Das Rotkäppchen-Experiment von Jadis ================================================================================ Kapitel 5: Feuer und Flamme --------------------------- 6 ¨¯¯¨˜“ª¤.¸°¸.¤ª“˜¨¨¯¯¨ Feuer und Flamme Ungläubig beäuge ich die Festwiese direkt neben dem Tower of London. Ein riesiger weißer Pavillon ist dort errichtet, geschmückt mit allerlei Girlanden, Blumengestecken und angestrahlt von hellen Scheinwerfern, die das Festzelt in wechselnden Pastelltönen erstrahlen lassen. »Das ist ein Pavillon«, sage ich geistreich, während das Taxi hinter uns umständlich wendet und wieder gen Lower Thames Street rollt, und gewinne damit den Pulitzerpreis für intelligente Bemerkungen. Sherlock macht sich nicht einmal die Mühe, daraufhin eine abwertende Bemerkung zu machen, sondern stellt nur seinen Mantelkragen auf und setzt sich in Bewegung. »Das ist lediglich die Garderobe«, teilt er mir gnädigerweise mit, während ich hinterher stolpere, andere ankommende Gäste neugierig begutachte und schließlich neben ihm entlang stöckele. Über einen roten Teppich. Scheiße. Ein roter Teppich! Ich muss schlucken, als der Pavillon näher rückt. Das blöde Ding ist größer als das damalige Festzelt auf der Hochzeit meiner Cousine Amy mit 300 geladenen Gästen. Ich ärgere mich, dass ich meinen Fotoapparat nicht dabei habe. So etwas bekommt man nun wirklich nicht alle Tage zu sehen. Leicht betrübt schlurfe ich immer weiter dem geöffneten Eingang entgegen. Direkt davor steht ein fein herausgeputzter Herr an einem Empfangstresen und hebt den Blick von seinen Unterlagen, als wir an ihn herantreten. Flankiert wird er von zwei grimmig aussehenden Selekteuren, die vermutlich ungeladene Gäste fernhalten sollen. Ich fühle mich wie Charlie, der durch ein goldenes Ticket Einlass in die Schokoladenfabrik erhält, als Sherlock eine Einladung aus seiner Manteltasche zieht und dem Servicepersonal reicht. »Mr. Holmes«, sagt der junge Mann freundlich und senkt begrüßend seinen Kopf, doch erst als er den Blick zu mir wendet, erreicht seine Freundlichkeit auch seine Augen. »Ah, und Ihre Begleitung. Sehr schön. Bitte treten Sie ein.« Ich beäuge den Herrn skeptisch und lege meine Stirn in Falten, als er uns hinein verweist, mir noch einen kurzen prüfenden Blick zuwirft und sich dann wieder seiner Gästeliste widmet. Ich bin verwirrt, sehr verwirrt sogar, und blicke dementsprechend fragend zu Sherlock, als wir uns, an der Garderobe im Pavillon angekommen, unserer Mäntel entledigen. »Korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege«, sage ich, was unnötig ist, da er dies sicherlich sowieso tun würde, und deute wild mit den Armen wedelnd Richtung Empfang zurück. »Sind wir gerade... ich meine... wieso hat... haben wir gerade wirklich... haben wir Einlass erhalten aufgrund meiner-« »Sind Sie fertig oder wollen Sie weiterhin zusammenhanglos vor sich hin plappern?«, unterbricht Sherlock mich, noch bevor ich meine wirren Gedanken richtig ordnen kann und ich entscheide mich kurzerhand dazu, ihn einfach zu ignorieren. Ich lehne mich gegen den Tresen der Garderobe und reiche meinen Mantel der Dame dahinter, während ich mir zugleich anerkennend eingestehe, dass der offensichtlich maßgeschneiderte schwarze Smoking mit den ebenfalls schwarzen Tressen und der Cravate Noire, Sherlock unheimlich gut kleidet. Er nimmt die Garderobenmarke an sich und wendet sich zu mir. »Steht Ihnen gut«, sage ich wahrheitsgemäß und werde mir nur unterschwellig bewusst, dass hier ganz schön viel Sicherheitspersonal durch die Gegend springt. »Sie sehen auch ganz bezaubernd aus«, erwidert Sherlock monoton. »Ehrlich?