Grimmige Märchen von Inzestprodukt (Ein Märchen-Crossover) ================================================================================ Kapitel 1: Rotkämpfchen ----------------------- „Ich seh das ja gar nicht ein.“ „Darum geht es aber nicht, zieh dich um ich will hier noch mal weiterkommen.“ „Wieso? Du hast Scheiße gebaut und ich leg deswegen nicht meinen letzten funken Männlichkeit ab.“ Daraufhin ein kurzes Schweigen, was größten Teils darauf zurückging, dass Raphael für ein paar wenige Sekunden tatsächlich seine Sprache verloren hatte, als er den Verursacher dieses Satzes von Kopf bis Fuß musterte. Nicht, dass ihm Michaels Kleidungsstil nie aufgefallen wäre, aber… „Du trägst kniehohe Stiefel! Wenn du das als männlich abspeicherst… ich will es gar nicht ausführen müssen.“ „Du kannst mich mal, Mister in-meinem-Kleiderschrank-hat-sich-eine-Safari-verlaufen!“ „Jetzt sei ein Mann und zieh das verdammte Kleid an!“ Besagter Stofffetzen wurde wieder in Richtung des bockigen Rothaarigen geworfen, der ein mittelschweres Schnaufen erübrigte und die Arme vor der Brust verschränkte. Natürlich könnte er es niederbrutzeln und in einen unbedeutenden Aschehaufen verwandeln, aber Geschichten wollten erzählt werden. Sprich wer mit seinen Astralkräften rumpfuschte und sie in eine Art Paradoxon schickte, musste eben statt des von einer riesigen Merkaba erschlagenen Rotkäppchens den Weg auf sich nehmen und Großmutter ihren scheiß Wein bringen. Aus einem für Michael vollkommen unerklärlichen Grund hatte die Geschichte – sprich Kleidergröße – ihn für diese leidvolle Aufgabe auserkoren. Zurück auf Anfang hieß das eigentlich nur, dass sich die zwei Herrschaften nicht einig wurden, wer nun der Schuldige an diesem Schlamassel war und bis eben genau diese Frage geklärt war, war Michael ja sowas von überhaupt nicht arbeitswillig, sollte Raphael sich doch in den Fetzen pressen und dann durch den verkackten Wald stiefeln. Dass der hier in aller Seelenruhe auf ihn warten durfte, setzte dem Ganzen nur noch die Krone auf. Das und die Textphrase unten links in der Ecke, die mit einem verheißungsvollen „Es war einmal…“ anklagend auf ein Umblättern der Seite wartete. Nicht mit ihm. Nicht in einem Kleid! „Ich hasse verschissene Märchen“, ließ seine Bockigkeit verlauten und schielte misstrauisch zu einem Gebüsch, hinter dem er singende Kaninchen vermutete – wobei er „Märchen“ hier mit dem Großkonzern unter Diktatur einer Maus verwechselte. „Die ursprüngliche Idee dahinter war eigentlich ganz nett für die rückständigen Möglichkeiten der Menschen, Erotik zu verbreiten.“ Raphael trat in der Hoffnung näher, dass Michael sich an ihre seit Äonen andauernde Freundschaft erinnerte und ihn nicht in ein Stück Presskohle verwandeln würde, dabei den roten Stoff mit weißer Schürze in der Armbeuge eingeklemmt. Wenn er es schaffen könnte, ihn zu überrumpeln und in den Fetzen zu stopfen… Beäugter Busch ging gerade in Flammen auf und überzeugte Raphael, sein Vorhaben doch noch einmal zu überdenken. „Komm schon ich will heute noch nach Hause.“ „Dann hättest du mich fahren lassen sollen du scheiß Stümper!“ Loderte da eine Stichflamme empor? Raphael könnte schwören, dass ihm gerade der Tod zugewunken und dabei mit einem Feuerzeug gespielt hatte. Trotzig – da Selbsterhaltungstrieb ziemlich gering – schnalzte der Blonde mit der Zunge, bückte sich dann nach dem Korb und inspizierte dessen Inhalt. „Wir könnten warten und uns den Wein genehmigen. Mit etwas Glück kommt immer wieder eine neue Flasche, das Kleid konntest du ja auch nicht zerpulvern.