Dynamische Systeme von Kiryava (Wichtelgeschichte für Finicella) ================================================================================ Prolog: Punkt ------------- Als grundlegendes Element der Geometrie, verfügt der Punkt über keine Ausdehnung. Trotzdem ist er der Ursprung von allem. Es war wirklich ein Wunder, dass der Graf noch nicht an Diabetes erkrankt war. Leon ging diese Erkenntnis durch den Kopf, als er den kleinen Beistelltisch des Grafen betrachtete, der - wie immer - über und über und über mit Kuchen und Keksen und Süßigkeiten beladen war. Zwischen den Schachteln, Tellern und Platten standen, etwas verloren, drei Teetassen. Die Tasse mit dem wütenden Gesicht gehörte Leon, die bekam er immer, wenn er beim Grafen war. Und er hatte sie bisher noch nicht angerührt. Leon mochte Tee eigentlich nicht. Er hätte einiges für einen schönen, heißen und vor allem starken Kaffee gegeben, aber so etwas hatte D natürlich nicht. Seufzend stierte er seine Teetasse an. Vielleicht verwandelte sich der Tee dadurch ja in Kaffee. Zwei kleine Hände schoben sich in sein Gesichtsfeld, ergriffen die Tasse, die zwischen seiner und Graf Ds stand und entfernten sie vom Tisch. Chris, Leons kleiner Bruder und der echte, wahre und einzige Grund, warum er tagein tagaus den seltsamen Tee des Grafes trank, saß auf einem Kissen auf dem Boden. In seinem Schoß lag Pon-Chan, der kleine Waschbär, der ihn überallhin begleitete. Das Ziegenmosnter konnte Leon - glücklicherweise! - nicht sehen. Vermutlich hatte man ihn weggesperrt. Er und Leon hatten nicht das beste Verhältnis zueinander. Bei diesem Gedanken begann die Bisswunde an seinem Bein, die er von seinem letzten Treffen mit T-Chan davongetragen hatte, zu jucken. D kam gerade rechtzeitig aus der Küche, als sich die Tür des Ladens öffnete, um den Kunden mit seinem gewohnten dünnen Lächeln zu begrüßen. Leon, Chris, Pon-Chan und die anderen Tiere des Ladens schauten auf, um einen Blick auf den Neuankömmling zu erhaschen. Es handelte sich um einen hochgewachsenen Mann - größer als Leon selber! - mit kantigem Gesicht, das ihn älter erscheinen ließ, als er wirklich war. Leon schätzte ihn auf Ende dreißig. Sein Haar war schwarz und an den Schläfen etwas angegraut und obwohl er in keiner Weise muskulös oder sportlich war, hätte er attraktiv sein können. Wenn er nicht so nervös in die Gegend gestarrt hätte. Oder nein, nervös war eindeutig das falsche Wort, eher … neurotisch? Leon konnte sich nicht helfen, sein polizeilicher sechster Sinn machte sich bemerkbar. Bestimmt ein Junkie, dem D seine berüchtigten Wunderdrogen verkaufte! Nicht, dass irgendjemand schon einmal von Ds berüchtigten Wunderdrogen gehört hätte, aber Leon war überzeugt, dass sie nicht nur existierten, sondern dass D auch noch einen ansehnlichen Reibach damit machte. Denn ganz ehrlich: Wie konnte er sich ein riesiges Haus in L.A. mit dem Verkauf von Haustieren leisten? Misstrauisch kniff er die Augen zusammen, um ja kein Wort, das zwischen D und seinem Kunden - “Kunden” - gewechselt wurde, zu verpassen. “Entschuldigen Sie”, sagte der Mann. Seine Pupille zuckte nervös über Leon, Chris und die Tiere, bevor sie zu Ds zu einem Lächeln gefrorenen Gesicht zurückkehrten. “Sie … Sie haben doch geöffnet, nicht wahr?” „Aber ja”, erwiderte D freundlich. „Noch bis sechs Uhr.” „Gut... gut.” Der Mann holte tief Luft. „Ich möchte ein Tier kaufen.” „Natürlich, gern. Denken Sie dabei an etwas Bestimmtes?” „Ja, ich hatte …” Mit einer schnellen Bewegung beförderte der Kunde einen karierten Zettel aus seiner Manteltasche, entfaltete ihn und hielt ihn sich vor das Gesicht. “Ich hatte an eine Schlange gedacht. Und da habe ich mich auch bereits ein wenig schlau gemacht. Ich denke am Besten würde ein Python zu mir passen. Das sind wohl sehr ruhige Tiere. Aber die kriegt man natürlich nicht überall, deshalb hat man mir Ihren Laden empfohlen.” Der Graf strich sich ein paar Mal über das Kinn und murmelte ein paar bestätigende Worte, so als wären ihm einige wichtige Dinge eben eingefallen. Leons Augen begannen zu funkeln. Eine Schlange, natürlich! Die man nicht überall kriegt, auch klar! Schlange war natürlich ein Codewort für Ds Wunderdroge! (Wer wollte schon ernsthaft und freiwillig einen riesigen Python als Haustier?) Deshalb auch dessen umständliches Getue. Wenn er sich jetzt geschickt anstellte, konnte er D vielleicht endlich überführen! Nur schade, dass geschickt so gar nicht Leons Art war; zumindest nicht, wenn es um Graf D ging. Er hievte sich aus den Tiefen der Kissen heraus auf die Sofakante, die Ellbogen auf die Knie gestützt und beobachtete die beiden wie eine lauernde Katze. 'Großer Bruder …', hörte er auf einmal Chris' Stimme in seinem Kopf. 'Was hast du vor?’ “Das geht dich nichts an, Chris”, murmelte Leon, ohne seine Beute aus den Augen zu lassen. “Ich denke ich habe genau das Richtige für Sie”, hatte D inzwischen verkündet. “Folgen Sie mir bitte.” Mit einer einladenden Handbewegung führte er den Gast durch den Laden zu der Hintertür, aus der seine Kunden für gewöhnlich mit den seltsamsten Tieren wieder in den Verkaufsraum traten. Aber diesmal nicht! Stürmisch erhob Leon sich und folgte den beiden. „D, ich würde nur zu gerne sehen, was Sie da eigentlich -” Der Graf scheuchte seinen nervösen Kunden durch die Tür, drehte sich zu Leon um und sagte mit den freundlichsten Lächeln, das er im Repertoire hatte: “Mein lieber Detektiv. Sie wissen, dass dieser Teil des Ladens ausschließlich für Kunden ist. Sie haben dort im Moment nichts verloren.” Und damit - mit einem Knall der seine honigsüßen Worte auf bizarre Art unterstrich, schlug er Leon die Tür vor der Nase zu. „Was zum -?” Sofort packte Leon den Türgriff und zog daran, drückte, zog wieder, doch da war nichts zu machen, die Tür war verschlossen. Ganz und gar und vollständig verschlossen. „D, du kleiner, mieser Verbrecher, du wirst schon sehen, eines Tages kriege ich dich und deine zwielichtigen Spielchen und dann -” Sein Rütteln an der Tür, sein cholerisches Geschrei, seine Tritte gegen eben jene Tür, all das machte einen Höllenlärm. Doch Chris' Stimme in seinen Gedanken schaffte es problemlos, dies zu übertönen. Er spürte, wie sein Bruder ihn an der Rückseite seines T-Shirts packte und zurück zum Tisch zog (und der Waschbär hatte sich an sein Hosenbein gehängt!), während er mit leiser Sorge meinte: 'Wenn der Graf nicht will, dass du ihn begleitest, dann solltest du das akzeptieren, großer Bruder.' Sagte eben jener kleine Rotzlöffel, den Leon hunderte Male durch eben jene Tür hatte verschwinden sehen. Aber jetzt war sie verschlossen. Für ihn. Wegen ihm. Er beschloss zu schmollen. Und Ds Tee kalt werden zu lassen. Und so fanden der Graf und sein Kunde ihn auch wieder vor, als diese in den Verkaufsraum zurückkamen. Der Mann wirkte immer noch etwas nervös, was vermutlich darauf zurückzuführen war, dass er anstelle der ersehnten Schlange einen kleinen Affen mit rotgoldenem, fluffigem Fell an der Hand führte. Die beiden marschierten zur Tür, wobei der Affe energiegeladen von einem Bein auf das andere Hüpfte, sich am Ohr kratze, einen Zettel aus der Tasche des Mannes fischte, diesen dann wegwarf und ... auf dem kurzen Weg zur Tür mehr Unsinn anstellte, als Leon während seiner gesamten Zeit als Dreikäsehoch. „Vielen Dank, Graf D”, sagte der Mann, als er sich verabschiedete. Leon beneidete ihn nicht um seine neuste Errungenschaft. „Keine Ursache”, säuselte D und nippte an seinem Tee. „Geben Sie nur gut auf ihn Acht.” Kapitel 1: Parallelen --------------------- Parallelen haben eine Menge gemeinsam. Trotzdem begegnen sie sich nie. In der Wohnung von Friedrich Devaney hätte man vom Boden essen können. Sie war akkurat aufgeräumt, sauber und strukturiert, in einem Wort: Ordentlich. Immer. Wenn es Leute gegeben hätte, die ihn regelmäßig besuchten, so hätten sie zu keiner Zeit eine Veränderung in diesem Arrangement feststellen können. Zumindest war das früher der Fall gewesen. Jetzt warf Houwang gerade eine Bananenschale nach dem Mülleimer, verfehlte um Haaresbreite und traf den Drucker. Friedrich hätte sich darüber aufregen können. Im Grunde hätte er sich darüber aufregen müssen, denn selbst wenn Houwang den Mülleimer getroffen hätte, wäre es der Papiermülleimer gewesen und nicht der Kompostmüll. Und Bananenschalen gehörten nicht in den Papiermüll. Friedrich Devaney legte großen Wert auf Mülltrennung. Vorwurfsvoll sah er zu Houwang hinüber. Der kleine Kerl wippte auf einem von Friedrichs blauen Hockern, den furchtbar unbequemen, aber wundervoll symmetrischen Hockern ohne Lehne, hin und her. Seufzend stand Friedrich auf, hob die Bananenschale auf und brachte sie in die Küche. Dann nahm er aus der Obstschale eine weitere Banane (die Obstschale enthielt nichts außer Bananen), und ging in sein Arbeitszimmer, das gleichzeitig sein Schlafzimmer war, zurück. Inzwischen saß Houwang auf seinem Schreibtischstuhl und grinste. Mit der Andeutung eines milden Lächelns, warf Friedrich ihm die Banane zu und ließ sich auf sein Bett fallen. An Arbeiten war ohnehin nicht mehr zu denken. Houwang machte sich lautstark über die Banane her. Er liebte Bananen. Was kein Wunder war, denn Graf D hatte ihn Friedrich ausdrücklich als Affen verkauft. Als Affen! Klar, eine sehr seltene, spezielle Art von Affe, nicht leicht zu bekommen, beinahe ausgestorben. Aber für Friedrich sah er im Laden, und auch jetzt noch aus wie ein Junge von ungefähr zwölf Jahren. Ein Junge mit rötlichen Locken, die ihm weich und geschwungen ins Gesicht fielen und einem vollen, beinahe weiblichem Mund. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete seinen Affen (Affen!) durch die beinahe geschlossenen Lider. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass eine gewisse Ähnlichkeit zu einem Affen bestand, und damit meinte Friedrich nicht nur die Bananen. Vielmehr war es die ganze Art, wie der Junge sich bewegte, wie er auf dem Hocker hin und her zappelte, wie er sich fahrig die Wange kratzte und wie er sich am Abend glücklich lächelnd am Fußende von Friedrichs Bett zusammenrollte. Er erinnerte Friedrich an diese kleinen, pelzigen Äffchen, die er aus dem Zoo kannte. Die sich von Liane zu Liane schwangen, lachten, kreischten und sich gegenseitig durch die Baumkronen jagten. Als Kind hatte er stundenlang vor dem Gehege gestanden, das vielmehr eine tiefe, einbetonierte Grube war, in der die Tiere ihr Unwesen trieben. Sie waren so unorganisiert, so laut, so … chaotisch. Er konnte sie stundenlang betrachten und dabei jede Minute das Bedürfnis haben, den Blick verstört abzuwenden und weiterzugehen. Er, der schon damals klare Strukturen geliebt hatte. Aber das Chaos, das ihm selber so fremd war, zog ihn an. Und so stand er da mit dem wachen Blick eines Kindes und beobachtete, analysierte und versuchte ein System in diesem wilden, tobendem Tohuwabohu zu finden. Bis heute war es ihm nicht gelungen. Doch jetzt saß einer aus dieser wilden Horde bei ihm auf dem Schreibtischstuhl, den Mund voller Banane und erzählte irgendetwas über die gesellschaftliche Wichtigkeit von Bananen. Und obwohl er ihn erst zwei Tage hatte, hatte er dieses Bündel Leben bereits ins Herz geschlossen. Wie, wusste er selber nicht genau. Fest stand nur, dass er Houwang um keinen Preis wieder hergeben wollte, trotz Ungezogenheit, trotz Wildheit und trotz Chaos. Sein Blick wanderte von seinem neuen, den Schreibtisch blockierenden Gefährten über seine restliche, spartanische Einrichtung und blieb an seinem schmalen Bücherregal hängen, in dem er die Ordner mit seinen Artikeln und Forschungsarbeiten aufbewahrte. Sie waren alphabetisch sortiert und standen nebeneinander auf dem Brett. Unter dem Buchstaben V wie “Verschiedenes” hatte er am Montagabend, als er mit Houwang nach Hause gekommen war, den Vertrag eingeheftet, den Graf D ihm gegeben hatte. Darauf hatte der Besitzer des Petshops drei Bedingungen vermerkt, die den Kauf besiegeln sollten. Friedrich ging sie in Gedanken durch. Er sollte erstens darauf achten, dass Houwnag keine Flöhe bekam. Das war nicht schwer, denn er hatte nicht vor sich selber oder seinen Schützling auch nur in die Nähe von etwas zu lassen, das dreckig genug war, um Flöhe zu haben. Zweitens durfte Houwang nur frisches Obst und Gemüse bekommen; auch das war einfach zu erfüllen, schließlich war er tatsächlich (angeblich?) ein Affe und stürzte sich begierig auf alles Obst, das Friedrich ihm brachte. Und zuletzt durfte er sein neu erworbenes Haustier niemals einsperren. Das war der Punkt, der Friedrich zu Anfang Kopfzerbrechen bereitet hatte, denn er wohnte alleine und war tagsüber die meiste Zeit an der Universität. Allerdings hatte sich Houwang, trotz seiner chaotischen Neigung, als ungewöhnlich gesellschaftsfähig erwiesen. Er hatte ihn am ersten Abend - testweise - zu einem kleinen Spaziergang mit hinaus auf die Straße genommen und war überrascht über die plötzliche Ruhe seines Begleiters. Der Junge ging brav an seiner Hand, lächelte entgegenkommende Passanten spitzbübisch an und erntete nicht selten ein Lächeln im Gegenzug. Nach diesem Erlebnis hatte Friedrich es gewagt, ihn am nächsten Morgen mit in die Uni zu nehmen und auch dort hatte er sich - allen Vorbehalten zum Trotz - ausgesprochen gut betragen und sowohl bei seinen Kollegen, als auch bei den Studenten einen durchweg positiven Eindruck hinterlassen. „Wo haben Sie den kleinen Kerl denn her, Mr Devaney?” „Wie heißt er denn?” „Der ist ja wirklich lieb!” Für Friedrich, der sonst nicht nur zurückhalten, sondern geradezu scheu war, war dieser plötzliche Kontakt mit Menschen, die ihn - zugegeben - bereits sehr lange umgaben, aber mit denen er zuvor kaum mehr als das übliche Guten Morgen gewechselt hatte, etwas Neues und Ungewöhnliches. Schon immer tat er sich schwer, auf andere zuzugehen und mit ihnen ein Gespräch zu beginnen. Dass die Menschen nun auf ihn zukamen, machte die Sache einfacher und auf einmal, mit Houwang, der lachend an seinem Arm hing, fiel es ihm auch viel einfacher, sich mit ihnen zu unterhalten. Lediglich bei ihm in der Wohnung zeigte sich Houwang von einer völlig anderen Seite. Er war laut, wild und unkontrolliert. In der ersten Nacht war Friedrich von einem lauten Schlag aufgewacht, nur um sein Haustier zu sehen, das mit flinken Bewegungen seine Ordner aus dem Regal zog, diese fahrig durchblätterte und dann zur Seite warf. Als Friedrich aufgewacht war, war er gerade dabei, den Ordner, der ein großes Teilgebiet seiner Doktorarbeit abdeckte („Sharkovskii’s Theorem - Period three implies chaos”) zu “lesen” und mit einem roten Stift seine eigenen Annotationen vorzunehmen. Den Ordner und dessen Inhalt selber brauchte Friedrich eigentlich nicht mehr, denn er hatte ein gutes Gedächtnis und beschäftigte sich zur Zeit sowieso mit einem Thema, das nur lose mit diesem zusammenhing, aber Unordnung, das konnte er auf den Tod nicht ausstehen! Zumindest nicht in seiner Wohnung. Er war aufgestanden auf, hatte tief Luft geholt, um ein ernstes Wörtchen mit dem kleinen Ruhestörer zu reden, und direkt in zwei große, goldenen Kinderaugen geschaut. Die Moralpredigt blieb ihm sprichwörtlich im Hals stecken. Und so tat er nichts weiter als Houwang zu erklären, dass er es nicht gern habe, wenn man seine Sachen durcheinander brachte und dass er dies in Zukunft vermeiden solle. Währenddessen sammelte er die im Zimmer verstreuten Ordner ein und stellte sie sorgfältig zurück an ihren Platz. Houwang half sogar dabei. Er strich die Seiten glatt, reichte ihm die dicken Folianten, fragte neugierig, nach welchem System diese im Regal angeordnet seien und versprach, in Zukunft besser aufzupassen. Am nächsten Tag jedoch war Friedrichs Kleiderschrank “inspiziert” und das Unterste im wahrsten Sinne des Wortes zuoberst gekehrt worden. Chris saß auf Ds Sofa und langweilte sich. Es kam nicht oft vor, dass er sich im Petshop langweilte, denn es gab so unglaublich viel zu sehen und so viele Leute, die man treffen konnte, dass man eigentlich immer beschäftigt war. Aber heute war ein Tag, an dem einfach gar nichts passierte. Kein einziger Besucher war bisher im Laden gewesen. Die Bewohner des Ladens waren träge und zu nichts zu gebrauchen, denn es war heiß und stickig, besonders jetzt um die Mittagszeit. T-chan lag in der Ecke und döste, die Augen halb geschlossen, die Haare verwuschelt. Auf seiner Stirn glänzte Schweiß. Pon-chan hatte der Hitze ebenfalls nachgegeben und schlief zusammengerollt auf dem Sofa, den Kopf auf Chris’ Schoß. Dadurch hatte Chris nicht nur nichts zu tun, sondern auch noch stark eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten. Na toll. Genervt sah er sich im Laden um, über dem eine ungewöhnliche, erschöpfte Stille lag. Wieso schliefen die alle mitten am Tag? Gut, es war heiß, aber das war doch kein Grund ihn einfach so alleine zu lassen! Sogar D war weiß Gott wohin verschwunden! Ein paar Minuten lang beschäftigte Chris sich damit, zu versuchen, ebenfalls einzuschlafen. Aber natürlich klappte das nicht, denn je mehr er sich darauf konzentrierte, desto wacher wurde er. Am Ende war er noch wacher als zuvor. Und noch gelangweilter. Pon-chans Kopf begann langsam schwerer zu werden und Chris konnte sich nicht bewegen, ohne sie zu wecken. Leider traute er sich auch nicht, den Schlaf seiner sonst so treuen Begleiter zu stören, denn Pon-chan hatte die Angewohnheit, zu kratzen und zu beißen, wenn man sie unvermittelt aufweckte. Und das eine Mal als er T-chan aufgeschreckt hatte, war dieser wirklich böse geworden und hatte ihn angebrüllt. Chris blinzelte ein paar Mal und zog die Nase hoch, um dieses entwürdigende Erlebnis aus seinen Gedanken zu verdrängen. Ganz besonders die Tatsache, dass er damals, von T-chans Wut verschüchtert, angefangen hatte zu weinen. Das würde ihm bestimmt jetzt nicht mehr passieren, denn er war schon eine Zeit lang hier und an T-chans Wutanfälle gewöhnt, aber das hieß noch lange nicht, dass man einen solchen provozieren musste. Er hob einen Fuß und versuchte damit an den Unterteller mit ein paar Keksresten auf dem Beistelltischchen zu kommen. Vorsichtig streckte er sein Bein und angelte ebenso vorsichtig danach, streckte sich ein Stückchen, angelte, streckte sich weiter und - Die kleine Glocke am Eingang bimmelte, als die Tür aufgestoßen wurde. Chris wäre beinahe vom Sofa gefallen, so sehr hatte er sich in seiner Verrenkung angespannt. Pon-chan schreckte mit einem verwirrten Quieken auf und grub ihre Fingernägel in seinen Oberschenkel. ‚Autsch!’ Engelsgleich schwebte der Graf aus der Hintertür des Ladens auf die Besucher zu. Trotz der Hitze trug er einen weiten Kimono, der mit einem blau-weißen Muster bedeckt war, das Lilien und Wasser darstellte. Ein lautes, demonstrativ genervtes Grummeln aus der Ecke verkündete, dass auch T-Chan aufgewacht war. Während er sich den Oberschenkel rieb, breitete sich auf Chris’ Gesicht ein Grinsen aus,. Endlich war wieder etwas los! „Herzlich Willkommen in Graf Ds Laden für Haustiere”, begrüßte D seine Kunden. „Ich bin nicht der Graf selber, sondern sein Enkel. Der Graf ist mein Großvater. Er ist zur Zeit auf Reisen, deshalb vertrete ich ihn.” Die Kunden grüßten höflich zurück. Es handelte sich um eine Frau, die von einem ungefähr sechzehnjährigen Mädchen begleitet wurde; offenbar Mutter und Tochter. Zum Schutz gegen die Sonne hatten sie Hüte aufgesetzt, um die sie ein schwarzes Band gewickelt hatten. Sogar Chris konnte erkennen, dass sie zu dem reicheren Teil der Bevölkerung von Miami gehören mussten, denn ihre Kleidung machte einen sehr edlen Eindruck. Außerdem hatten beide ein besondere Haltung, so als wüssten sie genau um ihren Status. Nur das Mädchen wirkte ein wenig anders als ihre Mutter, wie eine Seiltänzerin, die für einen kurzen Moment das Gleichgewicht verloren hat, und für den Rest ihres Hochseilaktes um ihre Balance ringt. ‚Komisch’, sagte Chris zu Pon-chan. ‚Sie sind beide ganz schwarz angezogen, obwohl es doch Sommer ist. Sogar lange Hosen haben sie an!’ „Vielleicht trauern sie um jemanden?”, erwiderte sie nachdenklich. „Dann trägt man doch Schwarz, oder?” Das Mädchen hob den Kopf und schaute zu ihnen herüber. Es hatte große, dunkle Augen und einen seltsam durchdringenden Blick. Chris überkam das Bedürfnis, sich hinter dem Sofa zu verstecken. Pon-Chan zog der vermeintlichen Konkurrentin eine Grimasse und zeigte ihre spitzen Zähne. Sofort wandte das Mädchen den Blick wieder ab. „Was kann ich für Sie tun?”, wollte D in seiner samtweichen Stimme wissen. Es war die Mutter, die das Wort ergriff, während das Mädchen sich verwundert im Laden umsah. Chris konnte das gut verstehen, schließlich erwartete man in einem Laden für Haustiere richtige Tiere und nicht die Menschen, die über den ganzen Innenraum verteilt herumlungerten, lachten, aßen oder sich leise unterhielten. Außer Q-chan, der zur Abwechslung einmal nicht um den Kopf des Grafen flatterte, sondern ermattet auf seiner Schulter saß, hatte Chris noch kein einziges Tier hier gesehen. Und Q-chan war nicht mal ein richtiges Tier, zumindest keines, das man im Lexikon finden konnte. „Wir suchen einen Hund.” Normale Verkäufer hätten jetzt nach Rasse, Größe oder anderen gewünschten Eigenschaften des Tieres gefragt; nicht so D. Er musterte die beiden lediglich einige Augenblicke lang und lächelte dann dünnlippig. „Ich denke, ich habe genau das Richtige für Sie. Folgen Sie mir bitte.” Und wie gewöhnlich machte er sich auf den Weg zur Hintertür, die in die weiten Gänge mit den exotischsten Räumen hinter dem Verkaufsraum des Ladens führte. Schnell stand Chris auf, um ihnen zu folgen und sofort hatte er Pon-chan an seiner Seite. T-chan jedoch hatte den Kopf wieder auf den Boden sinken lassen und war offensichtlich erneut weggedämmert. Stumm entschieden beide, dass sie bei dieser Unternehmung auf ihn verzichten würden. Die beiden beeilten sich, dem Grafen und seiner Begleitung durch die Tür zu folgen und fanden sich dann, zusammen mit Mutter und Tochter, in dem großen Flur wieder, von dem aus man alle anderen Flure und Zimmer erreichen konnte. Angenehme Kühle und Dunkelheit umfing sie. Chris erkannte den erstaunten Ausdruck auf dem Gesicht der Frauen wieder, den er schon so oft gesehen hatte, und den auch er getragen haben musste, als er das erste Mal in den hinteren Teil des Ladens vorgedrungen war. Von außen wirkte die schmale Erscheinung der Fassade nicht so, als könne sich dahinter ein derartig riesiger Komplex befinden. „Hier entlang.” D schritt weit aus und führte die kleine Gruppe den breiten Gang hinunter. Sie passierten eine Tür, die einen Spalt weit offen stand. Weder D noch die Frau bemerkten dies, da sie in ein Gespräch über die Aufgabe des Hundes als Wachhund sprachen, doch das Mädchen blieb stehen. Einen Moment rang sie mit sich selbst, dann schaute sie in das dahinterliegende Zimmer. Auch Chris und Pon-chan waren stehengeblieben, um zu sehen, welche Erscheinung ihnen dort begegnen würde. Da wurde die Tür auf einmal weiter aufgestoßen und auf der Schwelle stand eine Frau. Sie hatte lange, weiße Haare, die sie zu einem Zopf gebunden hatte und die in langen Windungen über ihren Rücken liefen und bis auf den Boden reichten. Ihre Augen waren groß, hatten eine rötliche Farbe und in ihnen lag der Blick, den Chris schon bei so vielen Bewohners des Ladens gesehen hatte. Etwas, das anderen Menschen fehlte. Etwas Wildes, Unkontrollierbares. Der Reihe nach betrachtete die Frau sie ohne zu blinzeln, bevor ihr Blick zu dem Mädchen zurückkehrte. „Ent – entschuldigung”, stotterte das Mädchen, wobei sie einen hilfesuchenden Blick zu Chris warf. „Ich wollte Sie nicht stören. Entschuldigung.” „Das macht nichts”, erwiderte die Frau. Sie hatte eine seltsame Art zu sprechen. Die scharfen Konsonanten kamen zischend und ein wenig in die Länge gezogen hervor. Ohne dass er wusste warum, lief Chris ein Schauer über den Rücken. Hilfesuchend schaute er sich nach Pon-chan um, doch sie befand sich nicht mehr neben ihm und war auch sonst aus Chris’ unmittelbarer Umgebung verschwunden. Vermutlich war sie irgendwo in den Schatten untergetaucht. Der Flur war lang und düster und man konnte nur ein paar Meter weit sehen. Bereits jetzt war die Stimme des Grafen nur noch leise zu vernehmen, während seine Gestalt und die seiner Begleitung bereits in der Dunkelheit verschwunden waren. Sicher war Pon-chan ihnen gefolgt, auch wenn sie ihm ruhig hätte Bescheid geben können. Die raue Stimme der Frau riss ihn aus seinen Gedanken. „Wie ist dein Name?” ‚Ich bin Chris’, antwortete Chris sofort, nur um zu bemerken, dass nicht er gemeint war. Die Angesprochene schien dies selber nicht sofort zu begreifen, denn sie zögerte, druckste herum und antwortete schließlich zaghaft: „Mein ... mein Name ist Magdalena.” ‚Sie ist viel älter als ich, aber viel unsicherer’, dachte Chris erstaunt. Doch vielleicht lag es auch daran, dass Chris den Petshop bereits so gut kannte und an vieles gewöhnt war. Wäre er an seinem ersten Tag nicht Felippe begegnet, sondern dieser Frau, von der eine lähmende Kälte ausging, hätte er vermutlich auch so reagiert. Sogar Pon-chan hatte, wie es schien, die Fluch ergriffen. Oder war sie in das Zimmer der Frau geschlüpft? Unauffällig versuchte Chris an der Frau vorbei in den Raum dahinter zu schauen, doch auch dort war es sehr dunkel, sodass er nichts erkennen konnte und näher heran traute er sich nicht. „Deine Freundin ist in diese Richtung gelaufen”, ertönte die raue Stimme auf einmal wieder. Der Kopf der Frau zuckte nach vorne und deutete eine Bewegung in die Richtung an, in die der Graf verschwunden war. ‚Ähm ... vielen Dank”, erwiderte er höflich und nickte mit dem Kopf. Höflichkeit war das beste Mittel, um sich hier Ärger vom Hals zu halten. Außer man hatte es mit T-chan zu tun. „Keine Ursache.” Verwirrt blickte das Mädchen, Magdalena, von Chris zu der Frau. Sie hatte nur die Hälfte des Dialoges mitbekommen. „Wer sind Sie?”, wandte sie sich dann vorsichtig an die Frau. „Mein Name ...”, murmelte die Frau schwer und blinzelte. Oder vielmehr kniff sie ihre Augen langsam zu und öffnete sie dann ebenso langsam wieder. Chris fiel auf, dass Iris und Pupille das gesamte Auge füllten. „Mein voller Name ist Bai Suzhen, aber der Graf nennt mich Bai-chan.” Ihr Kopf wiegte in einer pendelnden Bewegung hin und her. Chris und Magdalena folgten ihr wie hypnotisiert mit den Augen. Auf einmal streckte sie die Hand aus und berührte Magdalenas Gesicht ganz leicht, so als wolle sie überprüfen, dass das Mädchen wirklich da war. „Du erinnerst mich an jemanden.” Träge kamen ihr die Worte über die Lippen und es schien, als sei sie gedanklich bereits mit etwas völlig anderem beschäftigt. „Ich weiß nicht ...” Als sei sie in eine Art Trance gefallen. „Ich habe dich den Gang hinunterkommen hören und daran, wie du deine Füße aufsetzt, habe ich gespürt, dass ich dich kenne.” Chris hatte verschreckt ein paar Schritte zurück gemacht. Die seltsam wiegenden Bewegungen der entrückten Frau waren ihm nicht geheuer. Er wünschte Pon-chan wäre hier, oder noch besser, T-chan. Magdalena hingegen schien ganz im Bann der Frau zu stehen. Mit aufgerissenen Augen starrte sie ihr ins Gesicht und schwang kaum merklich mit ihren Bewegungen mit. Urplötzlich, als hätte sie ein Zeichen vernommen, dass sonst niemand wahrnehmen konnte, brach die Frau ihre Konzentration, ließ die Hand vom Gesicht des Mädchens fallen und zog sich in einer schnellen Bewegung zurück. „Ich muss gehen. Auf Wiedersehen, Magdalena.” Chris, der stocksteif im Schatten stand, würdigte sie keines Blickes. Mit einem metallischen Klacken schloss sich die Tür. Chris und Magdalena standen alleine im Gang. Von D gab es keine Spur mehr. Nun, da die verwirrende Präsenz der Frau mit den weißen Haaren keine solche Macht mehr auf ihn ausübte, begann Chris sich zu fragen, ob er als Ds Gehilfe - gewissermaßen! - die Pflicht hatte, die Kundin zurück in den Laden zu führen. Schließlich hatte er keine Ahnung, wo der Graf sich gerade befand und sich in dem Labyrinth aus Gängen zu verlaufen, war keine besonders verlockende Vorstellung. Nachdenklich legte er die Stirn in Falten. Sollte er es vielleicht trotzdem versuchen? Aber was wenn er eine falsche Tür erwischte und sie bei einem der unangenehmeren Bewohnern des Ladens landeten? Auch Honlon konnte ein erschreckender Anblick sein, wenn man nicht wusste, dass sich drei Individuen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, einen Körper teilten. Am sichersten wäre es doch, wenn er das Mädchen einfach zurück in den Laden brachte, um dort auf die Rückkehr des Grafs zu warten. Er wollte ihr das gerade kommunizieren, als sich Magdalena bereits behutsam an ihn wandte. „Wer war diese Frau?“ ‚Ich kenne sie noch nicht“, antwortete Chris wahrheitsgetreu. ‚Eine Bewohnerin des Ladens, nehme ich an.’ Magdalena schaute ihn erwartungsvoll an. Chris schaute erwartungsvoll zurück. Einige Sekunden verstrichen. ‚Oh, Mist!’, schoss es Chris plötzlich durch den Kopf. ‚Sie kann mich nicht verstehen!’ Dadurch, dass er die meiste Zeit bei den Tieren des Ladens verbrachte und diese, genauso wie Leon und der Graf, ihn problemlos verstehen konnten, ließ ihn manchmal vergessen, dass die meisten anderen Menschen dies nicht vermochten. Er zuckte die Achseln und machte ein ratloses Gesicht. Neugierig schaute Magdalena ihn an. „Sprichst du nicht?” Kopfschütteln. „Aber du verstehst was ich sage?” Was für eine dumme Frage! Heftig nickte er. „Warst du denn schon immer stumm?” Kopfschütteln. Langsam wurde ihm dieses Frage-Antwort-Spiel etwas lästig und er deutete den Gang hinab in Richtung des Ladens, um ihre zu verstehen zu geben, dass sie besser dorthin zurückkehrten. Sie seufzte schwer, doch anstatt auf seinen Hinweis zu reagieren, lehnte sie sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand. „Ist etwas passiert, wodurch du aufgehört hast zu sprechen?” Unsicher zuckte Chris abermals die Schultern. Er konnte sich noch genau an Sam und ihre wütenden Worte erinnern, aber genau wollte er darüber nicht nachdenken. Die Zeit hier in Ds Laden hatte ihn vieles vergessen lassen und zumindest für den Moment wollte er, dass dies auch so blieb. Magdalena behielt ihre Position unverändert bei und Chris, der zu dem Schluss kam, dass er sie wohl schlecht am Ärmel durch die Gänge zerren konnte, blieb wartend neben ihr stehen. Sie wirkte auf einmal sehr traurig und müde und viel älter, als noch wenige Minuten zuvor. Auf einmal begann sie leise zu sprechen: „Wir sind hierher gekommen, weil meine kleine Schwester unbedingt einen Hund will. Einen großen, starken Hund, der sie beschützen kann. Ich glaube nicht, dass das etwas hilft. Aber ich muss mitkommen und den Hund aussuchen. So ist das immer, weißt du?” Sie schaute Chris an, als erwarte sie eine Antwort. Er versuchte sich an einem wissenden Lächeln. Anscheinend musste er überzeugend gewirkt haben, denn sie fuhr mit schwacher Stimme fort. „Seit Papa gestorben ist, hat Cecilia Angst. Cecilia ist meine kleine Schwester. Sie glaubt, dass sie ständig in Gefahr ist. Sie ist erst zehn, sie versteht glaube ich nicht wirklich, was passiert. Sie ist einfach noch zu jung.” Chris, der zehn war, konnte dem nicht zustimmen. Er selber wusste ja sehr gut, was um ihn herum passierte. Er zog ein trotziges Gesicht, das sein Missfallen ausdrücken sollte. Leider ging seine schauspielerische Ausdruckskraft verloren, weil Magdalena ihn nicht ansah. „Papa wurde … er ist … also, am Sonntag ist seine Beerdigung und Mama will unbedingt, dass wir bis dahin diesen Hund haben. Aber ich weiß wirklich nicht, was das bringen soll.” Bei „wirklich” rutschte ihre Stimme auf beunruhigende Weise nach oben, so als würde sie gleich anfangen zu weinen. Unsicher ging Chris auf sie zu. Was er tun musste, sollte sie tatsächlich anfangen zu weinen, wusste er nicht. Stattdessen hoffte er lieber inständig darauf, dass es nicht dazu kommen würde. „Ich … ich will nur, dass Papa wieder da ist.” Chris hatte ihr Gesicht genau im Auge. Weinte sie? Nein, Tränen sah er keine. Nur ihre Unterlippe zitterte ein wenig. Kurz kämpfte sie mit sich, bevor sie resolut die Nase hochzog. „Es tut mir leid, ich hätte dir das nicht -” „Chris! Chris! Da seid ihr ja!” Mit wehenden Haaren kam Pon-chan den Gang entlanggelaufen. Ihre Wangen waren gerötet vom Laufen und sie hatte ihr Kleid gerafft, damit sie nicht drauftrat. Vor Chris und Magdalena bremste sie ab, holte ein paar Mal tief Luft und verkündete dann: “D hat mich geschickt, um euch zu holen. Er sagt, ich soll das Mädchen zu ihm bringen.” Sie deutete auf Magdalena. „Du kannst auch mitkommen”, fügte sie an Chris gewandt hinzu. Er nickte und ging ein paar Schritte in ihre Richtung. Dann drehte er sich um und lächelte Magdalena auffordernd an. Zögerlich und ein wenig verwirrt löste sie sich von der Wand und folgte ihnen. ‚Warum bist du abgehauen?’, wollte Chris von Pon-chan wissen. Er war ein wenig beleidigt, dass sie ihn einfach so mit zwei völlig Fremden hatte stehen lassen. „Diese Frau war gruselig!”, erwiderte sie wie selbstverständlich. „Hast du ihre Augen gesehen. Sooo groß und durchdringend!” Um dies zu demonstrieren, riss sie ihre eigenen Augen so weit auf wie möglich und rollte sie in unterschiedliche Richtungen, sodass Chris lachen musste. ‚So gruselig war die doch gar nicht’, meinte er dann, mutiger als er sich tatsächlich gefühlt hatte. „Für dich vielleicht nicht”, brummte Pon-chan und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber ich gehe lieber auf Nummer sicher, als dass ich noch von so einer gefressen werde.” Im Sommer stand in L.A. die Hitze. Sie hing zwischen den Häusern, waberte - wie Nebel - über die Höfe und Plätze und nur der seltene Windzug, der um die Straßenecken strich, brachte Linderung. Es war früh am Morgen und trotzdem schon ziemlich heiß, als Friedrich über den Campus schritt. Ein paar Schritte vor ihm hüpfte Houwang. Offensichtlich hatte er einen Schmetterling entdeckt, dem er jetzt neugierig folgte. Ab und zu drehte er sich zu Friedrich um und lächelte oder rief ihm zu er solle sich beeilen. Dabei zeigte er seine spitzen Eckzähne, was ihm eine verschmitzte Wildheit verlieh. Die Studenten die ihnen entgegenkamen trugen allesamt Shorts oder Miniröcke. Sie unterhielten sich lachend und gaben insgesamt ein recht gutes Bild ab. Eine Schar junger Vögel auf ihrem ersten, eigenen Flug. Friedrich selber hatte - trotz der Hitze - seinen üblichen Anzug an. Damit war man zwar nicht unbedingt gut beraten, wenn man viel draußen unterwegs, war, doch um Glück waren die Hörsäle genau sein Büro klimatisiert. In Gedanken ging er seinen Arbeitsplan für heute durch, als er beinahe in Houwang hineingelaufen wäre, der urplötzlich stehengeblieben war. Der Junge hatte seinen Blick auf eine Gestalt gerichtet, die zügig auf sie zuschritt. Schlagartig verdunkelte sich Friedrichs Gesicht. Auch Houwangs Lächeln erlosch. Nervös schaute er zu Friedrich auf und huschte dann mit einer flinken Bewegung hinter ihn. Der junge Mann, der ihnen entgegenkam, trug ein weißes T-Shirt, unter dem sich seine Bauchmuskeln abzeichneten, Jeans und eine Sonnenbrille, hatte blond gefärbte Haare und einen sauber rasierten Dreitagebart. Er hätte das typische Bild eines Sunnyboys abgeben können, hätte er nicht eine schwarze Aktentasche unter dem Arm getragen, die so voll mit Büchern und Blättern war, dass sie nicht ganz schloss. Die Ecke eines karierten Blattes, auf dem Friedrich den Rand eines Koordinatensystems ausmachen konnte, guckte an einer Stelle heraus. Obwohl sie beide in derselben Fakultät beschäftigt waren, und sich ihre Forschungsgebiete auch stellenweise überschnitten, hatte Friedrich noch nicht viel Kontakt mit diesem Kollegen gehabt. Seine Indifferenz ihm gegenüber, mit denen er den meisten Menschen, die seine Arbeit betrafen, begegnete, hatte sich seit einigen Wochen in eine tiefe Abneigung gewandelt. Eine Abneigung, von der Jay Block, der jüngste und vermutlich auch beliebteste Professor an der University of California, wenig mitbekommen hatte. Und das sollte nach Möglichkeit auch so bleiben. Dabei kam Friedrich die Tatsache zugute, dass der junge Mann die meiste Zeit mit sich selber beschäftigt war und scheinbar wenig aus seinem Umfeld wahrnahm. Friedrich und Houwang waren jedoch, platziert in der Mitte des gepflasterten Weges, kaum zu übersehen und so blieb Block zwangsläufig stehen und schenkte beiden ein Lächeln, bei dem er eine menge blendend weißer Zähne zeigte. Es war nicht ganz so strahlend, wie es früher immer gewesen war, doch es hätte gereicht, dachte Friedrich, um eine Horde von Studentinnen dahinschmelzen zu lassen. „Guten Morgen, Friedrich”, begrüßte Block ihn und benutzte dabei die unter jungen Wissenschaftlern übliche Anrede mit dem Vornamen, „wie ich sehe sind Sie schon früh auf.” Er bemerkte Houwang, der sich neugierig hinter Friedrich hervorgewagt hatte und beugte sich zu ihm hinunter. „Na hallo, wen haben wir denn da?” Diese Begrüßung schien Houwang jedoch nicht zu behagen, denn sofort zog er sich wieder zurück und versteckte sich erneut hinter Friedrichs Rücken. “Das ist Houwang”, erklärte Friedrich trocken. „Er ist ein wenig scheu.” Das stimmte ganz und gar nicht, denn Houwang war Menschen gegenüber eigentlich sehr aufgeschlossen. Nur bei bestimmten Personen, das war Friedrich bereits des Öfteren aufgefallen, verhielt er sich wie eine Katze, wenn sie einen Rottweiler erblickt. Nichts konnte ihn dann aus seiner Zurückhaltung reißen, kein Locken, keine Köder, nichts. Dass gerade Jay Block, die Popularität schlechthin, zu den Personen zählte, die Houwang nicht ausstehen konnte, bereitete Friedrich ein grimmiges Vergnügen. Trotzdem konnte er nicht anders, als das unhöfliche Verhalten seines Schützlings zu verteidigen. „Mit Fremden ist er noch nicht so vertraut.