«, frage ich ernsthaft überrascht, sehe nach unten und streiche nicht vorhandene Falten meines Kleides glatt. »Danke.« »Das war doch das, was Sie hören wollten, oder?« Das leichte Lächeln auf meinen Lippen, welches sich in den letzten Sekunden aufgebaut hat, verschwindet wieder, als Sherlock mit einer Kopfbewegung an mir vorbei deutet. »Da ist der Eingang.« Vielleicht hätte ich mich für diesen Abend wirklich lieber bezahlen lassen sollen. Oi. Ich stoße mich lässig vom Tresen ab und versperre Sherlock somit den Weg in den Tower. »Sind wir hier nur aufgrund meiner Haarfarbe rein gekommen?« »Was meinen Sie?«, stellt er eine Gegenfrage und ich sehe mich um. Mein Blick fällt sofort auf ein Pärchen, welches kurz nach uns eingetroffen ist. Die Frau trägt ein kleines Schwarzes, ihre rote Lockenpracht fällt ihr in großen Wellen über die Schultern und reicht ihr fast bis zur Hüfte. Direkt dahinter erspähe ich eine reich aussehende, geliftete Society Lady, welche mit einer geschätzt dreißig Jahre jüngeren Begleitung vom Typ Toy Boy aufläuft. »Ja«, antworte ich auf Sherlocks Gegenfrage, als ich sehe, dass der junge Mann rotblondes Haar und einen sauber gestutzten Bart der gleichen Farbe vorweisen kann. Augenblicklich fühle ich mich benutzt. Auf was für einer Veranstaltung bin ich hier nur gelandet? »Da ist der Eingang«, wiederholt Sherlock und lässt die Garderobenmarke in seiner Brusttasche verschwinden, als ich mich umdrehe und augenblicklich wie angewurzelt stehen bleibe, als ich einen weiteren Gast eintreffen sehe. »Ach, du meine Güte«, hauche ich und bekomme augenblicklich Schnappatmung, während Sherlock gegen mich läuft. »Das ist... das ist...« »Gibt es ein Problem?«, fragt er, tritt neben mich, schiebt sein Gesicht in mein Blickfeld und ich versuche hektisch an ihm vorbei zu blicken. »Dieser Mann da«, presse ich hervor und deute unauffällig auf den Neuankömmling, welcher von Bodyguards und rothaarigen Schönheiten umringt ist. »Das ist... das ist...« Ich komme gar nicht dazu, zu bemerken, dass der Mann ein Rockstar ist, unendlich viele Hits in den internationalen Charts verzeichnen kann und sich ganz nebenbei noch für Wohltätige Zwecke engagiert. »Nehmen Sie irgendwelche sinneserweiternden Substanzen zu sich?«, höre ich Sherlocks Frage und ärgere mich aufgrund der plötzlichen Promidichte erneut, meine Kamera nicht dabei zu haben. »Drogen?«, frage ich und mein Blick huscht über sein Gesicht, während er meines forschend mustert. »Nein!« »Erhöhter Puls, geweitete Pupillen, beschleunigte Atmung. Sie sind high.« »Was? Nein, bin ich nicht. Sehen Sie den Mann da? Das ist-« »Oh, ich verstehe«, unterbricht Sherlock mich erneut und richtet sich wieder zu voller Größe auf. »Wie dumm von mir. Sie sind sexuell erregt.« Meine Augen werden größer, während mein Gesicht zunehmend an Farbe gewinnt. »Gehen wir einfach hinein«, verlange ich schnell und stampfe los, ohne mich noch einmal umzusehen. Nach wenigen Schritten durch eine offen stehende, riesige Stahltür stehen wir im Tower, oder vielmehr inmitten der zweiten Maueranlage mit sechs Türmen und zwei Eckbastionen. Mein Kinn klappt Richtung Boden. Während ich versuche tausend Eindrücke zu verarbeiten, habe ich die Peinlichkeit von gerade eben bereits wieder vergessen. Überall scharen sich Gäste – viele davon kenne ich aus Zeitung oder Fernsehen – spielen Musiker, schweben