schön hier bleiben." "Aber Papa, wir müssen doch zu Zeniba. Sie hat gesagt, sie könnte mir und Kohaku helfen, damit er sich nicht immer auflöst", versuchte Chihiro zu argumentieren, "Und außerdem müssen wir beide endlich richtig Zaubern lernen!" "Pah, zaubern. Dass ich nicht lache! Als ob dieser angebliche Drache da", er zeigte auf Kohaku, "irgendwelche Zauberkräfte hätte. Er hat gestern ja nicht mal mein Nasenbluten stoppen können. Und beim Armdrücken hat er bestimmt auch getrickst. Na los, zeig uns doch deine Zauberkräfte, du Gott, du. ... duu ...." Kohaku schaute etwas beschämt auf seinen Teller, Chihiro sass ihm gegenüber auf der anderen Seite des Tisches und solange er keinen direkten Körperkontakt zu Chihiro hatte, konnte er seine magischen Fähigkeiten in der Menschenwelt nicht nutzen. "Papa, du bist gemein zu ihm. Er kann doch jetzt nicht zaubern und das weißt du ganz genau", versuchte sie ihn zu verteidigen. "Er kann hier nicht zaubern, er kann jetzt nicht zaubern, er kann überhaupt nicht zaubern!" echoffierte sich Herr Ogino weiterhin, "So etwas wie Zauberkräfte gibt es nicht und darum braucht ihr auch keinen Zauberunterricht und bleibt Zuhause. Basta!" Chihiro war mittlerweile ziemlich angefressen. "Kohaku kann vielleicht gerade nicht zaubern, aber ich!", rief sie und machte im Affekt eine Geste, als wollte sie einen Ball hoch werfen. Mit einem Ruck wurde Papa Ogino aus seinem Stuhl hochgerissen und klatschte mit einem dumpfen Aufprall gegen die Decke, als wenn er von einem Trampolin emporgeschleudert worden wäre. Hilflos ruderte er mit seinen Gliedmaßen, als wäre er eine Fliege in einem Spinnennetz, denn genau so fühlte er sich auch. Es war keineswegs so, als hätte sich die umgekehrt und würde ihn nach oben ziehen, sondern eher, als würde er mit dem Bauch an der Decke kleben, während seine Arme und Beine zu Boden gezogen wurden. Erschocken quiekte Chihiro und schlug ihre Hände vor den Mund, denn eigentlich hatte sie ihren Vater nur kurz anlupfen wollen, um ihn zu überzeugen, dass sie doch Zauberkräfte hatte. "Lasst mich sofort runter", brüllte ihr Vater aufgebracht, während er versuchte, sich mit den Armen nach unten stemmen. Unterbewusst gehorchte Chihiro augenblicklich, sodass sich der Zauber löste. Sofort setzte Kohaku, der den Ernst der Lage begriffen hatte, geschmeidig und ansatzlos über den Tisch hinweg, wo er Chihiros Vater mit beiden Armen auffing. "Autsch!" grunzte der. "Musst du denn so grob zupacken, Junge? Das tut doch weh!" Vorsichtig stelle Kohaku den korpulenten Mann wieder auf die Beine und verbeugte sich anschließend vor ihm. "Verzeihen sie bitte, Herr Ogino, aber hätte ich weniger stark zugefasst, hätte ich sie fallen lassen", rechtfertigte er sich. "Ja, ist ja schon gut. Danke, dass du mich aufgefangen hast", grummelte Herr Ogino nach kurzem Zögern. Mittlerweile hatte er bemerkt, dass er ohne Kohakus Eingreifen auf seinen Stuhl gekracht wäre, was sicherlich ernstere Folgen gehabt hätte, als die mutmaßliche Rippenquetschung, die er jetzt hatte. "Aber du, du machst, dass du sofort nach oben kommst! Ich will dich heute Abend nicht mehr sehen!" Dabei deutete er mit durchgestrecktem Arm direkt auf Chihiro, die sich am liebsten, wie Kohaku das so gut konnte, in Luft aufgelöst hätte. "Ist gut, Papa, ich geh' ja schon", nuschelte sie und schlich mit hängendem Kopf aus der Küche. Kohaku kam ihr augenblicklich nach, wurde aber von Papa Ogino an der Schulter gepackt. "Dich habe ich nicht nach oben geschickt. Du kannst hier bleiben", meinte er. "Verzeihen sie bitte, Herr Ogino, aber ich gehöre zu Chihiro und möchte bei ihr bleiben", entgegnete der junge Gott und blickte Akio Ogino ernsthaft an, "außerdem ist das eben passiert, weil Chihiro mit eben ihren Zauberkräften nicht richtig umgehen kann. Sie sollte es lernen, sonst könnten noch viel schlimmere Dinge passieren, als eben." Damit entzog er sich Herrn Oginos Griff und folgte Chihiro in ihr Zimmer. "Akio, du hast dich mal wieder unmöglich benommen", begann Yuko Ogino erbost, nachdem sie Kohakus Abgang abgewartet hatte. "Ich soll mich unmöglich benommen haben? Und was sagst du zu deiner Tochter und diesem Möchtegern-Drachen, der sich bei uns eingeschlichen hat?" explodierte Chihiros Vater. "Jetzt will der auch noch meine Tochter nachts in den Wald zu einer Hexe entführen, die dort wer weiß was für dämonische Experimente anstellt. Das kommt überhaupt nicht in die Tüte!" "Vielleicht solltest du dich erst einmal ein wenig ausruhen, Akio. Gleich fängt Sumo im Fernsehen an und ich werde dir Reiswein warm machen", versuchte Yuko Ogino ihn abzulenken, damit sein Ärger verrauchte. Sie wusste, dass mit ihrem Mann in diesem aufgebrachten Zustand nicht zu diskutieren war und wie zur Bestätigung dampfte er, ohne ein weiteres Wort zu sagen, missgelaunt ins Wohnzimmer ab, wobei er, vor sich hingrummelnd, seinen rechten Rippenansatz betastete. "O, Kohaku, wie konnte mit das nur passieren. Ich wollte doch nur, ich wollte ..." Sie drückte Kohaku an sich und schluchzte: "Fast hätte ich meinen Papa umgebracht." "Nein, Chihiro. Dein Vater ist ein kräftiger Mann und ein Sturz von der Decke hätte ihn ganz bestimmt nicht umgebracht", versuchte er Chihiro zu beruhigen, "aber er hätte sich durchaus etwas brechen können." "Etwas brechen? Ja, glaubst du? Das ist doch fast genauso schlimm. Nein, am besten ist es, wenn ich nie, nie wieder Magie verwende. Dann kann sowas auch nicht mehr passieren", erklärte Chihiro daraufhin entschlossen, wobei sie Kohaku direkt in seine grünen Augen blickte. "Chihiro, wenn du nicht lernst, mit deine Zauberkräfte zu benutzen, dann werden sie irgendwann aus dir hervorbrechen", entgegnete Kohaku sanft, "und du lernst sie nur zu beherrschen, indem du fleißig übst. Das ist so, wie bei allen Dingen, weißt du. Wie beim Laufenlernen, wie beim Schreiben- und Lesenlernen." "Aber Kohaku, wenn dabei doch manchmal so schlimme Sachen passieren... Nein, ich glaube, du hast Recht. Manami hat auch einmal so etwas ähnliches über das Zaubern gesagt", meinte sie daraufhin, drehte ihren Kopf weg und ließ Kohaku wieder los. "Wer ist denn Manami?" wollte er daraufhin wissen. "Und was weiß sie über Magie?" "Manami ist ...sie ist eine Freundin von mir. Ich werde sie dir eines Tages mal vorstellen. Du wirst sie bestimmt sehr mögen", antwortete Chihiro, "wenn du magst, können wir sie morgen schon besuchen. Sie wohnt nicht weit von hier und ich habe sie schon seit ein paar Wochen nicht mehr besucht. Und was sie über Zauberei weiß ... das wirst du ja sehen, wenn du sie kennen lernst, hihi." "Aber noch viel wichtiger, als deine Freundin zu besuchen ist, dass wir zu Zeniba gehen. Sie hat nämlich gesagt, sie hätte eine Lösung für unsere Schwierigkeiten. Dann löse ich mich nicht mehr auf, wenn wir uns zu weit voneinander entfernt haben und du wirst nicht mehr fast ohnmächtig, wenn ich wieder eine Gestalt annehme", erwiderte Kohaku. "außerdem muss ich noch etwas sehr Wichtiges mit ihr besprechen, etwas, das Yubaba angeht." "Also gut. Ich möchte Oma Zeniba ja auch wiedersehen. Sollen wir nachher einfach abhauen und so zu ihr gehen?", schlug Chihiro dann kichernd vor, "Wenn wir uns heimlich fortschleichen, nachdem die eingeschlafen sind, dann werden Mama und Papa bestimmt nichts merken." "Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist." Kohaku schüttelte den Kopf. "Vielleicht merken sie es, vielleicht auch nicht, aber auf jeden Fall haben wir dann ihr Vertrauen missbraucht. Dein Vater ist ohnehin nicht besonders glücklich mit meiner Anwesenheit hier, aber ich bin jetzt Gast in eurem Haus und muss mit deinen Eltern auskommen. Wir dürfen sie nicht wieder vor vollendete Tatsachen stellen, sondern müssen erreichen, dass sie uns vertrauen. Dann erlauben sie uns vielleicht auch Dinge zu tun, auch wenn sie sich Sorgen um uns machen." "Ach Kohaku, ich glaube zwar, dass du Recht hast, aber du klingst jetzt so furchtbar erwachsen, als wärst du schon 100 Jahre alt. Wenn wir nicht zu Zeniba gehen, was machen wir dann" fragte Chihiro, "sollen wir vielleicht etwas spielen?" Das gab Kohaku einen Stich ins Herz, denn zuletzt hatte er am Ufer seines Flusses mit den Kindern gespielt. Das war jetzt acht Jahre her. "Doch Chihiro, ich glaube, ich möchte etwas spielen. Was sollen wir denn spielen?" "Ich, ich weiß nicht genau. Was spielen Drachen denn so?" wollte sie wissen. "Ich weiß nicht, was Drachen so spielen. Ich kenne doch nur ein paar Drachen, die Gast im Badehaus waren. So richtig persönlich kenne ich keinen anderen Drachen und vor allem auch keinen in meinem Alter", meinte Kohaku, "Als ich klein war, habe ich häufig mit den Kindern gespielt, die an meinem Ufer badeten. Wir haben zum Beispiel Fangen gespielt, aber hier im Zimmer macht das nicht viel Sinn." "Du hast Fangen gespielt? Da wär ich ja nie drauf gekommen. Aber ich glaube, ich weiß was, dass wir hier drinnen spielen können. Wir spielen Ohajiki. Das wird mit kleinen flachen Murmeln gemacht", entschied Chihiro, lief zum Schrank und kramte eine kleine, bemalte alte Pappschachtel heraus. "Das habe ich zuletzt mit Risa gespielt, meiner Freundin aus Tokyo. Hier komm, wir müssen den Schreibtisch etwas ins Zimmer ziehen, damit wir einander gegenüber sitzen können." Kurz darauf hatte Chihiro die auf den Tisch gekippten Murmeln zwischen sich und Kohaku aufgeteilt. Jeder von ihnen musste nun mit den Fingern seine Murmeln auf die des anderen schnippen, die man behalten durfte, wenn man sie traf. Wer am Ende die meisten Murmeln hatte, war der Gewinner. Akio Ogino hatte dem Sake gut zugesprochen, was zu einer beträchtlichen Verbesserung seiner Laune führte, die noch dadurch verstärkt wurde, weil Ozeki Kaio diesem mongolischen Möchtegern Yokozuna Asashoryu, diesem Emporkömmling und Betrüger*, gezeigt hatte, in welchem Land Sumo ursprünglich erfunden worden war. Im nächsten Turnier würde Kaio dann bestimmt wieder gewinnen und dann gäbe es endlich wieder einen japanischen Yokozuna, hoffte er mit großer Zuversicht. *Asashoryu war in einem Kampf disqualifiziert worden, weil er seinem mongolischen Gegner Kyokushuzan, den er seit der Jugendzeit nicht leiden konnte, an den Haaren zu Boden gezogen hatte. Das ist strengstens verboten und hat zu einem beispiellosen Skandal geführt, denn noch nie war ein Yokozuna disqualifiziert worden. Yuko Ogino hatte derweil über das Anliegen der Kinder nachgedacht. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass Kohaku vielleicht Recht hatte und jemand Chihiro das Zaubern richtig beibringen musste. Dabei musste sie daran denken, wie sie ihre Tochter einmal auf dem Wasser in der Badewanne schlafend vorgefunden hatte, was sie damals an ihrem Verstand hatte zweifeln lassen, oder was Chihiro erst vor kurzem in der Küche mit dem Wasser gemacht hatte. Nur hatte sie eher daran gedacht, dass Kohaku ihr die Zauberei beibringen könnte und war etwas enttäuscht zu hören, dass er auch nicht richtig zaubern konnte. Wenn da aber eine erfahrene Hexe war, der Kohaku und Chihiro vertrauten, war es vielleicht nicht das schlechteste, dieser das Feld zu überlassen. Insgesamt ertappte sie sich dabei, dass sie jungen Gott im Bezug auf ihre Tochter am liebsten alles erlaubt hätte. Wider aller Vernunft hatte sie vollkommenes Vertrauen zu dem Gott gefasst und obwohl ihr dass bewusst war, versucht sie dieses Gefühl rational zu untermauern. ließ sie Chihiro im Sommer nicht auch alleine mit Ayaka und Ichiyo an diesem Waldsee baden gehen, wo diese geheimnisvolle Frau Manami lebte? War das wirklich weniger gefährlich als Chihiro zusammen mit einem Drachen nachts eine Hexe besuchen zu lassen? Eigentlich war das doch ganz schön leichtsinnig, die Kinder alleine in den Wald zu lassen, überlegte sie zweifelnd Aber passiert war doch auch nie etwas. Vielleicht gab es ja dort auch irgendwelche Drachen, Götter oder Dämonen, aber waren nicht die schlimmsten Monster, denen die Kinder begegnen konnten, andere Menschen, Verrückte, Perverse? Mit denen würde Kohaku leicht fertig werden, wie sie gestern beim Armdrücken gesehen hatte. Mit welcher Leichtigkeit der Junge gerade vorhin ihren Akio aufgefangen hatte. War eine Hexe dann wirklich so etwas Schlimmes. Wann hatte sie schließlich zuletzt von einer Hexe gehört, die ein Kind gefressen hatte? Kohaku und Chihiro schienen dieser Hexe zu vertrauen, also warum sollte sie sich dann Sorgen machen? "Äh, Akio? Meinst du nicht auch, dass du vorhin etwas zu heftig reagiert hast?" fragte sie unvermittelt. "Wie, was? Zu heftig. Was meinst du, Schatz", entgegnete Papa Ogino leicht verwirrt. "Sag mal, ist noch etwas Sake da?" "Sake? Ach, die Kanne ist doch noch halb voll." Sie füllte seine Schale nach. "Halb voll, hmmmm", brummte Herr Ogino zufrieden, "ich vertrag' wohl nicht mehr so viel wie früher, was, hahaha?" "Aber Schatz, natürlich verträgst du noch so viel wie früher, wenn nicht sogar noch mehr!" schmeichelte Yuko Ogino fast mechanisch. Im Saufen musste jeder Mann einfach der Beste sein, so lautete eine alte Regel, die sie noch an der Universität gelernt hatte! Dann fühlten die Kerle sich groß und stark und ließen sich leichter rumkriegen. Sie füllte also seine Schale erneut und Akio kippte den Inhalt zufrieden mit einem Schluck herunter. "Schatz, was meinst du? Sollten wir Chihiro und Kohaku nicht doch erlauben, diese Zeniba besuchen zu lassen?" schlug sie dann scheinbar zusammenhanglos vor. "Ach dieser blöde Drache soll doch machen, was er will", ranzte Herr Ogino daraufhin unwirsch, ohne wirklich zugehört zu haben, "Hauptsache, er vermiest mir nicht meinen verdienten Feierabend! Ist noch was Sake da?" Damit wandte er sich wieder dem Fernseher zu. Yuko Ogino schüttete nach und frohlockte innerlich. Ihr Mann hatte nicht Nein gesagt, was bedeutete, dass Chihiro und ihr Drache heute Nacht ihr Vorhaben umsetzen konnten. Fast wäre sie sofort nach oben gelaufen, um die frohe sofort Nachricht weiter zu leiten, doch dann besann sie sich und blieb noch ein wenig bei ihrem Mann. So richtige Freude bereitete Chihiro das Ohajiki-Spiel mit Kohaku nicht. Die ersten beiden Spiele gewann er mit Leichtigkeit und danach entschied auf einmal sie dann jedes Spiel ganz knapp für sich, so dass sich ihr der Verdacht aufdrängte, dass Kohaku sie gewinnen ließ. Immer wieder zeigte er eine ganz verblüffende Treffgenauigkeit, um dann wieder einfachste Murmeln im entscheidenden Moment gerade so daneben zu schnippen. Darüber hinaus war das Spiel schlicht nicht mehr so lustig, wie sie es in ihrer Erinnerung hatte. Wie sehr hatten sie und Risa damals oft gelacht. "Lass uns doch etwas anderes spielen", schlug sie nach einer Weile vor. "Warum? Es macht mir gerade so viel Spaß", meinte Kohaku lächelnd. "Es macht dir Spaß, mich immer gewinnen zu lassen?" wunderte Chihiro sich. "Du hast recht. Es macht mir Spaß, bei dir zu sein. Ob ich gewinne oder verliere ist doch völlig egal", antwortete Kohaku "Wenn du glücklich bist, dann bin ich auch glücklich." "Aber Kohaku, deshalb musst du doch nicht absichtlich verlieren. Ich weiß doch, dass du ein Gott bist und wahrscheinlich alles besser kannst, als ich", sagte Chihiro, "dann brauchst du dich vor mir auch nicht zu verstellen." "Ich bin vielleicht ein Gott, aber ich möchte nicht besser sein, als irgendwer sonst. Ich tue immer nur irgendjemandem weh, wenn ich mich nicht zurückhalte", gab Kohaku nachdenklich zurück. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. "Schon früher musste ich vorsichtig sein, wenn ich mit Menschenkindern zusammen spielen wollte, weil ich ihnen sonst ganz leicht weh getan habe. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin mit meinen Kräften ein Monster und sollte besser alleine bleiben. Aber ich muss bei dir sein." "Kohaku. Du bist doch kein Monster. Wie kommst du denn auf die Idee. Ich glaube eher, du hast ein ähnliches Problem, wie ich. Ich kann mit meinen Zauberkräften nicht richtig umgehen und bin deshalb vielleicht eine Gefahr für andere. Du kannst nicht mit anderen Leuten umgehen, weil du zu wenig Übung darin hast, und dann passieren immer Sachen, mit denen du nicht gerechnet hast." "Hallo, ihr beiden. Na, was macht ihr denn gerade", sagte Chihiros Mutter, die im Türrahmen aufgetaucht war. "Wie haben gespielt. Ohajiki", entfuhr es Chihiro, die dabei erschrocken herumfuhr. "Mama, musst du dich denn so anschleichen. Und wie geht es Papa?" "Papa geht es gut. Er ist gerade in seinem Sessel eingeschlafen", antwortete diese lächelnd, wobei sie Kohaku anblickte. "Ohajiki? Seid ihr dafür nicht ein wenig zu alt? Aber ist ja auch egal. Wenn ihr immer noch wollt, könnt ihr jetzt diese Zeniba besuchen gehen. Es ist wohl am besten, wenn ihr die ganze Nacht dort verbringt und erst morgen Früh wiederkommt." "Juhu. Dürfen wir wirklich?" Chihiro sprang auf und fiel ihrer Mutter um den Hals. "Und Papa ist schon eingeschlafen? Wir haben doch gerade mal Neun Uhr. Hat er denn nichts mehr dagegen?" "Hey, nicht so stürmisch, Schatz", rief Yuko Ogino, "was bist du auf einmal schwer geworden." Chihiro ließ ihre Mutter los. "Dein Vater war sehr müde, er hatte eine anstrengende Woche. Ich habe ihn gefragt und er war zwar nicht direkt einverstanden, aber verboten hat er es auch nicht. Nun macht euch schon fertig, sonst wird es noch später." Eine Viertelstunde später waren Kohaku und Chihiro auf dem Weg zum Tunnel durch den Wald. Es war für die Jahreszeit, Mitte Oktober, bereits sehr kühl und es nieselte vor sich hin. Im Wald selbst war es Totenstill. Nahezu alle Lebewesen schienen sich genauso wie der Wind in ihren Löchern verkrochen zu haben. Kohaku hatte etwas Schwierigkeiten mit der Kapuze des alten Parkas, den Chihiros Mutter ihm aufgedrängt hatte. Zwar hatte er ihr versichert, dass ihm das Wetter nichts ausmachen würde, aber sie hatte darauf bestanden, dass Kohaku das viel zu große Kleidungsstück anzieht, welches Herr Ogino bis vor drei Jahren auf vielen Baustellen im Winter getragen hatte. So rutschte die Kapuze immer wieder über seine Augen und weil die Ärmel viel zu lang waren, konnte er sie kaum zurückschieben. schließlich half Chihiro ihm, die Ärmel so weit umzukrempeln, dass er seine Hände wieder benutzen konnte. Kohaku bedankte sich, indem er Chihiro zeigte, wie man die Regentropfen mittels Zauberei daran hindern konnte, einen zu treffen. Chihiro experimentierte auf ihrem Weg ein wenig, machte den Effekt des Zaubers mal stärker, mal schwächer, und schaffte es am Ende tatsächlich den Zauber umzupolen, sodass alle Regentropfen aus einem größeren Umkreis gezielt auf sie einprasselten. Mit einem lauten Quieken