“ „Das sehe ich”, lächelte Jay Block schwach richtete sich wieder auf. „Vielleicht liegt es ja an der Sonnenbrille, so etwas kann kleine Kerlchen wie ihn leicht verschrecken.” Er nahm sie ab. Offenbar konnte auch er nicht glauben, dass es jemanden gab, der ihn, den Sunnyboy vom Campus, nicht sofort ins Herz schloss. Friedrich bemerkte mit einer gewissen Anspannung, dass seine Augen gerötet waren und dunkle Ringe hatten. Houwang ließ Blocks Erscheinung ob mit oder ohne Sonnenbrille jedoch völlig kalt. Nachdem er einige Sekunden auf eine Reaktion gewartet hatte, seufzte Block darum resigniert und zuckte die Achseln. „Da kann man wohl nichts machen. Ganz wie das Herrchen, der Kleine.” Friedrich entlockte sich ein halbherziges Lächeln, das mehr einem Zähneblecken geglichen haben musste, denn Block wich - vielleicht unbewusst - zurück. „Ich mach mich dann mal wieder auf die Socken, die Studenten warten nicht gerne”, sagte er mit … war das ein Hauch von Nervosität? Friedrich kam nicht dazu, darüber nachzudenken, denn der junge Mann war bereits an ihm vorbeigerauscht, bevor er überhaupt so etwas wie ein „Ihnen auch einen schönen Tag” oder so unterbringen sollte. Er sagte es trotzdem, auch wenn er sich sicher war, dass Jay Block ihn nicht mehr hörte. Als er ein Stückchen weg war, löste Houwang sich von Friedrich, schnitt eine Fratze und hängte sich an seinen Arm. „Den Mann mag ich nicht!” Augenblicklich wurde Friedrichs Stimmung besser. „Wenn ich ehrlich sein soll, Houwang, ich mag ihn auch nicht besonders.” Große Augen. „Warum nicht?” „Warum magst du ihn denn nicht?”, wich Friedrich mit einer Gegenfrage aus. „Er sieht aus wie jemand, der eine giftige Frucht in der Tasche hat”, erklärt Houwang weise, nickte und strich sich durch den nicht vorhandenen Bart. Er sprach gerne solche Weisheiten aus, auch wenn Friedrich sich nicht ganz sicher war, ob er immer verstand, was sie bedeuteten. „Und warum magst du ihn jetzt nicht?” „Er …”, Friedrich stockte, unsicher, ob er einem Kind seine Abneigung begreiflich machen konnte. „Er ist kein guter Wissenschaftler”, sagte er schließlich. Houwang war offensichtlich nicht mit der Antwort zufrieden. „Warum nicht?” „Weil - siehst du, alle Wissenschaftler müssen Dinge erforschen, neue Dinge finden, verstehst du?” „So wie du und dein Apparat, an dem du immer arbeiten musst?” Er schmunzelte. „Apparat” war das einzige Wort, mit dem er Houwang sein derzeitiges Projekt hatte näherbringen können. „Ja, genau so.” Die Stirn des Jungen legte sich in Falten, als er darüber nachdachte. Schließlich fragte er: „Und dieser Mann hat nichts Neues erfunden?” „Genau.” „Aber warum werfen sie ihn dann nicht raus?” „Weil niemand weiß, dass er nichts erfunden hat.” „Das heißt, er tut nur so, als ob er forscht, aber in Wirklichkeit macht er gar nichts!” Vor Stolz über diese geniale Schlussfolgerung, streckte Houwang einer entgegenkommenden ältlichen Dame die Zunge raus. Hastig zog Friedrich ihn weiter. Sie betraten das Gebäude und nahmen den Aufzug in den fünften Stock, wo Friedrich sein Büro hatte. Es war kein besonders geräumiges Zimmer, aber er hatte es für sich alleine und es hatte ein vergleichsweise großes Fenster. Obwohl es langgestreckt war wie ein Schlauch (oder eine Besenkammer), passten dort ein Tisch mit mehreren Stühlen und drei große Regale mit Büchern und Akten hinein. Alles war akribisch aufgeräumt. Friedrich stellte seine Aktentasche ab, ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen, und fuhr seinen Computer hoch. Houwang hatte auf einem der beiden Stühle gegenüber seines Tisches platzgenommen, auf denen sonst immer die Studenten saßen. Mit angezogenen Beinen hockte er dort, so ruhig wie es ihm möglich war, was an normalen Maßstäben gemessen allerdings nicht besonders ruhig war. In Houwang war ständig Bewegung, und so zappelte er auch jetzt herum, fuhr sich durch die Haare, kratzte sich, tippte auf die Lehne, legte den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung, nahm ein Buch von Friedrichs Schreibtisch, blätterte es durch und legte es wieder zurück. Nur wenn er schlief, lag er völlig still da und manchmal, wenn Friedrich nachts aufwachte, hatte er Angst, der Junge wäre gestorben, so ungewöhnlich war die beinahe totale Regungslosigkeit für ihn. Anscheinend hatte Houwang die ganze Zeit über nachgedacht, was seine ungewöhnliche Ruhe erklärte, denn auf einmal hob er den Kopf und fragte mit gefurchter Stirn: „Woher weißt du, dass der Mann von eben kein richtiger Forscher ist?” Einen Moment lang verkrampften sich Friedrichs Hände, dann zwang er sich, sich zu entspannen, indem er tief durchatmete. Sollte er die Wahrheit sagen? Houwang würde es bestimmt nicht verstehen, selbst wenn er es so einfach wie möglich erklärte. Und mit der Wahrheit kamen immer unangenehme Konsequenzen. Allerdings hasste er es zu lügen. Er rieb sich die Stirn. „Ich habe es zufällig herausgefunden.” „Wie?” „Jemand … hatte den Apparat … den Jay Block - das ist der Mann von vorhin (Houwang nickte eifrig) - also, den Apparat von dem Jay Block behauptet, er habe ihn erfunden, den hatte schon jemand anderes vor ihm erfunden.” „Ooooohh.” Hounwang sah ihn mit großen Augen an. „Wer hat ihn denn wirklich erfunden?” „Ein Student.” „Und warum hat er nichts gesagt?” „Er ist nicht mehr hier”, erwiderte er und für einen kurzen Moment dachte er an dunkelbraune Locken und Sommersprossen und verschüchterte, große Augen. „Er, oder vielmehr sie, ist gegangen.” Houwang kniff die Augen zusammen, während er diese Information verarbeitete, sodass Friedrich schon glaubte, er wäre aus dem Schneider. Doch da hatte er seinen kleinen Begleiter unterschätzt. „Und warum sagst du nichts?” Der Raum, in dem D seine “Hunde” aufbewahrte (für Chris waren es keine Hunde, sondern eindeutig Menschen), war groß und weitläufig. Es gab eine Glastür nach draußen, die in einen Park mit Bäumen und großen Wiesen führte. Da D und Magdalenas Mutter sich bereits im raum befanden, stand die Tür weit offen. Als sie eintraten, versammelten sich augenblicklich alle Bewohner des Raumes um sie herum, grinsten, lachten, stupsten sich an und betrachteten die Neuankömmlinge mit großen, treuen Augen. Die meisten waren noch sehr jung, doch unter der großen Schar an Kindern und Teenagern gab es auch einige Erwachsene. Ein etwa dreißigjähriger, muskulöser Mann mit schwarzen Haaren und Bart fiel Chris sofort auf, weil er nicht so enthusiastisch wie die anderen reagierte. Er brachte auch keine Bälle oder andere Spielsachen herbei, um sie damit zum Spielen aufzufordern. „Einer dieser Hund passt bestimmt zu Ihren Vorstellungen”, sagte der Graf höflich und streichelte einem blonden Jungen mit zerwuschelten Haaren über den Kopf. Chris begrüßte einige alte Bekannte, denen er auf seinen Touren durch den Laden schon mehrfach begegnet war, während Magdalena und ihre Mutter sich aufmerksam unter den Hunden umsahen. Die meisten hatten einen freundlichen und aufgeschlossenen Gesichtsausdruck. Chris wusste, weil sie es ihm schon oft erzählt hatten, dass jeder von ihnen sich wünschte, von einem Besitzer ausgewählt zu werden. Auch wenn alle Bewohner des Petshops eindeutig Menschen waren, ähnelten diese von ihrem Auftreten her tatsächlich Hunden. Vielleicht, überlegte Chris, war das der Grund, warum der Graf sie als Hunde verkaufte. Magdalena hatte den großen Mann mit den schwarzen Haaren und den breiten Schultern entdeckt und machte ihre Mutter auf ihn aufmerksam. Sie gingen auf ihn zu und sprachen mit ihm, begutachteten ihn von allen Seiten. Erstaunt sah Chris zu, wie sich dieser Hüne von den beiden Frauen geduldig betrachten und anfassen ließ. Unbemerkt war D zu ihnen getreten. „Ich dachte mir von Anfang an, dass dieser Ihnen am besten gefallen würde”, säuselte er. „Er ist groß und sieht gefährlich aus”, bestätigte die Mutter leise und nickte, als würde sie sich an etwas Wichtiges erinnern. „Er wäre bestimmt ein guter Wachhund.” „Er ist ein ausgezeichneter Wachhund”, bestätigte D, „denn er ist dazu ausgebildet, seinen Herren zu gehorchen und sie wenn nötig zu beschützen. Außerdem scheint er sie zu mögen” Nach einem kurzen Blick zu Magdalena, nickte die Frau schließlich. „Wir nehmen ihn.” „Natürlich. Sie können ihn gleich mitnehmen.” D ging zu einem großen, hölzernen Schrank hinüber, der an der Wand stand, und holte eine Leine und ein Halsband hervor. Er band dem Mann beides um und überreichte des andere Ende der Leine Magdalena. „Sein Name ist übrigens Gwyll.“ „Hmpf, so ein Glückspilz”, hörte Chris jemanden hinter sich murmeln. „Ich wäre auch gerne in einen nette Familie gekommen!” „Ich auch! Ich auch!”, kam die Bestätigung aus vielen Kehlen. „Ich bin viel süßer als der da”, flötete ein Mädchen mit hellbraunen, lockigen Haaren pikiert. „Ich hätte viel besser zu ihnen gepasst.” ‚Aber sie wollten doch jemanden, der sie beschützen kann’, mischte Chris sich vorsichtig ein. „Wenn ich will, kann ich ganz schön zubeißen!”, verkündete das Mädchen selbstsicher und offenbarte eine Reihe spitzer Zähne. Chris grinste. Hätte er die Wahl gehabt, hätte er auch den großen Mann als Beschützer gewählt, auch wenn der ihm ein bisschen unheimlich war. Aber süß war er nicht, da konnte er den anderen von ganzem Herzen zustimmen. Von der Tür aus winkte Pon-chan ihm zu und rief. Die anderen hatten den Raum bereits verlassen. Eilig verabschiedete er sich von seinen Freunden, versprach bald wiederzukommen und lief dann zurück in den Gang. Neben der Tür wartete Pon-chan, die, wie Chris auf einmal feststellte, selten mit ihm die bewohnten Zimmer betrat. Auch von dem grimmig dreinblickenden Mann, der jetzt jedoch lammfromm hinter Magdalena herging, hielt sie einen großen Sicherheitsabstand. Chris beschloss, sie nicht darauf anzusprechen, nachdem er sie vorhin schon mit seiner Frage nach ihrem plötzlichen Verschwinden verärgert hatte. Lieber trödelte er mit ihr ein wenig hinter den anderen her und tat so, als ob ihm der große Abstand nicht auffiele. Als sie an der Tür vorbeikamen, an der sie zuvor die Frau mit den weißen Haaren gesehen hatten, fiel Pon-chan auf einmal ein, dass sie dem Grafen etwas Wichtiges sagen musste und hastig schloss sie zu den anderen auf. Chris hingegen hatte sofort gesehen, dass die Tür wieder offen stand und verlangsamte seinen Schritt. Im Vorbeigehen lugte er durch den Spalt und starrte direkt in zwei große, weit aufgerissene Augen. Erschrocken stolperte er einen Schritt zur Seite, merkte dann jedoch, dass die Augen nicht auf ihn gerichtet waren. Sie starrten hinter D mit seinen Begleitern her, die sich alle zügig in Richtung der Eingangstür entfernten. Kein Mucks, keine Bewegung war von der Frau zu vernehmen. Chris schluckte und beeilte sich nun seinerseits, um nicht alleine zurückgelassen zu werden. Er konnte Pon-chan durchaus verstehen. Diese Frau hatte etwas Kaltes an sich, dem er sich nicht erwehren konnte. Und doch zog sie ihn in seinen Bann. Genau wollte er darüber jetzt jedoch nicht nachdenken, und so lief er schneller, bis er Pon-chan erreicht hatte, die neben D ging. Als sie in den Verkaufsraum des Ladens zurückkehrten, schlug ihnen eine Wand aus heißer Luft entgegen und die Sommerhitze LAs hatte sie wieder in ihrem Griff. Chris stöhnte und wischte sich den Schweiß ab, der augenblicklich auf seiner Stirn ausgebrochen war. Die Frau unterzeichnete den Vertrag, den D mit allen seinen Kunden abschloss, nahm ihrer Tochter die Leine aus der Hand und die drei verließen den Laden. Kurz bevor sich die Tür hinter ihr schloss, drehte Magdalena sich noch einmal zu Chris um und warf ihm einen langen Blick zu. Er wusste nicht genau, was sie ihm damit sagen wollte, doch er lächelte aufmunternd zurück. Das wird schon wieder. Auch ich habe meine Mutter verloren. Du kommst bestimmt darüber hinweg. Dann fiel die Tür zu. Irgendwer hatte den Ventilator aus dem Großraum mit den zahlreichen Büros entwendet. Normalerweise stand dieses Ungetüm von einer Maschine an der Wand neben dem breiten Fenster, ratterte wie ein mittelgroßes Maschinengewehr und musste jeden Morgen mit einem kräftigen Tritt angefeuert werden. Aber wenigstens funktionierte es dann und senkte die Temperatur im Zimmer von „Finnische Sauna” auf „Backofen”. Nur heute eben nicht. Als Leon ins Büro kam, fiel ihm als erstes das fehlende Rattern auf, als nächstes die unsägliche Hitze. Hier drinnen war es genauso heiß wie draußen und mindestens doppelt so stickig. Er holte tief Luft, wie jemand der in Gefahr ist, zu ersticken, und schnauzte einen Rookie an, der gerade mit einem Stapel Akten in den Flur fliehen wollte, was mit dem Ventilator passiert sei. Der arme Kerl warf ihm einen verschreckten Blick hinter seinen dicken Brillengläsern zu und zuckte unbeholfen die Schultern – was keine gute Idee ist, wenn man einen Stapel Akten mit sich herumträgt. Die Oberste rutschte langsam herunter und löste eine wahre Kettenreaktion aus fallenden Akten aus aus. Doch Leon blieb nicht stehen, um sich das mitleiderregende Spektakel anzusehen. Er steuerte geradewegs auf Jill zu, die an ihrem Schreibtisch saß und sich die Haare raufte. „Irgendetwas Neues?” „Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Leon”, schnappte sie genervt, ohne aufzusehen. „Schön? Was soll an diesem Morgen schön sein?”, erwiderte er. Die Hitze war nicht gerade gut für das Betriebsklima. Vor allem nicht, wenn sie einen solch pikanten Fall hatten. „Wo ist der Ventilator?” „Ich hab keine Ahnung, Leon. Und jetzt lass mich in Ruhe arbeiten.” Grummelnd schlurfte er zu seinem Tisch hinüber, der Jills direkt gegenüber stand, und ließ sich mit einem tiefen Seufzer in seinen Stuhl fallen. Er schwitzte, als wäre er einen Marathon gelaufen. Aber immerhin hatte er noch keine riesigen, halbmondförmigen Schweißringe unter den Achseln, wie der Rookie, der es soeben geschafft hatte, seine Akten wieder einzusammeln. Das war allerdings nur ein schwacher Trost. Auf seinem Schreibtisch lagen die Unterlagen, die er gestern Abend hier liegengelassen hatte. Sie gaben heute genauso viele Hinweise wie gestern, nämlich keine. „Was sagt denn die Familie?”, fragte er Jill. Es war unnötig zu präzisieren, von welcher Familie er sprach, schließlich arbeiteten sie seit drei Tagen ununterbrochen an demselben Fall. Wenn der Ermordete nur nicht so wichtig gewesen wäre! Bereits vor ihnen, den leitenden Kommissaren in diesem Fall, war eine Delegation des Bürgermeisters am Tatort gewesen und hatte ihnen unmissverständlich klar gemacht, dass dieser Fall nationale, wenn nicht gar internationale Brisanz besaß. Anscheinend war Jason Yorke, so hieß das Opfer, an irgendeinem extrem wichtigen Projekt des Geheimdienstes oder Militärs beteiligt gewesen. So ganz genau hatte Leon das leider nicht herausbekommen können, denn noch besser als im Herumkommandieren, waren diese Regierungsmitarbeiter im Verschweigen wichtiger Tatsachen. So wusste er nur, dass jeder ihrer Schritte von irgendeiner Behörde überwacht wurde und dass sie sich – um die Worte seines Chefs zu gebrauchen – „auf keinen Fall einen Fehler erlauben durften”. Bei dem Gedanken an die schwulstigen Reden, die er im Zuge dieses Falls schon über sich hatte ergehen lassen müssen, verdrehte Leon die Augen. Wenn es doch wenigstens nicht auch noch so heiß wäre! „Die Familie sagt, dass Yorke ein tadelloser Bürger war, der von allen gemocht und respektiert wurde”, sagte Jill und hielt ein Familienfoto hoch. Es zeigt die Familie Yorke, Vater, Mutter und zwei Töchter, vor ihrer ansehnlichen Behausung. Alle lächelten freundlich in die Kamera. „Das sagen sie doch immer. Der muss doch Dreck am Stecken gehabt haben, sonst wäre er jetzt nicht tot”, brummte Leon. „Gar keinen Hinweis auf irgendwelche Privatfehden?” „Nein, gar nichts. Nicht mal eine wütende Exfreundin oder so. Yorke hat seine Frau wohl im ersten Collegejahr kennengelernt und seitdem sind sie zusammen. Und was dieses Zeichen, das wir neben ihm gefunden haben, betrifft: Das ist so uneindeutig, dass ich nicht mal sicher bin, ob