Tänzer zu dazu passenden Klängen über aufgestellte Podeste und bringen Kellner genügend Häppchen und Champagner unter die Leute. Wir brauchen ein paar Minuten bis wir in den Innenhof vorgedrungen sind. Staunend betrachte ich die erste Befestigungsmauer mit ihren 13 eindrucksvollen Türmen, bevor uns schließlich, im festlich ausgeleuchteten Innenhof angekommen, ein Blick auf den White Tower gestattet wird. »Das ist absolut beeindruckend«, sage ich und kann meinen Blick nicht von dem roh behauenem Sandsteingebäude wenden. »Sie sind doch ein wandelndes Lexikon. Was können Sie mir hierzu sagen?« Ich eise meinen Blick von der Festung und sehe abwartend zu Sherlock, dessen Blick hastig in alle Richtungen huscht. »Der White Tower ist der älteste Teil der Toweranlage«, berichtet er, als ich schon denke, dass er mich nicht gehört hat. Sein Interesse gilt jedoch weiterhin der Umgebung und ich finde es ziemlich befremdlich, dass er überall hinsieht, nur nicht zu mir, während er mit mir spricht. »Er hat meterdicke Mauern und wurde unter Wilhelm dem Eroberer 1097 fertiggestellt. Sein Aussehen ist geprägt von den Burgen der Normannenherrscher und er beherbergt heute die Royal-Armouries-Ausstellung mit königlichen Rüstungen sowie Folterinstrumente.« Abwartend hoffe ich auf mehr Input, aber es kommt nichts. »Das war's?«, frage ich ein wenig enttäuscht. »Das war's.« »Mehr nicht?« »Kaufen Sie sich einen Stadtführer.« Gedanklich klatsche ich die Hände ineinander und überlege, ob ich vielleicht anfangen soll zu meditieren. Wenn ich weiterhin in Sherlocks Gegenwart bin, schlage ich vielleicht noch jemanden zusammen. »Also schön«, wechsele ich das Thema und sehe mich um. »Was machen wir jetzt Schönes? Uns unter das Volk mischen? Teuren Champagner hinter die Binde kippen? Sie tanzen doch nicht et-...« Ich wende den Kopf zu Sherlock und blicke ins Leere. »...-wa?« Ich drehe mich wie wild um die eigene Achse, sodass mir mein Kleid um die Beine weht und versuche den verloren gegangenen Consulting Detective in der Menge auszumachen. Fehlanzeige. Na toll, denke ich, schnappe mir Champagner vom Tablett eines vorbei eilenden Kellners und seufze lautstark. ~ Ich langweile mich. Ich muss mich stark zusammenreißen, um meinen Kopf nicht auf die Platte des runden Stehtisches knallen zu lassen, an welchem ich seit geraumer Zeit ausharre und versuche die Zeit totzuschlagen. Aber das Biest will einfach nicht sterben. Ich glaube nicht, dass irgendjemand jemals näher dran war, den Langeweiletod zu sterben, als ich in diesem Moment. Mein Blick huscht zum gefühlt tausendsten Mal auf die Blumendekoration vor mir. Ein wunderschönes Gewächs und ich bin versucht die zarten Blütenblätter zu berühren, halte mich aber zurück, aus Angst der Pflanze dadurch Schaden zuzufügen. Ein Schatten schiebt sich neben mich und ich zucke leicht zusammen. »Endlich!«, rufe ich aus, als ich Sherlock erkenne. »Lassen Sie mich nie wieder so lange allein. Ich hätte aus Langeweile fast einen Mord begangen und da hätten Sie Ihr Verbrechen gehabt. Wo waren Sie denn?« »Epiphyllum oxypetalum«, sagt er, ohne auf meine Frage zu reagieren und fixiert die Blumendekoration. »Wie bitte?« Sein Blick hebt sich und er sieht mir in die Augen. Ja, da ist definitiv ein dunkler Punkt auf der sonst so hellen Iris. Ist das Grün? Blau? Ist da ein gelblich-brauner Ring im Zentrum? Verfärbung der Regenbogenhaut? Zentrale Heterochromie? Davon habe ich einmal gelesen. »Kadupul«, antwortet Sherlock auf meine fragende Äußerung und das Augenproblem ist vorerst vergessen. »Ein sehr seltenes Kakteengewächs. Normalerweise nicht zu pflücken, ohne der Pflanze Schaden zuzufügen. Sie blüht nur bei Nacht, hinterlässt einen lieblichen Duft und verblüht noch vor der Morgendämmerung.