“ Konnte er schon, es kam nur eben immer wieder. Ein genervter Laut, irgendwo angesiedelt zwischen Fauchen und Knurren, entstieg Michaels gereizter Kehle, dann riss er dem Blonden den Korb aus den Händen und zog etwas Kuchen und die besagte Flasche Wein hervor, trat das Flechtwerk in eine Ecke und stapfte dann in bekannter Laune Richtung Wald. „Den scheiß Fuchs oder so brat ich und fress ihn auf“, knurrte er dem innerlich triumphierenden Raphael noch zu, ehe dieser leise summend den Weg zurück zu ihrer kaputten Maschinerie einschlug. Rotkäppchen heilen oder gar wiederbeleben? Wer war er denn, die Wohlfahrt? - Michael hatte sich für die drastische Maßnahme entschieden oder eher dazu genötigt gesehen; zwar wehrte er sich gegen alles Lebende mit einem ordentlichen Stoß Feuer, doch nun waren seine Hände voll und sein angeborener Verteidigungsreflex war: Werfen. Erst flog der Kuchen und erschlug so auf zarte Weise einen Vogel, dann zerschellte die Weinflasche an einem Baumstamm und wurde schnell zur praktischen Waffe umfunktioniert; Geraschel bedeutete entweder Gefahr oder etwas zu essen. Im Idealfall beides. Enttäuschender Weise war es wieder nicht mehr als ein übertrieben flauschiges Nagetier, das er daraufhin in etwas Eingeschmolzenes verwandelte. Er könnte nun zuhause sein und Dämonen aufspießen, stattdessen lief er – nicht einmal zusammen! – mit Raphael durch eine Art Märchenbuch und fühlte sich tödlichst schlecht gelaunt. Und wieder irgendein Vieh, man sollte meinen im Wald herrscht mehr Ruhe. „Wo is die scheiß Hütte“, stöhnte er nach einigen hundert Metern und ließ die zerbrochene Flasche locker am Hals zwischen den Fingern baumeln. Vielleicht konnte er das ganze Ding einfach anstecken, diese Märchensache hatte in seinen Augen schon immer zu wenig Pepp gehabt. Mal etwas Spannung in die Sache reinbringen, konnte sich Arthrose gegen eine Feuerwalze zur Wehr setzen? Ou, man bringe ihm Popcorn! Genervt trat der Feuerengel gegen einige Farngräser und kleine Sträucher, schob sich dann aus reinem Pragmatismus den langen Zopf unter sein Shirt, da er jetzt zum zwölften Mal einen Ast davon entfernt hatte; wieso liefen diese Uschis in der Werbung immer mit Kleidern durch den Wald? Keiner konnte ihm weißmachen, dass ihre Haare sich nicht darin verfingen! „Wenn du einmal in deinem Leben den vorgegebenen Weg laufen würdest, hättest du weniger Probleme mit dem Gestrüpp.“ Die schrecklich desinteressierte Stimme einer ganz bestimmten Person schlich sich in den Gehörgang des Hitzkopfes, der daraufhin erst einmal stehen blieb und dann sämtliche Verteidigungsmechanismen im Kopf durcharbeitete; Waldrodung stand an erster Stelle, der Bastard würde mit ihm verbrennen. „Wer hat dich eingeladen?“ Erst jetzt drehte er sich zu seinem Bruder herum, der an einem Baum lehnte und ganz unpassend in schwarz einen trostlosen Punkt in dieser viel zu farbenfrohen Welt bildete; an den Bäumen und Blumen wurde die Farbskala einfach auf dreihundert geschraubt und Michaels arme, an Wüstensand gewöhnte Augen waren gegen seinen Willen dankbar, Luzifer angucken zu können. „… was ist das da auf deinem Kopf?“ „Ohren aus Fell. Accessoire.“ Nun, er war nie sonderlich gesprächig gewesen aber diese Information verlangte eigentlich nach mehr… ja, Information. „Ich spiele den… Wolf“, sprach seine schwarze Eminenz und schaffte es, mit neutraler Miene Verachtung zu versprühen. Michael stöhnte wieder. „Du Enttäuschung, die ich Zeit deines armseligen Lebens „Bruder“ nennen muss… hättest du nicht einen echten skalpieren können?“ Ein Schulterzucken, dann löste er sich vom Baum und schritt langsam auf den Rotschopf zu, der die abgebrochene Flasche in einer geschmeidigen Bewegung fest in die Hand beförderte und notfalls bereit war, Luzifer zu filetieren. Doch er bekam nur ein Schulterklopfen von ihm und wurde dann einfach stehen gelassen, ehe der Herr der Unterwelt noch einmal stehen blieb und ihn eines Blickes würdigte. „Ich glaub du musst… Blumen pflücken oder so. Und ich geh jemanden… fressen.“ „Wieso machst du bei dieser Scheiße mit?!