es wirklich was mit dem Mord zu tun hat.” Jason Yorke war in einer Seitenstraße gefunden worden, die auf dem Weg von seinem Arbeitsplatz an der University of California zu seinem Haus lag. Er war die kurze Strecke meistens zu Fuß gegangen und an diesem Abend war es ihm zum Verhängnis geworden. Yorke, ein kleiner, beinahe zierlicher Mann mit sandfarbenem, langsam schütter werdendem Haar, hatte lang ausgestreckt auf dem Boden gelegen. Sein Gesicht war ganz ruhig, so als würde er nur ein Nickerchen machen, doch die zahlreichen Schussverletzungen in seiner Brust sagten etwas anderes. Spuren eines Kampfes hatte es keine gegeben, auch von der Tatwaffe fehlte jede Spur. Dabei hatten sie jeden Mülleimer im Umkreis von mehreren Meilen durchsucht. Als sie Yorke gefunden hatten, war es nach Mitternacht gewesen und erst am nächsten Morgen war Jill ein Zeichen aufgefallen, das jemand neben Yorke mit Kreide auf den Boden gemalt hatte. Es war schon etwas verschmiert und nicht gut zu erkennen, was vor allem daran lag, dass niemand so recht sagen konnte, was es darstellen sollte. Leon selbst erinnerte es an eine Stimmgabel, Jill brachte damit Diagramme in Verbindung. Im Grunde bestand die Zeichnung nur aus einer einzelnen Linie, die sich ungefähr auf der Hälfte in einem schwungvollen Bogen in zwei Enden spaltete. Das Ganze war natürlich sehr kryptisch und Leon glaubte auch nicht, dass es sie in dem Fall weiterbringen würde, aber Jill hatte es sich in den Kopf gesetzt, dieses Zeichen zu entschlüsseln. Am hektischen Zucken ihrer Augen konnte Leon sehen, dass sie schon wieder einen Text über Symbole im Internet überflog. „Vielleicht ermitteln wir auch in die völlig falsche Richtung”, meinte Leon und stützte den Kopf in die Handfläche. „Vielleicht war es doch ein Raubmord, oder-” „Ihm wurden weder Wertsachen, noch Schmuck gestohlen”, unterbrach ihn Jill. „Oder”, fuhr Leon unbeeindruckt fort, „er ist das Opfer eines Bandenkriegs geworden. Ein Kollateralschaden. Oder” (er richtete sich kerzengerade im Stuhl auf) „es hat etwas mit Drogenkartellen oder so zu tun! Hat er kürzlich ein Haustier gekauft?” Jill hob ruckartig den Kopf. „Du wirst Graf D da nicht schon wieder mit reinziehen!”, knurrte sie. „Deine Besessenheit von ihm wird langsam lächerlich.” „Es ist eindeutig, dass Morde geschehen, sobald Ds Viecher irgendwo im Spiel sind!”, wehrte sich Leon und sprang auf. „Ich werde ihm jedenfalls mal einen Besuch abstatten, vielleicht kann er uns ja über dieses Zeichen aufklären, das dich so in Beschlag nimmt.” Mit diesen Worten erhob er sich wieder, wobei einige Papiere von seinem Tisch flatterten, und steuerte auf die Tür zu. Der Gedanke daran, aus dem aufgeheizten Büro herauszukommen, hatte seine Lebensgeister geweckt. Leider stürmte in diesem Moment einer seiner Kollegen herein, puterrot im Gesicht von der Anstrengung, bei diesen Temperaturen gerannt zu sein, schnappte zweimal nach Luft und verkündete: „Sie haben noch eine Leiche gefunden!” Kapitel 2: Kreis ---------------- Dreht man auf einem Kreis, kommt man an jedem Punkt unendlich oft wieder an. Früher war es Friedrich oft passiert, dass er sich in seiner Arbeit verlor und vergaß, irgendwann nach Hause zu gehen. Dann wurde er von der späten Putzkolonne aufgescheucht, die durch die Gänge patrouillierte und Zurückgebliebene nach Hause schickte. Mit Houwang allerdings war es gar nicht so einfach, sich über längere Zeit zu konzentrieren. Er lenkte einfach zu sehr ab. In der knappen Woche seit er ihn hatte, war er keinen einzigen Abend lang länger als bis acht Uhr auf dem Campus gewesen. Heute war Samstag und eigentlich hätte er erst recht früher nach Hause gehen sollen, allerdings musste Friedrich am darauffolgenden Tag einen Zwischenbericht abgeben, an dem er kaum gearbeitet hatte. Nach einer außerplanmäßigen Veranstaltung zu seiner Vorlesung über chaotische Dynamik (eine lauthals von den Studenten verlangte Vorbereitung auf die nahende Prüfung), die um sechs Uhr abends geendet hatte, war er daher in sein Büro zurückgekehrt und hatte sich in seinen Unterlagen vergraben. Houwang, der zunächst eine Menge Lärm gemacht hatte, musste er ein paar Mal anfauchen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Jedes Mal tat es ihm hinterher leid, doch dieser Bericht musste einfach fertig werden, und je länger er über ihm brütete, desto stärker wurden seine Kopfschmerzen. Er konnte gerade absolut keine Unruhe ertragen. Inzwischen war Houwang auf einem der Sessel eingeschlafen, den Kopf umständlich auf die Arme gebettet. Sein Mund stand ein wenig offen, während er tiefe Atemzüge machte. Trotz dem friedvollen Bild, das sich ihm bot, konnte Friedrich sich nicht konzentrieren. Minutenlang starrte er auf seinen Bildschirm und die paar Zeilen, die er bereits geschrieben hatte, ohne dass ihm etwas einfiel, das er hinzufügen konnte. Dann wieder überkam ihn eine wahre Schreibwut und er hackte mit rasenden Fingern etwas in die Maschine. Wenn er sich den Text dann Minuten später noch einmal durchlas, kam er ihm nicht im Mindesten bekannt vor. Sein Kopf schmerzte. Er wollte aufstehen und herumlaufen, aber er musste diesen Bericht schreiben. Seine Augen zuckten zu Houwang und dann hinüber zum Bücherregal. Seine rechte Hand hielt die Maus umklammert. Der Cursor blinkte. Und sein Kopf schmerzte. Mit Daumen und Zeigefinger massierte er sich die Schläfen, doch das half nichts. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es bereits nach neun war. Seit drei Stunden saß er schon hier und hatte es auf nicht mehr als eine Seite gebracht. Neben dem Schreibtisch lagen seine Notizen, die ihm allerdings nicht viel nützten. Nichts davon konnte er in den Bericht einbauen. Aber er musste fertig werden. Von Zeit zu Zeit nickte er ein. Nicht, dass er das mitbekommen hätte, doch er schien manchmal aus einer Schlafphase aufzuschrecken, an die er sich im Nachhinein nicht erinnern konnte. Diesen Zustand kannte er bereits von sich. Eigentlich hatte er gehofft, dass es mit Houwang besser werden würde. Letzte Woche, kurz bevor er in Ds Laden gewesen war, war es wieder besonders schlimm gewesen. Er hatte sich schon ernsthaft Sorgen um seinen geistigen Zustand gemacht. Doch dann war mit Houwang alles einfacher geworden und die Kopfschmerzen waren verschwunden. Zumindest bis heute. Der Junge holte tief Luft, veränderte seinen Position ein wenig und schlief ruhig weiter. Unter Friedrichs Haut krabbelten Ameisen. Die Klimaanlage summte verzweifelt gegen die Hitze an. Es war halb zehn. Wieso verging die Zeit so schnell? Halbherzig tippte er ein paar Wörter, hielt inne, überlegte und löschte sie wieder. Dann wartete er und starrte ins Leere. Dachte nach. Dabei musste er wohl ein weiteres Mal eingenickt sein, denn als er wieder zu Bewusstsein kam, ging es bereits auf Mitternacht zu und Houwang war aufgewacht. Er saß er im Schneidersitz auf dem Stuhl und starrte ihn besorgt an. „Alles in Ordnung”, murmelte er. Es sollte beruhigend klingen, doch tatsächlich machte es seine Müdigkeit nur noch deutlicher. Der Schmerz in seinem Kopf hatte inzwischen einen neuen Höchstwert erreicht. Auf dem Bildschirm verschwammen die Buchstaben. Mühevoll schaltete er den Computer ab und erhob sich. „Ich glaube kaum, dass das noch einen Sinn hat. Lass uns nach Hause gehen.” Bereitwillig hüpfte Houwang von seinem Stuhl und hängte sich an Friedrichs Arm. „Ich dachte schon du wirst nie mehr fertig!” Friedrich lächelte gequält. „Du warst heute sehr geduldig mit mir, vielen Dank dafür.” „Das ist schon okay, du musstest ja schließlich arbeiten.” Dabei klang Houwang so, als sei es selbstverständlich für ihn, ruhig zu sein, wenn andere arbeiten mussten. Friedrich stopfte wahllos ein paar Unterlagen in seine Aktentasche. Dabei achtete er darauf, dass er nichts in das mittlere Fach steckte. Das war eine Angewohnheit von ihm, auf die er genauso penibel achtete, wie auf die alphabetische Ordnung der Bücher in seinen Regalen. Wie gewohnt wirkte das Gewicht der Tasche beruhigend auf ihn. Vielleicht würde ein kurzer Fußweg ihm gut tun und er konnte zuhause doch noch den Bericht beenden. Vielleicht würde das auch sein Kopfweh verbannen. Er wandte sich um, um zu überprüfen, ob er etwas Wichtiges vergessen hatte. Auf seinem Schreibtisch befand sich neuerdings eine mit Obst gefüllte Schale. Sie befand sich dort erst, seit Houwang da war und obwohl Friedrich jeden Morgen neue Früchte mitbrachte, schien sie sich ganz von selber zu füllen. Viele seiner Kollegen und Studenten hatten Gefallen an Houwang gefunden und brachten ihm häufig etwas mit. Ganz zuoberst lagen heute sechs oder sieben Feigen, die Jane Parton, eine rundliche Kollegin aus dem Büro schräg gegenüber, mitgebracht hatte. Wie Friedrich selbst, beschäftigte auch sie sich mit numerischer Berechnung von dynamischen Systemen. Im Moment arbeitete sie an ihrer Dissertation und offensichtlich daran, Houwang mit essbaren Dingen zu versorgen. Bevor sie gingen, huschte er zu der Schale hinüber, um sich eine Handvoll dieser Feigen zu greifen. Fast sofort war er wieder an Friedrichs Seite und machte sich über seine Beute her. Vor seinem Büro war der Flur dunkel und nur von den Nachtleuchten erhellt. Nach zehn Uhr ersetzten diese die grelle Neonbeleuchtung, die die Gänge sonst zierte. Sie machten sich den Gang hinunter auf den Weg, doch diesmal ging Friedrich am Aufzug vorbei. Müdigkeit lag bleiern auf seinen Gliedern und sein Kopf fühlte sich nach wie vor an, als würde eine sich ausdehnende Bleikugel von innen gegen seine Schädeldecke pressen. Ein bisschen Bewegung würde ihm sicher gut tun. Eine Hand auf dem Geländer, stieg er die schmale Treppe hinunter, die neben dem Aufzug in den zweiten Stock führte. Vom unteren Treppenhaus dröhnte Staubsaugerlärm nach oben, welcher das vorherrschende Summen der Klimaanlage übertönte. Sonst war nichts zu hören. Ein Blick zwischen den Treppengeländern hindurch, hinunter in den ersten Stock, verriet Friedrich, dass die Putzkolonne sich dort gerade zu schaffen machte. Nach kurzen Zögern entschied er, dass er zu dieser späten Stunde lieber niemandem mehr begegnen wollte und bog stattdessen nach links in einen anderen Flur ab. An dessen Ende befand sich eine weitere Treppe, die ebenfalls hinunter in die Eingangshalle führte. Inzwischen hatten seine Augen sich an die Düsternis gewöhnt und er sah um einiges deutlicher. Unter einer Tür, ungefähr in der Mitte des Ganges, drang Licht hervor. Im Vorbeigehen erhaschte Friedrich einen Blick auf das Schild an der Tür uns blieb abrupt stehen. Houwang, immer noch mit seinen Feigen beschäftigt, lief einige Schritte weiter, bevor er bemerkte, dass Friedrich nicht mehr neben ihm ging. Gemächlich kehrte er zurück. „Was ist los?” Die Stimme des Jungens klang ein wenig verloren im großen Klangkörper des Flures. Fast als würde sie von der Dunkelheit erstickt werden. Friedrich achtete nicht auf ihn, sondern starrte weiterhin das Schild an. Dann, ohne dass er sich erklären konnte, warum, klopfte er. Gemurmel im Inneren, ein Stuhl wurde zur Seite geschoben. Ein dumpfer Laut, gefolgt von einem Fluch. Schließlich öffnete sich die Tür und Jay Block stand im Rahmen, hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Bein und fragte unwirsch: „Was ist los?” Friedrich konnte hinter Block in das warm erleuchtete Büro sehen. Die Fenster an der gegenüberliegenden Wand waren geöffnet, um die kühle Nachtluft hineinzulassen. Allerdings hatte man sich nicht die Mühe gemacht, die Jalousien hochzuziehen, die tagsüber vor der Hitze der Sonneneinstrahlung schützten. Das Büro sah fast genau so aus wie das von Friedrich, nur war es weniger in die Länge gezogen. Der gleiche Tisch und die gleichen Stühle füllten den Raum. Trotzdem war dieses Büro viel persönlicher als seines. An den Wänden hingen Fotos und das Zertifikat, das Block als Doktor der Mathematik auswies. In der Ecke stand ein Ficus Benjamini, der dringend mal Wasser nötig hatte. Die Regale waren nur zur Hälfte voll mit Akten, den restlichen Platz nahmen Figuren, weitere Bilder und Modelle ein. Offenbar hatte Block ihn erkannt, denn er sagte mit einem missglückten Lächeln: „Oh, hey, Friedrich, Sie arbeiten auch noch so spät.” Dann ließ er sein Bein los, verlagerte sein Gewicht und lehnte sich in einem mitleiderregenden Versuch, gelassen zu wirken, gegen den Türrahmen. Blocks Atem roch nach Alkohol und der halbleeren Flasche auf dem Schreibtisch nach zu schließen war das auch keine Einbildung. Seine Augen waren gerötet und die Schatten darunter kamen Friedrich noch dunkler vor, als am heutigen Morgen. Bei diesem Gedanken sah er sich nach Houwang um, der nicht mehr hinter ihm stand, sondern sich in eine Türöffnung in der Wand gegenüber gedrückt hatte. Beinahe vorwurfsvoll starrte er Friedrich an. „Ja .. ähm”, wandte er sich an Block und zermarterte sich das Hirn nach einer Rechtfertigung für sein Auftauchen, was nicht leicht war, denn er wusste ja selber nicht genau, warum er hier war. „Ich hab Licht gesehen und dachte … dass …” Mitten im Satz brach er ab und schaute sich hilflos um. Wieder fiel sein Blick in das Büro. Diesmal konnte er, da Block links im Türrahmen lehnte, in die rechte Hälfte des Zimmers schauen. Dort stand auf drei Füßen ein Whiteboard. Seine rechte Hand zuckte und sein Kopfweh wandelte sich zu einem bedrohlichen Rauschen, direkt hinter seiner Stirn. Jemand - vermutlich Block selber - hatte den Ansatz eines Baumdiagramms auf die Tafel gemalt. Leider war es nicht irgendein Diagramm. Friedrich kannte diese Zeichnung nur zu gut. Einen kurzen Moment wurde es schwarz um ihn her, doch sofort fing er sich wieder, biss die Zähne zusammen und brachte so etwas wie ein Lächeln zustande. Seine Stimme klang fest und selbstsicher, während die Worte aus ihm heraus drängten. „Eigentlich wollte ich nur noch einmal sagen, wie leid mir das tut, was mit Jason Yorke geschehen ist. Ich weiß, Sie standen sich nahe und ich sehe, wie sehr es Sie mitnimmt, deshalb wollte ich Ihnen einfach nur mein Beileid aussprechen.” Falls Block merkte, wie viel ruhiger Friedrichs Stimme auf einmal klang, schien es ihn nicht weiter zu beschäftigen. „Das ist … nett von Ihnen”, sagte er schleppend. „Das hätte ich ehrlich gesagt … gar nicht von Ihnen erwartet, Friedrich. Sie sind also … doch nicht so übel.” Zwischen den Satzabschnitten musste er sich immer wieder sammeln und über seine nächsten Worte nachdenken. Offenbar war er ziemlich betrunken. Friedrich machte einen Schritt auf ihn zu. “Sie haben zusammen an diesem Projekt gearbeitet, wie hieß das noch gleich?” „Projekt …?” Blocks Gesicht zerkrumpelte, als er den Eindruck eines plötzlich aufgeschlossenen Friedrichs und die intellektuelle Herausforderung seiner Frage gleichzeitig zu verarbeiten suchte. „Projekt, ja … wir haben viel zusammengearbeitet. Er war 'ne Art … Mentor für mich. Genau, ein Mentor! Eine Schande, dass er so sterben musste!” „Das sehe ich ganz genau so”, erwiderte Friedrich kühl, während er mit einer Hand im mittleren Fach seiner Aktentasche fischte. Er merkte gar nicht, dass Houwang sich von hinten genähert hatte und ihn jetzt verstört anblickte. Irgendetwas hatte sich in seinem Verhalten grundlegend geändert, als stünde ein anderer Mensch vor ihnen. Zaghaft streckte Houwang die Hand aus, um Friedrich hinten am Anzug zu fassen, doch da machte dieser bereits einen weiteren Schritt in das Büro hinein. „Ihr Projekt über die Auswirkung und die Berechnung von unvorhersehbarer Ereignisse .. wie haben Sie das noch so schön genannt? Decoding the chaos butterfly? Wirklich ein schöner Titel, das hat mir immer ganz besonders gefallen. Wie sind Sie eigentlich auf dieses Thema gekommen?” „Ich .. ich weiß nicht, was Sie meinen!” In Blocks Augen schwamm jetzt eine Spur Panik. Man konnte deutlich sehen, wie er versuchte, sich zu beruhigen, wie er versuchte, diese für ihn unverständlichen Worte auf den Alkohol zu schieben. „Ich muss jetzt aber nach Hause. Meine ... mein … man wartet auf mich.” „Einen Moment noch.” Friedrich zog seine Hand aus der Tasche. Sie hielt eine Pistole. Block fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Polternd machte er zwei Schritte rückwärts, doch eine winzige Bewegung Friedrichs ließ ihn augenblicklich zur Salzsäule erstarren. Lediglich seine Augen blinzelten, als könne er nicht fassen, war sich da vor seinen Augen abspielte. Und seine Hände hatten begonnen zu zittern. Gelassen deutete Friedrich hinüber zu dem Whiteboard. „Eine sehr hübsche Zeichnung haben Sie da gemacht. Natürlich stark vereinfacht, wie -” In diesem Moment drängte sich Houwang zwischen Friedrichs Beinen hindurch, das junge Gesicht offen und voller Angst. „Was machst du denn da? Hör auf damit!” Sein Atem ging rasend. „Tu ihm nicht weh!” Mit diesen Worten stellte er sich vor Block in einem rührenden und auf bizarre Weise szenischen Versuch, ihn zu schützen. Dann ging alles ganz schnell. Block versuchte sich umzudrehen und hinter dem Schreibtisch in Deckung zu gehen. Friedrich jedoch ließ die Tasche, die er unter dem linken Arm hielt, fallen und griff mit der nun freigewordenen Hand nach Houwang. Zuerst bekam er nur den Kragen seines T-Shirts zu fassen und ein kurzes, reißendes Geräusch ertönte. Dann jedoch packte er ihn richtig und stieß ihn aus dem Weg. Er stolperte gegen eines der Regale, ließ seine letzte Feige fallen und fiel zu Boden. Bevor der Junge auf dem Boden aufkam, hatte Friedrich Block, der nicht schnell genug gewesen war, bereits zwei Kugeln in die Brust gejagt. Mit einem krächzenden Röcheln kippte der junge Mann nach hinten, schlug auf der Schreibtischkante auf rutschte nach unten. Wie so oft bei Leichen, trug auch diese hier einen Ausdruck ungläubigen Erstaunens. Erstaunen über den plötzlichen Tod, über die wahren Absichten des Mörders oder die plötzlichen, kaum vorstellbaren Schmerzen, nahm Leon an. Mit Sicherheit konnte er das natürlich nicht sagen, denn ermordet zu werden war noch kein Teil seines Erfahrungsschatzes. Der junge Mann lag auf dem Boden seines Büros, die Augen weit aufgerissen und den Mund wie zu einem stummen Schrei erstarrt. Er mochte zu Lebzeiten sehr gut ausgesehen haben, doch jetzt, mit diesem Gesichtsausdruck und mit dieser seltsamen Starre, die Tote so unheimlich machte, war diese Schönheit lediglich noch zu erahnen. „Jay Block, 31 Jahre, Professor für Mathematik an der University of California, Los Angeles”, las ein Polizeibeamter, den Leon nicht kannte, von seinem Handy ab. Zwei Schusswunden klafften rot und nass in seiner Brust. Das weiße Hemd, das er trug, hatte sich vollgesogen und klebte triefend an seinem Oberkörper, sodass Leon die Bauchmuskeln darunter sehen konnte. „Ermordet in seinem eigenen Büro”, murmelte Jill und ließ ihren Blick über den Innenraum schweifen. Der Tür gegenüber befand sich ein großes Fenster, allerdings hatte jemand die Jalousien heruntergelassen, sodass man nicht hinaussehen konnte. Vermutlich wegen der Hitze am Nachmittag, doch leider hatte dies auch einen unbemerkten Mord ermöglichen können. Ein großer Schreibtisch mit einem Computer und Ordnern nahm einen Großteil des Raumes ein. Links der Tür befand sich ein Waschbecken, darüber ein blank polierter Spiegel. An den Wänden hingen Fotos und Urkunden. Und auf dem Teppich lag ein junger Mann in seinem Blut. „Die Putzfrau hat ihn gefunden”, erklärte der Polizist, der vorhin bereits die Daten vorgelesen hatte. „Sie hat sofort die Polizei gerufen.” „Wo ist die Putzfrau jetzt?”, wollte Jill wissen. „Sie wird gerade auf dem Revier vernommen. Aber sie hat bereits am Tatort ausgesagt, dass sie nichts gehört oder gesehen haben will. Sie kam auf ihrem letzten Rundgang nochmal hier vorbei und fand das hier vor” – er gestikulierte in Richtung der Leiche – „Das war gegen halb eins.” „Wieso sind Sie sich so sicher, dass die Morde in Verbindung stehen?