« Ein Glück, dass ich die Blüten nicht angerührt habe. »Sind Sie nebenberuflich Botaniker?«, mache ich einen Witz, der jedoch nicht als solcher erkannt wird. »Nein«, sagt Sherlock nur und sieht stirnrunzelnd auf mich hinab. Zumindest nehme ich an, dass er die Stirn runzelt, da sie unter seinem lockigen Haar gerade nicht all zu gut zu sehen ist. »Sie wird auch Königin der Nacht genannt«, dringt mit einem Mal eine weibliche Stimme an mein Ohr und ich blicke ebenso wie meine Begleitung auf, um zu sehen, wie eine wunderhübsche junge Frau an unseren Tisch heran tritt. Sie kommt mir seltsam bekannt vor. »Diese Pflanze gibt es nirgendwo zu kaufen und ich bin sehr stolz, dass mein Ehemann die richtigen Leute kennt. Aber verzeihen Sie, dass ich mich einmische. Mein Name ist Carlisle, Tess Carlisle.« Gedanklich schlage ich die flache Hand gegen meine Stirn. Bei Erwähnung ihres Namens macht es Klick in meinem Kopf. Tess Carlisle, die Frau des Parlamentsmitgliedes Adam Carlisle. Diese Frau ist- »Großartig«, sage ich laut und versuche noch irgendwie um das Fettnäpfchen herum zu manövrieren. »Diese Gala ist großartig. Ich hoffe nur, dass sich die Gastgeber nicht so geizig sind, wie man bei der Füllmenge der Champagnergläser meinen könnte.« Zur Unterstreichung meiner Worte leere ich mein Glas, schüttele die Hand der zierlichen Frau und nenne höflich meinen Namen, während sie über meinen Scherz lacht. »Das hoffe ich doch sehr«, entgegnet sie mir und ich bemerke, dass Sherlock sich leicht zu mir herunter beugt. »Sie sprechen soeben mit der Gastgeberin«, teilt er mir freundlicherweise mit und ich bete, dass sich gleich ein Loch im Boden auftut, in welches ich mich verkriechen kann. »Mr. Holmes«, sagt die Abgeordnetenfrau entzückt und wirkt über meine Aussage keineswegs pikiert, als sie Sherlock ihre Hand reicht, die er sogleich ergreift und galant küsst, über was ich mich etwas wundere. »Eine Freude Sie wiederzusehen. Wie geht es Dr. Watson?« »Das weiß ich nicht«, antwortet Sherlock und mein Auge beginnt nervös zu zucken. »Hm«, macht Mrs. Carlisle nur und ich bewundere ihre Erscheinung. Sie ist ein Engel. Ein rothaariger Engel. »Bitte entschuldigen Sie mich«, lässt Sherlock dann überraschend verlauten und lässt uns allein zurück. »Er hat sich nicht verändert«, schmunzelt die junge Mrs. Carlisle und greift nach einem Häppchen, als er in der Menge verschwindet. »Sie kennen sich?«, frage ich, um etwas Konversation zu pflegen. »Ja«, wird mir bestätigt und ich frage mich, welchen Duft sie wohl trägt, als ein süßlicher Geruch zu mir herüber weht. In jedem Fall bestimmt sündhaft teuer. »Mein Mann wurde vor einiger Zeit erpresst und Sherlock hat ihm geholfen, die Täter Dingfest zu machen.« »Ah«, mache ich verstehend und bekomme ein wenig Panik, da ich keinen Plan habe, was ich als nächstes ansprechen kann. »Sind Sie Sherlocks neue Assistentin?«, werde ich sogleich gefragt und kann gar nicht schnell genug verneinen. »Nein, nur eine zufällige Bekanntschaft und irgendwie der Grund, weshalb wir hier Einlass bekamen.