versuchte sie, der von ihr erzeugten Regenwand auszuweichen, doch erst nachdem Kohaku den Zauber wieder gelöst hatte, entkamen sie durchgeweicht dem Tropfengewitter. Patschnass verblüffte sie Kohaku dann, indem sie dem Wasser in ihrer Kleidung einfach befahl, herauszufließen, so wie sie es sich bei Manami abgeschaut hatte. Wieder trocken und mit einem mittelstarken Regenbann umgeben kamen sie froh gelaunt am roten Gebäude an, welches sie unfreundlich und abweisend empfing. Ein paar Schritte von der grinsenden Steinstatue, die sich nur schemenhaft vor dem Tunnelausgang abzeichnete, begann Kohaku dann Etwas unter dem feuchten Laub zu suchen, das den gepflasterten Boden bedeckte. Chihiro konnte in der Dunkelheit fast nichts erkennen, sodass sie sich wünschte, durch seine Augen sehen zu können. "Was suchst du den da?" fragte sie neugierig. "Ich habe neulich hier etwas verloren, das ich Zeniba zurückbringen wollte", antwortete er, "es sieht aus, wie eine kleines Bambusstöckchen an einem Faden, wenn du mir suchen helfen willst." "Aber ich seh doch gar nichts", gab sie zurück, "Wir hätten doch die Taschenlampe mitnehmen sollen." Kohaku machte eine kleine Flamme an der Fingerspitze und beleuchtete den Boden, aber wegen der flackernden Schatten und dem durcheinander des Laubs konnte man nicht viel mehr erkennen. "Das machst du ja genau wie Yubaba!", meinte sie erstaunt. "Was meinst du?" "Na, das mit dem Feuer." Chihiro ahmte die Geste mehrfach nach, bevor sie ein paar Schritte nähe kam, um Kohaku beim Suchen zu helfen. Plötzlich patschte ihr irgendetwas gegen die Stirn, das sich in ihrem Haar festzukrallen schien und schließlich an ihrem Haarband hängen blieb. "Iiiieeeeeeeee", kreischte sie los, "da krabbelt was durch mein Haar!" Sie begann einen wilden Tanz aufzuführen und versuchte mit wischenden Bewegungen das Ding aus ihrem Haar zu entfernen, doch das dünne harte Ding schien am Haarband festzukleben. "Halt doch mal still, Chihiro" hörte sie seine beruhigende Stimme direkt an ihrem Ohr und instinktiv gehorchte sie, sich noch leicht vor Ekel schüttelnd. "Da haben wir es ja", sagte er nach nur einem Augenblick des Suchens. Er zog es von Chihiros Haarband fort, auf das es offenbar eine Art magnetischer Kraft auszuüben schien. "Das war es, was ich hier gesucht hatte. Dass die Anziehungskraft auf kurze Entfernung so groß ist, hätte ich allerdings nicht gedacht." "Was... was ist das denn?" "Das ist der Kompass, mit dem ich dich gefunden habe. Den habe ich von Zeniba", antwortete er, erklärte ihr dann den ganzen Rest und zeigte ihr, wie es funktionierte. Nachdem er damit fertig war, berührte er ihre Stirn und zeigte ihr den Ausgang in der Nähe von Zenibas Haus. Kurz darauf kamen sie auf der anderen Seite des Tunnels in der Geisterwelt heraus, wo sie bereits von Zenibas Laterne erwartet wurden. Sie und die Laterne verbeugten sich wechselseitig voreinander. Danach erst kam Chihiro dazu, sich ein wenig umzusehen und sie stellte fest, dass die Gegend ihr vertraut vorkam. Es war ganz Charakteristisch der Sumpfboden mit all seinen Geräuschen und Gerüchen, wo sie hier angekommen waren. Nur war es viel kühler, als beim letzten Mal, als sie hier gewesen war. Da es in der Geisterwelt der Himmel klar war und der Mond schien, konnte man ein wenig erkennen, insbesondere, dass sie sich in der Mitte einer Lichtung befanden, die von mehreren flachen Tümpeln durchsetzt war. Ein wenig wunderte Chihiro sich über den Tor-Ausgang in einem hohlen Baum. Die Laterne hüpfte auf ihrer Stielhand quietschender Weise vor ihnen her und wies ihnen einen trockenen Weg über die Lichtung hinweg und durch den Wald, bis sie den Pfad erreichten, der von der Haltestelle der Eisenbahnlinie zu Zenibas Haus führte. Insgesamt war es ein kleiner Marsch von etwa einer halben Stunde, bis sie das Haus der alten Hexe erreichten, die in der Tür stand und sie bereits erwartete. Mit einem Jauchzer spurtete Chihiro los und fiel Zeniba um den Hals. "Oma Zeniba, wie schön, dich wiederzusehen", rief sie voller Überschwang aus. "Chihiro, ich bin froh, dass du hier bist", keuchte Zeniba unter Chihiros Ansturm. Und nachdem das Mädchen sie wieder losgelassen hatte: "Kommt nur herein, es gibt Tee und Kuchen." Kohaku war nicht gerannt und kam deshalb etwas nach Chihiro bei der Hexe an, vor der er sich verbeugte. "Hier, Frau Zeniba", sagte er dann und präsentierte den Kompass mit beiden Händen. Sie nahm das Bambusstückchen mit einem fragenden Gesichtsausdruck entgegen. "Danke sehr. Das hättest du mir nicht zurückbringen brauchen, Junge", sagte sie und gab es ihm dann zurück. "Behalt es lieber, falls du Chihiro noch einmal suchen musst. Komm jetzt nur herein, gleich gibt es Tee." Sie nahmen gemeinsam am Holztisch der Hexe platz, während das Ohngesicht den Tee und den Kuchen anrichtete. Nachdem es damit fertig war nahm es neben Chihiro platz und versuchte so artig zu sein, wie es nur konnte. Während der nächsten halben Stunde unterhielten Chihiro und Zeniba sich angeregt über die vergangenen drei Jahre, wohingegen Kohaku sehr still blieb. Er betrachtete die meiste Zeit über den kleinen Lederbeutel, der unschuldig an der Tischkante lag. "Der Phenaktit... ich meine, haben sie eine Lösung gefunden?" verlangte es ihn irgendwann zu wissen. Eigentlich wollte er mit Zeniba über deren Schwester Yubaba sprechen, aber er wusste nicht, wie er das Thema ansprechen sollte. Weil er Chihiro darüber nichts gesagt hatte, schämte er sich über sein mangelndes Vertrauen in die Einsicht des Mädchens. "Na, du bist aber ungeduldig, für einen Drachen", spöttelte Zeniba, "aber gut, wenn du es so willst. Ohngesicht, hol doch bitte die Schachtel von Nebenan. Die Lackschachtel, die ich von meinem Ausflug vorgestern mitgebracht habe." Die Schachtel war fein mit chinesischen Schriftzeichen verziert und Chihiro vermochte dank des Wissens, das ihr von Kohaku übertragen worden war, so etwas darauf entziffern, dass wie "Edelsteinzange" zu lauten schien. Zeniba öffnete die Schachtel und entnahm daraus einen Gegenstand, der so ähnlich aussah, wie eine Zange, mit der man Nüsse knackt. Die Zange schien aus einfachem Eisen zu bestehen, meinte Chihiro zu erkennen, weil sie mehrere Roststellen hatte. Die Backen der Zange aber waren mit einem samtartigen, leicht glitzernden, roten Überzug versehen, der so gar nicht zum sonstigen, abgegriffenen Erscheinungsbild der Zange zu passen schien. "Dies hier ist eine spezielle Zange zum Knacken von Edelsteinen", berichtete Zeniba. "Ich habe sie von einem Dämon ausgeliehen, der mir noch etwas schuldete." Sie nahm nun den Beutel und kippte dessen Inhalt auf den Tisch. Wie Kohaku feststellte, befanden sich diesmal ausschließlich Phenaktit-Steine darin, allerdings nur solche von ausgesuchter Qualität. "So ihr Beiden, was wir nun tun müssen, ist ein wenig kompliziert, hat allerdings mit richtiger Magie auch nicht allzu viel zu tun. Wie ich Kohaku neulich bereits erklärt habe, wird der Phenaktit dazu eingesetzt, um Dimensionstore zu erzeugen, er hat zudem auch die Eigenschaft, magische Energien ohne Verlust zu leiten." Sie nahm einen der funkelnden, diamantähnlichen Steine und zeigte ihn der staunenden Chihiro. "Dieser Stein sollte in der Lage sein, euch beide so zu verbinden, dass ein müheloser Austausch von sowohl magischer, als auch von Lebensenergie zwischen euch beiden dauerhaft möglich wird." Sie legte einen der Steine zwischen die Backen der Zange. "Der Stein leitet derartige Energien auch durch Raum und Zeit, wenn er zerbrochen wird. Dazu allerdings müssen die Bruchflächen völlig ohne jede Beschädigung sein und Atom für Atom aneinander passen. Ach ja, und der Energiestrom muss während des Spaltvorgang ohne Unterbrechung stattfinden. Sobald auch nur eine kleine Störung auftritt, funktioniert es nicht und wir müssen wieder von vorne anfangen." Mit diesen Worten drückte Zeniba zu, woraufhin der Stein mit einem leisen Popp in zwei Teile zersprang. Geschickt fing sie die Bruchstücke auf und hielt sie auf ihrer Handfläche so vor Kohaku und Chihiro, dass diese sie ganz genau betrachten konnten. Dann nahm sie die beiden Stücke und steckte sie vorsichtig wieder zusammen, bis die Bruchflächen einander berührten. Ohne ein Geräusch verschwand der Spalt zwischen den beiden Hälften des Steins, als wäre er nie vorhanden gewesen. Er war wieder aus einem Stück. Staunend beäugte Chihiro dieses Phänomen, nahm den Stein in die Hand und versuchte die Bruchstelle zu finden. "Da wirst du nichts entdecken. Die Zange erzeugt eine perfekte Spaltung des Steins und nachdem die Bruchstücke erneut zusammengefügt wurden, verschwindet die Bruchstelle auch wieder vollkommen. Aber nur, wenn auch wirklich jedes Atom dabei an seiner Stelle geblieben ist" verdeutlichte die Hexe weiter. "Dafür brauchen wir auch diese besondere Zange." Zeniba nahm einen weiteren Stein aus dem Haufen und begutachtete ihn fachmännisch auf Einschlüsse. "Wir müssen nun nur noch dafür sorgen, dass im Moment der Spaltung ein konstanter magischer Energiestrom über den Stein geht. Dieser sollte trotz des Bruches erhalten bleiben, so als wenn der Stein noch heil wäre! so weit die Theorie und nun das Experiment." "Ja aber, wie soll das denn gehen?" entfuhr es Chihiro, die das Ganze nicht glauben konnte. "Ich glaube, ich weiß, was sie vorhaben", sagte Kohaku. Er nahm Chihiro den Stein aus der Hand, legte ihn zurück zwischen die Backen der Zange und gab sie Zeniba zurück. "Chihiro, ich glaube, wir sollen jetzt beide den Stein berühren", vermutete er und versuchte den Stein auf seiner Seite mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger zu fixieren, während dieser in der Zange eingespannt war. Verständnislos drückte Chihiro ihren Daumen von der anderen Seite gegen den Stein. Ein vertrautes Kribbeln strahlte von dem Kristall in ihren Daumen aus und dann begriff sie, dass es der Strom von Lebenskraft zwischen ihr und Kohaku war, den sie spürte. Plötzlich knackte es leise, als der Stein dem Druck der Zange nachgab, und ein scharfer Schmerz durchzuckte ihren Daumen, als hätte jemand mit einem Lineal darauf geklatscht. Vor Schreck zuckte Chihiro zurück und steckte den pulsierenden Daumen in den Mund, sodass ihr Bruchstück des Phenaktit-Steins zu Boden kullerte. Kohaku seinerseits hatte keine Mine verzogen und sein Bruchstück tapfer festgehalten. Ohne große Enttäuschung schaute Zeniba zu Boden, während das Ohngesicht dienstbeflissen das Bruchstück einsammelte. Zeniba nahm Kohaku dessen Bruchstück weg und versuchte es mit dem anderen Stück wieder zu vereinen, doch es gelang nicht. So sehr Zeniba es auch versuchte, die Bruchflächen waren offenbar beschädigt und passten nicht mehr exakt aufeinander. "Na ja, ich habe auch nicht damit gerechnet, dass es gleich beim ersten Mal klappt", seufzte sie, platzierte den anderen Kristall, den sie noch in der anderen Hand hatte zwischen den Backen der Zange. "Chihiro, du musst dein Stück richtig festhalten, auch wenn es etwas weh tut, sonst wird das nichts." "Entschuldige, Oma Zeniba. Ich hatte mich nur etwas erschrocken." Chihiro packte den in der Zange eingeklemmten Halbedelstein jetzt ebenso an, wie Kohaku und nahm sich ganz fest vor, nicht loszulassen, ganz gleich, wie weh es beim Brechen des Steins auch tun mochte. Diesmal klappte es und obwohl ihre Fingerkuppen durch den Schlag beim Bruch fast Taub geworden waren, hielt sie mit verbissener Mine ihre Hälfte des Steins fest. Kohaku besah sich interessiert die muschelig glänzende Bruchfläche, während Zeniba ein kleines Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit aufschraubte, das sie plötzlich in der Hand hielt. Im Deckel des Fläschchens war ein kleiner Pinsel angebracht und der Geruch der von der Flüssigkeit ausging, kam Chihiro ebenfalls bekannt vor. "Äh, Oma Zeniba", machte sie sich bemerkbar, "ist das eine besondere magische Tinktur oder so etwas ähnliches?" "Das?" Zeniba hielt das Fläschchen Chihiro vor die Nase. "Nein, das ist nur Nagellack. So eine neumodische Erfindung von euch Menschen. Er ist aber ganz hervorragend geeignet, um empfindliche Oberflächen zu versiegeln. Hier, halt dein Stück mal hoch, aber lass es auf keinen Fall los. Wenn der Energiestrom unterbrochen wird, müssen wir noch einmal von vorne beginnen." Mit weit aufgerissenen Augen sah Chihiro dabei zu, wie die Hexe vorsichtig die Bruchfläche mit Nagellack bestrich. "Sagen sie, Frau Zeniba, wie eigentlich funktioniert das mit dem zerbrochenen Phenaktit eigentlich?" fragte Kohaku neugierig, als seine Hälfte des Steins mit dem Lackieren an der Reihe war. "Das Ganze wirklich zu erklären ist ziemlich kompliziert und es stecken eine Menge magiemathischer Herleitungen hinter dem Effekt, aber vereinfacht gesagt, erfolgt beim Bruch eine Verschränkung magischer Potenziale in den Bruchflächen, die eine verlustfreie Übertragung magischer Energieströme durch Raum und Zeit ermöglichen. Für den Stein ist es quasi so, als wäre er gar nicht zerbrochen. Allerdings verschwindet der Effekt sofort, wenn nur eine winzige Störung vorliegt und kann dann nicht mehr wiederhergestellt werden." Kohaku hörte aufmerksam zu und fragte dann: "Das bedeutet doch, dass wir die Steine permanent berühren müssen. Sollen wir sie irgendwie am Körper befestigen? Ich glaube nicht, dass das dauerhaft geht. Nein, wir müssten sie irgendwie in uns haben." "Na siehst du, da hast du ja schon deine Antwort", meinte Zeniba freundlich. "Ihr müsst sie in eurem Bauch tragen." "Wie, in unserem Bauch?" entfuhr es Chihiro entgeistert. Sie äugte misstrauisch auf die scharfen Bruchkanten. "Sollen wir sie etwa herunterschlucken, oder was?" "Herunterschlucken?" Zeniba lachte kurz auf. "Das würde auch nicht viel nützen. Nach einem Tag kämen sie ja hinten wieder heraus. Nein, ich meine richtig im Inneren eurer Körper, unter der Haut." "Ja aber, wie sollen sie denn dahin kommen?" flüsterte Chihiro. "Na ja, durch die Haut eben. Am besten ist da wohl der Bauchnabel geeignet, denke ich. Aber erst einmal muss der Nagellack richtig trocknen, damit das Lösungsmittel nicht in eure Körper gelangt." Zeniba setzte sich mit einem Seufzer auf einen Holzstuhl, während Chihiro es ganz mulmig wurde. Kohaku setzte sich ohne große Rührung auf die Holzbank und Chihiro nach kurzem Zögern neben ihn, wo sie ängstlich seinen Arm umklammerte. "Du, Kohaku, darfst dich dann natürlich nicht mehr auflösen und in einen Geist verwandeln", fügte sie noch schnell hinzu und blickte den Jungen Drachen eindringlich an, der den Blick fragend erwiderte. "Der Stein macht die Verwandlung nämlich nicht mit und würde dann aus dir herausplumpsen." Das machte ihm ohnehin keine allzu großen Sorgen, denn er wollte sich ohnehin nicht mehr in einen Geist verwandeln, wenn es sich vermeiden ließ. ,Haku. Hat sie jetzt vor, uns zu operieren, oder so?' wollte Chihiro in Gedanken wissen. ,Chihiro, du hast mich ja wieder Haku genannt', bemerkte der Drache und Chihiro spürte so eine Art gedankliches Lächeln. ,Ich bin mir sicher, sie weiß, was sie tut. Wahrscheinlich wird sie Magie benutzen. Auf jeden Fall brauchst du keine Angst zu haben.' Chihiro entspannte sich ein wenig, ließ Kohaku aber nicht los, während das Ohngesicht sie anstupste und "Ah, ah, ah" machte. Dann schüttete es allen Tee nach. Sie schwiegen, während sie ihre Tee tranken und darauf warteten, dass der Nagellack trocknete. Die ganze Zeit über hielt Chihiro krampfhaft ihr Stück des Phenaktit-Steins fest, wobei sie auf das angenehme Kribbeln achtete, dass davon ausging. Wenn sie Kohaku kurz losließ, wurde es sofort stärker. ,Kohaku, spürst du das Kribbeln auch?' wollte sie nach einer Weile wissen. ,Ja Chihiro, es ist sehr stark', meinte er und fuhr nach einer kurzen Pause fort, ,ich, ich muss dir etwas sagen. Ich habe mit Zeniba abgesprochen, dass wir Yubaba das Sagen über das Badehaus entziehen wollen. Wir wissen noch nicht, wie wir vorgehen wollen, aber es könnte gefährlich werden.' ,Ihr wollt Yubaba aus dem Badehaus vertreiben? Ist sie denn wirklich so schlimm?' Chihiro konnte sich das überhaupt nicht vorstellen. Wie sollte denn das Badehaus ohne Yubaba funktionieren? Sie war vielleicht streng, aber dafür hatte sie doch bestimmt ihre Gründe. Und die Sache mit Kohaku war doch bestimmt auch nur ein Versehen. Immerhin war er jetzt bei ihr und es ging ihm gut. ,Doch Chihiro, glaub mir, es ist besser, wenn Yubaba das Badehaus nicht mehr leitet. Sie hat schon so viele Leute umgebracht ...und tut es immer noch', bestätigte Kohaku. Chihiro wollte etwas erwidern, doch Zeniba meldete sich auf einmal zu Wort: "So, der Lack sollte jetzt in etwa trocken sein und wir können fortfahren. Am besten ist wohl, ich fange mit dir an, Kohaku. Damit Chihiro sieht, was passiert. Könntest du bitte herkommen und deinen Bauch freimachen." Kohaku stand auf und stellte sich vor Zeniba, wo er sein T-Shirt hochzog. Zeniba murmelte etwas, während sie mit dem Zeigefinger auf den Bauchnabel wies. Ein schwacher Lichtschein schien von der Spitze ihres Fingernagels auszugehen. "So, jetzt sollte es gehen. Halt doch bitte mal dein Bruchstück hierhin", wies sie den Jungen an. Kohaku schaute neugierig an sich herunter, während Zeniba vorsichtig das Phenaktit-Stück mit dem Fingernagel des linken Zeigefingers gegen seine Haut drückte. Mit dem rechten Zeigefinger deutete sie auf den Bauchnabel. Eine keine blaue Wolke löste sich davon, der von Kohakus Haut absorbiert wurde. Dann ging alles ganz schnell. Mit einem kleinen Ruck drückte Zeniba den Stein in den Bauchnabel hinein, wo er mit einem leisen, schmatzenden Geräusch verschwand. Chihiro traute ihren Augen kaum, denn scheinbar war Kohakus Bruchstück einfach durch die Haut geflutscht, ohne ihn zu verletzen, doch dann sah sie, wie sich sein Nabel mit Blut füllte. Mit einem eher erstaunten Gesichtsausdruck beobachtete er, wie sich ein Tropfen löste und in Richtung seiner Hose zu fließen begann, wobei er eine rote Spur auf der Haut zurückließ. Zeniba beeilte sich, ihm ein sauberes Tuch zu holen, mit dem sie das Blut abwischte. "Hier, halt das ein paar Minuten vor die Wunde, bis der Zauber nachlässt und deine Haut wieder fest wird", wies Zeniba ihn an. "War doch gar nicht so schlimm, oder? So, und jetzt zu dir, Chihiro." Am liebsten wäre Chihiro jetzt weggelaufen. Aber das konnte sie nicht tun, denn dann hätte sie Kohaku nicht mehr in die Augen sehen können. Er hatte weder gezuckt, noch die Mine verzogen, also konnte es nicht allzu weh getan haben. Sie gab sich einen Ruck und zog mit zittrigen Händen ihren Pullover hoch, wobei ihr fast der Stein aus der Hand entglitten