“, hakte Jill nach. „Es könnte doch einfach nur ein Zufall sein.“ „Möglich, aber unwahrscheinlich“, erwiderte der Polizist. „Der Gerichtsmediziner hat uns bereits bestätigt, dass beide Kugeln aus derselben Waffe abgefeuert wurden. Außerdem sind sie Kollegen, die auch noch relativ viel miteinander zu tun hatten. Wir vermuten, dass der Mörder aus demselben Umfeld stammt, wie die beiden.“ „Wir haben bereits eine Liste von Yorkes Kollegen erstellt“, meinte Jill. „Wir werden sie um Blocks Kollegen erweitern, vermutlich wird es viele Überschneidungen geben. Mal sehen, ob uns einer besonders ins Auge fällt.“ „Er muss seinen Mörder gekannt haben”, meinte Leon zustimmend und kratzte sich am Kinn. „Ich nehme an jemand hat geklopft, er geht hin um zu öffnen” – er drehte sich um und tat so, als wolle er zur Tür hinaustreten – „der Mörder kommt rein, sie streiten sich und er erschießt ihn.” Seine Version der Ereignisse illustrierte er mit einer schauspielerischen Darstellung des Tathergangs. „Der Mörder könnte ihn doch auch hier hereingebracht haben, um ihn dann so zu drapieren”, schlug Jill vor. Kopfschüttelnd deutete Leon auf den weißen Teppichboden. „Das würde man sehen. Nein, er muss hier gestorben sein, nirgendwo sonst ist Blut.” Mit prüfender Miene beugte seine Kollegin sich über die Leiche, sodass Leon zunächst glaubte, sie versuche seinen Theorie zu widerlegen. Nachdem sie Jay Block eingehend betrachtet hatte, hob sie mit enttäuschter Miene den Kopf, hob an etwas zu sagen und stockte dann. „Sieh mal!”, keuchte sie leise und deutete auf etwas hinter Leon. Dort stand auf einer Art Stativ ein Whiteboard, wie er es von verrückten Wissenschaftlern aus Fernsehserien kannte. Darauf hatte jemand dasselbe Zeichen von der ersten Leiche gemalt, nur dass sich die beiden ersten Verzweigungen ein weiteres Mal aufspalteten, sodass es jetzt vier Enden gab. Jill machte einen großen Schritt über die Leiche und besah sich die Zeichnung genauer. „Das ist eindeutig eine Art Diagramm. Sowas Ähnliches mussten wir in der Schule auch oft zeichnen, ich frage mich ...” Sie blickte nach unten. „Nein, den Stift hat der Mörder mitgenommen. Schade, sonst hätten wir vielleicht ein paar Fingerabdrücke gehabt.” „Die Zeichnung ist uns auch aufgefallen”, erklärte der Beamte mit dem Handy. „Alle Stifte, die beim Whiteboard lagen, haben wir bereits der Gerichtsmedizin übergeben.” „Sehr gut! So kommen wir dem Täter vielleicht auf die Schliche!” Voller Freude darüber, dass ihr Lieblingsindiz den entscheidenden Hinweis liefern konnte, strahlte Jill Leon an. Der war aber nicht gewillt zuzugeben, dass sie damit, der Zeichnung solche Wichtigkeit beizumessen, vermutlich Recht gehabt hatte. „Wie steht dieser Mann hier mit dem ersten Opfer in Verbindung?”, fragte er etwas abweisend. „Sie waren Kollegen. Yorke war ja ebenfalls Professor der Mathematik. Und sie haben zusammen an Projekten gearbeitet.” „Ich brauche eine Liste dieser Projekte”, verlangte Jill sofort und rieb sich die Hände. „Und eine Liste all ihrer Kollegen. Einer von denen ist vermutlich der Mörder.” Leon ging hinüber zu dem Whiteboard, um sich dann doch noch einmal die Zeichnung genauer anzusehen. Er sah nicht mehr als ein flüchtig mit grünem Stift hingekritzeltes Bild und hätten sie nicht eine ähnliche Zeichnung neben der ersten Leiche gefunden, wäre es Leon vermutlich nicht als besonders aufgefallen. Nun jedoch musste sogar er zugeben, dass es ein seltsamer Zufall war. „Jill, sag mal, was für ein Diagramm soll das genau sein?“, fragte er, wobei er sich zu seiner Kollegin umwandte. Dabei spürte er etwas Weiches unter seinem Fuß zerplatzen. Entsetzt sprang er zurück (und unter Umständen könnte er auch einen winzigen Schrei ausgestoßen haben), denn weiche, zerplatzende Dinge in der Nähe von Leichen waren selten ein Anblick für schwache Nerven. Doch auf dem Boden lagen nur die traurigen Überreste einer Feige, die zwar ebenfalls rot, aber unverkennbar anders gefärbt waren, als das Blut des jungen Wissenschaftlers. „Was hast du da?“, erkundigte sich Jill, von seiner plötzlichen Bewegung aufgeschreckt. „Wer hat seine Feige hier fallenlassen?“, knurrte Leon zur Antwort die Umstehenden an. „Sowas ist wirklich nicht lustig.“ Mit Kennerblick beugte sich Jill über die Feige, und wandte sich ihm dann mit Mörderblick zu. „Leon, du Idiot, du hast gerade ein Indiz zerstört!“ „Wie bitte? Das ist doch kein Indiz, das ist eine doofe Feige!“ „Das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Indiz, wie sonst sollte –“ Doch der Rest der Schimpftirade wurde von der Ankunft eines weiß gekleideten Mannes unterbrochen, der den Flur hinaufgekommen war und jetzt mit einem Plastiktütchen in der Hand in der Tür stand. Offensichtlich ein Gerichtsmediziner. Dankbar warf Leon seinem Retter einen erleichterten Block zu. „Die Haare die wir hier gefunden haben, sind eindeutig tierischen Ursprungs”, erklärte der Gerichtsmediziner und schüttelte die Tüte, als wolle er sie dazu bringen, dies zu bestätigen. „Eine Art Affe, nehme ich an.” Feige und Zeichnung waren vergessen. Wie eine Katze sprang Leon auf den erschrockenen Mann zu, riss ihm die Tüte aus der Hand und hielt sie ins Licht. Eindeutig ein Büschel Haare von orangener Farbe. Sofort schoss ihm das Bild des Mannes durch den Kopf, der mit einem kleinen, kupferfarbenen Affen an der Hand unterwegs war. „D!”, knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Na warte, diesmal krieg ich dich!” Es kam nicht oft vor, dass der Graf seinen Laden verließ, und wenn er es tat, dann nahm er Chris meistens mit. Heute jedoch hatte er ihm einen Tee gemacht, Kekse hingestellt und Chris gesagt, er solle auf den Laden aufpassen, denn er habe etwas Wichtiges zu erledigen. Was auch immer der Graf vorhatte, es musste aufregendes sein, zumindest aufregendere, als hier im Laden zu sitzen und nichts zu tun. D hatte ihm zum Abschied noch ein Buch gegeben, mit dem Chris sich die Zeit vertreiben sollte, doch es war auf Chinesisch und das konnte er natürlich nicht lesen. Außerdem waren Bücher sowieso nicht wirklich interessant. Am Anfang hatte er noch gedacht, er müsse Kunden empfangen - eine Vorstellung, die ihm einerseits Angst einjagte, andererseits aber etwas Spannendes hatte, doch das Schild am Eingang war - wie Pon-chan und er recht schnell bemerkten, auf „CLOSED“ gestellt. „Mach dir nichts draus”, hatte sie versucht ihn zu besänftigen, „der Graf macht sich nur Sorgen um dich.” „Außerdem könntest du doch mit den Kunden, die hier reinkommen, sowieso nicht reden.” T-chan war nicht die beste Gesellschaft, wenn man aufgeheitert werden wollte. Und Aufheiterung hatte Chris jetzt bitter nötig. Er war auf den Verkaufstresen geklettert (nur weil er das sonst nicht durfte) und schmollte. Alle behandelten ihn wie ein kleines Kind! Leon hatte sich seit drei Tagen schon nicht mehr wirklich blicken lassen, weil er an einem unglaublich wichtigen Fall arbeitete. Gut, er hatte sich schon blicken lassen, aber nie länger als eine halbe Stunde, dann war er sofort wieder aufgesprungen und aus dem Laden gestürzt. Chris hätte gerne gewusst, worum es in dem Fall ging, doch Leon hatte anscheinend weder Zeit noch Lust ihm, seinem einzigen kleinen Bruder, etwas darüber zu erzählen. Nur dass es um einen Mordfall an irgendeiner halbwegs wichtigen Persönlichkeit ging, hatte Chris aufschnappen können. Das Entscheidende war aber doch, dass er ihm nicht vertraute und ihn nie bei irgendetwas dabeihaben wollte! Er hatte schon so viel erlebt und sich mehrfach als tapfer genug erwiesen, dass man ihm doch wohl mit solchen Informationen trauen konnte! Und der Graf war auch nicht besser, denn der ließ ihn einfach so alleine und ging seinen geheimen Aktivitäten nach, sodass er jetzt hier völlig auf sich selbst gestellt war. Seine Füße, die aufgrund der Höhe des Tresens einen guten halben Meter über dem Boden baumelten, schlugen rhythmisch gegen das Holz. „Mach doch nicht so einen Krach!”, schimpfte T-chan. Na toll! Sogar seine Freunde verrieten ihn! ‚Mir ist langweilig’, murrte Chris. „Dann geh doch raus”, erwiderte T-chan, der unter der Hitze, die seit Tagen in LA herrschte, ziemlich zu leiden hatte und entsprechend gereizt war. Ohne zu antworten, verzog Chris das Gesicht noch mehr. Er durfte nicht raus, und er wusste, dass er sowohl Leon als auch dem Grafen vermutlich kaum besser eins auswischen konnte, als wenn er einfach so verschwand. Das einzige Problem war nur, dass er nicht hinaus wollte. Er war in einem kleinen Dorf aufgewachsen und auch wenn er es niemals zugeben würde, machte ihm die Stadt ein wenig Angst. T-chan spürte das vermutlich, und zog er ihn bestimmten Momenten gerne damit auf. So wie jetzt. Pon-chan, die von den Keksen des Grafen genascht hatte, versuchte das Thema zu wechseln. „Wir könnten irgendetwas spielen”, schlug sie halbherzig vor. Entschieden schüttelte Chris den Kopf. Er hatte beschlossen, heute keinen Spaß zu haben und wenn Leon und D nach Hause kamen, würden sie ihn genau so vorfinden und hoffentlich bereuen, dass sie ihn ständig alleine ließen! Wütend blies er die Backen auf und verschränkte die Arme vor der Brust. In dieser Position hatte er vielleicht drei oder vier Minuten ausgeharrt, als sich plötzlich die Hintertür öffnete. Ein kühler Schwall Luft, begleitet von dem süßlichen Geruch des Weihrauchs, den D gerne entzündete, strömte in den Laden. Alle wandten sich um. Soweit Chris sich erinnern konnte, war es noch nie vorgekommen, dass ein Bewohner der hinteren Anlage die Tür von innen geöffnet hatte. Mit einer gleitenden Bewegung schob sich eine Gestalt ins Zimmer, bei deren Anblick mehrere Bewohner - Pon-chan eingeschlossen - aufsprangen und sich in die Küche oder hinter den Schrank verzogen. Pon-chan suchte bei T-chan Zuflucht, der den Neuankömmling mit kühlem Blick musterte. Auch Chris hatte sie sofort erkannt: Es handelte sich um die Frau, der er damals zusammen mit Magdalena in einem der Flure begegnet war. Wie war ihr Name noch gewesen? Irgendwas mit B … Bea? Ban? „Bai Suzhen.” T-chan hatte sich zu seiner vollen Größe aufgebaut und musterte sie unverhohlen feindselig. Oder war das eine Spur Furcht, die da in seinen gelben Augen blitzte? „Bai-chan reicht vollkommen”, lächelte sie höflich und sah sich aufmerksam im Laden um. „Ist D nicht da?” Chris, der sich irgendwie doch wie Ds Stellvertreter fühlte, schüttelte den Kopf und antwortete: ‚Er muss etwas erledigen.’ Sofort richteten Bai-chans blanke Augen sich auf ihn und fixierten ihn aufmerksam. „Du warst damals mit dem Mädchen da.” ‚Ja. Ich bin Chris. Ich wohne hier.’ Dass sie ihn damals einfach ignoriert hatte, nagte doch ein wenig an ihm. Aber immerhin konnte sie sich an ihn erinnern. „Hmm.” Sie kniff die Augen zu einen Spalt zusammen. „Du bist nicht wie wir.” „Was willst du?”, fragte T-chan, bevor Chris etwas darauf erwidern konnte. „Der Graf wird gleich wieder da sein und er mag es nicht, wenn wir unsere Behausungen verlassen.” „Du bist immer so feindselig, Tetsu”, sagte Bai Suzhen langsam, wobei sie das S in „Tetsu” ungewöhnlich lang zog. „Ich tu dir doch nichts. Außerdem brauchst du dir keine Sorgen machen, ich werde euch jetzt nämlich ohnehin verlassen.” Elegant glitt sie in Richtung der Eingangstür. Chris warf T-chan einen alarmierten Blick zu und rutschte hastig vom Tresen hinunter. Mit einem dumpfen Plumps landete er auf dem Boden und hatte die Frau mit den weißen Haaren nach ein paar Schritten eingeholt. ‚Moment!’, rief er und kam vor ihr zum Stehen. ‚Du kannst nicht einfach so gehen!’ „Ach ja, wer sagt das?” “Der Graf”, kam T-chan ihm zur Hilfe. Im Unterschied zu Chris hatte er sich von seiner Position am anderen Ende des Zimmers jedoch nicht fortbewegt. „Wir dürfen den Laden nicht einfach so verlassen, außer wir haben einen neuen Besitzer gefunden.” Bai Suzhen seufzte tief, als wäre sie es leid, sich mit einer Gruppe dummer Kinder zu unterhalten. „Aber das habe ich bereits. Würdest du bitte zur Seite gehen?” Mit starrem Blick taxierte sie Chris, der immer noch mit gespreizten Beinen vor ihr stand. Er holte tief Luft und wollte T-chan schon zustimmen, als ihm einfiel, dass er ja eigentlich immer noch schmollte. Und dass er auch eigentlich immer noch böse auf den Graf und auf Leon war. Und irgendwie auch auf seine Freunde. Also stieß er den Atem wieder aus und nickte einmal kurz. „Vielen Dank, Chris.” Ein breites Lächeln erschien auf Bai-chans Gesicht. „Nun sei doch noch so lieb und öffne mir die Tür, ja?” „Chris”, rief T-chan mahnend, „lass dich von ihr nicht einwickeln.” ‚Ich weiß schon, was ich tue’, entgegnete er trotzig und, um das zu beweisen, sagte er zu Bai-chan: ‚Du willst zu Magdalena, stimmt’s?’ Sie wiegte den Kopf in einer Art, die sowohl Ja als auch Nein bedeuten konnte und bewegte sich langsam Richtung Tür. Chris beeilte sich, ihr zu folgen und öffnete mit einer beinahe überstürzten Bewegung die Tür. Draußen flimmerte das Straßenpflaster in der glühenden Hitze. „Du bist ein schlauer Junge”, wisperte Bai-chan, als sie an ihm vorbei ins Freie glitt. „Auf Wiedersehen.” Geräuschlos bog sie um die Ecke und war verschwunden. Houwang war wirklich nicht besonders gut im Jonglieren. Ein Problem war das eigentlich nicht, nur wurde es eines, als er beschloss, dass man Jonglieren am besten mit Eiern lernte. Die zusätzliche Spannung steigerte angeblich die Konzentration. Am Ergebnis sah man jedwede gesteigerte Konzentration sicher nicht, weshalb Friedrich gerade auf dem Boden kniete und mit einem Schwamm Eigelb aus den Fugen im Boden wischte. Währenddessen hielt Houwang den Eimer mit Wasser und versuchte zerknirscht auszusehen. Wenigstens dass er das versuchte, war schon mal eine recht beeindruckende Leistung, denn Friedrich hatte nicht mal mit ihm geschimpft. Als die vier Eier in rapider Abfolge eins nach dem anderen auf dem Boden zerbarsten, hatte er nur geseufzt, den Kopf geschüttelt und war aufgestanden um das Putzzeug unter der Spüle hervorzuholen. Es war nicht so, dass er sich nicht ärgerte, schon wieder putzen zu müssen. Obwohl er sich bereits an so viele Eigenarten seines Mitbewohners gewöhnt hatte, konnte er sich mit der ständigen Unordnung nur schwer abfinden. Nein, das Problem war eher, dass Houwang über dem Auge immer noch eine Prellung hatte, die von gestern Abend kam und die voll und ganz seine Schuld war. Wie so ziemlich alles, was gestern Abend passiert war. Und deshalb kämpfte in ihm ständig das Bedürfnis, den Jungen in den Arm zu nehmen mit dem Bedürfnis, ihm möglich nicht ins Gesicht zu schauen und den ganzen gestrigen Abend aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Das zweite Bedürfnis hatte bisher die besseren Karten. Er schrubbte stärker. In der vorigen Nacht war er mehrfach aufgewacht und hatte alles für einen Traum gehalten. Aber die Wut in seinem Bauch und dieser kalte Ring an Grausamkeit, der sich um seine Brust geschlossen hatte, und nicht zuletzt Houwangs Verletzung waren sehr real. Genauso wie die Schlagzeilen in der Zeitung heute morgen. Zum Glück konnte Houwang nicht lesen. Er hatte den … Zwischenfall gut verkraftete, zumindest glaubte er das, denn weder er, noch der Junge verloren auch nur ein Wort darüber. Das passte nur gut zu seinem Vorsatz, alles zu verdrängen. Phasen in denen er unüberlegte Dinge tat, hatte er schon immer gehabt, aber in letzter Zeit waren sie immer stärker und häufiger geworden, bis er anfing - „Ich glaube die Stelle da ist langsam sauber.” Grinsend deutete Houwang auf den Boden, wo Friedrich ein und dieselbe Stelle tatsächlich schon mehrere Minuten lang vehement mit dem Schwamm bearbeitet hatte. „Geht es dir nicht gut?” Houwangs Kopf schob sich in sein Gesichtsfeld, allerdings verkehrt herum, da er sich zu ihm hinuntergebeugt hatte. Schnell schaute Friedrich zur Seite. „Ich habe nur etwas Kopfschmerzen”, erwiderte er mit zugeschnürter Kehle und schrubbte verbissen weiter. „Aber das wird schon wieder.” Houwang ließ sich neben ihm auf den Boden fallen - auf eine der Stellen, die er bereits geputzt hatte - und lehnte sich an ihn. Er fuhr sich durch die Haare, pulte sich im Ohr und starrte einige Momente lang die Decke an. Währenddessen schaffte Friedrich es, den größten Teil des Eier-Desasters aufzuwischen und in den Eimer zu verlagern. „Du, Friedrich”, meldete Houwang sich plötzlich zu Wort und seine Stimme klang ganz weich. „Du passt doch auf mich auf, oder?” „Natürlich. Warum willst du das wissen?” Von der Seite warf er dem Jungen einen prüfenden Blick zu. Statt einer Antwort begann Houwang ein Lied zu summen, das Friedrich nicht kannte. Er wischte den Boden komplett sauber (und noch ein paar Mal extra, nur um sicher zu gehen), blieb dann jedoch sitzen und schaute auf seinen Freund hinunter. Hatte er Angst vor etwas? Oder etwa vor ihm, Friedrich? Er wollte gerade das Wort an ihn richten, als Houwang unvermittelt aufsprang und zum Fenster lief. „Es ist nicht mehr so heiß”, rief er. „Lass uns gehen und einen Spaziergang machen! Du hast doch heute frei, oder?” Sehr viel schwerfälliger als der Junge, erhob Friedrich sich und rückte seine Brille zurecht. „Houwang, hör mal, ich hab dir doch gesagt, dass ich heute auf die Beerdigung muss.” „Ja ja, von deinem Kollegen, ich weiß. Aber der ist tot, dem ist doch eh egal, wer da antanzt und wer nicht.” „Es geht darum, ihm die letzte Ehre -” „Aber ich lebe noch!” Zum Beweis klopfte er sich theatralisch auf die Brust. „Mir ist es nicht egal, ob wir zu einer Beerdigung müssen, oder lieber in den Park gehen!” „Ich weiß”, seufzte Friedrich, „aber ich muss da hin, da führt kein Weg dran vorbei.” „Doch, der Weg führt durch den Park!” Houwang nahm sich ein Wasserglas und versuchte, es auf drei Fingern zu balancieren. Das klappte ganz gut. Er probierte es mit zwei Fingern. „Lass das”, meinte Friedrich gereizt. „Ich muss mich jetzt fertig machen und deine Jonglierübung hat mich schon genug Zeit gekostet. Wenn jetzt noch etwas - pass auf!” Das Glas kippte von Houwangs Zeige- und Mittelfinger, doch er schaffte es gerade noch, es mit der anderen Hand aufzufangen, bevor es auf dem Boden zerschlagen konnte. „Nichts passiert!” „Houwang, ich mein’s ernst”, schimpfte Friedrich und zerrte mit mehr Kraft als beabsichtigt seinen schwarzen Anzug aus dem Schrank. „Ich ziehe mich jetzt um und du machst währenddessen keine Dummheiten!” Zu laut schlug die Badezimmertür hinter ihm zu. Während er unter der Dusche stand, dachte er, dass er tatsächlich viel lieber mit Houwang in den Park gehen würde, als zu Jason Yorkes Beerdigung. Im Grunde sträubte sich sogar alles in ihm dagegen. Leider war Yorke eine Art Koryphäe auf seinem Gebiet gewesen, was wiederum die gesamte Fakultät als Gäste bei seiner Beerdigung verpflichtete. Yorke selber hatte er nur sehr flüchtig gekannt, doch das was er über ihn wusste, reicht aus, um … beinahe panisch verbannte er den Gedanken aus seinem Kopf. Warm lief das Wasser über seine Schultern und prasselte geräuschvoll auf den Boden. Es war angenehm, einfach hier zu stehen und nichts zu tun. Nichts zu tun und an nichts zu denken, außer vielleicht an die angenehme Wärme. Vielleicht würde dann auch sein Kopfweh nachlassen. Er ließ sich zu viel Zeit unter der Dusche und als er schließlich in Anzug und Krawatte aus dem Bad stürmte, war es bereits nach vier. ‚Verdammt, ich muss um halb fünf am Forest Lawn Memorial Park sein!’ Er rechnete bereits aus, wie er am schnellsten ans andere Ende der Stadt kam, als er mitten in der Bewegung innehielt. Der ganze Fußboden seines Zimmers war übersät mit Ordnern, Papieren, Büchern, Kleidern und anderen Gegenständen, die er gar nicht alle auf einmal erfassen konnte. Mitten drin stand Houwang, der immer noch (oder vielmehr wieder) das Glas in der Hand auf zwei Fingern balancierte. „Was - Wie zum - Wie kann ein so kleiner Junge es schaffen in so kurzer Zeit so ein Chaos zu veranstalten?” Friedrichs Stimme war so laut und heftig, sodass Houwang zusammenzuckte und das Glas fallen ließ. Klirrend zerbrach es auf dem Boden. Ungerührt blieb er stehen ohne seine Pose im geringsten zu ändern. „Du warst weg und mir war langweilig.” „Langweilig? Dir war langweilig und du hast ein solches Chaos verursacht?” Houwang zuckte die Schultern. Ein selbstgefälliges Lächeln schlich sich auf seine Lippen und er blickte Friedrich von unten herauf scheel an. „Jetzt kannst du aber nicht zu dieser Beerdigung gehen. Du musst ja erst mal hier aufräumen.” Er machte eine ausholende Bewegung, die das gesamte Zimmer mit einschloss. Es war viertel nach vier. In fünfzehn Minuten begann Jason Yorkes Beerdigung. Und er musste da sein. Er wollte nicht, aber er musste. Die Erkenntnis traf ihn fast noch heftiger als die Tatsache, dass er mit Sicherheit zu spät kommen würde. Er knirschte mit den Zähnen. Dass er zur Beerdigung von einem Menschen wie Yorke, einem Verbrecher musste, machte ihn unsagbar wütend. Und Houwang, den er in diesem Moment als Unterstützung gebraucht hätte, tat nichts weiteres, als ihm Steine in den Weg zu legen! Entschlossen stampfte er durch die Unordnung am Boden, wobei er darauf achtete, seine Füße auf die wenigen freien Stellen zu setzen. „Ich werde zu dieser Beerdigung gehen”, zischte er, während er sich die Schuhe anzog, „und du, mein Lieber, wirst hier aufräumen. Und zwar picobello!” Houwang fiel im wahrsten Sinne des Wortes das Gesicht runter. „Ich? Aufräumen?” „Du hast das Chaos angerichtet, du wirst es auch wieder in Ordnung bringen.” Er schlüpfte in den zweiten Schuh. „Alleine?” „Ja, alleine. Denn ich habe jetzt keine Zeit für dich. Auf Wiedersehen!” Ohne auf eine weitere Erwiderung von Houwang zu warten, stürmte Friedrich hinaus und warf die Tür hinter sich zu. Mit einem leisen Klicken fiel sie ins Schloss. Die Tür des Petshops stand offen, was Leons kämpferischen Ansturm noch mehr Wucht verlieh, als er über den Laden hereinbrach. Diesmal hatte er D am Schlafittchen, das konnte er genau spüren. Und der Fall war prominent genug, um Aufmerksamkeit zu ziehen. Endlich landete D dort, wo er hingehörte. Diese Vorstellung verlieh ihm eine ungeahnte Energie, sodass er mit einem sprungähnlichen Satz, der Spiderman alle Ehre gemacht hätte, im Laden landete. Leider ging sein fulminanter Auftritt völlig unter, da bereits ohnehin ein ziemlicher Tumult herrschte. Außerdem wäre er fast über zwei große Einkaufstüten gefallen, die jemand direkt hinter der Tür liegengelassen hatte. „D! Was zum -” Doch der Graf beachtete ihn gar nicht, so beschäftigt war er damit sich mit ... Chris zu streiten? Leon hatte den Graf schon an vielen seltsamen Orten und bei vielen seltsamen Handlungen gesehen, aber noch nie dabei, wie er sich mit Chris oder einem seiner Tiere stritt. Das passte absolut nicht zu dem sonst so ruhigen Mann, den doch eigentlich nur er selber, Leon, auf die Palme bringen konnte. Im ersten Moment war er so verwirrt und der Lärm so groß, dass er nicht richtig mitbekam, worum es ging. Pon-chan, der kleine Waschbär, der immer mit Chris zusammen war, hüpfte aufgeregt herum und sogar das vermaledeite Ziegenvieh hatte zu viel damit zu tun, unartikulierte Geräusche in die Gegend zu blöken, um Leon auf seine übliche, gewalttätige Art zu empfangen. Leon räusperte sich einmal. Zweimal. Der Graf ereiferte sich über eine Schlange oder so. Er hörte nicht wirklich hin. Es interessierte ihn auch nicht. Denn niemand beachtete ihn. Ein weiteres Räuspern. Keine Reaktion. Dann musste er sich eben anders Gehör verschaffen. Er holte tief Luft und brüllte: „Was in Gottes Namen geht hier vor?” Augenblicklich hing ihm T-chan am Bein und grub scharfen Zähne in seine Wade. Immerhin eine Form von Aufmerksamkeit. Fluchend versuchte er ihn abzuschütteln, aber das Mistding war verdammt zäh. Vorwurfsvoll schaute er zu D hinüber und, da sich gerade so etwas wie Schweigen über den Laden gelegt hatte, fragte er noch einmal: “Was ist hier los?” D schien ernsthaft wütend zu sein, zumindest fast so wütend wie damals, als Leon seinen Lieblingskuchen weggeworfen hatte. Er warf einen Blick zu Chris, der so aussah, als würde er gleich in Tränen ausbrechen und schaute dann zurück zu D. „Mein lieber Detektiv”, säuselte der Graf in seiner gewohnt ruhigen Stimme, doch Leon konnte deutlich heraushören, dass er immer noch wütend war, „was machen Sie hier, mitten am Tag? Sie haben doch rund um die Uhr mit diesem extrem wichtigen Fall zu tun.” Das “extrem wichtig” zog er übertrieben in die Länge, um seine Einstellung gegenüber solch profanen Sachen zum Ausdruck zu bringen. „Deswegen bin ich ja hier!”, schnaufte Leon, kramte ein Foto von Jason Yorke und eines von Jay Block aus der Tasche und hielt sie D unter die Nase. „Kennen Sie diese Personen?” Der Graf stutzte, schaute das Foto nicht einmal an, sondern wischte es mit dem Handrücken zur Seite wie eine lästige Fliege. „Natürlich nicht. Und bitte entschuldigen Sie mich, ich habe zur Zeit wahrlich Wichtigeres zu tun.” „Wichtigeres? Was könnte wichtiger sein als ein, nein als zwei Morde?“, rief Leon. „Wie hieß noch mal der Mann, dem Sie diesen Affen verkauft haben? Dieser Affe hat nämlich einen Mord begangen!” Chris schaute beunruhigt zwischen den beiden Erwachsenen hin und her. Der plötzliche Themenwechsel verwirrte ihn. Natürlich begrüßte er es, dass der Zorn des Grafen nun nicht mehr ihn allein traf, doch wusste er genau, dass er noch längst nicht aus dem Schneider war. Tatsächlich wandte sich ihm der Graf wieder mit einer schwungvollen Bewegung zu, nachdem er Leon einige Sekunden abschätzend gemustert hatte, und wollte wissen: „Hat sie gesagt, wo sie hingeht?” Chris schüttelte den Kopf und Leon fühlte sich so übergangen wie selten in seinem Leben. „Wie hat sie es überhaupt aus der Eingangstür geschafft?” T-chan löste seinen Klammergriff gerade lange genug von Leons Bein, um ein paar Laute zu bellen, bevor er seine Zähne wieder in sein Fleisch versenkte. „Du hast ihr die Tür aufgemacht?” Ds Stimmlage kam gefährlich nahe an einen Schrei heran. Seltsamerweise wurde seine Stimme nicht höher, sondern tiefer, wenn er lauter wurde. Leon hätte erwartet, dass er sich wie ein kleines Mädchen anhören würde. ‚Sie hat mich darum gebeten, und ich wusste nicht –' Sie? „Die Tür des Ladens ist mit einem Schutz belegt, damit hier nicht einfach jeder rein- und rausspazieren kann”, fauchte der Graf. „Du kannst doch nicht einfach irgendeinem Tier nach draußen lassen.” Tier? ‚Das war eine Frau! Wenn sie nicht hier leben will, dann können Sie sie doch nicht einfach hier einsperren!’ Frau? „Moment mal!”, schaltete sich Leon ein und stampfte, um seine Worte zu unterstreichen, einmal heftig auf. Rein zufällig und völlig unbeabsichtigt traf er dabei den Schwanz von T-chan, der daraufhin schlagartig von seinem Bein abließ und sich jaulend zusammenkrümmte. „Um wen geht es hier eigentlich?” Würdevoll drehte D sich zu ihm um und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Chris hat ein Tier aus meinem Laden nach draußen gelassen, und zwar ohne meine Erlaubnis und ohne dass es einen Besitzer gefunden hätte.” In Leons Kopf tat sich ein Paradies aus entlaufenen Raubtieren, panischen Menschen, einer Rettung durch ihn höchstselbst und D hinter Gittern auf. „Soso, ein Tier. Was für eines denn?” ‚Das war eine Frau!’, protestierte Chris. Zeitgleich verkündete der Graf: „Eine Schlange.” Leons Augen funkelten. Eine Schlange! Ausgezeichnet! Schlangenbisse waren verdammt gefährlich und es gab kaum Schlangenarten, die man legal als Haustier halten durfte. Mal ganz davon abgesehen davon, dass man keinerlei Schlangen - legal oder nicht - in LA aussetzen durfte. Das öffentliche Wohl war in Gefahr! Amerikanische Bürger! „Eine Schlange … nun, das ist natürlich sehr bedauerlich. Was für eine war es denn? Eine Python? Eine Boa? Oder vielleicht eine Kobra?” „Eine weiße, chinesische Bergschlange.” D sah aus, als hätte er sich an einem großen Bissen Kuchen verschluckt. Von dieser Rasse hatte Leon zwar noch nie gehört, aber wenn sie in Ds Besitz war, musste sie gefährlich sein. Ein zusätzlicher Vorteil war, dass weiße Schlangen auch in unübersichtlichen Gebieten leicht zu entdecken sein mussten. „Und bevor Sie fragen, mein lieber Detektiv”, unterbrach D seine Gedanken, „sie ist für Menschen nicht gefährlich.” ‚Als wüsste er, was ich denke’, schoss es Leon durch den Kopf. „Warum machen Sie dann einen solchen Aufstand?”, erkundigte er sich verschlagen. „Gehört sie vielleicht zu einer beinahe ausgestorbenen Gattung und steht deshalb unter Naturschutz?” „Sie ist die einzige ihrer Art”, erklärte D, „und sie ist schon mehrere hundert Jahre alt. Sie wurde mir von meinem Großvater überantwortet, weil sie im Prozess ist, sich zu vervollkommnen. Es ist ihr nicht erlaubt, vor Abschluss dieses Prozesses den Laden zu verlassen und das letzte Mal, als ich sie besucht habe, versicherte sie mir, dass dies noch einige hundert Jahre hin sei.” Noch vor einigen Monaten hätte Leon D kein Wort geglaubt. Das Problem war, dass er damals auch noch keine Drachen gesehen hatte, oder seltsame Schmetterlinge oder Kirins. Die Erinnerung an diese Geschöpfe ließ ihn einen kurzen Moment lang ein winziges Bisschen an seiner Überzeugung zweifeln, dass es derartige Fabelwesen nicht gab, nie gegeben hatte und nie geben würde. Dass es keine Schlangen gab, die sich tausend Jahre „vervollkommneten”, sich dann in Frauen verwandelten und einen Bummel durch LA machten. „Ich muss gehen und sie suchen”, grummelte D. „Chris, hast du zumindest eine ungefähre Idee, wo sie sein könnte? Hat sie vielleicht irgendetwas gesagt, bevor sie gegangen ist?” Chris, der reichlich zerknirscht aussah, legte die Stirn in Falten während er angestrengt nachdachte. Dann sagte er langsam: ‚ Sie sagt, dass sie einen Besitzer habe. Und als ich sie das erste Mal gesehen habe, war dieses Mädchen dabei, dem Sie den Hund verkauft haben. Magdalena hieß sie.’ „Hat sie mit ihr gesprochen?” Eifrig nickte Chris. ‚Ja, und zwar nur mit ihr. Für mich hat sie sich gar nicht interessiert und Pon-chan’ - er schaute zu dem Waschbär hinüber – ‚naja, Pon-chan war nicht da.’ Beleidigt drehte Pon-chan ihnen den Rücken zu. „Magdalena, Magdalena, hmm, auf dem Vertrag müsste ihre Adresse stehen.” Schnellen Schrittes durchquerte der Graf den Verkaufsraum und verschwand in seiner Küche. Sie konnten ihn in etwas wühlen hören und Papier raschelte. Währenddessen warf Chris Leon unsichere Blicke zu. Vermutlich erwartete er auch noch von seinem großen Bruder eine Standpauke. Doch Leon setzte ein breites Lächeln auf. Wenn Chris dem Grafen Schwierigkeiten machte, trat er wenigstens in seine Fußstapfen. Nach einigen Minuten stürmte der Graf zurück in den Laden, ein dicht beschriebenes Blatt Papier in der Hand. „Hier ist es. Die Mutter hat unterschrieben: Vanessa Yorke, Walnut Street 314, in …” „Yorke?”, unterbrach Leon ihn. „In der Walnut Street? Das ist doch … das ist die Frau von unserem ersten Opfer!” ‚Von dem Fall an dem du die ganze Woche ermittelt hast?’, fragte Chris neugierig. „Genau. Jason Yorke wurde letzten Montag ermordet in einer Seitengasse gefunden. Und zufällig hat D einem Kunden einen ungewöhnlichen Affen am selben Tag verkauft.“ Leon geriet jetzt richtig in Fahrt. „Der Affe, dessen Haare an unserem zweiten Tatort gefunden wurden!“ Er warf einen triumphierenden Blick in die Runde. Während Chris hin- und hergerissen war zwischen Bewunderung für seinen großen Bruder und Sorge um den Grafen, gab sich D selber gelassen. „Wenn Sie Ihre Fakten nur ein mal nachprüfen würden, mein lieber Detektiv“, meinte er ruhig, „dann wüssten Sie, dass ich den Affen nicht Montag, sondern Dienstag an Mr Devaney verkauft habe.“ Leon schluckte, unterdrückte den Impuls, die verstrichenen Tage an seinen Fingern abzuzählen, sondern versuchte sich stattdessen angestrengt an den Kunden und den Kauf des Affen zu erinnern. War das tatsächlich Dienstag gewesen? Nach einigem Nachdenken musste er zugeben, dass D Recht hatte. Tatsächlich war er Dienstag Mittag bereits mit dem Fall um den ermordeten Mathematikprofessor beschäftigt gewesen. Was für ein Reinfall! „Aber“, startete er einen letzten Rückschlag, „trotzdem kann der zweite Mord von Ihrem Affen begangen worden sein, D!“ „Dann müssen Sie sich aber von dem Gedanken verabschieden, dass beide Morde miteinander in Verbindung stehen“, analysierte D, über einen Stadtplan gebeugt, den er aus irgendeiner Schublade gefischt hatte. „Das werden wir noch herausfinden“, brummte Leon angriffslustig. Er würde sich jedenfalls nicht so schnell geschlagen geben. Ds Affe war am Tatort gewesen und das bestimmt nicht aus purem Zufall. ‚Magdalena hat mir erzählt, dass ihr Vater tot ist’, meldete sich Chris auf einmal, dem die feindselige Stille zwischen den beiden Männern offenbar unangenehm war. ‚Also ist dieser Jason Yorke wohl ihr Vater.