« »Ach ja«, sagt meine Gesprächspartnerin und scheint darüber wenig erfreut. »Mein Mann muss jedes Jahr Bedingungen für die Gäste aufstellen. Der Andrang unserer Parties ist immer riesig. Dieses Jahr hat er sich überlegt, dass jeder Gast in Begleitung eines weiteren rothaarigen Gastes erscheinen muss. Das hielt er wohl für sehr witzig. Adam hatte schon immer einen seltsamen Humor. Wo steckt der überhaupt?« Während Mrs. Carlisle Ausschau nach ihrem Mann hält, ein Pressefotograf ein Foto von uns schießt und ich Sherlocks Lockenkopf in der Menge ausfindig mache, bemerke ich ebenfalls, dass 50 Prozent der anwesenden Personen rote Haare haben. Diese Bedingung ist irgendwie... abartig, aber ich halte schön meine Klappe. »Ah, da ist er. Bitte entschuldigen Sie mich, Miss Flynn. Die Auktion startet gleich und da darf ich nicht fehlen.« »Selbstverständlich«, sage ich prompt und bemerke aus dem Augenwinkel heraus, wie Sherlock versucht, sich hinter einem Kellner zu verstecken. »Es hat mich sehr gefreut«, verabschiedet sich die Frau des Abgeordneten Carlisle, was ich ebenso erwidere. Kaum ist sie in der Menge verschwunden, taucht Sherlock von hier auf gleich wieder neben mir auf. »Haben Sie sich gerade versteckt?«, frage ich direkt. Seine Augen wandern kurz überlegend zur Seite und dann zurück zu mir. »Nein«, antworte er nicht sonderlich überzeugend, was mich dazu bringt lauthals zu seufzen. Ich habe das dumme Gefühl, dies in letzter Zeit öfter zu tun. »Also gut«, beginne ich leicht genervt erneut das Thema zu wechseln. »Mit welchem Verbrechen können wir heute noch rechnen?« »Jemand Rothaariges wird heute Nacht sterben«, sagt Sherlock total belanglos und mir gefriert das Blut in den Adern, während in meinem Kopf die Titelmelodie von »Psycho« zu spielen beginnt. »Sie haben mich hierher geschleppt, obwohl Sie das wissen? Sind Sie irre?!?«, bricht es dann aus mir heraus. Vielleicht sollten wir jetzt WIRKLICH noch einmal über eine Bezahlung reden. Ich gehe in die Hocke und spähe ängstlich hinter dem Tisch hervor. Beinahe erwarte ich, einen roten Laserpunkt auf mir vorzufinden. Keine schöne Vorstellung. »Seien Sie nicht albern«, verlangt Sherlock und wirkt genervt. »Sie sind außer Gefahr. Wieso sollte es jemand auf Sie abgesehen haben?« »Keine Ahnung«, gebe ich zu und erhebe mich wieder. »Ich weiß ja nicht, was in den Köpfen von Psychopathen so vor sich geht.« Sherlock wirft mir einen kurzen Blick zu, dann beobachtet er das Vorgehen auf der kleinen Bühne an der Ostwand des White Tower. »Ist Mrs. Carlisle in Gefahr?«, frage ich, als sie mit einem Mikrofon in der Hand auf die Bühne tritt. »Vielleicht.« Mir wird ganz unbehaglich und wenn ich eine Bluse tragen würde, würde ich den Kragen jetzt weiten. »Hier ist so viel Sicherheitspersonal. Wir sollten die Leute warnen. Woher haben Sie überhaupt diese Information?« »Seien Sie still. Es geht los.« Ernsthaft? Wir warten einfach nur ab, ob gleich etwas Schlimmes passiert? Ich will nach Hause. Mrs. Carlisle begrüßt alle Anwesenden und berichtet über eine Hilfsorganisation, die in den Ländern der Dritten Welt tätig ist. Die Leute applaudieren, als sie erklärt, dass die gesamten Einnahmen des heutigen Abends als Spendengelder an Entwicklungsländer gehen. Die Auktion beginnt und ich staune nicht schlecht, als Sherlock seinen Arm hebt. »Ich wusste gar nicht, dass Sie an einer Luxusuhr interessiert sind«, sage ich und vergesse sogleich, dass ich mir eigentlich Sorgen um Mrs. Carlisle machen sollte. »Bin ich nicht«, sagt er und hebt erneut den Arm, um einen anderen Bieter zu übertrumpfen. »Ich treibe nur gern den Preis in die Höhe.