wäre. Ganz sachlich, wie ein Chirurg, wenn er mit dem Skalpell den ersten Schnitt ansetzt, verfuhr Zeniba genau so, wie sie es bei Kohaku gemacht hatte, nur dass sie Chihiro bereits im Vorhinein ein Tuch gab. Als die blaue Wolke ihre Haut berührte, fühlte sich das nur ein wenig kühl an, doch dann drückte die Hexe den Stein in ihren Bauchnabel hinein. Es war, als bohrte jemand ein Stück glühenden Stahls in sie hinein. Chihiro hätte geschrien, wenn sie überhaupt noch Luft bekommen hätte, so weh tat es ihr. Sie ließ sich unbewusst zu Boden plumpsen, wo sie sich zusammenkrümmte und krampfhaft das Tuch gegen ihren Bauch presste. Dann war der Schmerz auf einmal wie weggeflogen. Verwundert öffnete Chihiro ihre Augen und blickte direkt in Kohakus, der neben ihr Kniete und seine Hand ebenfalls auf ihren Bauch gelegt hatte. Um die Schmerzen zu blockieren, hatte er den gleichen Zauber benutzt, den er am Tag zuvor bei ihrem Vater verwendet hatte, als dieser sich die Nase gestoßen hatte. Er half ihr wieder auf die Beine und blickte Zeniba ärgerlich an. "Sie hätten durchaus etwas gegen die Schmerzen unternehmen können", fauchte er die Hexe an. "Junge, den Zauber den du da benutzt hast, kenne ich auch. Der wirkt aber nur, wenn man bereits Schmerzen hat", gab diese entrüstet zurück, "und die Zauber, die Schmerzen im Vorhinein unterdrücken, können ganz leicht dauerhafte Nervenschäden verursachen. Jedenfalls bei Menschen." So ganz war Kohaku von dieser Erklärung nicht überzeugt, aber er wusste auch nicht genug über Magie, um dem etwas entgegen halten zu können. Chihiro jedenfalls war noch ganz zitterig und so half er ihr, sich auf die Bank zu setzen. ,Haku, tat es dir denn gar nicht weh?" hörte er Chihiros Gedanken in seinem Geist. ,Doch Chihiro, ich habe nur gelernt, Schmerzen vollkommen zu ignorieren. Ich spüre ihn zwar, aber er ist nur eine Wahrnehmung wie warm oder kalt, wie hell oder dunkel', antwortete Kohaku, ,er berührt mich einfach nicht mehr. Ich habe das damals gelernt, als mein Fluss trocken gelegt wurde.' ,Als dein Fluss zugeschüttet wurde? Meine Mama hat mir mal erzählt, dass ich mehrere Wochen im Krankenhaus war, als ich fünf gewesen bin. Das muss genau dann gewesen sein, als du deinen Fluss verloren hast. Ich weiß nur noch, dass ich im Kindergarten gewesen bin und dann war es auf einmal, als würde mein ganzer Körper zerquetscht werden. Als nächstes bin ich im Krankenhaus aufgewacht und habe das Gesicht meiner Mutter geblickt.' ,Zerquetscht werden ...Ja so könnte man das Gefühl beschreiben. Offenbar bist du dann bewusstlos geworden. Ich habe mich damals aufgelöst und bin zu einem Geist geworden. Geister schlafen weder, noch können sie bewusstlos werden ...' Kohaku war erschüttert, weil er nun erfuhr, dass Chihiro das Gleiche durchgemacht hatte, wie er. Aber gleichzeitig war er auch froh, dass sie damals ohnmächtig geworden war. ,Dass heißt, du musstest das die ganze Zeit aushalten? Über mehrere Wochen hinweg?!' Chihiro war fassungslos und wollte sich das gar nicht vorstellen. ,O Kohaku, das tut mir ja so leid.' "Was ist denn los mit euch beiden. Ihr seid ja so schweigsam", meldete Zeniba sich zu Wort. Sie fand, dass die Beiden jetzt genügend vor sich hingebrütet hatten. Beide sassen sie da nebeneinander und starrten sauertöpfisch auf die Tischplatte. "So Furchtbar ist es doch nicht gewesen und wenn ich euch vorher gesagt hätte, was ich vorhabe, hättet ihr vielleicht Nein gesagt. Also nun zeigt schon, wie es geworden ist." Kohaku gab sch einen kurzen Ruck, stellte sich vor Zeniba hin und präsentierte seinen Bauch. Genau wie die Hexe erwartet hatte, war die Wunde bereits beinahe verheilt. Nur noch eine dünne rote Linie war zu sehen, dort wo das Penaktitbruchstück durch die Haut gedrungen war. Danach untersuchte sie Chihiros Bauchnabel und wie sie erwatet hatte, war auch diese Wunde bereits geschlossen, obwohl gerade erst fünf Minuten vergangen waren. Zwar war sie noch nicht so weit verheilt, wie bei dem Drachen, aber bei einem normalen Menschen würde sie jetzt noch immer bluten. "Woher sollen wir denn jetzt wissen, ob es funktioniert hat?" wollte Chihiro dann wissen. "Und was ist mit dem Nagellack. Vielleicht ist der ja giftig! Außerdem, sollte die Wunde denn nicht desinfiziert werden? Am Ende entzündet sich das Ganze noch, oder so." "Bla, bla, bla. Chihiro, du trägst die Lebenskraft eines Drachen in dir. Um dich selbst zu vergiften, müsstest du vermutlich Blausäure Becherweise trinken. Bis morgen früh ist alles Verheilt und vom Nagellack ist eh' nur das Lösungsmittel ungesund", antwortete Zeniba, "Aber wie wir testen können, ob's geklappt hat, weiß ich im Moment auch nicht. Ihr werdet es ja dann in der Menschenwelt sehen, wenn Kohaku sich nicht mehr auflöst." "Ich glaube, ich weiß, wie wir es testen können", meinte Kohaku auf einmal. Er ließ Chihiros Hand los, die er de ganze Zeit gehalten hatte und ging auf die andere Seite der Stube. ,Hallo Chihiro, kannst du mich hören', ertönte seine Stimme in ihrem Kopf. Sie war etwas überrascht, denn bisher hatte der telepathische Gedankenaustausch zwischen ihnen auch in der Geisterwelt nur funktioniert, solange sie einander direkt berührten. ,Ja Kohaku, ich höre dich lauter und deutlicher als jemals zuvor. Denk doch bitte ein bisschen leiser', gab Chihiro zurück, wobei sie die verdutzte Hexe laut anlachte. "Oma Zeniba, ich glaube es funktioniert!" "Na, jetzt möchte ich aber doch wissen, wie ihr das herausgefunden haben wollt", interessierte diese sich, "verratet ihr's mir?" Chihiro und Kohaku aber schüttelten synchron den Kopf, denn beide wollten nicht, dass jemand erfuhr, dass sie direkt Gedanken austauschen konnten. "Schön, wie ihr wollt", seufzte sie dann, "dafür können wir jetzt mit dem Zauberunterricht beginnen. Dass heißt natürlich nur, wenn ihr noch immer mögt." Sowohl Chihiro, als auch Kohaku mochten. Um einen Überblick über ihre individuellen Fähigkeiten zu bekommen, ließ sie beide erst einmal zeigen, was sie konnten. Chihiro versuchte sich erst darin, ein Paar Gegenstände durch die Luft zu kommandieren, und als sie merkte, wie leicht das in der Geisterwelt ging, nahm sie mehr und mehr, bis sie sich verzettelte und alles zu Boden schepperte. Mit einem Lachen und einem Wink mit ihrer beringten Hand brachte Zeniba alles wieder in Ordnung und lobte Chihiro noch für die Skulptur aus Wasser, die sie anschließend noch am Waschbecken machte. Bei Kohaku war sie dann von der enormen Schnelligkeit und Durchschlagskraft seiner magischen Fähigkeiten beeindruckt, die gepaart war, mit einer fast unheimlichen Präzision. Er konnte blitzartig verschiedenartige Bannfelder erzeugen, die nicht einmal Zeniba ohne weiteres überwinden konnte. Zu stark war Kohakus Magie. Auf der anderen Seite waren seine Fähigkeiten relativ einseitig auf seine natürlichen Begabungen als Flussgott beschränkt, die sich auch bei Chihiro bereits zeigten. Bei seinen Vorführungen erkannte sie auch eine Reihe von den einfachen Tricks, mit denen ihre Schwester ihre Gäste so gerne beeindruckte. abschließend forderte sie ihn noch auf, ob er denn nicht einen Apfel in eine Banane verwandeln könne, aber jetzt zeigte Kohaku sich vollkommen hilflos. Der Apfel wurde ein paar mal halb durchsichtig, bevor er letztendlich zu einer Art Brei zerfloss. "Also mit dir, Chihiro, sollten wir zunächst einmal die allgemeine Anwendung deiner magischen Fähigkeiten üben. Du musst gewissermaßen erst einmal laufen lernen. Aber krabbeln kannst du im übertragenen Sinn bereits sehr gut, was für einen Menschen erstaunlich genug ist", analysierte die Hexe am Schluss. "Aber bei dir Kohaku, weiß ich ehrlich gesagt gar nicht, was ich davon halten soll. Einige deiner Fähigkeiten sind erstaunlich und sogar für einen einfachen Flussgott enorm, aber in vielen Bereichen fehlen dir anscheinend die einfachsten Grundlagen, von einer systematischen Ausbildung ganz zu schweigen", meinte Zeniba zu ihm, "ich denke wir sollten erst einmal testen, ob du überhaupt in der Lage bist, Verwandlungen durchzuführen, bevor ich entscheide, wie wir weiter machen." "Und ich? Wollen sie mich nicht testen? Ich habe doch genau die gleichen Zauberkräfte, wie Kohaku." Chihiro fühlte sich in wenig übergangen. "Also gut, wenn du möchtest. Weißt du, bei einem Menschen, so Leid es mir tut, das zu sagen, ist das in der Regel hoffnungslos, ganz gleich, wie stark seine Zauberkräfte sind", antwortete Zeniba, "aber du wirst dann gleich sehen, wieso." Sie holte eine Keramikschale aus dem Küchenschrank, die sie auf den Tisch stellte, bevor sie verschiedene Gegenstände darauf platzierte: ein altes Buch, ein paar Äpfel, einen Becher und eine getrocknete Päonienblüte. Aus dem Nebenraum holte sie Papier, Tusch und zwei Pinsel, die sie den verdutzt blickenden Kindern in die Hände drückte. "So, du setzt dich hierhin und du dort und versucht mal, die Schale zu malen, so genau, wie ihr könnt", wies sie die Chihiro und Kohaku an. Sie nahmen einander gegenüber platz, so dass sie Schale von unterschiedlichen Seiten sahen. Chihiro kam sich ein wenig vor, wie im Kalligrafieunterricht, wenn sie ein neues Zeichen lernen musste. Sie wusste nicht so recht, wie sie beginnen sollte. Als sie sich endlich dazu durchgerungen hatte die ersten Pinselstriche zu machen, behauptete Kohaku bereits, dass er fertig wäre. Sofort wollte Chihiro aufspringen, um sich sein Ergebnis anzusehen, aber Zeniba stoppte sie und hieß sie weiterzumalen. Sie gab sich so große Mühe, wie sie nur konnte. Nach etwa einer halben Stunde war sie so weit, dass nicht mehr wusste, wie sie ihr wenig zufrieden stellendes Bild noch verbessern sollte. Am liebsten hätte noch einmal von vorne angefangen. Sie gab es Zeniba, die es neben Kohakus Werk legte, der gerade einmal fünf Minuten dafür gebraucht hatte. "Hier schaut euch das an", kommentierte Zeniba beim Vergleich ihrer Bilder, "Das ist der Grund, warum Menschen aus Prinzip keine Verwandlungen durchführen können. Ihr Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen ist einfach zu schlecht." Chihiro und Kohaku kamen herum, um beide Bilder nebeneinander sehen zu können. Als Kohaku Chihiros Bild erblickte, war er fast erschrocken, wie wenig ihr Bild mit der Schale zu tun hatte. Nur mit viel Fantasie konnte man darin die Vorlage erkennen und die vielen Tuschekleckse und Schmierer verbesserten das Bild auch nicht unbedingt. Chihiro ihrerseits war völlig verblüfft von Kohakus Bild. Vorsichtshalber ging sie noch einmal um den Tisch herum und besah sich die Schale von Kohakus Platz aus an. Sie sah ganz genau so aus, wie auf dem Bild. Nein, korrigierte sie sich, Kohakus Bild sah ganz genau so aus, wie die Schale von hier aus. Alle Einzelheiten waren vorhanden. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte Chihiro vermutet, dass jemand das Bild von einem Foto abgepaust hätte. Mit ganz klaren, fehlerfreien Pinselstrichen hatte Kohaku die Umrisse nachgezogen und es irgendwie auch geschafft, die Oberflächenbeschaffenheit der Gegenstände einzufangen. Fast hatte sie beim Betrachten von Kohakus Bild das Gefühl, man müsste nur noch Farben hinzufügen und könnte dann den Apfel herausnehmen und hineinbeißen. "Das, das ist toll", sagte sie schließlich bewundernd und mit Stolz über Kohakus Fähigkeiten, "ich wusste gar nicht, dass du so gut malen kannst." "Aber ich habe doch nur gezeichnet, was ich gesehen habe", versuchte der seine Leistung herunter zu spielen. Es war ihm peinlich, dass Chihiros Bild so schlecht geworden war und so wenig mit der Schale zu tun hatte. Hätte er das vorher gewusst, hätte er viel langsamer und weniger genau gezeichnet, damit Chihiros Bild nicht ganz so schlecht gewirkt hätte. "Eben, genau darum geht es", sagte Zeniba dazu, "wenn du Dinge verwandeln willst, musst du eine genaue Vorstellung von ihrer Form und Beschaffenheit haben, sonst ist das Ganze Unterfangen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Kohaku besitzt zumindest die Gabe der genauen Beobachtung. Dein Werk, Chihiro, mag einen Gewissen künstlerischen Wert besitzen, doch es zeigt nicht die notwendige Begabung, die es braucht, um sicher Transmutationen durchführen zu können. Ob Kohaku sie letztendlich besitzt, will ich in einem zweiten Test herausfinden." Zeniba deckte ein Tuch über die Schale, sodass man sie nicht mehr sehen konnte. Dann gab sie Kohaku und Chihiro jeweils ein weiteres Blatt Papier und wies sie an, die Schale noch einmal zu Zeichnen, diesmal allerdings aus einer Perspektive, die um ein Viertel gedreht war. Zudem sollten sie statt des Apfels eine Banane auf die Schale malen. Nur kurz versuchte Chihiro sich das Vorzustellen, doch sie konnte sich kaum erinnern, wie die Schale von ihrer Seite aus ausgesehen hatte, geschweige denn, in welcher Anordnung sich die Gegenstände darauf befanden. Und erst recht konnte sie sich nicht Vorstellen, wie das Ganze mit eine Banane 90° von der Seite aussehen würde. Deshalb legt sie Papier und Pinsel zur Seite, um Kohaku beim Zeichnen zuzuschauen. Mit unfassbar sicheren Pinselstrichen brachte er eine weitere Ansicht des Motivs zu Papier. Sie schaute ihm ins Gesicht und sah, dass seine Augen vor Konzentration fast glasig waren. Beinahe wünschte sie sich, sie könnte in ihm sein, um zu fühlen, was jetzt gerade in ihm vorging. Zeniba nahm das Blatt in die Hand und betrachtete es mit gerunzelter Stirn Kohakus Zeichnung. Dann nahm sie das Tuch von der Schale, um sie aus der gleichen Richtung zu betrachten, wie es in der Zeichnung dargestellt war. Mehrfach blickte sie abwechselnd auf das Blatt Papier und auf die Schale, doch sie konnte keinen Fehler feststellen. Dann wies sie auf den Apfel, der sich nun artig in die Banane verwandelte, die auf dem Bild dargestellt war. "Tja, ich glaube, so gut hätte ich selbst es nicht hinbekommen", sagte die Hexe schließlich. "Jetzt verstehe ich nur nicht, warum du vorhin die Verwandlung des Apfels nicht hinbekommen hast." "Ich weiß leider auch nicht, was ich falsch gemacht haben könnte", sagte Kohaku. "Ich habe mich voll auf die Banane konzentriert und dann habe ich dem Apfel befohlen, sich zu verwandeln." "Hah, siehst du. Genau das ist der Fehler. Du darfst bei der Verwandlung den Apfel nicht vergessen, sonst funktioniert es nicht. Du musst gleichzeitig Apfel und Banane in allen Einzelheiten im Sinn behalten, dann klappt die Verwandlung auch. Aber das ist es gleichzeitig auch, was Verwandlungszauber so schwer macht und für jemanden, der nicht das Gedächtnis und die Vorstellungskraft besitzt, wie ein Gott, völlig unmöglich." "Soll das heißen, ich werde nie etwas verwandeln können?" fragte Chihiro enttäuscht. Zeniba nickte bedauernd. "Ich kann aber doch etwas verwandeln!" sagte Chihiro trotzig, rannte zur Tür hinaus und kehrte kurz darauf mit einem Kieselstein wieder zurück, den sie auf den Tisch legte. Dann führte sie ihren Murmelverwandlungszauber vor und der Kieselstein wurde zu einem kleinen Häufchen taub. "Nun ja, das ist sehr interessant", meinte Zeniba lächelnd, "aber so eine richtige Verwandlung ist das ja nicht, finde ich. Das ist Staub. Wir sollten den armen Stein nicht als Staub enden lassen." Sie zeigte auf das Häufchen Staub und wollte es in den Kiesel zurückverwandeln, der es vorher gewesen war. Doch zu ihrer Überraschung passierte nichts. Immerhin war sie eine sehr erfahrene Hexe und dass eine Verwandlung nicht klappte, das gab es bei ihr nicht. Sie versuchte die Struktur des Staubhäufchens zu erfassen, so wie es für eine ordentliche Transmutation notwendig war, doch dabei hatte sie as Gefühl, als würde sie mit ihren magischen Kräften ins Leere fassen, gewissermaßen abgleiten. Weder konnte sie ein Gefüge des Staubhäufchens erfassen, noch war da irgendeine innere Form, die sie erkennen konnte. Neugierig geworden, nahm sie den Staub näher in Augenschein und rührte ein wenig mit ihrem Fingernagel darin herum. Er war so fein, dass er fast breiig wirkte und sofort am Fingernagel haftete. "Also das ist jetzt wirklich interessant", sagte Zeniba zu Chihiro gewandt. "Ich kann überhaupt nicht erkennen, in was du den Kieselstein da verwandelt hast. Es ist, als hättest du ihn völlig atomisiert. So einen Zauber habe ich noch nie gesehen. Kannst du mir erklären, wie du das gemacht hast." "Na, ich hab nur versucht, ihn in eine Glasmurmel zu verwandeln. Dann passiert jedes Mal so etwas. Ich kann das auch mit anderen Sachen machen", gab Chihiro zurück, glücklich, dass sie die Hexe beeindruckt hatte. Sie drehte sich deshalb herum und wandte den Zauber auf den Becher an, er sich auf der Schale befand. Einen Moment noch behielt dieser seine Form, bevor er zu einem entsprechend größeren Staubhaufen in sich zusammensank. Zeniba untersuchte ihn gleichermaßen, doch auch hier konnte sie keine Struktur mehr erkennen. "Das ist ja eine vollkommene Zerstörung des Gegenstandes", bemerkte sie, jetzt mit deutlicher Besorgnis in der Stimme. Einige weitere Minuten versuchte sie mit dem Staub irgendetwas anzustellen, ihn zu verwandeln, oder auch nur ihn von der Stalle zu bewegen, aber Nichts funktionierte. Sie wandte sich Chihiro zu und packte das Mädchen an den Schultern. "Jetzt sag bloß, du kannst das auch mit belebten Dingen?" "Ich, äh, ich weiß nicht", antwortete Chihiro überrascht über die plötzliche Aufmerksamkeit, "das müsste ich erst ausprobieren." Sie riss sich von Zeniba los und versuchte den Zauber an der Banane auf der Schale, die ja kurz zuvor noch ein Apfel gewesen war. Doch diesmal war sie es, der der Zauber nicht gelingen wollte. Die Banane ließ sich partout nicht in einen Staubhaufen verwandeln, so sehr Chihiro es auch versuchte. Vielleicht lag das aber auch daran, dass sie überhaupt keine Idee hatte, wie aus einer Banane eine Murmel werden sollte. "Also, mit der Banane klappt es nicht", sagte sie nach einigen weiteren Versuchen und setzte sich mit einem Seufzer auf die Holzbank. Verwandlungszauber waren doch ziemlich anstrengend. "Das beruhigt mich aber sehr", sagte Zeniba erleichtert. "Weißt du, ich dachte schon fast, du hättest einen Zauber gefunden, der keine Umkehrung besitzt und mit dem du Jedermann einfach umbringen könntest." "Umbringen? Ich will doch niemanden umbringen. Außerdem kann ich den Zauber umkehren, jedenfalls so ungefähr", gab Chihiro zurück. Sie wandte den Umkehrzauber, den sie gefunden hatte, auf die beiden Staubhäufchen an, den vom Kieselstein und den vom Becher. Beide wurden daraufhin sofort zu festen Klumpen, die sich zu Zenibas Erleichterung dann wieder zurück in den Ausgangszustand verwandeln ließen. "Ist das denn so gefährlich, was Chihiro da gemacht hat?" fragte Kohaku neugierig. "Ob das gefährlich ist? Ich habe jedenfalls noch nie von einem Zauber gehört, der Dinge in einen Zustand verwandelt, die normaler Magie nicht mehr zugänglich sind. Ich müsste den Staub doch zumindest bewegen können, oder nicht ...", erwiderte die Hexe und blickte dabei Kohaku an, "noch erstaunlicher finde ist allerdings, dass Chihiro diesen Zustand teilweise wieder umkehren kann. Kannst du mir eigentlich erklären, wie du das machst?" "Wie ich das mache?" fragte Chihiro verdutzt. Das war doch ganz einfach. "Na, sie müssen den Kieselstein, oder den Becher, oder was auch immer, in eine Glasmurmel verwandeln. Dann wird er zu Staub. Und den Staub müssen sie dann wieder in einen Kiesel verwandeln. Dann wird er wieder fest." Zeniba versuchte kurz einen Sinn in dem Gesagten zu erkennen, doch dann besah sie sich Chihiros Zeichnung und kam zu dem Schluss, dass sie wohl nie ergründen würde, was im Kopf des Mädchens vor sich ging, bei der Ausführung diesen Zaubers. "Chihiro, versprichst du mir, dass du diesen Zauber nie mehr anwenden wirst. Ich befürchte nämlich, dass ganz furchtbare Dinge geschehen können. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, könntest du damit, in einer Kettenreaktion, die ganze Erde in atomaren Staub verwandeln." "Die ganze Erde?? Meinst du wirklich, Oma Zeniba?" Jetzt wurde Chihiro doch wieder ein wenig mulmig. "Also gut, ich verspreche dir, dass ich diesen Zauber nicht mehr benutze", erklärte sie feierlich. "Das hört sich aber nicht besonders ernsthaft an", wandte Zeniba ein. Die Formulierung "Also gut" gefiel ihr nicht besonders. "Was soll ich denn sagen, Oma Zeniba? Soll ich bei meinem Leben schwören? Mein Leben ist auch Kohakus Leben und ich kann doch nicht für ihn schwören", verteidigte Chihiro sich und Zeniba sah ihr Dilemma unmittelbar ein. "Ich werde dein Versprechen vorerst akzeptieren, aber wenn ich erleben sollte, dass du es brichst, werde ich euch nicht mehr unterrichten", erklärte die Hexe bitterernst, wobei sie sich Fragte, was für eine Aufgabe sie sich da wohl aufgebürdet hatte. Zeniba begann nun mit dem eigentlichen Zauberunterricht und es war viel weniger lustig, als Chihiro sich das vorgestellte hatte. Die erste Lektion, die sie lernen musste war, dass Zaubern harte Arbeit ist und viel, sehr viel Übung erfordert. Sie selbst konnte am Ende der Nacht Gegenstände viel präziser unter ihren Willen zwingen, als sie das jemals zuvor gedacht hatte. Aber er war noch ein weiter Weg dahin, wie sie feststellte, bis sie es schaffen würde, dass sich Gegenstände automatisch sortierten und in ordentlichen Stapeln sammeln würden. Kohaku schaffte es nach einiger Zeit, den Apfel beliebig in eine Banane und wieder zurück zu verwandeln. Er war noch begierig darauf, weitere Verwandlungen zu erarbeiten, denn wie Zeniba ihnen beibrachte, konnte man in der Regel nicht einfach jede Umwandlung durchführen, sondern im Ernstfall nur solche, die man vorher gut eingeübt hatte. Versuchte man eine neue Verwandlung aus dem Stehgreif, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie daneben ging. Wenn man sie allerdings oft genug praktiziert hatte, konnte man gewisse Verwandlungen quasi im Vorbeigehen bewerkstelligen. Als Beispiel nannte Zeniba hierfür ihre Schwester Yubaba, gerne alles in ein Kohlestück verwandelte, einfach weil sie es am besten konnte und es ihr am wenigsten Mühe kostete. Zusätzlich merkte sie noch an, sahen die Kohlestücke ihrer Schwester immer genau gleich aus, eben genau so, wie das Kohlestück mit dem sie vor über 100 Jahren immer geübt hatte. Da es mittlerweile weit nach Mitternacht war, befand die alte Hexe, dass es Zeit wäre, eine Pause einzulegen und etwas zu Essen zu machen. Sie machte daher mit einem Fingerschnippen Feuer im Herd und setzte einen kupfernen Topf auf die Feuerstelle, der bereits die ganze Zeit abgedeckt neben dem Herd gestanden hatte. Kurz drauf bekamen sie dann vom Ohngesicht einen herrlich duftenden Gemüseeintopf serviert. Nach dem mitternächtlichen Imbiss begann Zeniba sie in die theoretischen Grundlagen der Magie einzuführen. Zeniba ließ dazu das Ohngesicht eine Tafel aufstellen, auf der sie zunächst einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Kongruenzmagie bis hin zu den Grundlagen der affinen Mathemagie durch den Gott Okuni Nushi. Dieser Gott musste laut Zeniba wirklich brilliant gewesen sein, hatte aber, wie sie bedauernd hinzufügte, seit mehr als tausend Jahren keine bedeutenden Beiträge mehr zur Magietheorie mehr geliefert hatte, weil er voll und ganz mit der ihm betrauten Aufgabe ausgelastet war, die Geisterwelt zu administrieren. Chihiro meinte, diesen Namen schon einmal gehört zu haben, aber weil sie allmählich ziemlich müde geworden war, hakte sie nicht weiter nach. Zeniba dozierte desweilen weiter vor sich hin und zeichnete eine detaillierte Zeittafel der Magiehistorie an. Nach einer Weile wunderte sie sich, dass es hinter ihr vollkommen ruhig geworden war und als sie sich umdrehte, sah sie, dass Chihiros Kopf auf die Tischplatte gesunken war und das Mädchen fest schlief. Kohaku blinzelte sie aus geröteten, winzig kleinen Augen an. Er konnte sich offenbar auch kaum wachhalten. "Bitte verzeihen sie, Frau Zeniba", flüsterte er, um Chihiro nicht zu wecken, "ich möchte nicht unhöflich erscheinen, denn normalerweise werde ich ja kaum müde. Aber durch den Stein überträgt sich ihre Müdigkeit irgendwie auf mich und ich würde jetzt auch am liebsten schlafen." So sagte er und ließ sich auch schon seitlich auf die Bank sinken, wo er sich zusammenkauerte und sofort einschlief. "Na so was", murmelte die Hexe, holte zwei Decken aus dem Nebenzimmer und hüllte die beiden Kinder vorsichtig darin ein. Dann holte sie sich ein Buch aus ihrer Bibliothek und begann darin zu lesen, während das Ohngesicht begann, einen Pullover für Chihiro zu häkeln. Wiederum zwei Stunden später wachte Kohaku auf. Blinzelnd blickte er sich um, sah aber nur Chihiro, die sich neben ihm auf der Holzbank zusammengerollt hatte und im Moment anscheinend träumte, wie er an ihren unter den Liedern hin und her zuckenden Augen erkannte. Weder Zeniba noch das Ohngesicht waren in der Stube. Leise stand er auf, ging zur Tür, weil er Geräusche von draußen hörte, und schaute hinaus. Dort war Zeniba dabei, einen Pflug hin und her zu dirigieren, der die Gemüsebeete vor dem Haus durchfurchte, während das Ohngesicht einen Heuballen durch die Gegend trug und damit hinter dem Haus in Richtung des Stalls verschwand. "Ah, du bist ja wieder aufgewacht", rief Zeniba, als sie das Licht aus der geöffneten Tür bemerkte. "Wenn du möchtest, kannst du mir ein wenig zur Hand gehen und den Pflug für eine Weile übernehmen. Das ist bestimmt eine gute Übung, auch für dich." Kohaku nickte nur und benutzte dann seine Zauberkräfte, um den Pflug im Zickzack über das Feld zu schicken, während Zeniba in den Stall ging. Als er fast fertig war, steckte eine ziemlich verschlafen wirkende Chihiro ihren Kopf zur Tür hinaus. Sie war noch immer in die Decke eingewickelt, weil ihr ziemlich kalt war, und da sie beim Atmen kleine Dampfwölkchen erzeugte bemerkte Kohaku jetzt, wie kalt es geworden war. Viel fehlte nicht mehr und würde beginnen zu frieren. ,Chihiro, bleib drinnen. Es ist kalt hier draußen', sorgte er sich, ,ich bin hier gleich fertig, dann komme ich rein.' ,Und was ist mit dir. Du stehst in einem T-Shirt. Wozu hat Mama dir denn Papas Parka gegeben', gab Chihiro zurück, verschwand kurz im Inneren und tappte etwas unbeholfen, weil sie, nachdem sie die Tür geschlossen hatte, kaum etwas sehen konnte, mit dem Parka zu Kohaku hinüber, dem sie ihn dann überzog. Nachdem Kohaku mit dem Feld fertig war, gingen sie beide zum Stall hinüber, wo Zeniba und das Ohngesicht gerade dabei waren, die Schweine und die Ziegen zu füttern. Chihiro freundete sich rasch mit einer der Ziegen an, der sie einen Apfel aus einem Korb neben der Stalltür zu fressen gab. Von Kohaku aber schienen die anderen Ziegen besonders fasziniert zu sein, denn sie drängten sich alle zu ihm hin, obwohl es bei ihm nichts zu futtern gab. "Chihiro, bitte verfüttere doch nicht alle Äpfel an die Ziegen", ließ sich Zeniba vernehmen, als sie deren Tun bemerkte, "die waren eigentlich für den Markt nächste Woche gedacht. Geht doch besser schon mal rein, denn bald wird es wieder hell werden. Ich komme gleich nach." Auf dem Weg zurück ins Haus bemerkte Chihiro dann auch, dass der Himmel im Osten bereits heller wurde, weshalb sie sich zusammen mit Kohaku fertig für den Rückweg machte. Lächelnd kam Zeniba kurz nach ihnen zusammen mit dem Ohngesicht zur Tür hinein. "Wie ich sehe, seid ihr schon fertig für den Heimweg. Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr morgen wiederkommen könntet", sagte sie zum Abschied, während Chihiro sie umarmte. Kohaku war etwas zurückhaltender und begnügte sich mit einer Verbeugung. Begleitet von der Laterne, die vor ihnen herhüpfte, fanden sie in der beginnenden Morgendämmerung problemlos den Rückweg zu der Lichtung im Wald, in deren Mitte sich der hohle Baum mit dem Tor zur Menschenwelt befand. Das erste, was sie auf dem Rückweg durch den erwachenden Wald taten, war zu testen, ob der Phenaktit in ihren Bäuchen auch den gewünschten Effekt hatte. Chihiro setzte sich auf die grinsende, doppelgesichtige Steinstatue. Kohaku ging den gepflasterten Weg in Richtung von Chihiros Elternhaus, wobei er angestrengt in sich horchte, ob das vertraute Ziehen einzusetzen begann, welches seinen Auflösungsprozess einleitete. ,Kohaku, kannst du mich hören?', wollte Chihiro nach einigen Minuten wissen. ,Ja Chihiro, es funktioniert auch auf diese Distanz', hörte sie seine Gedanken genauso Laut und deutlich in ihrem Kopf, als stünde er direkt neben ihr. ,Und wie weit bist du jetzt?' fragte sie. ,Ich bin gleich am Waldrand angekommen", gab er zurück. ,Es sieht nicht so aus, als sollte ich mich in einen Geist verwandeln. Zenibas Operation scheint gelungen zu sein.' ,Wartest du auf mich, ich komme jetzt nach', hörte Kohaku Chihiros fröhlich Gedanken und er beschloss ihr wieder entgegen zu kommen. Es war fast ganz Hell, als sie Zuhause ankamen. Chihiros Eltern waren noch nicht aufgewacht, sodass sie leise nach Oben in ihr Zimmer gehen konnten. Eigentlich hatte Chihiro vorgehabt, sich sofort hinzulegen, sobald sie Daheim war, doch durch die Bewegung in der kühlen Morgenluft, war sie wieder richtig munter geworden und sie hatte zudem große Lust darauf, ihre magischen Fähigkeiten noch ein wenig zu üben. So verstreute die ihre Bücher überall auf dem Fußboden und versuchte zu erreichen, dass sie sich ordentlich im Regal einsortierten. Für Kohaku schien das ein Leichtes zu sein, denn er demonstrierte Chihiro mehrfach, wie man es richtig machte, doch sie selbst tat sich sehr schwer damit. Wenn sie es versuchte landeten die Bücher immer kreuz und quer im Regal und als sie es einmal schaffte, sie einen wackeligen Stapel bilden zu lassen, ließ sie es gut sein. Lieber schaute sie bei Kohaku zu, wie er Verwandlungen übte. Chihiro hatte ihm einen ihrer alten Holzbauklötze gegeben, mit denen sie seit Jahren nicht mehr gespielt hatte. Kohaku gelang bereits es nach kurzem Üben ihn in einen Apfel, vom Apfel in eine Banane und wieder zurück in einen Holzbauklotz zu verwandeln. Dieses wiederholte er immer wieder, bis Chihiro ihn unterbrach. Inzwischen hatte sie wieder Hunger bekommen und der Banane, die der Bauklotz gerade war, konnte sie jetzt einfach nicht widerstehen. Die Banane war wunderbar goldgelb und verströmte einen verführerischen Bananenduft. Als sie die Schale entfernt hatte und hineinbeißen wollte, war das Fruchtfleisch aber immer noch aus Holz, in der gleichen Farbe und Maserung, wie der ursprüngliche Klotz. Kohaku war das sehr peinlich und er verwandelte das hölzerne Fruchtinnere in eine neue, etwas kleinere Banane, wobei er sich mehr auf die inneren Werte konzentrierte. Diese Banane gelang ihm wesentlich besser. Sie hatte zwar eine rosafarbene Schale, doch sie schmeckte vorzüglich bananig. Schnell holte Chihiro weitere Bauklötze, die Kohaku einen nach dem anderen in Bananen verwandeln musste. Sie gelangen ihm dabei von Mal zu Mal besser, sodass Chihiro nicht mehr aufhören konnte, sich die Früchte der Reihe nach in den Mund zu stopfen. "Na ihr beiden lasst es euch ja gut gehen", sagte Chihiros Mutter, die plötzlich die Tür geöffnet hatte, um Nachzuschauen, ob sie schon zurückgekommen waren. Sie hatte den Haufen Bananenschalen auf dem Schreibtisch bemerkt und sich gefragt, woher das Obst wohl stammen mochten, denn sie hatte gestern keine Bananen gekauft. "Wenn ihr noch Hunger habt, gibt es jetzt unten Frühstück", sagte sie dann, "und seid lieb zu Akio. Er hat einen dicken Kopf von gestern Abend, vom vielen Sake." Chihiro putzte sich nur schnell die Zähne und zog sich frische Sachen an, während Kohaku das offenbar nicht brauchte. Er behielt einfach die Sachen an, die er jetzt schon seit zweieinhalb Tagen trug. Er wirkte dabei unglaublich sauber, adrett und wach, ohne dass er etwas dafür tun musste. Aber er ist eben ein Gott und da ist das wohl so, dachte Chihiro bei sich und freute sich, dass er jetzt bei ihr war. Beim Frühstück erfuhr Herr Ogino, dass Chihiro und Kohaku in der Nacht doch zu dieser Hexe in den Wald gegangen waren. Darüber erbost wollte er sofort losbrüllen, doch ein dumpfer Schmerz explodierte hinter seiner Stirn, sodass er sich nur mit einem Keuchen in seinen Stuhl plumpsen ließ. Kohaku kam zu ihm hin, legte seine Hand auf die Stirn und wiederholte den Zauber, den er auch schon bei der Nase angewendet hatte. Danach fühlte Herr Ogino sich sehr viel besser. Seine Stimmung hob sich schlagartig und er beschloss erst einmal kein Wort mehr über den nächtlichen Ausflug zu verlieren. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass niemand in diesem Haushalt das tat, was er wollte. Nach Ende des Frühstücks fuhr Frau Ogino noch einmal in den Konbini, um noch einigen Papierkram zu erledigen und um danach noch einzukaufen. Herr Ogino musste sich um zwei neue Kunden kümmern, deren Häuser er zusätzlich Verwalten sollte und so waren Kohaku und Chihiro kurz nach Neun Uhr Morgens alleine. ,Was sollen wir jetzt machen, Kohaku', fragte sie, ,sollen wir nach draußen Spielen gehen?' ,Wenn du willst', gab Kohaku zurück, ,aber ich möchte dir vorher noch etwas sagen, etwas das uns und Zeniba betrifft.' ,Also gut, lass uns ins Wohnzimmer gehen', schlug sie vor, ,da haben wir das Sofa für uns alleine.' ,Zeniba und ich', begann Kohaku, nachdem sie sich auf das Sofa gesetzt hatten, ,Zeniba und ich, wir wollen dass Yubaba im Badehaus nicht mehr tun und lassen kann, was sie will. Sie muss die Leitung des Badehauses abgeben, sonst wird sie noch Leute umbringen.' ,Umbringen? Wen bringt Yubaba um?' wollte Chihiro überrascht wissen. Sie hatte zwar mitbekommen, dass die Hexe Kohaku in das Bergwerk gesteckt hatte, und dass es ihm dort nicht besonders gut ergangen war, aber den Hintergrund dessen nicht begriffen. ,Chihiro, sie schickt die Leute, die sie im Badehaus nicht mehr gebrauchen kann in das Bergwerk, damit sie dort sterben', antwortete er unwirklich sachlich, ,deswegen hat sie auch mich dorthin geschickt. Wenn ihr Plan gelungen wäre, dann wärst du mit mir gestorben.' Jetzt war Chihiro erst einmal sprachlos, denn solch eine Boshaftigkeit hatte sie Zenibas Schwester nicht zugetraut. Wie konnte Yubaba denn so schlecht sein, wenn Zeniba so gut war? ,Ja aber, du bist doch in Sicherheit. So schlimm kann das doch nicht sein, denn sie hat dich ja gehen lassen, so wie sie mich auch hat gehen lassen', argumentierte sie schließlich schwach. ,Damals hatte sie keine große Wahl, als dich gehen zu lassen, mit all den Göttern als Zeugen. Sie hat die Aktion mit den Schweinen als Werbung für das Badehaus genutzt', erzählte Kohaku dann, ,Sie hat es mir selbst ins Gesicht gesagt, bevor sie mich ins Bergwerk schickte.' Chihiro schaute ich nachdenklich an, während er fortfuhr: ,Überleg doch mal. Sie schließt immer wieder neue Arbeitsverträge, so wie mit dir. Sie muss es tun, weil sie es Zeniba geschworen hat. Dann nimmt sie den Leuten ihren Namen weg, sodass sie nicht mehr kündigen können und sie die Kontrolle hat. Das tut sie schon seit vielen Jahrzehnten so. Müsste dann nicht das ganze Badehaus voller Arbeiter sein? Ist es aber nicht!' Es brauchte eine Weile, bis Chihiro die Tragweite des Gesagten begriff. ,Meinst du etwa, sie hat alle umgebracht, die sie nicht mehr brauchen konnte?' Chihiro erschauerte bei dem Gedanken. Konnte Yubaba wirklich so böse sein? ,Und ..., und warum wollte sie dich dann umbringen? Du warst doch ihre rechte Hand.' ,Sie hatte herausgefunden, dass ich es gewesen bin, der dir geholfen hat. Und weil du auch den schwarzen Wurm aus mir entfernt hattest, hatte sie keine direkte Kontrolle mehr über mich. Da hat sie beschlossen, dass sie mich loswerden wollte. Wenn du die letzten drei Jahre nicht durchgehalten hättest, dann ...' ,Jetzt wollen du und Zeniba also Yubaba aus dem Badehaus jagen', dachte Chihiro trotzig, ,Und ich werde euch dabei helfen, wenn ich kann!' ,weißt du Chihiro, das ist genau der Grund, warum ich dir unbedingt sagen musste, was wir vorhaben. Es wird sehr gefährlich werden, denn Yubaba hatte Jahrzehnte Zeit, sich auf derartiges vorzubereiten', gab Kohaku zurück. ,Ich habe mir geschworen, alle zu befreien, die noch im Bergwerk sind. Wenn es nur um mein eigenes Leben ginge, würde ich es einfach tun, auch wenn es gefährlich ist. Aber mein Leben ist auch dein Leben. Ich bin dein Gott und muss dich beschützen. Chihiro, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.' ,Das ist mir egal, ob es gefährlich ist. Du bist mein Gott und genau deshalb muss ich dir helfen. Wenn wir Yubaba nicht stoppen, dann kannst du deinen Schwur nicht halten und dann wirst du nie glücklich sein. Wenn du nicht glücklich bist, dann will ich auch nicht glücklich sein. Kohaku, wir werden wir den Rest unseres Lebens zusammen sein. Wie sollen wir denn leben, wenn wir nie glücklich sein können?' Sie nahm Kohaku, der still auf den Tisch blickte, in den Arm und hielt ihn fest. Es dauerte eine Weile, bis er etwas unsicher erwiderte: ,Chihiro, ich danke dir für deine Worte, doch ich glaube, wir sollten Yubaba besser nicht herausfordern. Vielleicht können wir es dennoch schaffen, ohne uns mit Yubaba direkt anlegen zu müssen. Auf jeden Fall sollten wir zuerst mit Zeniba reden. Sie weiß ohnehin besser, wie man mit Yubaba umgeht.' ,Ja, das sollten wir vielleicht. Heute Nacht werden wir mit ihr