“ „Ich werde ihnen einen Besuch abstatten”, erklärte D, faltete den Stadtplan zusammen und eilte zur Tür. „Warten Sie!”, rief Leon und hielt ihn an der Schulter zurück. D fuhr herum wie eine Katze, die man am Schwanz packt und Leon zog seine Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Einen kurzen Moment herrschte Stille. „Also, ich … Sie werden diese Mädchen gerade nicht zuhause finden. Heute ist nämlich die Beerdigung ihres Vaters und die fängt in” - er schaute auf die Uhr – „einer Dreiviertelstunde an. Dort treffen Sie die Familie sicher an.” Was er nicht sagte war, dass ihm der Name Devaney bekannt vorkam, vielleicht. Er war sich sicher, ihn im Zusammenhang mit der Ermittlung schon einmal gelesen zu haben, vermutlich auf der Liste von Yorkes Kollegen. Als Polizeibeamter war es ihm zwar eigentlich untersagt, auf diese Beerdigung zu gehen (die Privatsphäre der Familie sollte gewahrt werden), aber wer hielt ihn davon ab, in zivil dort aufzuschlagen? Mit Sicherheit konnte er dort wichtige Informationen über den Mord gewinnen. „Ich werde Sie begleiten“, verkündete er entschieden und heftete sich an Ds Fersen. „Meinetwegen. Ich werde Sie ja sowieso nicht davon abhalten können”, knurrte D mit einem resignierten Gesichtsausdruck. „Aber beeilen Sie sich wenigstens. Und Chris, du wirst keine weiteren Tiere aus dem Laden lassen!” Selbst die Milde der Sommernacht konnte Friedrichs Kopfschmerzen nicht vertreiben. Wieder einmal hatte er so lange gearbeitet, bis die Buchstaben und Zahlen vor seinen Augen verschwammen und er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Immerhin war er jetzt endlich auf dem Weg nach Hause. Er hatte sich entschieden zu laufen, denn er glaubte, dass die Bewegung ihm gut tun würde. Und tatsächlich war das Klima ideal, um Kopfschmerzen zu vertreiben. Eine kühle Brise strich um die Häuser, der Verkehrslärm war jetzt, um ein Uhr nachts, auf ein Minimum geschrumpft und sogar die Straßenlaternen schienen gedimmt. Nur seine Kopfschmerzen schienen sich nicht für diesen beruhigenden Einfluss zu interessieren. Sie hämmerten mit gleicher Intensität weiter auf die Innenwände seines Schädels ein. Es fühlte sich an, als wäre etwas Großes, Gefährliches in seinem Kopf gefangen, das mit Gewalt nach außen drängte. Er massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Schläfen, was ihm jedoch keine Linderung verschaffte. Aber vielleicht würde es ja noch besser werden, schließlich war er ja erst ein paar Meter vom Campus entfernt, also nicht mehr als fünf oder sechs Minuten unterwegs. Die Straßen waren vollkommen leer. Das wirkte einerseits beruhigend auf ihn, andererseits weckte es in ihm die Angst, jemand könnte ihm im Dunkeln auflauern. Er wusste, dass diese Angst völlig irrational war, da es bestimmt niemanden gab, der ihm nachstellte. Dafür war er einfach nicht wichtig genug. Trotzdem war sie ihm real genug vorgekommen, um sich an einem verregneten Tag im Mai eine Pistole zu kaufen. Fast peinlich berührt hatte er sie damals im mittleren Fach seiner Aktentasche verstaut und sie seit damals nie wieder herausgenommen. Auch jetzt spürte er ihre gewohntes Gewicht, das seiner Tasche gerade die richtige Schwere verlieh, um sie beruhigend in seine Handfläche zu drücken. Er bog in eine schmale Straße ein, die zwischen zwei Fronten von Reihenhäusern hindurchführte. Zu spät bemerkte er, dass im selben Moment jemand von der anderen Seite die Straße betrat. Seine dunkle Silhouette zeichnete sich im Licht der Straßenlaternen deutlich als Kontur ab. Sein Gesicht jedoch war nicht zu erkennen. Es war zu spät umzukehren. Friedrich holte tief Luft, straffte seine Brust so gut er konnte und marschierte in stetigem Tempo durch die Gasse. Unter seinen Füßen knirschten Scherben. Er wusste, dass seine Angst irrational war. Im Dunkeln war es so viel einfacher, der Furcht nachzugeben. Die Person kam ebenfalls näher, aber im Gegensatz zu ihm ließ sie ihren Blick sorglos, beinahe vergnügt hierhin und dorthin schweifen. Beim Näherkommen erkannte Friedrich, was er von Anfang an vermutet hatte. Es handelte sich um einen Mann mit schmaler Statur und einem beinahe zerbrechlichen Aussehen. Auf einmal traf es Friedrich, dass er diesen Mann kannte. Nicht gut und auch nicht persönlich, zumindest nicht wirklich, aber er war ihm schon oft begegnet. Er dachte an braune Augen und Locken und ein versunkenes Lächeln. In rapider Abfolge pulsierten ihm dann mathematische Graphen und Tabellen durch den Kopf, als säße er in einem vor gespulten Diavortrag. Sein Kopfweh schien zu expandieren, so als wäre eine Bombe in seinem Kopf hochgegangen. Als es den Punkt der größten Ausdehnung erreicht hatte, war es, als ob etwas aus seinem Kopf ausbrach und seinen Platz einnahm. Ein dumpfes Rauschen erfüllte seine Ohren. Ohne wirklich zu wissen was er tat, gewissermaßen ein Zuschauer seiner selbst, trat er dem dünnen Mann in den Weg. Der hob den Kopf und schaute ihn aus kleinen, intelligenten Augen an. „Mister Yorke”, sagte er langsam, wobei er jedem Wort nachschmeckte, wie jemand, der eine besonders delikate Speise zu sich nimmt. „Verzeihen Sie, Professor Yorke.” Dass er das „Professor” so betonte, gab der Korrektur einen spöttischen Klang. „Oh”, erwiderte der Angesprochene und rückte seine Brille zurecht, als müsse er Friedrich nur einmal kurz mustern, um ihn zu erkennen. Die unauffällige Geste überspielte gekonnt seine Überraschung. „Sie arbeiten auch an der Uni, nicht wahr? Ich hab Sie in einigen Gremien gesehen. Ich fürchte, dass mir Ihr Name leider im Moment entfallen ist.” „Devaney”, sagte Friedrich tonlos. „Aber das macht nichts. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich kein besonders bedeutender Wissenschaftler.” „Aber nein, sagen Sie doch so etwas nicht!”, rief Yorke aus. Es klang als spräche er mit einem kleinen Kind bei der Berufsberatung. „Sie sind ja noch sehr jung, und aller Anfang ist schwer.” „Ja, aller Anfang ist schwer …” Friedrich fühlte, wie seine rechte Hand in seine Aktentasche glitt, beinahe ohne sein Zutun. „Sagen Sie, erinnern Sie sich noch an Sophie Amice?” Die Stirn des Professors legte sich in Falten, als müsse er ernsthaft über diese Frage nachdenken. Dabei kannte er sie doch, das wusste Friedrich genau. „Ist das .. vielleicht eine ehemalige Mitarbeiterin? Sie müssen entschuldigen, mein Namensgedächtnis ist wirklich furchtbar schlecht.” Ein entwaffnendes Lächeln. Prüfend sah Friedrich ihm ins Gesicht. Die Gasse war dunkel und Einzelheiten nur schwer auszumachen. Doch er stand so nah bei Yorke und seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, dass er jede Lachfalte meinte ausmachen zu können. Er prüfte den Gesichtsausdruck, die Augen, den Zug um den Mundwinkel … und stellte mit Schrecken fest, dass Yorke die Wahrheit sagte. Er konnte sich wirklich nicht an sie erinnern, Die Erkenntnis war wie ein Schlag in den Magen. „Vielleicht”, krächzte er, “kann ich Ihnen ein wenig auf die Sprünge helfen. “Decoding the chaos butterfly. Geht Ihnen jetzt ein Licht auf?” Offenbar hatte Yorke endlich die Feindseligkeit in Friedrichs Stimme bemerkt und begann vor dem großen Mann zurückzuweichen. „Decoding the chaos butterfly?”. Sein Gesicht zierte ein Lächeln, doch seine Augen zuckten nervös von Friedrichs Gesicht zum Ausgang der Gasse. „Ich weiß nicht was Sie meinen. Das ist ein geheimes Projekt der Regierung, worüber ich leider keine Auskunft geben kann. Aber ich kenne alle meine Mitarbeiter und -” Abrupt brach Yorke ab. Erstaunt weiteten sich seine Augen und auf seiner Stirn brach kalter Schweiß aus. Friedrich hatte seine Hand aus der Tasche gezogen und hielt jetzt seine Pistole. Sie war geladen wie immer. Und er hatte sie eben entsichert. Das Blut rauschte in seinen Ohren. „Denken Sie noch mal scharf nach. Woher kamen denn die Grundlagen für dieses Projekt, hm? Wer hat die ersten Versuche dazu durchgeführt?” Yorke hatte erschrocken beide Hände gehoben, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. „Ich bitte Sie, was wollen Sie denn? Geld? Sie können meine -” „Ich will kein Geld!”, knurrte Friedrich. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, zu schreien. „Ich will, dass Sie sich an sie erinnern! Wissen Sie, was Sie dadurch getan haben, dass Sie ihre Ergebnisse für Ihr Projekt missbraucht haben?” „Ich weiß wirklich nicht, was Sie –“ „Sophie Amice!“ Jede einzelne Silbe betonte er so kräftig, dass die Laute wie Kugeln aus seinem Mund schossen. Langsam schien Yorke ein Licht aufzugehen, denn er begann ungläubig den Kopf zu schütteln. „Sophies Arbeit einfach als Ihre auszugeben? Wissen Sie, was Sie ihr damit angetan haben?” „Bitte, wir haben nicht … alles lief in strenger Absprache … wir haben niemandes Ergebnisse … “, stotterte Yorke. Schweißtropfen rannen ihm das Gesicht hinab, das verzerrt vor Angst war. Nichts war mehr von der vorigen Gelassenheit zu erkennen. „Bitte, nehmen Sie die Pistole weg. Sie wollen das doch eigentlich gar nicht. Sie …” Er drückte ab. Wieder. Und wieder. Und wieder. Und – Friedrich riss die Augen auf. Um ihn herum eine Schar von Menschen. Eine riesige Menge. Die Bahn fuhr ruckelnd wieder an und er klammerte sich an dem orangenen Haltegriff, der von der Decke hing, fest. Schweißgeruch. Lärm. Rauschen. Sein Atem ging heftig, sein Kopf fühlte sich an, als müsse er zerbersten. Er schaute auf die Anzeige. Nur noch eine Station. War er so lange weggetreten? Trotz der Schmerzen schüttelte er heftig, fast panisch den Kopf und kniff die Augen fest zusammen, um das Bild von Yorkes ausdruckslosem Gesicht aus seinem Inneren zu verbannen. Der Mann, auf dessen Beerdigung er gerade ging. „Hey Mann, alles in Ordnung?”, fragte ihn ein junger Kerl mit Dreadlocks, der neben ihm an der Halterung hing. Erst jetzt bemerkte er, dass er am ganzen Leib zitterte. „Alles … alles in Ordnung”, murmelte Friedrich. Aus den Lautsprechern ertönte die Ansage. Seine Station. Die Türen glitten zur Seite und er stieg aus. Kapitel 3: Sekanten ------------------- Sekanten schneiden sich einmal und treffen sich dann nie wieder. Dank Leons treuem Dienstwagen schafften sie es einigermaßen pünktlich zur Beerdigung. Unglücklicherweise hatte keiner von ihnen daran gedacht, dass es sich um eine Beerdigung handelte und man auf Beerdigungen gewöhnlich schwarz trug. Leon hatte sein weißes Diensthemd und eine Jeans an, was noch einigermaßen formell aussah, doch D erregte mit seinem Kimono einiges Aufsehen. Nicht nur, dass Ds Gewänder sowieso immer wie Kleider aussahen, dieses hier hatte auch noch ein Flammenmuster aus rot und orange. Damit wäre es nicht nur bei einer Beerdigung ein Hingucker gewesen. Es war über den Nachmittag hinweg schwüler und stickiger geworden. Der Himmel war jetzt mit einer grauen Wolkenschicht bedeckt, die die warme Luft auf die Stadt hinab zu drücken schien. Das kurze Stück vom Auto bis zum Friedhof kam Leon so anstrengend vor, wie ein Dauerlauf. Ähnlich erledigt fühlte er sich auch, als sie endlich ankamen. D machte das Klima augenscheinlich gar nichts aus. Forschen Schrittes bewegte er sich auf die Trauergäste zu, ohne die Schwüle oder die sicherlich schwere Last seines Gewandes auch nur im Geringsten zu spüren. Seine unterschiedlich gefärbten Augen suchten starr die Menge ab. Die Trauergäste hatten sich offenbar schon vollständig versammelt und es waren eine Menge Menschen gekommen. Sie standen auf der Fläche eines großen Halbkreises. Vorne mussten sich das Grab und die Angehörigen befinden. Der Parkplatz befand sich auf der Ostseite des Friedhofs, so dass sie am äußeren rechten Rand ganz hinten Platz fanden. Leon trat neben D und versuchte möglichst professionell und dazugehörig auszusehen. Bereits jetzt warfen die Leute dem in ihren Augen seltsamen Paar verwunderte Blicke zu. Es waren allesamt gebildete Leute. Akademiker, Bürgertum, kurz: Menschen, die es zu etwas gebracht hatten. Ein Meer von schwarzen Anzügen, schwarzen Kleidern, schwarzen Hüten und Strumpfhosen erstreckte sich vor ihnen. Das einzige, was dieser Erscheinung einen Teil ihrer einschüchternden Wirkung nahm, war der gequälte Ausdruck auf den meisten Gesichtern, die vor Schweiß glänzten. So viele Leute waren da, dass Leon nicht bis ganz nach vorne sehen konnte, wo er einen Pfarrer und ein Grab mehr erahnen als tatsächlich erkennen konnte. „Denken Sie dran, wir suchen eine Frau mit weißen Haaren”, mahnte D und warf ihm einen bedeutungsschwangeren Blick von der Seite zu. „Ich dachte wir suchen eine Schlange?” „Oder eine weiße Schlange”, verbesserte sich D. „Suchen Sie einfach nach beidem.” „Sie sind wirklich verrückt”, murmelte Leon. „Und Ihre Kunden sind es offenbar auch. Apropos - sehen sie die Familie?” Verärgert schüttelte D den Kopf. „Wir sind zu spät, deshalb kann ich nichts sehen.” „Wir wären pünktlich gewesen, wenn Sie unterwegs nicht auf einmal Heißhunger auf Kuchen bekommen hätten!”, versetzte Leon. „Versuchen Sie die Schuld jetzt nicht auf mich zu schieben!” „Ohne etwas Anständiges im Magen kann ich nicht arbeiten.” Hätte er es nicht besser gewusst, hätte Leon gedacht, D ziehe einen Schmollmund. „Jedenfalls müssen wir weiter nach vorne, Herr Detektiv. Hier kommen wir bestimmt nicht weiter.” Mit diesen Worten wollte D sich gerade in die Menge stürzen, als Leons Handy klingelte. In diesem Moment wünschte er sich nicht sehnlicher, als dass er nicht “I will survive” als Klingelton auf das Teil geladen hätte. Unter den teilweise vorwurfsvollen, teilweise vernichtenden Blicken wurde er rot bis unter die Haare. Hastig drehte er sich weg, um der Abneigung der gehobenen Gesellschaft nicht mehr gegenübertreten zu müssen und ging ran. „Leon?” Es war Jill. Sie klang ziemlich aufgeregt. „Was gibt’s?”, knurrte er. „Ich habe ... Moment, wo zur Hölle steckst du? Bist du etwa tatsächlich bei D?” „Nein, ich -” Im Hintergrund begann der Pfarrer zu sprechen. Einzelne Worte waren nicht erkennbar (erst später stellte Leon fest, dass sie in Latein waren, was diese Tatsache erklärte), aber sein Stimmvolumen reichte aus, um den gesamten Friedhof zu füllen. „Wo bist du?? Das klang eben wie eine Kundgebung oder so!” „Ich bin auf Yorkes Beerdigung”, gab Leon zerknirscht zu. „Hast du mir etwas Wichtiges mitzuteilen? Wenn nicht lege ich auf, ich hab schon genug böse Blicke geerntet.” „Du sollst doch nicht auf Yorkes Beerdigung gehen!”, schimpfte Jill. Unwillkürlich hatte sie jedoch ihre Stimme gedämpft, als stünde sie neben Leon auf dem ausgedörrten Rasen und lausche den Worten des Pfarrers. „Das hat uns der Boss doch extra gesagt! Kein Einmischen in das Privatleben des Opfers!” „Ich bin hier unabhängig von der Polizei”, sagte Leon. „In meiner Freizeit darf ich tun und lassen was ich will.” „Genau genommen ist dein Dienst noch nicht vorbei. Du bist nur einfach verschwunden.” „Rufst du mich extra an, um mir eine Szene zu machen oder hast du auch noch etwas Nützliches für mich?” Die Worte klangen härter als beabsichtigt. Einen kurzen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann: „Ich glaube ich habe herausgefunden, wofür das Zeichen steht.” „Und zwar?” “Diese Feige in die du rein getreten bist hat mich drauf gebracht. Hör zu. Es gibt eine mathematische Gleichung, und die Darstellung davon heißt Feigenbaum-Diagramm. Anscheinend sagt die irgendwas über die Auswirkungen komplexer Systeme aus oder so. So genau habe ich das auch nicht verstanden. Jedenfalls -” “Feigenbaum-Diagramm? Das denkst du dir doch grade aus, oder?” “Nein! Feigenbaum hieß der Typ, der das erfunden hat. Diese Zeichen sind Teile aus einem Graph, der irgendwelche Anziehungspunkte oder so darstellt. Das ist wohl das Erkennungsmerkmal des Feigenbaum-Diagramms. Jedenfalls hat Yorke an so einem Projekt für die Regierung gearbeitet. Das hat mir einer dieser Regierungsfuzzis gesteckt, nachdem ich ein paar … natürliche Reize habe spielen lassen. In dem Projekt ging es um die Vorhersage von komplexen chaotischen Systemen. So was wie das Wetter zum Beispiel. Ist wohl 'ne Menge Geld rein geflossen. Jay Block hat da wohl auch mitgearbeitet und der dritte im Bunde ist Benedict Coppel. Der lebt allerdings noch.” „Und jemand, dem dieses Projekt ein Dorn im Auge war, hat Yorke dann offensichtlich umgebracht. Und seinen kleinen Kollegen gleich mit dazu”, schlussfolgerte Leon. „Das klingt logisch.” „Mag sein, aber es könnte auch ein persönliches Motiv gewesen sein. Der Täter ...” Der Rest von Jills Satz ging in einem wütenden Gezischel seines unmittelbaren Nachbarn unter, der ihn mehr oder weniger höflich aufforderte, das Gespräch zu beenden. Er ging einige Schritte weiter weg, bis er sich außer Hörweite der Trauergäste wähnte. D stand auf Zehenspitzen in einer Gruppe von älteren Herren und suchte die Umgebung ab. „Sorry Jill, ich war eben abgelenkt. Was hast du gesagt?”, sprach Leon immer noch leise flüsternd in den Empfänger. „Ich sagte: Das seltsame ist, dass der Mörder das zweite Zeichen nicht gemalt haben kann.” „Nicht?” „Nein. Auf allen Stiften waren nur die Fingerabdrücke des Opfers. Aber die Farbe, mit der auf die Tafel geschrieben wurde, stammte eindeutig aus einem der Stifte, die dort gefunden wurden.” Leon raufte sich die Haare. Dieser Fall war wirklich zu vertrackt. „Und was heißt das jetzt?” „Ich glaube nicht, dass die Zeichen nur zufällig da waren. Ich glaube vielmehr, dass der Täter uns etwas sagen möchte. Und dass er vermutlich persönliche Motive hat, weil -” Ein dicker Mann in Anzug stampfte kampfbereit auf Leon zu. Schnell nahm er das Handy von seinem Ohr uns spannte instinktiv seine Muskeln an, sollte es zu einem Kampf kommen. „Es ist pietätlos und ausgesprochen unhöflich auf einem Friedhof zu telefonieren”, polterte der Dicke. Sein Doppelkinn zitterte dabei. Mehrere Menschen drehten sich um. Leon fragte sich, ob er den Herrn darauf hinweisen sollte, dass es mindestens ebenso pietätlos und unhöflich war, auf einer Beerdigung herumzuschreien. „Sie sollten sich schämen, dass …” Eine schmale Hand legte sich auf Leons Unterarm und auf einmal stand Graf D neben ihm. Er fixierte den Dicken einige Augenblicke lang und sagte dann, während sich sein übliches Lächeln auf seine Lippen stahl: „Mein Freund war gerade fertig. Vielen Dank für Ihren freundlichen Hinweis.” Damit zog er Leon aus der Schusslinie. „Stecken Sie das Teil weg”, zischelte der Graf, während sie auf einen anderen Teil der anwesenden Menge zusteuerten. „Wir haben etwas zu erledigen.” Obwohl Leon wusste, dass er nachher furchtbare Scherereien mit Jills verletztem Stolz haben würde, drückte er auf Auflegen. „Haben Sie Ihre Schlange gefunden?”, brummte er mürrisch. „Nein, aber dafür etwas anderes.