“ Keine Antwort, dafür bekam er ein demotiviertes Winken und wurde dann wieder alleine gelassen, was seinem ohnehin fragilem Gemüt nicht unbedingt helfen wollte – eine dreihundert Jahre alte Tanne ging in Flammen auf und brannte sich in ihren Tod, als Michael die Flasche zur Seite schleuderte und dann etwas an tempo zulegte; er würde Luzifer einholen, dessen Gesicht über einem Stein abreiben und dann zurück zu Raphael gehen, um genau diesem dann in seinen unverschämten Arsch zu treten. - „Es ist so total unlogisch, dass ich ihn nicht eingeholt habe!“, teilte Rotkäppchen (…) seiner ! Umwelt nun mit und betrachtete das Ziel seiner unterirdisch schlechten Laune; eine Holzhütte im Wald. Eine wahnsinnig kluge Idee, ihn in etwas aus Holz zu stecken. Kurz war Michael versucht zu applaudieren, dann entschied er sich aber fürs Anklopfen – und benutzte dafür seinen Fuß, trat die verdammte Tür mit lautem Krachen auf und hob sie an oberster Stelle aus den altertümlichen, eigentlich sehr robust wirkenden Angeln heraus. Die Augen nahmen den Raum flink wahr – als könnte er sich an den verdammten Text erinnern! Nebenbei fiel ihm auch auf, dass er eigentlich nichts mehr zum Abliefern hatte und mit leeren Händen, dafür aber einer mördermäßigen Wut im Türrahmen stand und nach einem potenziell unschuldigem Sündenbock suchte. „Alter… nicht mal Raphael traut sich so eine Einrichtung zu.“ Ein Rustikaler Stil war ihm nicht vertraut, Platzdeckchen grenzten schon an optische Beleidigung – und er kannte das Schlafzimmer des Pornodoktors! Besser, als ihm zeitweilig lieb war… „Luzifer komm her und lass dir in den Arsch treten ich will nach Hause!“ Beim genaueren Lauschen vernahm er immerhin zwei Stimmen, die es an dieser Stelle des Märchens eigentlich nicht geben sollte. So ging Rotkäppchen (…) anmutig wie ein Bulldozer durch die Wohnstube und befreite auch die Schlafzimmertür vom Umstand einer soliden Befestigung – um sich im nächsten Moment an dieser festzuhalten und in die Hocke zu sinken, da hier unten die Luft nicht so dünn war. Sein Lachen schallte durch den ganzen Raum und wurde nur vom panischen „ich bepiss mich, Hilfe!“ übertönt, als er Raphael im Nachthemd vor sich sah. Dieser katalysierte seine Wut direkt auf den Neuankömmling und warf einen plüschigen Hausschuh nach diesem, was zwar kurzweilig wieder Michaels Aufmerksamkeit, dann aber den nächsten Lachanfall hervorbrachte. „Du siehst so schwul aus, ich kann nicht mehr!“ Es war R O S A, verdammt nochmal! Mit Spitzenbesatz! Und der Rothaarige heulte schon vor Lachen, das war doch nicht wahr! Hatten sie den Blonden also in die Rolle der Großmutter gesteckt? Auch auf Luzifers – natüüürlich war er vor ihm eingetroffen, das war ja auch so logisch! – ansonsten so befreitem Gesicht zeigte sich der Ansatz eines verdrückten Schmunzelns, während der Heiler sich entrüstet den Stofffetzen vom Körper riss und nun in Boxershorts vor sich hindampfte. „Lach nicht so bescheuert!“ Zwecklos, Michael sank nun nach vorne und auf die Knie, klammerte seine Hände noch oben am Türgriff und bemühte sich um Sauerstoff, als der feste Griff des Heilers seinen Oberarm erreichtet und ihn wieder in die Höhe zerrten, ehe er ihn wie mit einer Schraubzange hinter sich herschleifte. „Ich bin eingeschlafen und dann in dem Bett aufgewacht!“, klagte der Windengel und tastete an sich herunter, wo folgerichtig keine Zigaretten zu finden waren und seine schlechte Laune nur noch weiter steigerte. Uncool! Wieder ein fast hysterisches Lachen von Seiten des Feuerengels, der sich das tränennasse Gesicht abwischte und immer wieder versuchte, einen ernsten Eindruck zurückzugewinnen, dann aber seinen Spaß über ihre Freundschaft stellte und erneut losbrach. „Man Mika-Chan halt die Klappe jetzt! ich will weiter und mir was anziehen, das scheiß Märchen kann mich mal!“ „Musstest du auch einen BH anziehen?