« Das finde ich irgendwie sehr löblich und mein Blick schweift hinüber zu einem Bieter, der ernsthaftes Interesse an der Uhr zu hegen scheint. »Er sieht reich aus«, stelle ich fest und mustere den dunkelhaarigen Mann im feinen Anzug. »Da geht noch mehr.« »10,800 Pfund zum Zweiten«, sagt der Auktionator und Sherlock reißt erneut den Arm nach oben. »12,000«, ruft er und ich sehe, dass der andere Bieter beginnt, mit den Zähnen zu knirschen und uns böse Blicke zuwirft. Ich freue mich riesig über dieses kleine Machtspiel. »12,500«, bietet dieser nun und ich werde ungeduldig, als Sherlock sich nicht mehr rührt. »Bieten Sie mehr«, sage ich, doch er schüttelt den Kopf. »Belassen wir es dabei.« Ich schnappe mir Sherlocks Arm und reiße ihn siegessicher in die Höhe, was Sherlocks Gesichtszüge für den Bruchteil einer Sekunde entgleisen lässt. »15,000«, rufe ich und die Menge beginnt zu murmeln. »15,000«, wiederholt der Auktionator und deutet in unsere Richtung. »Vielen Dank an den Herrn da drüben.« »Aber ich-«, beginnt Sherlock entgeistert. »Uh, das ist so aufregend«, sage ich und hoppse nervös auf und ab. »Wie weit er wohl noch geht?« »15,000 zum Ersten«, höre ich den Mann mit dem Hammer sagen. »Zum Zweiten.« »Der macht es ganz schön spannend«, sage ich und fixiere unseren Mitbieter, der soeben abwinkt, als der Auktionator einen fragenden Blick in seine Richtung wirft. Scheiße. »Und zum Dritten.« Der Hammer saust hernieder. »Verkauft an den Herrn am Stehtisch.« Mein Kopf verschwindet immer mehr zwischen meinen Schultern und ich finde meine Fingernägel gerade schrecklich interessant, als die Menge applaudiert und die nächste Auktion vorbereitet wird. »Sie haben nicht zufällig so viel in Ihrem Sparstrumpf?«, wage ich zu fragen und sehe nach oben. Ach herrje. Jetzt kommt der Überbotene auch noch zu uns herüber. »Herzlichen Glückwunsch«, sagt er ohne Umschweife, als er uns erreicht und ich bemerke seine gehobene Ausdrucksweise auch aufgrund dieser wenigen Worte. Er greift in die Innentasche seines Anzuges und zückt ein Scheckbuch, welches er beginnt auszufüllen, während ich fragend zu Sherlock blicke. Auf dessen Miene ist keine Regung zu erkennen, also warte ich geduldig, bis der Herr vor uns den Scheck ausfüllt, aus dem Buch reißt und Sherlock übergibt. »Sei so gut und lass sie mir bei Gelegenheit zukommen«, meint der Fremde. »Ich kenne da einen guten Fahrradkurier«, antwortet Sherlock und ich versuche einen Blick auf den Scheck zu erhaschen. »Davon bin ich überzeugt«, sagt der Herr, lächelt kurz gekünstelt und zieht sich wieder in die Menge zurück. »Wer war das?«, frage ich verwirrt und bin ernsthaft besorgt, dass dies sich in Sherlocks Gegenwart zu einem Dauerzustand entwickelt. Sherlock faltet den Scheck und lässt ihn in der Innentasche seines Smokings verschwinden. »Mein Bruder.« ~ Müde. Ich bin ernsthaft müde. Der Horizont färbt sich bereits leicht rot, die Kadupul-Blume ist schon längst verblüht und wenn ich nicht bald in mein Bett krieche, schlafe ich noch im Stehen ein. »Gehen wir bald?«, frage ich vorsichtshalber einmal nach und blinzele angestrengt, um mich wach zu halten. Vielleicht sollte ich diese kleinen Zahnstocher, die es an der Bar gibt, dazu benutzen, meine Augen offen zu halten. »Ich denke nicht, dass heute noch ein Mord passiert.« Sherlock setzt die Ellbogen auf den Tresen der Bar, faltet die Hände vor dem Gesicht und denkt angestrengt nach, während ein Barkeeper die Theke um ihn herum abwischt. »Was habe ich übersehen?«, fragt Sherlock sich selbst immer wieder leise. »Was habe ich übersehen?