sprechen und sie fragen, was man am besten tun kann, um die Leute aus dem Bergwerk zu befreien', erwiderte Chihiro entschlossen und drückte Kohaku noch fester an sich. Nach einer Weile sackte ihr Kopf auf seine Schulter und er wurde von dem Strudel aus Müdigkeit, der von Chihiro ausstrahlte, fast hinfort gerissen. Doch diesmal fühlte er sich so elend, dass er dennoch nicht einschlafen konnte. Vorsichtig löste er ihren Griff um seine Brust, sodass sie sie sich auf dem Sofa ausstrecken konnte, mit ihren Kopf auf seinem Schoss. Um keinen Preis wollte er, dass sich dass Mädchen für ihn noch einmal in Gefahr begab. Er hatte sich zwar geschworen, die Frösche und Torooru aus dem Bergwerk zu befreien, doch zu dem Zeitpunkt hatte er noch nicht geahnt, dass seine Lebenskraft in Chihiro steckte. Jetzt musste er entweder sein Wort brechen, was bedeutete, dass alle im Bergwerk über kurz oder lang sterben würden, oder er würde versuchen sie zu befreien, was sein und Chihiros Leben zusätzlich in Gefahr bringen würde. Dabei hätte er dennoch keinerlei Garantie, dass er im Endeffekt jemanden aus dem Bergwerk würde retten können. Dass Chihiro mit der Rettungsaktion einverstanden war, machte die Sache für ihn nicht leichter, denn sie war doch eben noch ein Kind und damit nicht vollkommen Verantwortlich für ihr tun. Angestrengt grübelte er weiter über ihre Situation nach, bis Frau Ogino zurückkehrte und anfing, das Mittagessen zu bereiten. Er löste sich von Chihiro, um ihr dabei zu helfen, denn er erhoffte sich, ein Paar andere Gedanken zu bekommen. Frau Ogino war sehr erfreut, über seine Hilfe. Sie fragte ihn über ihren Besuch bei Zeniba aus, wollte wissen, was die Hexe für eine Frau war und wo genau sie im Wald wohnte, denn sie wollte Zeniba auch einmal besuchen. Es war mühsam für den jungen Gott all diesen Fragen soweit auszuweichen, dass Yuko Ogino zufrieden war und doch nicht zu viel erfuhr. Mit einigen Tipps beim Kochen, die er der Frau aus seiner Erfahrung im Badehaus geben konnte, gelang es sie jedoch soweit abzulenken, dass sie nicht weiter nachhakte. Schwieriger erwies es sich, Chihiro für das Mittagessen wieder aufzuwecken, denn die Nacht war für sie sehr anstrengend gewesen. Sie ass nur wenig und nach dem Essen wurde sie rasch wieder Müde, sodass sie ihren Futon aus dem Schrank holte und innerhalb weniger Minuten eingeschlafen war. Nicht einmal die Sonne, die zeitweilig durch das Fenster auf ihr Gesicht schien, konnte sie aufwecken. Diesmal konnte sich Kohaku dem Sog ihrer Müdigkeit nicht entziehen und er schlief kurz nach ihr auf dem Boden liegend einfach ein. Dieser Stein in seinem und Chihiros Bauch, hatte sowohl Vor-, als auch Nachteile, dachte er noch kurz, bevor er einschlief. Welche das alle waren, würde sich noch erweisen. Am Abend durften Chihiro und er das Haus verlassen, noch bevor die Sonne unterging. Chihiros Vater murrte zwar ein wenig, doch er sperrte sich nicht gegen ihren erneuten Ausflug zu Zeniba. Auch diesmal nötigte Yuko Oginos Kohaku den lächerlich großen Parka überzustreifen, den er allerdings kurz nach dem Betreten des Waldweges entschlossen abstreifte und zu einem Bündel zusammengeschnürt schulterte. Es war noch nicht ganz dunkel, als die bei Zeniba eintrafen. Die Hexe war offenbar gerade erst aufgestanden, denn sie empfing die beiden in einem Bademantel und mit offenem, wirren Haar. Das Ohngesicht war allem Anschein nach damit beschäftigt, größere Mengen heißen Wassers für ein Bad zu erzeugen, denn es setzte den Kessel mehrfach auf, verschwand mit dem erwärmten Wasser und kehrte mit kaltem Wasser wieder zurück. Sie mussten mehr als eine halbe Stunde warten, bis Zeniba sich endlich hergerichtete und ein spartanisches Frühstück eingenommen hatte. Ohne größere Umstände wollte sie danach sofort mit dem Zauberunterricht fortfahren, an der Stelle, an der sie in der Nacht zuvor hatten aufhören müssen, doch sie wurde von Chihiro unterbrochen: "Oma Zeniba. Wir müssen Yubaba aufhalten, oder nicht?" begann sie, "Sie haben doch bestimmt einen Plan ..." Zeniba sah erstaunt zu Kohaku, doch der zuckte nur mit den Schultern. eigentlich hatte sie Chihiro und Kohaku aus der Sache heraushalten wollen. "Wieso hast du Chihiro davon erzählt?" fragte sie vorwurfsvoll den jungen Drachen, "Das war ganz und gar unnötig. Ich und das Ohngesicht haben bereits einen Plan. Wir müssen nur noch herausfinden, wo sich das Siegel meiner Schwester befindet, dann können wir zuschlagen." "Yubabas Siegel?" interessierte Chihiro sich. "Yubaba hat auch ein Siegel, so eins, wie sie? Wozu ist das eigentlich gut?" "Wozu das Siegel gut ist?" Zeniba ging in den Nebenraum und kehrte mit einer kunstvoll verzierten Lackschachtel zurück, aus der sie das goldene Siegel mit der Froschfigur an der Spitze nahm, dass Chihiro ihr damals zurückgebracht hatte. "Wozu ist ein Siegel schon gut? Es dient dazu, Verträge zu besiegeln. Dazu ist es gut! Deine Eltern haben doch bestimmt jeder auch ein Siegel. So ist das doch auch in eurer Welt, oder?" Jetzt fiel es Chihiro wie Schuppen von den Augen. In Japan hatte Jedermann ein amtlich registriertes Siegel, das wie eine persönliche Unterschrift galt. Ohne ein solches Siegel konnte man nicht einmal ein Bankkonto eröffnen oder einen Scheck bezahlen. Das hatte sie in der Schule gelernt. Wenn man das Siegel einer Person stahl, konnte man in deren Namen Verträge schließen, ohne dass diese Person direkt etwas dagegen unternehmen konnte. Sie musste zuerst amtlich das Siegel sperren lassen, sonst konnte der Dieb fast Alles damit anstellen. Jetzt wurde ihr auch sofort klar, weshalb die Hexen ihre Siegel mit Flüchen belegten, um sie vor unbefugtem Zugriff zu beschützen. "Und wie wollen sie das Siegel stehlen? Wenn Yubaba es so verflucht hat, wie sie, dann wird jeder sterben, der versucht es zu entwenden", meinte Chihiro dann, "sie können Yubabas Siegel nicht benutzen, so wie Yubaba damals ihr Siegel nicht benutzen konnte. Also wird ihr Plan nicht funktionieren." "Doch, es wird funktionieren. Du selbst hast doch selber gezeigt, wie, Chihiro", gab Zeniba zuversichtlich zurück, holte einen weiteren kleinen, umwickelten Gegenstand aus der Lackschachtel und legte ihn auf den Tisch. Feierlich entfaltete die Hexe das umhüllende Tuch und präsentierte den Inhalt: eine kleine braune Kugel. Chihiro erkannte sofort, was es war, während Kohaku interessiert schaute, weil ihm der Geruch bekannt vorkam. Es war ein Kräuterkloß. Genau so einer, wie der, den sie von dem Flussgott erhalten hatte. "Was willst du mit dem Kräuterkloß, Oma Zeniba?", fragte sie alarmiert, "Soll etwa jemand das Siegel stehlen, den Fluch dabei auf sich nehmen und dann mit dem Kräuterkloß gerettet werden?" ,Ist das so ein Kloß, wie der, mit dem du mich gerettet hast?' hörte sie Kohakus Gedanken in ihrem Kopf. "Ich kann mir vorstellen, dass du dir ein wenig mehr Finesse von mir erwartet hast, Chihiro", meinte die Hexe nachdenklich, "aber ich glaube, ein derart direktes und plumpes Vorgehen wird meine Schwester nicht erwarten, sodass wir ganz gute Aussichten auf Erfolg haben dürften." "Ja, genau so einer", antwortete Chihiro auf Kohakus Frage und unterbrach damit Zeniba. "Was meinst du, Chihiro?" fragte die Hexe irritiert. "Wenn sie bereits einen Kräuterkloß haben, dann wissen sie doch bestimmt, wer das Siegel für sie stehlen soll?", erkundigte Kohaku sich. "Ja, natürlich. Das Ohngesicht ist einverstanden, das Risiko auf sich zu nehmen." Zeniba schaute zu der schwarzen, halbdurchsichtigen Gestalt mit der weißen No-Gesicht hinüber. "Ah, ah, ah", machte es und nickte dabei zustimmend. "Es kann sich unsichtbar machen und kennt sich bereits im Badehaus aus", führte Zeniba aus, "es verfügt über starke magische Fähigkeiten, die es in den letzten drei Jahren noch vervollkommnet hat. Wer wäre besser geeignet, frage ich euch?" "Da gibt es nur ein Problem", warf Kohaku ein, "ich war fünf Jahre lang ihr Lehrling, aber wo sie das Siegel aufbewahrt, habe ich nie erfahren. Es muss irgendwo in ihren Privatgemächern versteckt sein." "Damit hast du leider genau den wunden Punkt meines Plans getroffen", stimmte Zeniba ihm zu. "Ich habe keine Ahnung, wo sie es verborgen haben könnte. Bevor wir die Aktion starten können, müssen wir das zunächst auskundschaften. Am schwierigsten wird es sein, hineinzukommen, ohne dass Yubaba es bemerkt. Sie hat an allen möglichen und unmöglichen Stellen Alarmzauber abgebracht, die jedoch von Leuten, die bei ihr unter Vertrag sind, nicht ausgelöst werden." "Du meinst also, jemand müsste bei Yubaba im Badehaus anheuern, um sie auszuspionieren?" So langsam wurde die Sache spannend, fand Chihiro. "Ich hatte eigentlich gedacht, dass ich mich als Yubaba ausgebe und jemandem aus dem Badehaus abkommandiere, nach dem Siegel zu suchen", entgegnete die Hexe, "nur leider komme ich nicht besonders Nah an das Badehaus heran. Wenn ich das Grundstück auch nur persönlich betrete, verliere ich, laut unserem Vertrag, alle Rechte daran. Dann wäre alles umsonst und Yubaba hätte endgültig gewonnen." "Aber damals warst du doch auch da, in ihrem Arbeitszimmer", wunderte Chihiro sich. "Ach Kindchen, damals war ich doch bloß als magisches Ebenbild dort. Du wirst dich doch erinnern, dass ich noch halb durchsichtig gewesen bin", erinnerte Zeniba das Mädchen. Das stimmte. Chihiro hatte es nur vergessen. "Aber was ist denn, wenn derjenige, der für sie sucht, weil er glaubt sie wären Yubaba, dabei erwischt und von ihrer Schwester umgebracht wird?" fiel Kohaku ins Wort. "Dann sind sie Schuld, an seinem Tod!" "Tja, weißt du, darüber hatte ich auch schon nachgedacht und bin noch zu keiner Lösung gekommen ...", sagt Zeniba nachdenklich, "aber wir müssen diese Information bekommen, sonst ist dieser Plan bereits gescheitert, bevor wir überhaupt begonnen haben. Die Alternative wäre, dass wir jemanden finden, der einen Arbeitsvertrag im Badehaus annimmt. Dann könnte es allerdings Jahre dauern, bis er sich bis in Yubabas Räume vorgearbeitet hat. Das Ohngesicht kommt dafür leider nicht in Frage, denn es könnte keinen Arbeitsvertrag verlangen, weil es nicht reden kann." "Ich werde gehen. Ich weiß, wie das geht, wie man Yubaba zwingen kann, einem Arbeit zu geben", rief Chihiro forsch, "und wie man in Yubabas Wohnung kommt, weiß ich auch. Und Boh kenne ich auch. Der wird mir bestimmt helfen!" Zeniba schaute das Mädchen erstaunt an. Vielleicht war das gar keine so schlechte Idee, dachte sie, Chihiro für einige Zeit in das Badehaus einzuschleusen. Wenn sie etwas herausfand, dann war es gut, wenn nicht, können sie sich immer noch etwas anderes überlegen. "Chihiro, das ist viel zu gefährlich. Bitte tu es nicht", sorgte sich Kohaku, "Frau Zeniba, bitte lassen sie das nicht zu." "Papperlapapp, gefährlich. Chihiro ist unter den Göttern viel zu bekannt, als dass Yubaba es wagen würde, ihr etwas zu tun", gab Zeniba zurück. "Ich könnte mir sogar vorstellen, dass Chihiro eine richtige Attraktion für das Badehaus wäre. Yubaba wird genauso denken und sie schon allein deshalb einstellen." "Torooru hat mir einmal erzählt, dass manche Gäste große Summen geboten hätten, wenn sie von Sen, also Chihiro, bedient würden", äußerte Kohaku, "aber das ist immer noch kein Grund, sie in Gefahr zu bringen. Ich kann das nicht erlauben." "Bitte, bitte, Kohaku. Ich möchte so gerne noch einmal das Badehaus wiedersehen, Lin, Kamaji und die anderen treffen", bettelte Chihiro, "außerdem muss ich doch auch noch mal mit Boh spielen. Ich verspreche dir, ich werde ganz vorsichtig sein und nicht versuchen über alte Wasserrohre zu laufen oder Außenleitern hochzuklettern." "Nein Chihiro, trotzdem. Das ist Yubaba und wenn sie dir wieder deinen Namen stiehlt, dann bist du im Badehaus gefangen und wir können dir kaum helfen", versuchte er Chihiro von ihrer Absicht abzubringen. "Junge, ich kenne den Zauber, den meine Schwester da benutzt, ganz genau. Chihiro muss nur einen falschen Namen angeben, dann kann Yubaba den richtigen auch nicht stehlen. Sie darf dann, wenn sie es merkt dann zwar den Vertrag ablehnen, aber das wird sie bei Chihiro kaum tun", brachte Zeniba an, "und wenn Chihiro einen Zeitlich befristeten Vertrag haben will, dann muss Yubaba ihr den auch geben." "Ja genau, das ist eine super Idee. Ich werde mit Sen unterschreiben und in den Winterferien habe ich zwei Wochen frei. Da können wir es machen", begeisterte Chihiro sich, froh darüber, dass sie auch etwas tun konnte. Kohakus Sorgen wegen der Gefährlichkeit konnte sie zwar verstehen, aber es war doch auch sein Wunsch, das Yubaba im Aburaya entmachtet wurde. Zudem hatte Zeniba ihnen auch schon soviel geholfen, dass Chihiro glaubte, ihr ebenfalls helfen zu müssen. Einzig wenn sie daran dachte, wieder zu Yubaba, in deren Büro, hoch zu müssen, um dort eine Arbeit zu erbetteln, wurde ihr wieder ein wenig mulmig. Doch richtige Angst hatte sie keineswegs. Am Ende würde doch immer alles gut ausgehen, dessen war sie zutiefst überzeugt. Kohaku kam jetzt zu ihr hin, nahm ihre rechte Hand in seine Hände und blickte mit seinen grünen Augen direkt in ihre hinein. Sie hatte fast den Eindruck, darin zu versinken. "Bitte Chihiro, überleg es dir noch einmal", beschwor er sie, "wenn du bei Yubaba im Badehaus bist, dann kann ich dir diesmal nicht mehr helfen, so wie damals. Und ich bin doch dein Schutzgott und muss dich beschützen. Deshalb kann ich nicht gutheißen, wenn du dich in Gefahr begibst." "Ach Kohaku, du willst doch auch dass Yubaba keinen mehr ermorden kann", fragte sie. "Dann müssen wir Oma Zeniba helfen. Wenn du uns nicht helfen willst, dann ist das OK, aber trotzdem muss ich ihr helfen." "Also gut Chihiro, dann werde ich euch ebenfalls helfen, so gut wie ich kann, denn schließlich kenne ich das Badehaus von uns allen am besten", lenkte Kohaku ein. "Ob du das Badehaus am besten kennst, wage ich doch zu bezweifeln", schaltete Zeniba sich wieder ein, "denn immerhin bin ich dort aufgewachsen, mein Junge. Auf jeden Fall möchte ich euch danken, dafür dass ihr mir helfen wollt. Ich sehe wirklich keine echte Gefahr, wenn Chihiro für zwei Wochen im Badehaus arbeitet, es sei denn, sie fordert die Gefahr heraus." "Aber meinen sie denn, dass Chihiro einfach so zu Yubaba gehen kann und einen Vertrag über nur zwei Wochen erhält? Das kann ich mir kaum vorstellen", zweifelte Kohaku. "Sie muss jedem Arbeit geben, der sie darum bittet", erwiderte Zeniba, "aber auch nur so lange, wie derjenige es will. Deshalb hat sie sich ja auch die Sache mit dem stehlen der Namen ausgedacht. Dein Lehrlingsvertrag war auch befristet auf acht Jahre, Kohaku. Wenn Chihiro aber nur einen Vertrag über zwei Wochen will, dann muss Yubaba ihr den geben, ob sie nun will, oder nicht. Sie muss nur auf ihren Namen aufpassen. Jetzt würde ich nur noch gerne wissen, wann du diese zwei Wochen frei hast, Chihiro?" "Ach, das sind die Winterferien. Die gehen dieses Jahr glaube ich vom 22. Dezember bis zum vierten Januar", antwortete das Mädchen wie aus der Pistole geschossen. "Nun, wir haben jetzt den 19. Oktober 2003. Es sind also nur noch gut zwei Monate. Wie müssen gut vorbereitet sein und ihr solltet eifrig eure magischen Fähigkeiten üben, damit ihr meiner Schwester etwas entgegen zu setzen habt, sollte doch etwas passieren", sagte Zeniba voller Zuversicht. "Lasst uns also beginnen." Den Rest der Nacht verbrachten Chihiro und Kohaku mit weiteren Zauberlektionen von Zeniba. Diesmal schlief Chihiro beim theoretischen Teil des Unterrichts nicht ein, sondern versuchte alles zu verinnerlichen und zu verstehen, was Zeniba sagte. Als sie im Morgengrauen des heranziehenden Sonntags nach Hause zurückkehrten, war Chihiro so müde, dass sie sofort auf den Tatami-Matten in ihrem Zimmer einschlief, ohne ihren Futon ausgerollt zu haben. Kohaku schaffte es noch, eine Decke aus dem Wandschrank zu holen und sie zuzudecken, bevor auch er, von ihrer Müdigkeit angesteckt, neben ihr einschlief. So entdeckte Yuko Ogino die Kinder einige Stunden später. Sie ließ sie aber weiterschlafen, bis sie erst am späten Nachmittag wieder erwachten. Den Rest des Sonntags verbrachten sie gemeinsam mit dem Üben des Erlernten, bis Chihiro am Abend siedend heiß einfiel, dass sie noch Hausaufgaben machen musste. In der Nacht konnte sie dann nicht einschlafen und lag die ganze Zeit wach, wobei sie sich mit Kohaku ab und zu in Gedanken unterhielt. Montagfrüh endlich war sie soweit, dass sie einschlafen konnte, aber schon klingelte der Wecker und sie musste in die Schule. Nur eine Stunde später war nur noch Kohaku alleine im Haus der Oginos. Er hatte sich nicht aufgelöst und das erste Mal in seinem Leben keine richtige Aufgabe. Schlussendlich ging er in die Küche hinunter, nahm sich einen Eimer und einen Lappen und begann damit, das Haus von oben bis unten zu putzen. Kapitel 19: Hausdrache ---------------------- Hausdrache Kohaku fing mit seiner Putzaktion im Wohnzimmer an. Zuerst räumte er alle Bücher und sonstigen Gegenstände aus den Regalen, die er zunächst auf dem Boden aufschichtete. Dabei fiel ihm auf, dass es leicht staubte, als er einen Stapel Bücher absetzte. Als beschloss er, zunächst die Teppiche zu reinigen, wobei er entdeckte, dass es davon nicht wenige im Haus gab. Die Perserteppiche in Yubabas Wohnung wurden monatlich von den Angestellten des Badehauses über eine Teppichstange in der Nähe der Schweineställe gehängt, wo sie dann ausgeklopft wurden. Yubaba hätte ihre Teppiche auch leicht mittels Magie vom Staub befreien können, aber wozu hatte sie schließlich Angestellte. Kurz überlegte Kohaku selber, ob er Magie zu Hilfe nehmen sollte, aber es erschien ihm unfair. Die Menschen konnten ja auch keine Magie benutzen und wenn er unter ihnen leben wollte, würde er auf Magie weitestgehend verzichten müssen. Das bedeutete, er würde die Teppiche auf herkömmliche, mechanische Weise vom Staub befreien müssen. Leider schien es keine Teppichstange im Haus der Oginos zu geben, auch nicht im Garten hinter dem Haus. Irgendwie würde er sich selber behelfen müssen, dachte er bei sich, und begann zu suchen. In einer metallenen Kiste mit allerlei Werkzeug darin fand er dann eine Schnur mit ausreichender Festigkeit. Er spannte sie vom Treppengeländer hinüber zu den Garderobenhaken, wuchtete danach der Reihe nach alle Teppiche im Haus über die Schnur, und bearbeitete sie mit einer Bratpfanne, die er in der Küche gefunden hatte. Nachdem er so alle Teppiche ausgeklopft hatte, arbeitete Kohaku sich systematisch durch alle Räume des Erdgeschosses, indem er immer zuerst alle offenen Schränke und Regale leerräumte und dann säuberte. Dabei