“ Wieder dieses Losgackern, wofür Raphael ihm fast eine runterhaute und dann doch besinnend schmollte, wieder seine Hand um den Arm des Kleineren schraubte und ihn schweigend mit sich zog – im Wald nur noch das gelegentlich aufflammende Lachen des Feuerengels, der dann, nur um Raphael aufzumuntern, hin und wieder ein paar Bäume in Brand setzte. Kapitel 2: Uri-Punzel --------------------- Es hatte gefühlte Stunden gedauert, ehe Michaels höhnisches Gelächter verklungen war und Raphael hatte in dieser Zeit insgesamt sieben Mal den Wunsch unterdrückt, den Rothaarigen an Ort und Stelle zum Schweigen zu bringen – von Gewalt über sexuelle Übergriffe bis hin zu Mord war jede Situation gedanklich weit ausgeschmückt worden. Tatsächlich hatte sich der Kleinere dann nur noch ein paar Minuten herzlichst amüsiert, ehe er wieder die Kurve bekam und in seinen täglichen Trotzanfall verfiel, weil die Situation ihm einfach nicht schmeckte; ihr Weg war ziemlich eindeutig und das regte ihn nur noch mehr auf, da kaum Platz für Spekulationen blieb. „Ich renn jetzt nicht von Märchen zu Märchen, ne.“ „Ich hab auch keine Lust aber was bleibt uns übrig?“ „Ist das überhaupt logisch?!“ Genervt trat er nach einem plüschigen Nager, der sich ihnen mit großen Augen in den Weg gestellt hatte und sowas wie ein Lächeln vermuten ließ – weg mit dem scheiß Viehzeugs! Raphael sah der beachtlichen Flugkurve des erschrocken quietschenden Tieres nach, dann strich er sich einmal durch die Haare und zuckte die Schultern. „Mit etwas Glück hast du dir nur mal wieder den Kopf gestoßen und träumst. Dann mache ich mir aber ernsthafte Sorgen um deine unterdrückten, sexuellen Wünsche, wenn sie dir ein Kleid andrehen wollen.“ „Du im Nachthemd warst auch nicht gerade eine Offenbarung.“ Ein freches Grinsen zuckte über Michaels Gesicht, doch dieses Mal richtete er seine Aufmerksamkeit nicht auf den Hohn – dazu hatte er noch genug Zeit. Raphael nahm es inzwischen gelassen, denn wenn schon an aller Logik gezweifelt wurde: Er hatte wieder vollkommen normale Kleidung an, seit sie Rotkäppchens Wald verlassen hatten. Insofern man diese engen Hosen und geschmacklosen Schuhe normal bezeichnen konnte. „Wehe, jemand rennt um die Ecke und singt mir die Ohren zu“, knurrte er bedrohlich neben dem Heiler, der genau das eigentlich sehnlichst herbeiwünschte; etwas mehr Spannung und eine schrecklich sichere Konstante würden zwar ein brennendes Nagetier als Opfer nehmen aber damit würde er sich sicherer fühlen. Bisher stand ein Großteil des Waldes noch und das war eigentlich ein Grund zur Sorge. Abgesehen von dem ganzen Mist hier natürlich. „Du verwechselst das Ganze hier mit Disney.“ „Mir scheiß egal ich will nach Hause! Und wo zu seiner Selbst willen ist Luzifer eigentlich abgeblieben?!“ Das war Raphael streng genommen auch egal, sollte der Teufel sich doch zum Herrscher des Märchenbuchs erheben, sie hatten ganz andere Sorgen. „Was ist das für ein hässlicher Turm?“ Michael stemmte die Hände in die Hüften – eine furchtbar zickige Pose, wie Raphael fand aber daran hatte er sich ja gewöhnt – und starrte das Gebilde nicht minder hasserfüllt an, als er sich gerade offensichtlich dem Ganzen hier gegenüber zu fühlen schien. „Du kennst die Pornoversion, oder? Worum geht’s?“ „Wieso sollte ich…?“ „Weil du von allem – egal, was – die Pornoversion kennst. Lüg mich nicht an! Worum geht’s jetzt? Ich hab kein Bock mehr.“ „Sieht wie Rapunzel aus… ich weiß aber nicht mehr, worum es ging. Lange Haare und irgendeine Hecke oder so.“ „Gings um Äpfel?“ „Ehm… nein.“ Glaubte Raphael zumindest, so wirklich interessiert hatte er sich nie für den ganzen Mist. Zu ihrer Zeit der damaligen zeit – also der non-digitalen – hatte es bereits andere Mittel und Wege gegeben, die ihnen die Erotikbranche lieferte. Der Himmel war schließlich Gottes größter Sündenpfuhl und Raphael der strebsamste Kunde. „Irgendeine Ziege sitzt da oben und man kann an den Haaren hochklettern.