« »Ich will ja wirklich nicht drängeln«, drängele ich, packe Sherlock am Oberarm und beginne, ihn vorsichtig Richtung Garderobe zu schieben. Er wirkt abwesend und lässt dies bereitwillig mit sich geschehen. »Aber ich habe die Befürchtung, dass wir hier gleich raus gekehrt werden. Es ist kaum noch jemand da. Selbst Ihr Bruder ist schon vor Stunden gegangen. Und ich brauche meinen Schlaf. Bitte lassen Sie uns gehen.« Ich warte auf irgendeine Reaktion, während wir das massive Tor der ersten Befestigungsmauer durchschreiten, doch diese kommt nicht. »Sherlock? Sherlock!« Okay, ich habe gelesen, dass das hin und wieder passiert, aber es selbst zu erleben ist schon ziemlich gruselig. Ich beschließe, den Mann einfach in ein Taxi zu setzen und zu verlangen, dass der Fahrer wartet, bis Sherlock wirklich in die 221B hinein geht. Ja, das scheint mir ein durchzuführender Plan, also zerre ich Sherlock weiterhin neben mir her und fische, an der Garderobe angekommen, nach der Marke in seiner Brusttasche. Gespielt peinlich berührt, lächele ich der Dame zu, die uns sogleich unsere Mäntel reicht und Sherlock fragend beäugt. »Zu viel Champagner«, kichere ich und kann mich nicht davon abhalten, seinen Arm zu patten. »Er verträgt einfach nichts.« Kaum nickt uns die Frau verstehend zu, hake ich mich bei Sherlock unter und sehe zu, dass wir schleunigst Land gewinnen. Erst draußen angekommen, schlüpfe ich in meinen Mantel und überlege mir, wo ich jetzt am ehesten ein Taxi her bekomme. Gerade beschließe ich, mein Glück in Richtung Tower Bridge Approach zu versuchen, als eine Limousine vorfährt und mich staunend anhalten lässt. Ich werde auf die Carlisles aufmerksam, die soeben den Pavillon verlassen und zielstrebig auf die schwarze Luxuslimousine zugehen. Ein wenig neidisch über deren Lebensstil, vergesse ich mein Vorhaben bezüglich des Taxis und überhöre einen kurzen Gesprächsfetzen zwischen den Eheleuten, welchen der Wind zu uns herüber trägt. »Hast du deine Tasche, Liebling?«, fragt Mr. Carlisle besorgt und ich raste beinahe aus, als er genauso klingt, wie im Fernsehen auch. Das ist so aufregend, eine berühmte Persönlichkeit live zu erleben. Mrs. Carlisle bleibt sogleich erschrocken stehen, gibt ihrem Mann einen Kuss und eilt zurück, während Mr. Carlisle sich zu der Limousine begibt, vom Chauffeur die Tür aufgehalten bekommt und im Inneren des Fahrzeuges mit den getönten Scheiben verschwindet. Ein unbewusster Seufzer entweicht mir, während der persönliche Fahrer bei dem Fahrzeug auf die Rückkehr von Mrs. Carlisle wartet und neben mir endlich wieder Bewegung in Sherlock kommt. Er zieht scharf die Luft ein und ich drücke ihm sogleich seinen Mantel in die Hand, welchen ich bis dato über dem Arm getragen habe. »Die Fahrzeuge«, sagt er nur und sein Blick fokussiert, während sich Fragezeichen vor meinen Augen bilden. Den Gedankengang raffe ich nicht. »Was ist damit?«, will ich wissen. Haben die keine MOT-Zulassung mehr, oder was? Mit einem Mal weiten sich Sherlocks Augen. »Runter!