entdeckte er manche verborgenen Staublagerstätten hinter den Möbeln. Soweit er das konnte, rückte er sie zusätzlich von den Wänden ab, um auch dahinter wischen zu können. Zum Schluss rückte er die Möbel wieder zurück und stellte sämtliche ebenfalls gereinigten Gegenstände wieder millimetergenau an ihren Platz. Nach den höheren Etagen der Wohnungseinrichtung nahm er sich dann die Fußböden vor, deren vereinzelten, kaum sichtbaren Staubbelag er mit einem Besen in den Flur beförderte, wo er ihn zu einem kleinen Haufen zusammenschob, den er der Einfachheit halber zur Haustür hinaus bugsierte. Zur Sicherheit wischte er dann sämtliche Böden noch einmal feucht nach, so wie er es im Badehaus gelernt hatte, bevor er die Teppiche, die er zwischenzeitlich im Wohnzimmer gelagert hatte, wieder an ihre ursprünglichen Stellen auslegte. So ganz zufrieden war er mit dem Ergebnis nicht und im Geiste hörte er Yubaba daran herummotzen. Aber die würde ja auch nicht kontrollieren kommen. Ebenso wie im Erdgeschoss fuhr er danach in der ersten Etage fort, wobei er versuchte, sich noch mehr Mühe zu geben. Da es hier nur drei Zimmer und eine Toilette mit Dusche gab, war er mit dem ersten Geschoss trotzdem relativ schnell fertig. Nachdem er nun auf diese Weise eine komplette Grundreinigung des Hauses vorgenommen hatte, nahm er sich sämtlicher Glasflächen und hier insbesondere der Fenster an, die er zunächst mit einem Schwammtuch aus der Küche abwischte, um sie danach mit einer Art aufgewickeltem Papier-Endlostuch trocken zu reiben, das er auf der Toilette gefunden hatte. Da dieses Papier nicht besonders saugfähig war und schnell zerfaserte, benötigte Kohaku mehrere Rollen davon, bis er in der Toilette nichts mehr davon fand. Die Fenster waren so zwar nicht alle zu seiner Zufriedenheit perfekt streifenfrei sauber geworden, aber er befand, dass es immerhin ein Fortschritt gegenüber dem Ausgangszustand war. Da er nun schon einmal bei den Toiletten angelangt war, untersuchte er auch diese. An der Sauberkeit war oberflächlich nicht viel auszusetzen, doch ein Griff tief in den Siphon offenbarte alte Ablagerungen, denen Kohaku nach einigem Suchen mit einem mit harten, roten Kristallen belegten Papier aus der Metallkiste zu Leibe rückte, in der sich auch das Werkzeug befand. Zufrieden sah er, wie sich hunderte bräunlicher Schwebteilchen im Wasser sammelten, die er einfach herunterspülte. Nacheinander reinigte er alle drei Toiletten im Haus der Oginos auf diese Art. anschließend stellte er fest, dass auch er selbst eine Reinigung benötigte, denn seine Kleidung war voller Schmutz und Staub und seine Hände hatten einen stark muffigen Geruch angenommen. Wiederum in der Küche fand er eine weiche Flasche mit einem grünen, zähflüssigen Inhalt*, die eine starke Reinigungswirkung zu besitzen schien, wie ein kurzer Test ergab. Der Aufdruck wies explizit darauf hin, dass das "Geschirrspülmittel" besonders hautschonend sein sollte. Er nahm sie mit in den ersten Stock, wo sich die Einrichtung Namens "Dusche" befand, die Chihiro ihm gezeigt hatte. Im Prinzip handelte es sich dabei nur um einen heißen Wasserstrahl, mit dessen Hilfe jemand sich bequem reinigen konnte. Kohaku stellte sich also unter die Dusche, hielt die Flasche über seinen Kopf und drückte zu, bis ich etwa der halbe Inhalt über ihn und seine Kleidung entleert hatte. Dann drehte der die Mischarmatur ganz nach links, dort wo sie mit einem roten Pfeil gekennzeichnet war, und zog sie zu sich hin, bis fein verteilte, heiße Wasserstrahlen ihn benetzten. Diese Erfindung der Menschen, diese Dusche war einfach zu herrlich, wie er fand. Als wenn man sich unter eines der Einfüllrohre im Badehaus stellte, aus denen die Wannen befüllt wurden, nur besser. Doch das Wasser war so heiß, dass bereits nach wenigen Augenblicken die Duschkabine so voller Nebel war, dass Kohaku fast nichts mehr sehen konnte. Nicht dass das viel ausgemacht hätte, denn dieses Spülmittel, wie der Aufdruck auf der Flasche verriet, brannte doch erheblich in seinen Augen. Doch er stellte auch beiläufig fest, dass die Temperatur des Wassers den meisten Gästen im Aburaya bereits zu hoch gewesen wäre. Aber egal. Er genoss das heiße Wasser, die Schaumwirkung der flüssigen Seife und das Zitrusaroma, das ihn in seiner Intensität fast betäubte. Die Seife schäumte so stark, dass es fast 10 Minuten dauerte, bis er alles wieder aus seiner Kleidung herausgespült hatte. Hinterher zog er sich, noch in der Duschkabine stehend aus, um zu verhindern, dass seine tropfenden, nassen Sachen auf den gekachelten Boden troffen, den er sonst erneut hätte trockenwischen müssen. Er wrang die Sachen im Waschbecken aus, bis sie nur noch leicht feucht waren und zog sie dann einfach wieder an. Es würde vielleicht ein bis zwei Stunden dauern, bis alles wieder trocken wäre und so machte er sich keine großen Gedanken darum. Er hätte auch jetzt leicht Magie einsetzen können, um sich zu trocknen, doch auch das erschien ihm unfair. Die Menschen kamen ohne Magie aus, also konnte auch er ohne auskommen. Langsam ging Kohaku die Treppe hinunter, zurück in die Küche, wo er sich auf einen Stuhl setzte und nachdachte. Die Küchenuhr zeigte an, dass es gerade erst kurz nach Mittag war und so würde es noch etwa fünf Stunden dauern, bevor Chihiro von der Schule zurückkommen würde, fünf Stunden, die er jetzt irgendwie füllen musste. Chihiro Mutter hatte gesagt, dass sie etwas zu Essen gemacht hatte und in den Kühlschrank gestellt hatte, der dieselbe Funktion erfüllte, wie die Kühlhäuser am Badehaus. Eigentlich hatte er keinen Hunger, so wie er fast nie Hunger hatte, aber ihm war bewusst, dass es Chihiro helfen würde, wenn er etwas ass. Im Kühlschrank fand er einen Teller mit Reis und saurem, eingelegtem Gemüse, sowie eine Schale mit Miso-Suppe. Leider war alles kalt. Zwar hatte er beobachtet, wie Frau Ogino einen Teller in den kleinen, metallenen Schrank mit gläserner Klappe gestellt und auf einen Knopf gedrückt hatte. Die Speisen auf diesem Teller waren danach wie durch Zauberei heiß geworden, doch das Gerät hatte dabei eine sehr unangenehme Ausstrahlung gehabt, sodass Kohaku es lieber nicht benutzen wollte. So ass er die Sachen kalt. Besonderes Vergnügen bereitete es ihm nicht, weil alles muffig und alt schmeckte. Besonders gelungen konnte man die Gewürze, mit denen die Sachen abgeschmeckt waren, auch nicht bezeichnen. Sie waren vielmehr ... aufdringlich. Das schien die richtige Charakterisierung dafür zu sein. Wenn man so etwas den Göttern im Aburaya vorgesetzt hätte, dachte Kohaku bei sich, wäre der Betrieb innerhalb kürzester Zeit pleite gewesen. Er begann deshalb die Küche nach Essbarem zu durchsuchen und stellte schließlich fest, dass fast alle Nahrungsmittel in irgendwelchen Tüten, Dosen oder Beuteln verpackt waren. Nur im Kühlschrank gab es einige frische Sachen. Jetzt wunderte ihn der bescheidene Geschmack der Speisen nicht mehr sonderlich und er verstand, warum sie so penetrant gewürzt waren: um die schlechte Qualität der Lebensmittel zu überdecken. Gleichzeitig wurde ihm auch klar, warum die Menschen so einen, für Dämonen, Geister und Götter so unangenehmen Geruch verströmten. Es lag an diesen Gewürzen. Nur warum merkten die Menschen denn nicht, wie schlecht das war, was sie da täglich assen? Warum bereitete Frau Ogino denn nur keine frischen Speisen zu, fragte er sich und dann fiel ihm auch schon die Antwort ein. Sie musste arbeiten. Herr und Frau Ogino mussten beide arbeiten, um sich das Essen zu verdienen. Was wirkliche Müdigkeit war, hatte Kohaku erst in den letzen beiden Tagen erfahren, seit er mit Chihiro über den Phenaktit-Kristall verbunden war. Mehrfach schon hatte sich ihre Müdigkeit direkt auf ihn übertragen und ihn fast handlungsunfähig gemacht. Genauso wenig wollten Chihiros Eltern, wenn sie müde nach Hause kamen, noch groß etwas kochen, weshalb sie diese vorgefertigten Nahrungsmittel verwendeten, die man einfach und schnell zubereiten konnte. Im Badehaus war letzten Endes es ja auch so gewesen. Alle mussten die ganze Nacht hindurch hart arbeiten und holten sich am Ende eines langen Tages etwas aus der Küche. Nur arbeiteten in der Küche nur Leute, die nichts anderes zu tun hatten, als immerzu neue frische Speisen zuzubereiten. Für diese bedeutete es keinen extra Aufwand, ein wenig mehr für alle anderen kochen. Aber für Frau Ogino bedeutete es viel zusätzliche Arbeit. Sie hatte einen Job, der sie den ganzen Tag außer Haus beschäftigte, musste zusätzlich noch das Haus sauber machen und auch noch Einkaufen und das Essen kochen. Kohaku beschloss, zukünftig die Hausarbeit und das Kochen zu übernehmen, erstens, weil er es den Oginos schuldete, die ihn bei sich aufgenommen hatten, zweitens, weil er die Zeit dazu hatte, und drittens, weil er es konnte. Während er den Teller und die Schüssel spülte, überlegte Kohaku, was er alles benötigen würde, um ein vernünftiges Abendessen zu kochen, ein Abendessen, dass man auch einem Gott vorsetzen konnte. Er suchte eine Weile im Haus der Oginos, bis er einen alten Korb fand, der aus Bambusstängeln geflochten war, und nahm sich einen Haustürschüssel vom Schlüsselbrett. Dann verließ er das Haus der Oginos, um auf dem Wiesenabhang davor einige Kräuter zu sammeln, die ihm am Tag seiner Ankunft, noch als Geist, aufgefallen waren. Zudem war jetzt, Mitte Oktober, die Zeit sehr günstig, um im nahe gelegenen Wald einige Pilze zu lesen. Und wenn er in weniger als einer Stunde zurückkehrte, dann hätte er noch ausreichend Zeit, um sich ein hervorragendes Abendessen für die Oginos und insbesondere für Chihiro auszudenken. Bunzo Abes Laune verdüsterte sich augenblicklich. Soeben war er von den Lehrern für den Toilettenreinigungsdienst nach der Mittagspause eingeteilt worden. Toilettenreinigung! Als ob er nichts Besseres zu tun hätte, als in der Scheiße anderer zu schürfen. Das war doch einfach nur ekelhaft. Bunzo beorderte seine persönlichen Vasallen, Hiroaki Matokai und Susumo Takasugi, zu sich, um ihnen den Ernst der Lage klar zu machen. Wenn erst bekannt würde, dass er, Bunzo, Toilettendienst verrichten müsste, wie jeder andere gewöhnliche Schüler der staatlichen Mittelschule von Tochinoki, wäre es mit seinem Ansehen nicht mehr weit her und sie könnten sich die bequemen Nebeneinnahmen in den Wind schreiben. Mit Grausen dachte er an jene Schmach zurück, die ihm dieses Mädchen, diese Chihiro damals auf der Grundschule beigebracht hatte. Als die Schüler gemerkt hatten, dass er nicht einmal in der Lage war, diese winzige Person in ihre Schranken zu verweisen, war es sofort aus gewesen, mit seinem Image als fiesem Typen und damit auch mit den Zusatzeinnahmen. So etwas durfte nicht noch einmal geschehen und so durfte es auch nicht sein, dass er, Bunzo Abe, jemals Toilettendienst abzuleisten hatte. Au jeden Fall hatte er heute Tatsukichi abzukassieren. Tatsukichi war der Sohn einer wohlhabenden, lokalen Bauernfamilie und gehörte nicht, wie die meisten Schüler der Mittelschule, zu denen, die vor drei Jahren hergezogen waren. Eine Weile lang hatte der gutaussehende, durch die sommerliche Feldarbeit kräftige Junge sich für etwas Besseres gehalten und sich über die unsportlichen Stadtkinder lustig gemacht. Aber diesen Zahn hatte Bunzo ihm nach einer Weile gezogen. Zwar war Tatsukichi möglicherweise sogar stärker als er, aber er war auf keinen Fall stärker als er, Hiroaki und Susumo zusammen. Eine Weile hatte er sich ihnen wiedersetzt, doch weil es ihm nicht gelang, jemanden auf seine Seite zu ziehen, hatte er sich mehrfach blaue Flecken und einmal sogar eine blutige Nase geholt. Bunzo wusste, wie wichtig sen Nimbus war und deshalb konnte er es sich im Falle Tatsukichis nicht leisten, Gnade walten zu lassen, auch wenn dies ihm selbst einigen Ärger und viel Rennerei verursachte. Schließlich aber gelang es ihnen Tatsukichi niederzuringen und seitdem war alles viel leichter geworden. Deshalb war es auch nun überaus wichtig, den Wochentribut des Jungen zu kassieren, um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen, wer das Sagen auf dem Schulhof der Mittelschule hatte. So wartete er das Mittagessen ab und schlich sich dann mit seinen beiden Faktoten, die ihn bereits seit der Grundschule begleitet hatten, vom Gelände der Mittelschule. Es waren nur etwa zehn Minuten Fußweg, bis er bei sich Zuhause angelangt war. Dort kommandierte er Hiroaki und Susumo in sein Zimmer, um mit ihnen das Vorgehen der nächsten Tage zu besprechen. Wer mit seinen Zahlungen überfällig war, wer eine Abreibung benötigte, neue Taktiken zum Austricksen der Lehrer und ähnlich wichtige Dinge. Dann war da auch noch ein Junge aus der neunten Klasse, der damit gedroht hatte, seinen Vater einzuschalten, der Polizeibeamter war. Doch glücklicherweise für Bunzo hatte Susumo ein Paar Fotos mit seinem Kamerahandy gemacht, auf dem dieser Schüler zu sehen war, wie er in der Besenkammer heimlich mit einem Mädchen aus seiner Klasse knutsche und Bunzo gedachte, das auszunutzen. Chihiro war fix und fertig, als sie endlich in der Schule angekommen war. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit und schon bei der allmorgendlichen Schulversammlung in der Aula wäre sie beinahe eingenickt. Hinterher konnte sie sich kaum auf den Unterricht konzentrieren. Sie würde Zeniba darum bitten müssen, etwas gegen diese Müdigkeit zu unternehmen. Vielleicht gab es ja einen Zauber, der da half. Ayaka war gut gelaunt und nervtötend wach. In jeder Pause quatschte sie nur über die neuesten Fußballergebnisse der J-Leage vom Wochenende. In der großen Pause um 10:25 entdeckte Chihiro, dass sie vergessen hatte, den Aufsatz über das Sengoku Jidai, die Zeit der streiten Reiche, und hier insbesondere über den Aufstieg Oda Nobunagas zu schreiben. Ayaka bot ihr sofort an, abzuschreiben, aber ein kurzer Blick auf den ebenso kurzen, wie oberflächlichen Text genügte, um Chihiro davon zu überzeugen, dass sie besser schnell selber etwas zusammenschustern sollte. Ihre Freundin entschuldigte sich für den typisch schlampigen Aufsatz damit, dass sie ihn beim Gucken der Fußballergebnisse verfasst hätte. Zum Glück bot sich Ichiyo ebenfalls als Textquelle an und Chihiro schafft es gerade vor Unterrichtsbeginn seinen Aufsatz, inklusive einiger Variationen in der Formulierung, zu Papier zu bringen. Der Lehrerin jedenfalls fiel zu Chihiros und Ichiyos Erleichterung nichts weiter auf. In der Mittagspause hatte sie dann zu ihrer eigenen, sowie Ayakas und Ichiyos Verwunderung überhaupt keinen Appetit. Sie stocherte auf ihrem Teller herum und bekam nur einige wenige Bissen herunter. Ihre Appetitlosigkeit schob sie auf ihre Müdigkeit. Auf die Idee, dass Kohaku etwas gegessen hatte, kam sie nicht. Nach dem Mittagessen gelang es ihnen eines der beiden Beachvolleyballfelder zu ergattern, wo sie mit drei Mitschülern zwei Mannschaften bildeten. Zur Verwunderung Aller machte Chihiro ebenfalls mit, anstatt sich wie sonst irgendwo hinzuzuhocken und zuzusehen. Die körperliche Aktivität tat ihr gut und half die Müdigkeit zurückzudrängen. Außerdem bereitete es Chihiro unheimliche Freude, dass sie endlich etwas tun konnte, ohne dass ihr gleich schwindelig wurde. Sie stellte sich zwar nicht sonderlich geschickt an, immerhin hatte sie sich drei Jahre kaum bewegt, war jedoch mit großem Eifer bei der Sache. Wegen ihr hatten Ayaka und Ichiyo keine große Chance gegen die andere Mannschaft, aber das war Chihiro egal. Ayaka, die immer gewinnen wollte, hingegen fluchte mehrfach laut. Sie gab aber weder ihr noch Ichiyo, der zwar flink, aber nicht besonders zielgenau war, die Schuld daran, denn jedes Mal, wenn sie den Ball bekam, versenkte sie ihn irgendwie problemlos. Sie bekam den Ball nur nicht oft genug, weil die anderen schnell mitbekommen hatten, dass sie Ayaka besser nicht anspielten. Und weder Ichiyo noch Chihiro gelang es oft genug, Ayaka adäquat anzuspielen. Trotzdem gab sie sich selbst die Schuld daran. Chihiro vermutete jedenfalls, dass Ayakas unheimliche Treffgenauigkeit auch beim Volleyball auf den verzauberten Kemari-Ball zurückzuführen war. Sie würde etwas dagegen unternehmen müssen und gedachte auch dazu Zeniba zu fragen. Nach dem Ende der Mittagsfreizeit war sie diesmal zum Reingen der Toiletten eingeteilt, was sie zwar ungern tat, aber ohne zu murren. Denn sie sah ein, dass das Toilettenreinigen den Schülern auf einfachste Weise beibrachte, diesen Ort auch so wieder zu verlassen, wie man ihn selber vorzufinden hoffte. So waren die Toiletten auf japanischen Schulen penibel sauber, ob man sie nun extra reinigte, oder nicht. Aber es ging dabei ums Prinzip. Um Viertel vor zwei begann die fünfte Unterrichtsstunde, Japanischunterricht Sie besprachen gerade die uralten Chroniken, das Nihongi und das Kojiki, und erfuhren zum ersten Mal etwas über den alten Shinto-Glauben, der bis 1945 Staatsreligion gewesen war. Diesmal passierte Chihiro jedoch etwas, dass ihr vorher noch nie passiert war. Sie hatte es zwar schon öfter bei anderen Schülern gesehen, aber nie verstanden, wie man sich so gehen lassen konnte. Sie schlief ein. Mitten im Unterricht. Einfach so. Zwar fühlte sie, wie ihr Ayaka mehrfach mit dem Ellenbogen in die Rippen stieß, doch das war ihr so vollkommen egal. Es störte sie nicht einmal. Wie schon einmal beim Unterricht von Zeniba sackte ihr der Kopf vornüber auf die harte Tischplatte. Aber sie hatte den Eindruck, es wäre ein herrlich weiches Kopfkissen. Das Nächste, was sie wahrnahm, war ein lautes Klatschen, das sie hochschrecken ließ. Der Lehrer, Herr Shigemitsu, hatte mit dem großen Tafellineal auf ihren Tisch geschlagen. Herr Shigemitsu hatte gerade einen längeren Monolog über den japanischen Götterglauben im Allgemeinen und über die Gottheiten von Izumo und Ise im Besonderen gehalten, als ihm ein helles, violettes Aufleuchten aus den Augenwinkeln aufgefallen war. Er blickt ein wenig verwirrt auf und fühlte sich durch den Lichtblitz vorsätzlich gestört. Sofort fiel sein Blick auf das Ogino-Mädchen, das offenbar eingeschlafen war. Ihr Haarband, das ihren Zopf zusammenhielt, funkelte noch verräterisch violett. Chihiro Ogino war eine seine liebsten Schülerinnen gewesen, seit sie auf die Mittelschule gekommen war. Sie war ruhig, aufmerksam und fleißig, sodass er auch nichts dagegen hatte, dass sie im Unterricht häufig Bonbons lutschen durfte, aufgrund ihrer merkwürdigen Erkrankung. Aber das winzige Mädchen beklagte sich nie und war auch sonst sehr angenehm. In der letzten Zeit allerdings ließen ihre Leistungen zunehmend zu wünschen übrig und sie schien im Unterricht ständig