“ Michael, seines Zeichens ungläubiger Streithahn, zog eine Augenbraue nach oben und überquerte die geräumige Wiese, um dann den Turm einmal zu umrunden und den Stein abzuklopfen. Dann richtete er den Blick nach oben, ließ den Nacken einmal kurz knacken und spannte schließlich die Flügel – klettern, war er ein Affe im Zoo? Mit ein paar kräftigen Schlägen landete er oben am Fenster, zog seine Schwingen zurück und schlüpfte hinein, dicht gefolgt vom blonden Schoßhündchen, der sich misstrauisch die Wange kratzte; jedes nächtliche Gewand würde seinen Händen zum Opfer fallen – zur Not wickelte er Mika-Chan darin ein und vertraute auf dessen zuverlässig kurze Zündschnur. „Hatte das Weib im Turm eine Sense?“ „Nicht, dass ich wüsste. Klingt auch ziemlich unlogisch für ein Kindermärchen, oder?“ „Aber dich von Luzifer fressen lassen ist viel besser oder was? Was hättest du gemacht, wenn der zu dir ins Bett geklettert wäre?“ „Ich glaube nicht, dass er das getan hätte…“ „Wieso ich mach es doch auch. Aber kann ja nicht jeder mein mangelndes Selbstwertgefühl besitzen.“ „Was soll DAS denn heißen?!“ Ein Räuspern, als sich aus der Ecke ein erschreckend großer Schatten löste und schließlich Uriel preisgab, der ungewohnt genervt mit dem Fuß wippte. „Habt ihrs bald? Ich musste auf euch warten, irgendwer hat mich in dieses Ding gestopft.“ Raphael wirkte nicht weniger überrascht als der Rothaarige neben ihm, der sich eigentlich gerade auf einen kleinen Streit eingestellt hatte und sich dessen nun durch den unerwartet aufgetauchten Erdengel betrogen fühlte; dabei hatte er so schöne Argumente, um Raphaels Weltbild durch den Kakao zu ziehen! „Warum bist du nicht einfach rausgeflogen?“ Und jetzt ignorierte der ihn auch noch für den Erdengel! „Bin ich, dann war das Ding aber wieder da. Die Geschichte muss erzählt werden oder sowas in der Art. Wobei es so viele verschiedene Varianten gibt, dass ich mir des Ausgangs nicht wirklich bewusst bin. Der Turm muss auf jeden Fall weg.“ Das schien zumindest den Blonden zu entspannen; er hatte zwar noch immer keine Zigaretten, doch wenn es um die Beseitigung eines Mobiliars ging, hatte er seinen persönlichen, laufenden Werkzeugkasten dabei. „Verpiss dich mal von da.“ Mit der Laune eines geärgerten Krokodils, das aus den Tiefen seines Seins eine Art Verwandtschaft zu den feuerspeienden Kollegen vermutete und nun ungeniert das Bett du einen Schrank in Brand setzte. Uriel nickte geringfügig anerkennend und folgte dann Raphael aus dem Fenster hinaus, während der Kleinste endlich ein Ventil für seine schlechte Laune gefunden hatte und Rapunzels Märchenturm zu einem Haufen trostloser Steine verwandelte. Müsste Raphael dies benoten, würde er nun gerne ein Schild heben und mit einer glatten zehn beschriften, doch das würde Michael nur noch weiter anstacheln und so wie der gerade drauf war hoffte der Blonde, dass ihre nächste Station diverse Aufreger ausließ: Zucker war ein ganz schlechtes Thema, Wasser sowieso und eine neue Begegnung mit Luzifer würde dem Ganzen noch das Sahnehäubchen verpassen. Nun… hoffentlich gab es all diese Dinge irgendwo auf einmal, das würde Michael irgendwann müde machen und er könnte schlafen. „Du kommst also mit uns, ja?“, fragte Raphael deswegen die rauchende Todesmaschinerie knapp hinter ihnen ignorierend direkt den Größten, der noch immer ungewohnt genervt aussah. „Scheint so. Habt ihr schon was hinter euch?“ „Ja, Mika-Chan hat sich geweigert, ein Kleid anzuziehen.“ „Dafür hatte Raphael ein Nachthemd an.“ Ein genervter Blick von genau diesem an den Rothaarigen, der nun aufgeschlossen hatte und spöttisch grinste. „Es sah scheiße aus.