«, ruft er und ich schreie panisch auf, als er mich am Arm packt und zu Boden stößt. Ich pralle hart auf den gepflasterten Weg und schürfe mir Hand- und Knieflächen auf, als eine gewaltige Explosion die Luft zerreißt, sich jemand schützend über mich wirft und meinen Kopf unten hält, während eine Druckwelle über uns hinweg rauscht. Die Detonation ist das Lauteste, was ich je gehört habe und das Heißeste, was ich je gespürt habe. Meine Ohren beginnen zu klingeln, als Trümmerteile auf uns herab rieseln und ich versuche zu begreifen, was hier gerade passiert ist. Oh Gott, ich will eine Kernspin, denke ich, als ich wieder fähig bin, mich zu bewegen und setze mich auf. Wie können die in Filmen nach einer Explosion sofort wieder gehen? Das ist unmöglich. Sherlock hockt neben mir und ich folge seiner Blickrichtung, nur um in entsetzte Bestürzung zu verfallen und mit den Händen meinen offen stehenden Mund zu bedecken. Oh. Mein. Gott. Die Limousine ist explodiert. Und mit ihr zwei Menschen. Das ist so... unwirklich. Schreie werden laut, Menschen laufen planlos durch die Gegend, während andere versuchen, an den brennenden Wagen zu gelangen, um diesen zu löschen. »Sie hatten Recht«, sage ich fassungslos und muss brüllen, um über das Katastrophenszenario hinweg meine eigene Stimme hören zu können. Gerade kommt Mrs. Carlisle aus dem Pavillon gestürzt und ich wende den Blick ab, als ich ihre Schreie trotz meiner gedämpften Hörfähigkeit vernehme. »In der Tat«, sagt Sherlock. »Aber Mr. Carlisle war nicht rothaarig.« Sherlock schnalzt verärgert mit der Zunge und springt auf, während ich mich langsam auf meine wackeligen Beine kämpfe. »Seien Sie keine Idiotin. Natürlich galt der Anschlag Mrs. Carlisle.« Klingt einleuchtend. Ich blicke zu Sherlock und bin entsetzt, als ich ihn lächeln sehe. »Sie sind ein Soziopath!«, schimpfe ich mit ihm und er sieht aus, als wolle er kurz widersprechen, stimmt mir dann jedoch zu. »Offenkundig.« »Und Sie brennen«, sage ich und lege den Kopf schief, als ein kleiner Brandfleck auf seinem Smoking plötzlich Feuer fängt. »Ja«, stimmt er mir kurzerhand zu, als ich den Blick nicht von der kleinen züngelnden Flamme auf seinem Arm wenden kann. »Für gute Verbrechen bin ich Feuer und Flamme.« »Nein, nein«, versuche ich es erneut, als er nicht zu begreifen scheint. »Sie brennen wirklich.« Sherlock sieht mich an, als hätte ich ihm zu einem Tanz mit einem Alligator aufgefordert. »Das sagte ich bereits«, wiederholt er sich, als die Flamme immer größer wird. »Sherlock, Sie stehen in Flammen!«, kreische ich förmlich und beginne wild auf die Flamme einzuschlagen. »Oh«, macht er nur, entledigt sich in schnellen Bewegungen seiner Smoking-Jacke und wirft diese zu Boden, wobei wir sogleich beide darauf herum trampeln und die Flammen zum Ersticken bringen. Sherlock räuspert sich unangenehm berührt – glaube ich zumindest – und richtet seine Krawatte. Als in der Ferne die ersten Sirenen zu hören sind – Hey, mein Gehör funktioniert fast wieder ganz normal – schnappt er sich seinen Mantel und wirft ihn sich um die Schultern. »Ich nehme ein Taxi«, sagt er und ich finde das eine sehr gute Idee, also sage ich es auch. »Sehr gut. Nehmen Sie mich ein Stück mit?« »Nein, Sie stören mich beim Denken.« Verdutzt bleibe ich am Ort des Geschehens zurück und kann ihm nur entgeistert hinterher sehen, als er seinen Kragen aufstellt und sich in Bewegung setzt. Das war's? Wollen wir nicht noch auf die Polizei warten? Im Gehen dreht Sherlock sich noch einmal zu mir um. »Lakisha Rosalinda!«, ruft er, um die immer größer werdende Distanz zwischen uns zu überbrücken. Ich will ihm zurufen, was er mich mal kann, reiße mich aber zusammen und schüttele nur fassungslos den Kopf. Sherlock kneift überlegend die Augen zusammen, dreht sich wieder um und ist schon bald in einer Unterführung verschwunden. ~ Ende des 6. Kapitels ~ MOT = Ministry of Transport Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)