abgelenkt. Dass sie jetzt eingeschlafen war, passte in dieses neue Bild des Mädchens. Er beschloss, ihr einen Schuss vor den Bug zu geben. Wenn sie sich aber nicht bald wieder fing, würde er mit ihren Eltern reden müssen. "Ausgeschlafen, Frau Ogino? Könnten sie vielleicht wiederholen, was ich ihnen gerade über die Shinto-Götter erzählt habe, oder waren sie gerade zu beschäftigt?" fragte er mit einem sarkastischen Unterton, den Chihiro so gar nicht von ihm kannte. "Ich äh, o, äh, nein", stammelt sie verlegen, "also äh, die Shinto-Götter, wie zum Beispiel der Daikon-Rettich-Gott, die müssen alle sehr hart arbeiten, weil wir Menschen ihnen das Leben so schwer machen. Und dann sind sie irgendwann sehr erschöpft und brauchen eine Pause. Dann gehen sie ins Badehaus und lassen es sich für ein paar Tage gut gehen. Da werden sie von Fröschen, von Schnecken und manchmal auch von Füchsen bedient. Und da gibt es Kräuterbäder und Massagen und viel gutes Essen und Unterhaltung ... und .." Chihiro blickte in die Runde und stellte fest, dass alle anderen Schüler sie entgeistert anstarrten. Herr Shigemitsu schaute nachdenklich zu ihr hinunter. "Nun, Ogino, sie scheinen ja einen interessanten Traum gehabt zu haben. Immerhin scheint er im weiteren Sinne mit unserem Unterrichtsstoff zu tun gehabt zu haben. Lassen wir es also dabei bewenden. Schlagt bitte alle das Japanisch-Buch auf Seite 126 auf. Sie werden dort zwei Textpassagen finden, eine aus dem Kojiki und die äquivalente Passage aus dem Nihongi. Ich bitte sie, diese Passagen durchzulesen und die wesentlichen Unterschiede in der Beschreibung der Handlung herauszuarbeiten." Chihiro schlug das Buch auf und versuchte sich auf den Text zu konzentrieren. Es ging da um so einen Gott namens Okuni Nushi, der die Herrschaft über die Schilfgefilde übernahm, die Japan symbolisierten. Der Name kam ihr entfernt vertraut vor, doch sie konnte sich nicht erinnern, wo sie schon einmal gehört hatte. Doch letztendlich war Chihiro das gleichgültig und sie versuchte bis zum Ende des Schulunterrichts nicht noch einmal einzuschlafen, was ihr Mühe genug bereitete. Kohaku war guter Stimmung. Die meisten Kräuter, die er in Erinnerung hatte, waren noch immer auf der Wiese zu finden. Er sammelte Perilla, Erekanpen, Wasabi, Myoga und Zenmai. Alles Kräuter, die sich hervorragend zum Würzen verschiedener Speisen eigneten und zum Teil sogar spezifische Heilwirkungen besaßen. Aber damit war Kohaku noch nicht zufrieden und er ging ein wenig in den Wald hinein, um dort verschiedene Pilze zu sammeln. Er sammelte Enokidake, Shiitakepilze und ein paar Affenkopfpilze. Während er sich nach weiteren Stellen umsah, an denen er Pilze sammeln konnte, würde Kohaku plötzlich von einem intensiven Müdigkeitsgefühl überrascht. Aus der Erfahrung der letzten beiden Tage wusste er, das Chihiro entweder eingeschlafen oder kurz davor war, einzunicken. Schnell versuchte er geistigen Kontakt zu Chihiro aufzunehmen, um ihr Nickerchen zu unterbinden, doch es war bereits zu spät. Kohaku hatte den Eindruck bei der Kontaktaufnahme, als würde er in einen grauen Nebel hineinfassen. Chihiro war also bereits eingeschlafen. Ihre Schlaftrunkenheit dämpfte sein gesamtes Wahrnehmungsvermögen empfindlich und Kohaku hatte den Eindruck, als wäre er leicht betrunken, so wie er es bei den Gästen im Aburaya öfters erlebt hatte. Eilig machte er sich auf den Weg zurück, zum Haus der Oginos, denn er wollte vermeiden, dass er irgendwo im Wald einschlief, wo er wehrlos und für jedermann sichtbar gewesen wäre. Mühsam und mitunter torkelnd stapfte Kohaku durch das Unterholz, während er versuchte, nichts von den gesammelten Kräutern und Pilzen zu verlieren. Endlich hatte er die Wiese erreicht, wo er sich mühsam nach oben in Richtung des Hauses der Oginos kämpfte. Fluchend schaute Bunzo Abe auf die Uhr. Es war bereits kurz nach 14:00 Uhr. Er hatte die Zeit vergessen, und jetzt würde er zu spät zu fünften Stunde kommen. Warum hatte Susumo ihn auch mit den Fotos so lange aufgehalten? Er gab dem Jungen ohne Vorwarnung eine Kopfnuss. "Autsch, warum haust du mich", empörte Susumo sich. "Los, wir müssen auf der Stelle wieder in die Schule zurück", kommandierte Bunzo ungehalten. "Du hast uns mit dieser Diashow aufgehalten. Wir sind zu spät! Also gibst du mir deinen Anteil von den heutige Einnahmen." "Aber Bunzo, das kannst du doch nicht ...", jammerte Susumo, doch dann fügte er sich. Jedes weitere Sträuben hätte nur neue Schmerzen zur Folge gehabt und sein Anteil betrug, wie auch der von Hiroaki, ohnehin nur 10 %. Schnell liefen die Drei in den Hausflur hinunter und zogen sich dort ihre Schuhe an, so wie es die Tradition vorsah. Sie stürmten dann auf die Straße und wollten gerade in Richtung der Schule eilen, als Bunzo ein eigenartiger Junge auffiel, der merkwürdig torkelnd über die Absperrung der Straße zum Abhang hin kletterte. Der Junge, der zwölf oder vielleicht 13 Jahre alt zu sein schien, trug eine Jeans, ein leicht zerknittertes Hemd und Segeltuchschuhe ohne Socken. Seine Haare waren kurz geschnitten und auf der rechten Seite eigenartig asymmetrisch ausrasiert. Mit größter Sorgfalt schien er darauf bedacht zu sein, den Bambuskorb, den er mit sich herumtrug, nicht fallen zu lassen. Vorsichtig hatte er ihn deshalb auf den Boden jenseits der Absperrung gestellt. Dann machte er sich daran, selbst hinüberzusteigen, wobei Bunzo den Eindruck hatte, er wäre besoffen. Bunzo erinnerte sich daran, dass er diesen Jungen bereits einmal gesehen hatte, wie dieser Fettwanst von Chihiros Vater ihn aus der Wohnung geschmissen hatte. Da hatte er allerdings viel abgerissener ausgesehen, als jetzt. Offenbar hatte der Straßenköter irgendwie Gnade bei den Oginos gefunden, was Bunzos Sympathie für ihn nicht unbedingt steigerte. Jedoch wunderte es ihn ein wenig, das der Junge nicht in der Schule war. So etwas konnte schnell Ärger geben, jedenfalls, wenn man es übertrieb, wie Bunzo aus eigener Erfahrung wusste. Inzwischen hatte der Junge seinen Korb wieder aufgenommen und schickte sich gerade an, die Straße zu überqueren, als Bunzo einfiel, dass es etwas kostete, wenn jemand seine Straße überqueren wollte. Er gab Hiroaki und Susumo einen kurzen Wink und zu dritt eilten sie, dem Jungen den Weg zu versperren, wobei Susumo einen kleinen Bogen lief, um ihr Opfer von hinten an der Flucht zu hindern. Sie hatten diese Taktik schon oft geprobt und deshalb ging auch diesmal nichts schief. Kohaku war froh, dass er fast am Haus der Oginos angelangt war. Am liebsten hätte er sich sofort hingelegt, um dem überwältigenden Schlafbedürfnis nachzukommen. Seine Umgebung nahm er nur noch verschwommen war. Zwar bemerkte er beim Überklettern der Absperrung die drei Jungen auf der anderen Straßenseite, doch er dachte sich nichts weiter dabei. Eigentlich war er eher froh, dass er nicht gestürzt war, denn er hatte zweimal einfach ins Leere gegriffen, als er sich auf der Absperrung abstützen wollte. Beim dritten Mal zwang Kohaku sich genauer hinzuschauen und dann klappte es auch sofort. Vielleich hätte er doch einfach hinüberspringen sollen, dachte er bei sich, aber er hatte Sorge, dass er in seinem ungewohnten Zustand gegen ein Hindernis hüpfte. Den Korb unter den rechten Arm wollte er gerade die schmale Straße zum Haus der Oginos überqueren, als ihm plötzlich zwei Jungen den Weg verstellten. Beide trugen eine Schuluniform. Der eine Junge war sehr groß, mehr als zwei Köpfe größer als er, und wirkte auch wegen seiner breiten Schultern sehr massig. Der andere Junge war fast einen Kopf kleiner und war sehr schmächtig und dünn. Alle paar Sekunden blickte er zu dem großen Jungen hin, so als wollte er keine Äußerung des anderen verpassen. In dem Moment wurde Kohaku von hinten geschupst und musste einen kleinen Sprung nach vorne machen, um nicht hinzufallen, wobei er mit dem Korb den großen Jungen streifte. Der dritte Junge, dachte er überrascht, den hatte er komplett vergessen. "He, du kleiner Stinker. Was fällt dir ein, mich einfach anzurempeln", brüllte der große Junge sofort auf Kohaku ein und trat mit einer kleinen Drehung nach Kohakus Korb. Der flog in hohem Bogen durch die Luft und verteilte bei Aufprall seinen Inhalt auf dem Asphalt. Der dritte Junge, den Kohaku noch immer nicht gesehen hatte, zog ihn am T-Shirt zurück, bis er genau von dem großen Jungen stand. Vorwurfsvoll sah Kohaku ihn an. "Warum hast du das gemacht?" fragte er und schaute auf die Straße, wo die gesammelten Kräuter und Pilze verstreut waren. Er war weder beunruhigt, noch hatte er Angst. Im Wesentlichen ärgerte Kohaku sich, dass er nicht aufgepasst hatte und so einfach überrumpelt worden war. Doch jetzt war er wieder hellwach und hatte die von Chihiro ausgehende Müdigkeit überwunden. Einen Moment lang überlegte er, ob er sich gegen die Jungen wehren sollte. Er kam jedoch zu dem Schluss, dass es keinen Sinn machte, gegen Kinder körperliche Gewalt einzusetzen. So groß der eine Junge auch sein mochte, neben Torooru wäre er immer noch winzig. "Warum ich das gemacht habe?" knurrte der große Junge mit aufgesetztem Zorn. "Du hast die Straße betreten. Meine Straße. Das kostet etwas. Los, mach deine Taschen leer!" Gehorsam griff Kohaku in alle seine Taschen und stülpte die nach außen. Natürlich war nichts weiter darin, als die Haustürschlüssel. Als Bunzo das begriff, hätte er vor Wut am liebsten aufgeheult. Jetzt hatte dieser Knilch nicht mal Wertsachen bei sich, fluchte er innerlich. "Hiroaki. Durchsuch ihn, ob er auch Nichts versteckt", wies er den schmächtigen Jungen an, der neben ihm stand. Der dritte Junge trat von hinten an Kohaku heran und hielt ihn fest, währen Hiroaki ihn abtastete. Doch Kohaku hatte außer dem Schlüssel nichts dabei. "Also gut, wenn du sonst nichts hast, dann behalte ich eben das", raunte Bunzo und betrachtete grimmig den Schlüssel. "Du bekommst ihn zurück, wenn du mir nachher 1000 Yen gibst, wenn ich von der Schule zurückkomme. Und wenn du den Ogino etwas davon sagst, dann bekommst du morgen eine Abreibung!" Kohaku schüttelte den Kopf. "Ihr könnt den Schlüssel nicht haben. Er gehört mir nicht und ohne ihn komme ich nicht ins Haus. Tausend Yen habe ich auch nicht", sagte er mit endgültigem Tonfall, wobei er Bunzo gelassen in die Augen sah. Er könnte zwar einfach mit einem kleinen Zauber das Türschloss öffnen, aber das durften diese Jungen auf keinen Fall erfahren. "Es ist mir doch egal, wo du die Tausend Yen herkriegst. Beklau doch einfach die Oginos", schlug Bunzo höhnisch vor, wobei der den Schlüssel zwischen Damen und Zeigefinger hin und her schwenkte. "Ha. Da komm mir eine prima Idee. Wir haben ja den Schlüssel und da könnten wir doch ein wenig im Haus der Oginos renovieren. Ich würd ja zu gerne sehen, wie der alte, fette Ogino dich noch mal rausschmeißt." Überheblich und selbstzufrieden grinste Bunzo in die Runde. Das konnte Kohaku auf keinen Fall zulassen. Er musste den Schlüssel zurückbekommen, sofort. Mit einem Ruck riss er seinen rechten Arm vom dritten Jungen los, der ihn noch immer festhielt, und grapschte sich den Schlüssel aus Bunzos Hand. Das Ganze ging so schnell, dass Bunzo zuerst überhaupt nicht reagierte. Er hatte die Bewegung kaum wahrgenommen und nur einen Luftzug gespürt. Wie blöd stierte er einige Sekunden lang in seine leere Hand. Der Junge hinter ihm fing Kohakus Arm sofort wieder ein und nahm ihn jetzt erheblich fester in den Schwitzkasten. Er fürchtete sich davor, was Bunzo mit ihm machen würde, wenn er noch einmal zulassen würde, dass ihr Opfer sich losriss. "Los, rück den Schlüssel wieder raus", brüllte Bunzo Kohaku direkt ins Gesicht, aber der schüttelte nur den Kopf. "Den Schlüssel könnt ihr nicht bekommen", entgegnete Kohaku, scheinbar völlig unbeeindruckt. Tatsächlich war er eher verwirrt über das Verhalten der Jugendlichen und er wusste nicht, was er jetzt am besten machen sollte. Die Menschenkinder, mit denen er früher an seinem Fluss gespielt hatten, waren ganz anders gewesen, als diese Jugendlichen, nicht so aggressiv. Als Nächstes versuchte der große Junge mit verkniffenem Gesichtsausdruck, ihm den Schlüssel aus der Hand zu entwinden. Zu dessen Überraschung schaffte er es aber weder das schmale Handgelenk Kohakus umzuknicken, noch die feingliedrigen Finger aufzubiegen, die den Schlüssel fest umschlossen. "Also gut, du hast es ja nicht anders gewollt", sagte er plötzlich mit ruhiger Stimme, wobei er zufrieden grinste. Jetzt fand er, hatte er endlich Mal einen Grund, richtig unangenehm zu werden. Seit dem Vorfall mit Chihiro Ogino drei Jahre zuvor war er da sehr vorsichtig geworden, sodass er sich meistens zurückhielt. Ein kurzer Blick in die Runde zeigte ihm jedoch, dass er außer seinen beiden Kumpanen kein weiteres Publikum hatte und Vorsicht im Moment nicht notwendig war. Aus praktischer Erfahrung wusste Bunzo, dass ein Schlag in den Solarplexus beim Gegenüber zu einer Erschlaffung der Muskeln führt, durch die er den Schlüssel bekommen könnte. Gerade blickte Bunzo noch nach hinten, die Straße entlang, bevor er im Zurückdrehen zu Kohaku seine Faust hinausrammte. Kohaku sag den Schlag wie in Zeitlupe kommen, doch widerstrebte es ihm, Gewalt gegen die Jugendlichen anzuwenden. Wie leicht wäre es, die Umklammerung des Jungen hinter ihm zu sprengen, die Faust abzuwehren und aus dem Kreis der Jugendlichen zu springen. Doch schnell konnte er dabei auch jemanden verletzen, denn Kohaku konnte seine Kraft im Verhältnis zu den Jungen nur schlecht abschätzen, weil er nur wenig Erfahrung mit körperlichen Auseinandersetzungen hatte. Das wollte Kohaku nicht riskieren. Dabei musste er an Torooru zurückdenken, der ihm auch schon einmal einen Schlag in den Bauch verpasst hatte. Das hatte er auch ausgehalten und so würde er auch diese Situation hier problemlos überstehen. Was konnten ihm die Jugendlichen schon tun? Kurz vor dem Auftreffen der Faust spannte er die Bauchmuskeln leicht an, doch dann passierte etwas, womit Kohaku nicht gerechnet hatte. Der Schlag erreichte ihn nicht und wurde kurz vor der Kleidung getoppt, wobei es violett um ihn herum flackerte. Die Faust wurde mit einem ziemlich lautem, unangenehmen Knackgeräusch zurückgeschleudert und der Junge, der ihn von hinten umklammert hatte, einige Meter weit weggeschleudert. Im ersten Moment zeigte sich nur Überraschung im Gesicht des großen Jungen, bevor es sich plötzlich in eine schmerzverzerrte Maske verzerrte. Im ersten Moment konnte Kohaku sich nicht erklären, was gerade passiert war. Wie in Zeitlupe zog der große Junge seine rechte Hand zurück, wobei er seine andere Hand, zu Hilfe nahm, um den verletzten Arm am Ellenbogen zu stützen. Kohaku benutzte seine magischen Sinne, um festzustellen, was mit der Hand passiert war und erkannte, dass zwei Mittelhandknochen, ein Handwurzelknochen und die Gelenkschale des Ellenknochens zum Teil zertrümmert waren. Allmählich sackte der Junge auf die Knie herunter, während er dabei mit weit aufgerissenen Augen auf seine Hand starrte. Sie begann jetzt bereits sichtbar anzuschwellen. Sein Gesicht wurde kreidebleich und Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn. Kohaku wusste nicht, was er tun sollte. Jetzt war genau das passiert, was er hatte vermeiden wollen, als er sich entschlossen hatte, sich nicht zu wehren: Jemand hatte sich ernsthaft verletzt. Irgendwie musste er dem Jungen jetzt helfen. Er trat einen Schritt auf ihn zu. Sofort begann der Junge mit angsterfülltem Blick auf den Knien rückwärts von ihm fortzurutschen. Im selben Moment rannten die beiden anderen Jungen, die jetzt ihre erste Schreckstarre überwunden hatten, laut schreiend weg. Kohaku schaute ihnen verwundert hinterher, bevor er einen weiteren Schritt auf den verletzten Jungen zutrat, der jetzt begann verzweifelt versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. "Du, du brauchst keine Angst zu haben", sagte Kohaku freundlich, "ich bin dir nicht böse und ich werde dir nichts tun. Ich möchte dir nur helfen." "Nein, nein, bleib weg von mir", krächze Bunzo, aber Kohaku ließ sich nicht zurückhalten. Er blickte dem verletzten Jungen direkt in die Augen und beugte sich zu ihm herunter. Verwundert blickte der große Junge zurück und bemerkte erst jetzt, dass Kohaku grüne Augen hatte. Dabei fühlte er, wie sich sein Pulsschlag beruhigte und die Panik sich legte. Vorsichtig griff Kohaku nach dem verletzten Arm und der große Junge versuchte nicht mehr, ihm den Körperteil zu entziehen. Er fasste ihm kurz unterhalb des Ellenbogen, was Bunzo dazu brachte, aufzustöhnen. Aber als wäre er hypnotisiert, konnte er sich nicht rühren. Dann sagte Kohaku: "Im Namen des Wassers und Windes in dir, Schmerz weiche." Dazu pustete er auf die zerschmetterte Hand, die bereits auf die Größe einer kleinen Melone angeschwollen war. Augenblicklich verschwand der pulsierende Schmerz aus seiner Hand. Ungläubig schaute Bunzo darauf. War sie etwa geheilt? Er versuchte vorsichtig die Hand zu bewegen, doch es tat sich nichts. Überhaupt nichts. Probeweise berührte Bunzo das Handgelenk mit seiner anderen Hand, doch er spürte nichts. Eigentlich war es eher so, dass er die Hand gar nicht mehr fühlte. Sie schien nicht mehr Teil seines Körpers zu sein. Mit dem Zeigefinger drückte Bunzo etwas in die Schwellung hinein. Es fühlte sich heiß und ekelig weich an, aber er hatte kein Gefühl mehr in der Hand. Panik begann in Bunzo aufzusteigen. "Was, was hast du gemacht", kreischte er, "meine Hand, meine Hand, die ist tot." "Nein, deine Hand ist nicht tot. Du spürst sie nur nicht mehr. Jetzt solltest du einen Arzt aufsuchen", riet Kohaku ihm, "denn in zwei bist drei Stunden wird das Gefühl in die Hand zurückkehren und damit auch der Schmerz. Wenn du willst, bleibe ich bei dir, aber heilen kann ich die Hand nicht. Sag mir, was ich tun kann, um dir zu helfen." "Dann geh weg. Ich will dich nicht mehr sehen", brüllte Bunzo zornig und ängstlich zugleich. Dabei sprang er wieder auf die Beine. In dem Maß, wie der Schmerz gegangen war, war auch seine Kraft zurückgekehrt. Langsam zog er sich, rückwärts gehend und Kohaku argwöhnisch beobachtend zurück. Als er einige Meter Abstand gewonnen hatte, drehte sich um und rannte zu seiner Hautür, die er umständlich aufschloss, weil er die rechte Hand nicht benutzen konnte. Kohaku schaute ihm mit schlechtem Gewissen hinterher. Hätte er nicht noch mehr tun sollen, nein müssen, um zu helfen? Hätte er nicht besser aufpassen müssen, dass den Jungen nichts passiert, auch wenn sie es waren, die ihn angegriffen hatten? Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass das Haarband, das Zeniba Chihiro gegeben hatte, seinen Schutz auch auf ihn ausgedehnt hatte. Doch es konnte nichts Anderes gewesen sein. Durch den Stein, den er und Chihiro jetzt im Bauch hatten, wurde dem Haarband offenbar vorgetäuscht, dass sie ein einziges Wesen waren. Nachdenklich drehte Kohaku sich um, hob den Bambuskorb von der Straße auf und begann von den gesammelten Kräutern und Pilzen das vom Asphalt aufzulesen, was noch zu gebrauchen war. Das Meiste war noch in Ordnung, musste nur gewaschen werden. Die akute Müdigkeit, die ihn vorhin überfallen hatte, war verflogen und Kohaku überlegte, ob er noch einmal in den Wald zurückkehren sollte, um das zu ersetzen, was diese Jugendlichen unbrauchbar gemacht hatten. Aber er entschied sich dagegen. Wenn er für Chihiro und ihre Eltern ein vernünftiges Abendessen machen wollte, dann musste er zuerst herausfinden, wie die verschiedenen Küchengeräte funktionierten. Jedenfalls kochten die Menschen nicht mehr auf Feuer, wie das im Badehaus noch der Fall war. Wasser konnte er problemlos mithilfe von Magie zum Kochen bringen, aber wenn er Öl erhitzen wollte, um darin etwas zu braten, wusste er nicht, wie er das machen sollte. Vorher musste er aber noch die verschiedenen Kräuter sortieren, einige klein schneiden, andere zum trocknen Aufhängen, sowie die Pilze waschen und würfeln. Zwischendurch sah er durch das Küchenfenster, wie vor dem Nachbarhaus ein großes Automobil mit blinkenden blauen Lampen hielt. Zwei Männer in weißer Kleidung gingen mit einer Trage in das Haus hinein und trugen nach einigen Minuten den großen Jungen darauf heraus, bevor das Auto wegfuhr. Gegen halb drei am Nachmittag war er fertig und begann nun die Küche nach Hinweisen zu durchsuchen, wie man die Geräte bedient. In einem der Küchenschränke fand er dann mehrere Kochbücher, sowie einige ziemlich zerfledderte und vollgekleckste Broschüren, die offenbar zu den Geräten gehörten. Mehr als eine Stunde nahm Kohaku sich Zeit, die verschiedenen Druckschriften zu studieren. Dabei stieß er immer wieder auf Begriffe, mit denen er nichts anfangen konnte. So fragte er sich, was Volt, Watt und Ampere sind, was eine Sicherung, ein Magnetron oder ein Wobbler. Alles in allem waren die Erklärungen aber gut verständlich und die Bedienung einfacher, als Kohaku sich das bei der vielfältigen Nutzung der Geräte gedacht hatte. Er probierte alles einmal aus und als er glaubte, dass er alles bedienen konnte, nahm er sich noch kurz die Kochbücher vor, lernte alle Rezepte darin auswendig. Dafür brauchte er gerade einmal eine gute halbe Stunde, denn zum Auswendiglernen genügte es ihm, jede Seite kurz anzuschauen. Als er auf die Uhr schaute, war es gerade einmal 16:00 Uhr. Es würde jetzt noch eine gute Stunde vergehen, ehe Chihiro aus der Schule zurückkommen würde und noch etwa drei Stunden, bis es Abendessen geben würde. Unruhig ging Kohaku ins Wohnzimmer, setzte sich im Schneidersitz auf das Sofa und versuchte zu meditieren, um die Zeit zu überbrücken. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er immer etwas zu tun gehabt, sodass es ihm schwer fiel, diese völlige Freiheit bei der Zeiteinteilung zu haben. Nach nur wenigen Minuten wurde seine innere Unruhe immer stärker. Er war jetzt bei den Menschen und musste so viel über sie erfahren, wenn er wie einer von ihnen leben wollte. Vielleicht konnte man ja aus diesem Ding, diesem Fernseher etwas über die Menschen erfahren. Er nahm die Fernbedienung genauer unter die Lupe. Wenn er auf die verschiedenen Knöpfe des Geräts drückte, erzeugte eine kleine Lampe vorne tiefrote Blinksignale ab. Als er sie auf den Fernseher richtete, gab es ein knackendes Geräusch und dann brach die Hölle wieder los. Anders aber, als beim ersten Mal, war Kohaku diesmal vorbereitet und konzentrierte sich auf das Bild und die Geräusche, die er von sich gab. Es wurde eine Art Bildergeschichte gezeigt, der einen kleinen, kräftigen Jungen zeigte, der verschiedene Gegner völlig ohne Sinn und Verstand bekämpfte. Nach nur wenigen Minuten bekam Kohaku von dem Flimmern, Piepen und Brummen, das der Apparat erzeugte, starke Kopfschmerzen, und die Augen begannen, ihm zu tränen. In seiner Not zog er schließlich den Stecker aus der Dose. Die Menschen mussten schon sehr schwache Sinne haben, wenn sie dieses Getöse ertragen konnten, dachte er, und wieder einmal fragte Kohaku sich, wie wohl Chihiro ihre Umgebung wahrnahm. Da er gerade vor dem Bücherregal stand, schaute er sich die Titel an, die dort standen. Da ihm die wenigsten Titel etwas sagten, nahm er sich das erstbeste Buch heraus. Vielleicht konnte er ja aus Menschenbüchern etwas mehr über die Menschen erfahren. Das Buch trug den Titel "Physik für Bauingenieure" und auf dem Einband waren mehrere interessante Diagramme und Zeichnungen abgebildet. Innen auf dem Einband war der Name von Chihiros Vater geschrieben: "Akio Ogino" und die Jahreszahl 1982. Kohaku begann sich in das Buch zu vertiefen und fand es bereits nach kurzer Zeit sehr interessant. Die Betrachtungen, Berechnungen und Formeln folgen einfachen, sehr strengen Formalismen, die ihn stark an die Einführung in die Mathemagie erinnerten, die Zeniba ihnen gegeben hatte. Wann immer er eine Herleitung nicht sofort verstand, vollzog er die Berechnung im Geiste nach und ergänzte sie um die fehlenden Überleitungen. Die Logik war kristallklar und derartig elegant, dass Kohaku davon so vollkommen fasziniert war, wie ihn selten zuvor etwas in den Bann gezogen hatte. Er versank so völlig in den physikalischen Betrachtungen, dass er vergaß, an Chihiros Rückkehr von der Schule zu denken. Daher wurde er völlig überrascht, als er hörte, wie jemand die Haustür aufschloss und hereinkam. Rasch legte er das Physikbuch zur Seite und eilte in den Flur, um nachzusehen. Es war natürlich Chihiro und er hatte ihr Kommen nicht einmal gespürt. Das Mädchen ließ den Schulranzen fallen und fiel ihm sofort um den Arm, als sie ihn erblickte. "Kohaku, ich bin ja so froh, dass du da bist." Dann legte sie ihren Kopf auf seine Schulter und er spürte, wie ihr Körper in seinen Armen schlaff wurde. Schlagartig wurde Kohaku klar, wie sehr Chihiro das Wochenende bei Zeniba mitgenommen hatte und wie sie die langen Nächte erschöpft hatten. Ihr Schlafbedürfnis übertrug sich augenblicklich auf Kohaku. Diesmal hatte er jedoch weder eine Veranlassung ihm zu widerstehen, noch hatte er den Willen. So setzte er sich vorsichtig auf den Boden, sodass Chihiro ihren Kopf auf seinem Bauch legen konnte, um danach direkt neben ihr einzuschlafen. Etwa drei Stunden später, gegen 8:00 am Abend, kehrte Chihiros Mutter nach Hause zurück. Sie war gut gelaunt, obwohl sie an diesem Tag besonders lange hatte arbeiten müssen. Gerade hatte sie ihre Schuhe abgestreift und wollte das Licht einschalten, als sie über etwas stolperte, das auf dem Boden lag. Sie stieß einen einem kleinen Fluch aus und versuchte zu erkennen, was dort lag. Schemenhaft erkannte sie einen unförmigen Knubbel, der leicht zu pulsieren schien. Vorsichtig stieg sie über die abstehenden Teile des Haufens hinweg, wobei sie die Wärme spürte, die davon ausging und ein leises Atemgeräusch vernahm. Dann hatte sie den Lichtschalter erreicht und umgelegt. Kohaku schreckte hoch und blinzelte Frau Ogino verdutzt an, während Chihiro, leise grunzte, sich auf die Seite drehte und seelenruhig weiterschlief. Ihr Schulranzen lag neben ihr auf dem Fußboden und die Schuhe hatte sie auch noch nicht ausgezogen. Sanft begann Kohaku das Mädchen jetzt zu rüttlen. "Chihiro, Chihiro, wach auf. Deine Mutter ist da." "He, ihr zwei. Was macht ihr denn da? Warum schlaft ihr denn auf dem Fußboden?" fragte Yuko Ogino verwundert. Dann wurde es auch ihr auf einmal klar. Es war das letzte Wochenende gewesen, dass die beiden Kinder so erschöpft hatte. Sie würde ernsthaft überlegen müssen, ob sie die Beiden noch einmal zu dieser Zeniba gehen lassen sollte. Chihiro öffnete jetzt schlaftrunken ihre Augen und versuchte sich zu orientieren. Als sie erkannte, wo sie sich befand, setzte sich abrupt auf und rieb sich die Augen. Kohaku, von Chihiro befreit, sprang sofort auf. "Guten Abend, Frau Ogino. Verzeihen sie, aber ich muss noch etwas erledigen." Knapp verbeugte er sich vor Chihiros Mutter, bevor er eiligst in der Küche verschwand. Kopfschüttelnd blickte sie hinter ihm her. Sie war es kaum noch gewohnt, dass Kinder sich vor Erwachsenen verbeugten. Aber da sie es unglaublich süß fand, wie höflich der junge Gott immer war, dachte sie sich nichts weiter dabei. "Sag doch mal, mein Kleines, ist Akio denn noch nicht da?" wandte sie sich dann ihrer Tochter zu. Chihiro, die mittlerweile aufgestanden war und sich verlegen die Schuhe auszog, zuckte mit den Schultern. "Nein, Mama. Ich hab' Papa seit heute Morgen nicht mehr gesehen." Yuko Ogino blickte sich jetzt um. Alles um sie herum wirkte, als wäre es wie neu und die Luft im Haus war frisch und duftend. Gleichzeitig vermeinte sie auch, einen leichten Kräuterduft wahrzunehmen, der ihren Appetit anregte. Neugierig geworden schaute sie ins Wohnzimmer. Auf den ersten Blick sah alles, wie immer, doch andererseits wirkte es, wie ein Foto aus dem Prospekt eines Möbelhauses. Sie sah genauer hin. Alle Bücher waren entstaubt, sämtliche Bilderrahmen gesäubert, die Türklinken gewienert, die Leisten gewischt und sogar hinter und unter allen Möbeln war es nahezu beklemmend sauber. Fast augenblicklich bekam Frau Ogino ein schlechtes Hausfrauengewissen, weil sie sich in den letzten drei Jahren nicht so um den Haushalt hatte kümmern können, wie es notwendig gewesen wäre. Aber sie wusste auch, um alles derartig perfekt sauber zu bekommen, musste man den ganzen lieben langen Tag putzen. Und selbst dann war es kaum zu schaffen. Mit widersprüchlichen Gefühlen kehrte sie in den Flur zurück. Einerseits war sie beschämt, wie schlecht sie als Mutter und Hausfrau war und andererseits wollte sie wegen der guten Nachrichten, die sie hatte, am liebsten in Jubel ausbrechen. Deshalb ärgerte sie sich ein wenig, dass Akio noch nicht zu Hause war. Sie hatte nämlich geplant, heute Abend alle zum Essen einzuladen und ein wenig zu feiern. Da sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, holte sie erst einmal die Post aus dem Briefkasten, setzte sich in einen Sessel und begann zu lesen. Wenige Minuten später hörten Chihiro und Kohaku einen Aufschrei aus dem Wohnzimmer und kamen sofort herbeigelaufen. Sie fanden Yuko Ogino ungläubig auf einen Brief starrend vor. "Mama, ist was Schlimmes passiert?" fragte Chihiro besorgt aber breit grinsend schüttelte ihre Mutter den Kopf. "Mama, was ist denn?" hakte Chihiro nach. Kohaku seinerseits fand das Verhalten der Frau ein wenig merkwürdig. "Ach Chihiro, Kohaku, etwas Tolles ist passiert", meinte Frau Ogino freudestrahlend, "aber das sage ich erst, wenn Akio wieder da ist, damit alle es zusammen erfahren. Sobald er wieder da ist, lade ich euch alle zum Essen ein, denn ich habe heute keine Lust mehr, zu kochen." In diesem Moment bemerkte sie den Essensduft, der jetzt allmählich von der Küche aus über den Flur in das Wohnzimmer drang. "Bitte verzeihen sie, Frau Ogino, aber ich muss zurück in die Küche", meinte Kohaku abrupt, verbeugte sich erneut und zog sich zurück. "Nanu?" stutzte Frau Ogino und blickte dem Jungen verwundert hinterher. "Macht er etwa etwas zu essen?" Sie stand auf und folgte ihm in die Küche und Chihiro begleitete sie. Dort erblickte sie zu ihrem Erstaunen, wie Kohaku gerade ein knusprig braunes Hähnchen aus dem Ofen holte. Auf dem Herd standen mehrere Töpfe, in denen es lustig brodelte und der Küchentisch war bereits für vier Personen gedeckt. Alles duftete einfach herrlich. Gut zehn Minuten später kam Akio Ogino endlich auch nach Hause. Auf der einen Seite war er völlig geschafft, vom vergangenen Tag, andererseits war er aber auch sehr zufrieden mit dem Verlauf. "Schatz, warum kommst du denn so spät nach Hause?" drang Frau Ogino ungeduldig auf ihn ein. "Ach Yuko, ich bin den ganzen Tag durch die Gegend gerannt", seufzte er erschöpft, aber auch zufrieden. "Ich haben nämlich alleine Heute fünf neue Kunden dazu bekommen. Andauernd hat mein Handy geklingelt. Das bedeutet alleine für Monat etwa 60000 Yen Mehreinnahmen. Bald muss ich jemanden einstellen, der den ganzen Schreibkrams und die Buchführung erledigt, sonst schaffe ich die Arbeit nicht mehr." "Akio, das ist doch wunderbar. Aber hör doch erst mal, was mir passiert ist", jauchzte Frau Ogino freudestrahlend, "So viel Glück hatten wir seit Jahren nicht mehr." Als ihr Blick zufällig auf Kohaku fiel, der in der Küchentür stand, stutzte sie. Hieß es nicht, dass Drachen Glück bringen würden? "Genau Schatz! Und deshalb wollte ich euch heute alle zum Essen einladen", sagte er enthusiastisch. "Aber, wie ich feststelle, hast du schon gekocht, Schatz. Stell es einfach kalt. Wir können es morgen Abend aufwärmen." "Nein Schatz, ich habe nicht gekocht. Kohaku hat gekocht", sagte sie daraufhin kopfschüttelnd. "Ich bin doch zu neugierig, was er gemacht hat und es wäre sehr unhöflich, wenn wir es nicht probieren würden." Akio Ogino schaute verblüfft zu dem Jungen herüber. Es duftete zwar ganz annehmbar, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass das Essen so gut wie im Restaurant wäre. Mit Grausen dachte an Chihiros Versuch, ein Mittagessen zu kochen, als sie sieben gewesen war. Damals hatte er auch gute Mine zum bösen Spiel machen müssen. "Also gut, Schatz. Dann gehen wir eben Morgen essen. Schauen wir doch mal, was Kohaku da Schönes fabriziert hat." Kurz darauf waren alle zusammen in der Küche und Kohaku richtete an. Es gab, wie üblich Miso-Suppe, dazu gebratene Nudeln mit Kräutern, Reis mit Gemüse und Pilzen und das Hühnchen, dass Frau Ogino eigentlich kochen wollte, nun aber knusprig braun gebraten war. Alles in allem schien es ein recht normales Abendessen zu sein, wie Herr Ogino befand. Er wünschte sich doch lieber ins Restaurant gegangen zu sein, aber nur solange, bis er probiert hatte. "Schatz, das ist ja fantastisch", brach es aus ihm hervor, aber Yuko Ogino war so konzentriert mit Suppe schlürfen beschäftigt, dass sie nicht antworten konnte. Das Leuchten ihrer Augen dabei sprach aber Bände. Auch Chihiro machte ihren Teller voll, mit Begeisterung essend. Einzig Kohaku sass vor seinem leeren Teller und schaute unsicher in die Runde. "Irgendwann haben wir schon einmal etwa so Leckeres gegessen. Ich kann mich nur nicht mehr erinnern, wo" meinte er weiterhin. Chihiro und Kohaku tauschen einen raschen Blick. Ob sich ihre Eltern doch wieder erinnern würden? An der Art und Weise, wie Herr Ogino zulangte, konnte man eine gewisse Begeisterung nicht verleugnen. "Sag doch Schatz, was waren das für tolle Nachrichten, die du vorhin erwähnt hast?" "O, Akio. Es ist einfach nur fantastisch", legte seine Frau los, "ich bin zur Bereichsleiterin des Bezirks Nakaoka ernannt worden. Damit verdiene ich jetzt mehr als doppelt so viel, wie vorher und stell dir vor, einen Firmenwagen bekomme ich auch. Damit ich alle Filialen besuchen kann. Das Tollste ist aber der Brief von der Krankenkasse, den wir bekommen haben." "Die Krankenkasse hat und geschrieben? Was soll da denn toll dran sein?" fiel Akio ihr ins Wort. "Immer wenn die uns geschrieben haben, ist es teuer geworden." "Was daran toll ist, Schatz. Sie bieten und einen Vergleich an. Sie wollen und 10.000.000 Yen zahlen, wenn wir die Klage gegen sie zurückziehen. Weil es dem Ruf der Kasse schade." Akio Ogino zog die Augenbrauen hoch. Das war wirklich eine erstaunliche Neuigkeit. Und 10.000.000 Yen. Vorsichtshalber ließ er sich von seiner Frau das Schreiben der Kasse zeigen. Es schien tatsächlich echt zu sein. 10.000.000 Yen. So viel hatte er sich nie erhofft. "Na dann herzlichen Glückwunsch, zu deiner Beförderung, Schatz. Und gleich Morgen werde ich mir einen neuen Wagen bestellen. Am liebsten hätte ich wieder einen Audi." Dann machte er sich wieder über das Essen her und schaufelte den Gemüsereis in sich hinein, als hätte er seit einer Woche nichts mehr gegessen. Kohaku dachte schweigend über die Begeisterung von Chihiros Eltern für das Geld nach. 10.000.000 Yen. Bedeutete das soviel, wie 10.000.000 Goldstücke? Waren Chihiros Eltern am Ende genauso goldgierig, wie die Froschmänner und die Schneckenfrauen? Von Yubaba ganz zu schweigen. Das bereitete ihm Sorgen und er hoffte, dass Chihiro später einmal nicht genauso werden würde. Für sein Essen erhielt Kohaku von Chihiros Eltern ein großes Lob. Alle war aufgegessen worden und Herr Ogino erweckte durchaus den Eindruck, als ob er gerne noch mehr gegessen hätte. Beide waren sie hinterher nicht enttäuscht, dass sie nicht auswärts essen gegangen waren. Um ein ähnlich gutes Essen zu bekommen, hätten sie wohl in einen der Gurmetttempel Tokyos oder Kyotos gehen müssen, wie Chihiros Eltern bedeuteten. Nach dem Essen wollte Kohaku auch sofort abspülen, doch Yuko Ogino verwahrte sich dagegen. Ihr war mittlerweile klar geworden, wer im ganzen Haus geputzt hatte. Es war ja den ganzen Tag über auch nur eine Person im Haus gewesen. Akio hatte es natürlich noch nicht bemerkt, aber der Unterschied zu vorher zeigte sich hauptsächlich in den kleinen Details, auf die wohl nur eine Hausfrau achtete. Wenn man vorher nach einem Krümel auf dem Boden suchte, konnte man auch einen finden, wenn man wollte, obwohl es ansonsten sauber war. Wollte man jetzt einen Krümel finden, dann würde eine Suche ergebnislos sein, dessen war sich Frau Ogino sicher. Aber wer hatte auch schon eine, im wahrsten Sinne des Wortes göttliche Reinigungskraft. Als Nächstes zeigte sie Kohaku die Spülmaschine, wie sie zu bedienen war und welche Tabs er benutzen sollte, zeigte ihm die Selbstreinigungsfunktion des Backofens und die verschiedenen Reinigungsmittel, zum Säubern der Töpfe und Pfannen. Da sie schon gerade einmal dabei war, erklärte sie ihm auch noch gleich, wie der Staubsauger funktioniert, welches Mittel für die Toilettenreinigung gedacht war, mit welchem Mittel man Kalkablagerungen von Kacheln beseitigen konnte und was man am besten für die Fensterreinigung benutzt. Kohaku war am Ende eher verwirrt und verwundert darüber, dass die Menschen für alles und jedes ein Mittel oder eine Maschine hatten. Wie faul die Menschen doch waren, dachte er bei sich. Aber waren gewisse Leute in der Geisterwelt nicht ebenso faul, wenn sie für alles und jedes Magie benutzen? In diesem Moment wurden seine Gedanken durch gedämpftes Gebrüll von Chihiros Vater unterbrochen: "Wieso ist das Klopapier schon wieder alle!!!!" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)