“ Uriel überlegte sich gerade dazwischen zu gehen und als Puffer zu dienen, damit sich die anderen beiden nicht die ganze Zeit gegenseitig schubsten, doch dann wurde aus dem leichten Stoß des Heilers eine Kurzschlussreaktion Michaels, der sich mit einem schnellen Dreher mit Vollkontakt auf den Blonden schmiss und ihn somit von den Füßen holte – einzige Reaktion aka lebensverlängernde Maßnahme von genau diesem war, sich an den langen Haaren des Größten festzuhalten, der daraufhin erschrocken aufschrie und somit immerhin ein kurzweiliges Gefühl davon vermittelt bekam, wie sich die Rolle der Rapunzel angefühlt hätte. Kapitel 3: Zucker, überall Zucker! ---------------------------------- Unter Umständen wäre Raphael geneigt, wieder an ihren eigentlich eigens vernichteten Schöpfer zu glauben, denn seine stummen Gebete schienen dieses eine Mal tatsächlich erhört worden zu sein – er sah Zucker. Leider in Massen statt in Maßen, was seinem nach ausgewogener Ernährung schreiendem Herzen einen Stich versetzte, doch er hüllte sich vorerst in Schweigen – und beobachtete mit Interesse die Reaktion des kleinsten Mitgliedes ihres Trios. Wie zu erwarten hatte Uriel immerhin ansatzweise Erfahrungen mit diesen Geschichten, was man von Michael allerdings nicht behaupten konnte und so war es kaum verwunderlich, dass bei ihm allmählich der letzte Rest Verstand ausklinkte; er hatte sich zum Stehenbleiben hinreißen lassen und wenn Raphael sich nicht ganz täuschte, zuckte das linke Auge auch bedenklich. Überforderung!, schrie es aus jeder Faser des kurzen Körpers. „Als hätte ich es geahnt“, ließ Uriel sich vernehmen und betrachtete das knallbunte Häuschen, welches seine Farbpracht durch diverse Bon-Bons, eingefärbten Zuckerguss und Gummibärchen zu verantworten hatte. „Ich hatte es auch befürchtet“, meinte Raphael kurz angebunden und schaute noch einmal zu Michael, von dem nun kontrolliertes Ein- und Ausatmen zu hören war. Ob er noch immer nach singenden Nagetieren trachtete, sei nun dahingestellt. „Wer wohl die Hexe ist?“, mutmaßte der Erdengel und trat einen Schritt näher an die in Pose gesetzte Lichtung heran, in deren Mitte das Hexenhäuschen aus Süßkram stand. „Solange ich noch hier stehe und nicht in lumpigen Kleidern an einem Krückstock ende, ist mir das eigentlich relativ egal. Ich weigere mich aber, jemanden in den Ofen zu schubsen.“ Auch Raphael folgte ein paar Meter weiter, wobei er dennoch Michael im Auge behielt. Der war viel zu ruhig für seinen momentanen Geisteszustand. „Anzünden sollte das geringste Problem sein“, mutmaßte Uriel weiter und ignorierte ihre sozialen Umstände gerade weitestgehend. Genau diese setzten sich dann ebenfalls in Bewegung, doch ganz geheuer schien es dem Rothaarigen noch nicht zu sein; das sah viel zu kitschig aus, um irgendwie Spaß aus der Sache zu ziehen. „Wird hier gesungen?“ „Du bist immer noch bei Disney, in Märchen wird nicht gesungen“, versuchte Raphael ihn minder interessiert zu beruhigen und klopfte einmal mit den Fingerknöcheln gegen die Wand aus Lebkuchen; wenn es denn wirklich möglich war, konnte man das Geräusch besten Gewissens als „klebrig“ bezeichnen. Uriel warf einen direkten Blick auf das Dach und vermutete Butterkekse, jedoch machte keiner Anstalten, etwas von dem Zeug zu essen – der Größe nach bemessen aus folgenden Gründen: Der Erdengel sah, was sich den Umständen des Waldes sei Dank auf dem Dach angesammelt hatte – Schmutz, kleine Äste, Vogelkot – und verzichtete auf eine nähere Bekanntschaft mit eben diesen Dingen, Raphael empfand den Wald als solchen schon viel zu unhygienisch um hier überhaupt ans Essen denken zu können und Michael lehnte aus Prinzip den Großteil aller Speisen ab, der nicht wenigstens anständig geblutet hatte. Außerdem machten die rosa ´Fugen ihn nicht gerade glücklich. Dennoch hielt ihn das natürlich nicht davon ab, seinen Fuß mit voller Wucht gegen eine der Wände schnellen zu lassen. Das Ergebnis war ein kleines Loch im Lebkuchen, was er mit abfälligem Blick beurteilte und sich schließlich abwandte. Eine Behausung, die weniger als die des Luftikus rechts von ihm vertrug, war unter seiner Würde. Und bei der machte er schon großzügige Abstriche, wenn wir mal ehrlich sein wollen. „Also“, ignorierte besagter Luftikus den kurzen Anfall von zerstörerischer Aktivität. „Wer isst jetzt was davon, damit die Geschichte ins Rollen kommt?“ „Können wir nicht einfach alles kaputtmachen? Hat beim Turm doch auch geklappt.“ „Das war – wenn wir von allem hier mal absehen – ohnehin vollkommen unlogisch, von der Geschichte blieb ja nicht viel über. Wenn man uns deswegen später den Heimweg versperrt, bade ich den Mist bestimmt nicht alleine aus. Zu dem Ding hier: Ich nehm da nichts von in den Mund, mir fallen um die fünfzig Gründe ein und sie fangen bei Zahnersatz an und hören mit Diabetes auf.“ „Nett, dass du uns diesem Schicksal überlässt“, murrte das Rote und scannte die Umgebung ein weiteres Mal nach einem verdächtig musikalisch wirkenden Tierchen. So ganz hatte sich die Sache mit Disney und Märchen noch nicht verfestigt. „Du hast schon weitaus schlimmere Sachen verspeist, manches hat sich noch in deinem Mund gewehrt…“ Michael nickte zufrieden, als er das hörte. „So mag ich das – Überlebensinstinkte.“ Uriel – erneut mit dem Gedanken spielend, einfach als Puffer zu dienen, verarbeitete diese Information unter der Kategorie ‚habe ich schon vor ein paar tausend Jahren mit gerechnet‘ und räusperte sich, damit sie nicht wieder vom Thema abkamen. „Versuchen wir es doch mit Zerstörung. Hauptsache, es erregt Aufmerksamkeit.“ „Mika-Chan, dein Part.“ Ob ihm das Lebkuchenhaus zu wehrlos oder unmännlich erschien, war nun dahingestellt aber im Gegensatz zu vorher wirkte er wenig begeistert, nun schon wieder ein Gebäude zerlegen zu müssen, allerdings konnte er auch nicht einfach gehen und die beiden Vollidioten sich selbst überlassen – was ihn zugegeben etwas anpisste. Weniger motiviert als noch beim Turm begnügte Michael sich deswegen damit, ein paar weitere Löcher in die Wand zu treten, eines der aus Zuckerglas gearbeiteten Fenster zu zerschmettern und letzten Endes mit dem Gedanken zu spielen, einige der Kekse niederzupinkeln, als dann endlich mal die Tür aufging – gewaltsames Eindringen fiel ihm jetzt erst ein und das steigerte seine schlechte Laune nur weiter unnötig. „Oh“, kam es etwas enttäuschend von Raphael, als er nun wieder aller Erwartungen keinem bekannten Gesicht entgegenblickte, sondern tatsächlich einer fast zahnlosen Alten (O-Ton Raphael: Das kommt davon, wenn man sich nur von Zucker ernährt!). Eine mehr oder wenige durchsichtige Erscheinung schaute zu ihnen herüber, räusperte sich für das „Knusper, Knusper, Knäuschen“ und klappte den Mund wieder zu, als ein Arm in ihrem Körper wedelte, der an seinerseits recht kurze Gliedmaßen gebunden war. Recht schnell war ein Schnaufen zu vernehmen, dann stieg Michael durch die geisterhafte Erscheinung und wurde von seinen beiden Kollegen begleitet. Das wirkte mehr wie eine Touristenführung als tatsächlicher Grusel vor einem Geist. „Ähm“, brachte die Alte nun hervor und wandte sich selber wieder in ihr Haus um, wo sie die Protagonisten – war das nicht einer zu viel? – betrachtete. Sowieso sollten es doch eigentlich Kinder sein, nun standen da zwei Erwachsene und ein ziemlich finster dreinblickendes Kind, das sich gerade einen der Stühle ergattert und die Füße auf der Tischplatte abgelegt hatte. Nicht, dass sie nach der letzten Begegnung mit den beiden Kindern unbedingt wieder welche sehen musste… „Damit hab ich wirklich nicht gerechnet“, ertönte eine Stimme und kroch in das gespenstische Gehör. Der Verursacher stand neben der Frau und blickte sie eigentlich relativ desinteressiert an. „Nun ja… eigentlich sollte jemand diesen Part übernehmen, er hat sich aber geweigert.“ „Wie sah er aus?“ Raphael schmunzelte wissend, der Smalltalk mit dem Geist einer Märchenhexe schien ihn keines Falls zu stören. „Groß, schwarze Haare… neutrales Gesicht.“ „Hat der Teufel keine Lust gehabt, ja?“ Nun schien auch der Blonde sein kurzweiliges Interesse zu verlieren und trat etwas weiter in den Raum hinein, lehnte sich nun ebenfalls an die Tischplatte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und was steht im Skript? Wir müssten langsam mal weiter…“ „Ehm…“ Man könnte Mitleid mit der körperlosen Alten haben, lief dies doch alles ganz anders als geplant. „Habt ihr Brotkrumen verstreut?“, fragte sie daher hoffnungsvoll und klammerte sich an diesen winzigen Punkt, auf den sie noch keinen Einfluss nehmen konnte – man sollte später nicht behaupten, alles sei ihre Schuld gewesen. „Nein. Aber ein paar abgebrannte Bäume und einen zerstörten Märchenturm, wenn das reicht.“ Mittelmäßige Verzweiflung wuchs auf dem toten Gesicht. „Was läuft hier nun meine Geduld ist begrenzt.“ Selbst Uriel musste bei dem Satz des Rothaarigen spöttisch Schauben, hielt dessen daraufhin finsterem Blick mühelos stand. „Ich... also ihr werdet hier nächtigen und morgen in der Früh nehme ich einen von euch zum Mästen in den Stall.“ Nach kurzem, zögerndem Überlegen fügte sie – nicht ohne Widerstreben – hinzu: „Den Kleinsten, das kommt näher an ein Kind heran.“ Raphael glitt in einer einzigen Bewegung die drei Meter nach links zu Uriel und schien dabei durch den Tisch hindurch zu diffundieren, leider würde sie hier nichts vor einer alles einschmelzenden Feuerwalze retten, doch entweder war Michael zu überrascht oder schockiert, um überhaupt irgendwie reagieren zu können. Schließlich fragte er tödlich schneidend: „Und wie willst du das hinkriegen? So ganz ohne… Körper?“ „Nun… es steht in der Geschichte…“ „…und?“ „Und… ich muss den Jungen versklaven und das Mädchen muss putzen… das wäre der blonde Schönling dort, er käme einer Frau am Nächsten.“ „Entschuldigung?!“ Das war nun Raphaels aufgebrachte Stimme, doch Michael tat das mit einer herrischen Handbewegung ab. „Weiter?“ „Ihr müsst mitspielen!“, keimte das letzte Aufbegehren in Form von Trotz in der Alten, als der Rothaarige sich etwas mehr auf dem Stuhl zu entspannen schien und die Arme hinter dem Kopf verschränkte. „Ich muss erstmal gar nichts. Zwing mich doch. Wird schwer ohne Körper.“ Kurz überlegte er, dann setzte er nach: „Auch mit wäre es schwer.“ „Mädchen? Ich?!“ Wieder Raphael. „Aber ich muss dich gefangen nehmen!“ Dass sie verloren hatte, war ihr ohnehin schon klar. „Tja“, meinte Michael wieder und ließ nun so etwas wie ein Grinsen vermuten; im schwachen Licht des flackernden Ofens schien sich der Drache auf seiner Wange spöttisch zu winden. „Keine Arme, kein Gefangener.“ Uriel – noch relativ unbeschadet von den Ausführungen über bestimmte Personenzurodnungen – packte Raphael am Arm und zog ihn schweigend mit sich zur Tür, wobei er den Geist der alten Hexe vollkommen außer Acht ließ und in nicht zu überbietender Respektlosigkeit durch sie hindurchschritt. Der Heiler schnaufte noch einmal wütend, dann drehte er sich zu Michael um und machte diesem nonverbal klar, dass er ziemlich angefressen war und irgendwo zwischen VERTEIDIGE MEINEN STOLZ! und WEHE DIE BRENNT NUR KURZ! stecken blieb. Wenn er wenigstens eine Zigarette hätte, könnte er seinen Hass auf den Tabak projizieren und diesen in allen Arten und Unarten zerstören, aber so bezog er nur ein paar Meter vom Häuschen entfernt Stellung und wartete auf den Super Gau. Ob der Feuerengel es rein aus dramaturgischen Gründen tat oder weil es sich nicht vermeiden ließ, sei nun außer Acht gelassen: Es rumpelte, dann splitterte Holz. Ein spitzer Schrei, dann brach ein weiteres Fenster und letzten Endes erfüllte gleißendes Licht den Waldabschnitt, ausgehend von der mit einem Mal lichterloh brennenden Hütte, aus der der Brandstifter relativ zufrieden zum Vorschein kam. „Hätte nie gedacht, dass ein Geist so angsterfüllt schreien kann“, kommentierte Uriel die Szenerie recht trocken und hoffte einfach, dass nun wieder alles ins Lot kam. Auf Raphaels Gesicht zumindest zeichnete sich grimmige Genugtuung aus und er musste sich beherrschen, den potenziellen Gefangen nicht an Ort und Stelle – und vor Uriel – intensiv zu küssen. „Frau“, grollte er, schaute dann aber trotzdem nochmal an sich herab. Man weiß ja nie, das letzte Mal hing da plötzlich ein Nachthemd… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)