“ Er schob Leon ein Stück zur Seite, sodass er zwischen zwei kahlen Köpfen hindurch einen Blick auf einen hochgewachsenen Mann mit Brille hatte, der offenbar unter einem allergischen Anfall oder starker Trauer litt, jedenfalls war er nervös wie ein Dalmatiner, zwinkerte und zuckte und rieb sich immer wieder die Stirn. Er kam Leon bekannt vor, aber er wusste nicht sofort, wo oder wann er ihn das letzte Mal gesehen hatte. „Das ist der Herr, der Houwang gekauft hat”, half ihm D auf die Sprünge, als eine Reaktion ausblieb. „Wen?” „Den Affen, Sie Holzkopf! Ihren Hauptverdächtigen!” Schlagartig erkannte Leon das Gesicht wieder. Natürlich! Der nervöse Kerl, der eine Schlange wollte und einen Affen gekriegt hatte. Welche Ironie! „Aber … Moment mal … wo ist denn der Affe?” D knirschte mit den Zähnen. „Er hat ihn nicht dabei. Das heißt, er hat den Vertrag gebrochen.” Wie er es geschafft hatte, nur mit fünf Minuten Verspätung zu Yorkes Beerdigung zu erscheinen, war ihm ein Rätsel. Aber er war da. Und das war genau das Problem. Er war da. Einige Kollegen grüßten ihn mit höflicher Zurückhaltung, den meisten nickte er freundlich zu. Viele Gesichter trugen traurige Mienen. Immerhin waren sie alle gut erzogen und besaßen den Anstand, die Trauer - wenn sie nicht ehrlich empfunden war - doch immerhin vorzutäuschen. Es waren unglaublich viele Menschen da, mehr noch, als Friedrich erwartet hatte. Obwohl er es sich eigentlich hätte denken können. Yorke war ein angesehener Wissenschaftler und hatte einiges auf dem Gebiet der Chaostheorie geleistet. Zumindest nahm man das an. Friedrich wusste es besser, aber das war jetzt egal. Yorke war tot. Ein seltsames Gefühl, sich vorzustellen, dass der Mann im Sarg einmal gelebt hatte. Noch viel seltsamer war es, zu wissen, dass er selber ihn umgebracht hatte. Und mit diesem Wissen zwischen die nichtsahnenden Gäste zu treten. Eine Aufbahrung hatte es glücklicherweise nicht gegeben. Das wäre für Friedrich zu viel gewesen. Vermutlich lag es daran, dass von Yorkes Brustkorb nicht mehr viel übrig sein würde. Wirklich Ahnung vom Geschäft eines Leichenbestatters hatte Friedrich zwar nicht, aber er stellte es sich schwierig vor, einen derartig zu Tode gekommenen Mann wieder hübsch herzurichten. Nein, das Begräbnis fand im Freien statt und das bei bestem Wetter. Zumindest regnete es nicht. Dafür war die Schwüle unerträglich geworden und hatte seine Kopfschmerzen in ihrem Versuch, ihn in den Wahnsinn zu treiben, noch unterstützt. Nicht dass er das jetzt gebrauchen konnte. Er musste einen kühlen Kopf bewahren. Hier zwischen all den Menschen konnte er nichts tun. Das wusste er so sicher, wie dass eins und eins addiert zwei ergab (Zumindest meistens). Trotzdem hatte er seine Aktentasche dabei. Glücklicherweise waren viele Kollegen aus der Uni zugegen, die ebenfalls ihre Taschen mitschleppten, sodass er nicht auffiel. Insgesamt, fand er, sah er aus wie ein durchschnittlicher Kollege, der kam, um einem großem Idol der Uni die letzte Ehre zu erweisen. Sehr passend. Er war von der rechten Seite auf den Friedhof gekommen, da dort die U-Bahn-Station lag. Wie es üblich für Menschen war, drängten sie sich in einem undurchschaubaren System nach vorne, um möglichst gut zu sehen und nichts von dem Spektakel zu verpassen. Friedrich war zufrieden damit, ganz hinten zu stehen und sich so weit es ging von dem Geschehen abzusondern. Geistig und körperlich. Eine ältliche Frau mehrere unorganisierte Reihen vor ihm begann zu schluchzen, noch bevor der Pfarrer seinen ersten Satz beendet hatte. Nicht dass Friedrich viel davon verstanden hätte, denn er sprach Latein, aber diese Dame schien sehr ergriffen. Eine Erinnerung überkam ihn und ihm fiel ein, dass Yorke Anhänger einer speziellen Konfession war, die sehr an den alten Sprachen hing. „Das ist keine richtige Sekte, Friedrich, mehr eine Gemeinschaft, so wie…” Er würgte die Erinnerung ab, wie man den Stecker einer Lampe aus der Steckdose zieht. Braune Augen. Er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren. Haltung bewahren. Gerader Rücken. Er streckte sein Kreuz. Der Pfarrer oder Priester oder was auch immer er war schien eine Ewigkeit zu reden. Die Frau vor ihm hatte offenbar einen unerschöpflichen Vorrat an Tränen, denn sie schaffte es irgendwie, die gesamte Rede hindurch vor sich hin zu schluchzen. Ein Teil von ihm fand diese Emotionalität faszinierend. Beinahe beneidenswert. Ein kurzer Schwindelanfall überkam ihm und ihm wurde schwarz vor Augen. Er schwankte, hatte sich aber fast sofort wieder unter Kontrolle. Nur sein unmittelbarer Nachbar, ein Mann mit buschigem Schnauzbart, musterte ihn besorgt. Stoisch richtete Friedrich seinen Blick wieder nach vorne. Von hinten wurde er angerempelt und wich instinktiv zur Seite aus. Eine Frau mit hellen, fast weißen Haaren, die sie im Nacken zu einem Zopf gebunden hatte, drängte sich an ihm vorbei. Der Kontrast der weißen Haare und dem schwarzen Kostüm, bewirkte einen seltsamen Effekt. Friedrich musste an die geschuppte, weiche Haut einer Schlange denken. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass sie sich geschickt zwischen den anderen Menschen hindurchschlängelte, ohne dass diese etwas von ihr mitzubekommen schienen. Friedrich beobachtete die Frau, bis sie schließlich aus seinem Blickfeld verschwand. Dann wandte er den Blick wieder nach vorne. Der Priester war abgetreten und hatte die bescheidene Bühne für einen älteren Herren frei gemacht. Obwohl dieser bereits auf die 70 zuging, machte er einen lebendigen und aufgeweckten Eindruck. Sein Kopf war völlig kahl rasiert, ebenso wie sein Kinn. Lediglich die Augenbrauen wucherten ihm grau und buschig aus dem Gesicht. Er trug einen Anzug, der so eindeutig ein Markenprodukt war, das Friedrich - mit diesem angeborenen, schwer ablegbaren Instinkt - innerlich sofort eine unterwürfige Haltung einnahm. Sein eigener Anzug war mindestens fünf Jahre alt und schon damals nicht gerade der letzte Schrei gewesen. „Liebe Familie Yorke, liebe Freunde und Freundinnen, liebe Kollegen und Kolleginnen”, begann der Herr die Rede. „Wir haben uns heute aus einem unendlich traurigen Anlass hier versammelt und bevor ich überhaupt etwas sage, möchte ich zuallererst den Hinterbliebenen meines guten Freundes Jason mein Beileid aussprechen.” Bei diesen Worten schaute er nach links (rechts von Friedrichs Perspektive aus), wo sich besagte Familie befinden musste. Friedrich jedoch bekam das alles nicht wirklich mit, denn sein Hirn hatte sich in dem Moment abgeschaltet, als er den alten Mann auf der Bühne erblickt hatte. Zusammen mit seinem Gesicht war ihm ein Strom von Bildern durch den Kopf gerast, eine wahre Flut von Empfindungen und Eindrücken und allem voran ein Name: Benedict Coppel. Er kannte den alten Herrn, der da vorne in derart höflicher, trauriger Ergriffenheit stand und alle, trotz seiner begrenzten rhetorischen Fähigkeiten, in seinen Bann zog. Und sein Anblick ließ Friedrichs Hand wie von selbst zu seiner Aktentasche zucken. Und sein Kopf schmerzte. Friedrich konzentrierte sich auf seinen Atem. Ein. Aus. Ein. Aus. Ein … und versuchte der Rede nicht zu lauschen. Doch wie einem die Wahrnehmung so oft einen Strich durch die Rechnung macht, war es ihm unmöglich das Geräusch auszublenden, das er am wenigsten in seinem Kopf haben wollte. Ganz im Gegenteil: Es war sogar so, dass jedes Wort, einem Glockenschlag gleich, in sein Gehirn rauschte und dort in konzentrischen Wellen eine größere Zerstörung anrichtete, als der Kopfschmerz es je vermocht hatte. „Seine Größe lag in der absoluten Ehrlichkeit, mit der er uns alle ansteckte. Es war seine Moral, die uns fest im Boden verankerte, doch seine Ideen verliehen uns Flügel, inspirierten uns.” Wie ein Schlag ins Gesicht. „Selten hatte ich die Ehre, einen solch begabten Menschen, einen solch großen Geist, einen solch originellen Denker zu treffen und ihn meinen Freund nennen zu dürfen.” „Hey, passen Sie doch auf!” Die wütende Beschwerde einer Frau riss Friedrich aus seiner Trance. Für kurze, erholsame Sekunden zerflossen die Worte von Benedict Coppel im Hintergrund zu einer zähen Masse an bedeutungslosen Lauten. Verwirrt blickte er sich um. Er stand nicht mehr in der hintersten Reihe, sondern mitten in einer Traube von Menschen, dem Redner und somit auch dem Grab um einige Meter näher. Auf seinem Weg dorthin musste er einige Menschen grob zur Seite gestoßen oder angerempelt haben, denn ein empörter Chor schloss sich dem Ausruf der ersten Frau an. Entschuldigend senkte er den Kopf. „Bitte verzeihen Sie, ich war nur so … so … ergriffen von der Rede.” Das war nicht mal eine Lüge. „Ja, sie ist wunderschön, nicht wahr?”, schniefte die ältere Dame mit den herausragenden Tränendrüsen. Dann schnäuzte sie sich geräuschvoll in ein Spitzentaschentuch. „Ruhe jetzt!”, zischelte es von mehreren Seiten. „Was für einen Vertrag?”, fragte Leon. „Ich dachte er hätte bezahlt, warum sollte er den Vertrag gebrochen haben?” „Das verstehen Sie natürlich nicht”, erwiderte D. „Aber darum muss ich mich nachher kümmern. Wo ist die Familie von Yorke?” Leon hatte ein ungefähres Bild der Zurückgebliebenen vor Augen, konnte sie aber von seiner Position so weit hinten nirgendwo ausmachen. Inzwischen stand ganz vorne auch ein anderer Mann mit Glatze, der eine Rede hielt, von der Leon nur Worte wie „seine Ideen verliehen uns Flügel“ und „begabten Menschen“ aufschnappte. Auch wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er nicht über das Meer von Köpfen hinwegsehen. Vermutlich wollte die Familie sich auch abschirmen und nicht auf dem Präsentierteller stehen. Leon konnte das gut verstehen, schließlich war es ihm bei der Beerdigung seiner Mutter nicht anders gegangen. Wie lange das schon her war! „Wir müssen weiter nach vorne”, verkündete D und begann einen eleganten Tanz zwischen den Menschen hindurch in Richtung des redenden Glatzkopfes. Bevor Leon ihm folgte, warf er noch einen Blick in Richtung von Devaney, doch der befand sich nicht mehr an seinem ursprünglichen Platz. Vielleicht war er nach Hause gegangen, er hatte wirklich sehr mitgenommen ausgesehen. Oder er hatte D entdeckt, sich an den ominösen Vertrag erinnert und das Weite gesucht. Widerwillig riss er sich von dem Gedanken los und folgte D, sehr viel weniger elegant als dieser. Vor ihm huschte Ds farbenfroher Kimono durch den Wald aus schwarz. Wenigstens war es leicht, diesem Farbfleck zu folgen. Er drängte sich zwischen zwei Menschen hindurch, stolperte über eine Tasche auf dem Boden und stieß mit der Schulter in den breiten Rücken eines Mannes vor ihm. Empört drehte dieser sich um. Es war der dicke Mann, der ihn vorhin bereits angepflaumt hatte. Sein Glück heute war wirklich sondergleichen. Das Gesicht des Dicken verfinsterte sich. „Sie schon wieder! Haben Sie nicht schon genug gestört?” Der kleine, rot-orangene Punkt von Ds Gewandt verlor sich hinter den schwarzen Anzügen. Er durfte ihn nicht verlieren, schließlich war der Plan ja, D festzunehmen, sobald er die illegale Schlange in Händen hielt. Wenn er jetzt trödelte, gab er ihm Zeit, mit dem gefährlichen Tier zu verschwinden. Ohne nachzudenken presste Leon eine Entschuldigung hervor und hoffte, dass er sich damit an dem Dicken vorbei nach vorne drängen konnte. Leider war dies nicht der Fall. Der Dicke fuhr links und rechts zwei voluminöse Ellbogen aus und versperrte das bisschen Platz, das sich zwischen den Trauergästen gebildet hatte. „Sie bleiben schön da hinten”, knurrte er leise, bevor er sich erneut dem Redner zuwandte und den Eindruck machte, als würde er diesem lauschen. „Mein Begleiter ist da vorne und ich möchte ihn nicht verlieren, könnten Sie mich nicht kurz durchlassen?”, bat Leon den breiten Rücken des Fettwanstes. Eine Antwort bekam er nicht. Offenbar hatte der Mann sich dazu entschieden, dass man Probleme am besten löste, indem man sie ignorierte. Inzwischen war D allerdings komplett aus seinem Blickfeld verschwunden. Am besten er versuchte es von der anderen Seite noch einmal. Er wandte sich nach rechts und wollte sich parallel durch die Menge drängeln, als auf einmal Devaney wieder in seinem Sichtfeld auftauchte. Er sah - falls das überhaupt möglich war - noch derangierter aus als zuvor. Seine Augen waren glasig und sein gesamtes Gesicht war angespannt, wie Leon es bei Menschen gesehen hatte, die einen starken Migräneanfall hatten. Unvermittelt bückte eine junge Frau vor ihm sich nach ihrem Taschentuch und Leon konnte für einen kurzen Moment Devaneys Oberkörper sehen. Er trug eine lederne Aktentasche unter seinem linken Arm und schien etwas darin zu suchen. Den Blick hatte er starr nach vorne gerichtet und lauschte der Rede mit großer Aufmerksamkeit. Leon war seit Jahren ein Cop und er war immer ein guter Cop gewesen, denn er hatte diesen sechsten Sinn, den Polizisten entwickeln und der ihnen hilft, den Täter aus einer großen Menge an Verdächtigen zu filtern. Ebenso war Leon bereits einigen Menschen gegenüber gestanden, die Pistolen gezogen und auf ihn gerichtet hatten. Oft hatte ihn nur das intuitive Wissen darüber gerettet, wann ein Mensch zieht und wann er abdrückt. Die wenigen Herzschläge die er ein solches Ereignis vorhersagen konnte, bildeten oft den Unterschied zwischen Leben und Tod. Und er wusste mit der gnadenlosen Gewissheit eines langjährigen Cops, dass Devaney kurz davor war, eine Waffe zu ziehen. Und wenn Devaney eine Waffe zog, dann hieß das, dass er nicht als Trauergast hier war. Seine Anwesenheit hatte einen anderen Grund, der Leon in diesem Moment wie Schuppen von den Augen fiel. Die Haare des Affen in der Tüte des Gerichtsmediziners. Der nervöse Blick von Devaney in Ds Laden. “Es könnte auch ein persönliches Motiv sein.” Das Gesicht des Affen. “Das Opfer muss den Mörder gekannt haben.” Der Flur in der Universität. Decoding the chaos butterfly. „Der dritte im Bunde ist Benedict Coppel.” Benedict Coppel. Das Mädchen richtete sich wieder auf und Devaney war von ihr und ihrem schwarzen Hut wieder beinahe vollständig verdeckt. Langsam aber stetig bewegte er sich nach vorne. Ruckartig wandte sich Leon dem alten Herrn neben ihm zu. „Entschuldigen Sie, wie heißt der Redner?” Er deutete nach vorne. Der Mann schaute ihn ratlos an, zuckte die Schultern und deutete auf seine Ohren. Dann sagte er sehr laut: „Schwerhörig.” Aufgebrachtes Gezischel von allen Seiten. Die hier versammelten Leute schienen sich allesamt verschworen zu haben, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Wütend schnaubte er und wollte sich wieder abwenden, als sich die Ehefrau des Schwerhörigen an ihrem Mann vorbei zu ihm beugte und sagte: „Ich glaube er heißt Coppel oder Cappel oder so. Und der Vorname war irgendwas mit B. Benjamin?” „Benedict Coppel?”, suggerierte Leon aufgeregt. „Ja, das könnte es gewesen sein.” Sie klappte ihren Kopf wieder zurück und nahm ihren vorigen Platz ein. Ein kurzer Kontrollblick zu Devaney. Der war inzwischen schon einen guten Meter vorwärtsgekommen. Ohne zu zögern wandte Leon sich um und drängte sich grob aus der Menge nach hinten. Kaum hatte er wieder einigermaßen Raum um zu Laufen, sprintete er nach rechts und schlug einen Bogen um die versammelte Menge. Devaney befand sich gerade genau in der Mitte. Da er relativ groß war, verlor man ihn auch nicht so leicht aus den Augen. ‚Er hat definitiv etwas vor’, schoss es Leon durch den Kopf. „Und wenn mich nicht alles trügt, dann haben wir hier unseren Täter.’ Kurz überlegte er, Jill anzurufen, aber dafür hatte er jetzt keine Zeit. Er musste handeln. Die Menge stand im Halbkreis um das Grab und den überschwänglichen Redner, Benedict Coppel, herum. Wenn er sich ihm einfach von hinten näherte, konnte er ihn aus der Schusslinie ziehen. Vorausgesetzt, Devaney bemerkte ihn nicht und drückte vorher ab. Inzwischen stand er schon verdammt weit vorne. Die Zeit wurde langsam knapp. Natürlich war es riskant, aber einen anderen Plan hatte Leon gerade nicht. Er war am äußeren Ende der Versammlung angekommen und schlug einen Bogen, um sich Coppel von hinten zu nähern, als auf einmal ein spitzer Schrei, gefolgt von einem wahren Tumult aus der Menge nach außen drang. Der erste Gedanke, der Leon durch den Kopf schoss, war: ‚Der Bastard hat abgedrückt!’ Doch Coppel war auf den ersten Blick unverletzt. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf eine Stelle ein kleines Stück vor ihm. Ein Hund stieß ein tiefes Knurren aus. Weitere Schreie ertönten. Aus den vielen Stimmen die durcheinander schrien, konnte Leon auf einmal ganz deutlich die schrille Stimme einer Frau vernehmen, die kreischte: „Eine Schlange! Da ist eine Schlange!” ‚Auch das noch!’ Am anderen Ende der Menschenmenge konnte er einen rot-orangenen Fleck erkennen, der sich gegen den Strom der Menschen in seine Richtung schob. Dann wichen auch die Menschen um Leon herum zurück und gaben den Blick auf eine Kampfszene frei. Ein großer schwarzer Hund hatte die Zähne um die breite Windung einer weißen Schlange geschlagen, die so lang war, dass ihr Schwanzende zwischen den Umstehenden nicht mehr zusehen war. Knurrend hielt er sie nun gepackt und schüttelte sie hin und her. Doch sein fester Biss nützte ihm nicht viel, denn er hatte die Schlange einen guten Meter hinter dem Nacken erwischt. Ihr Kopf hob sich, schlug aus und biss den Hund in die Seite. Mehr Schreie folgten. Eine blasse Frau zerrte an der Hand eines ungefähr zehnjährigen Mädchens. Am Rande seines Bewusstseins erkannte Leon sie als die Frau und Tochter von Yorke. Leute stoben auseinander und versuchten aus der Kampfzone heraufzukommen. Der gewaltige Körper der Schlange schlug heftig nach allen Seiten aus. Leon sah einen Mann zu Boden gehen, der von einem Schlag getroffen worden war. Ein furchtbarer Lärm tobte, während Menschen um Hilfe riefen oder anderen mitteilten, was passiert war. Um Leon herum herrschte ein einziges Chaos. Als Polizist hätte er eigentlich etwas tun müssen, doch der Hund war so groß wie ein Pony und die Schlange mindestens fünf Meter lang. Und zu allem Übel hatte er seine Dienstwaffe auch noch im Auto liegen gelassen, da er ja als Privatperson hier war. Sich unbewaffnet mit zwei Biestern dieses Kalibers anzulegen war Selbstmord. Es gab nur einen, dem er zutraute, den Kampf zu beenden, doch D war wieder verschwunden. Nirgendwo konnte Leon sein rotes Gewandt ausmachen. ‚Verdammt, wenn ich ihn einmal brauche!’ Mrs Yorke und ihre Tochter standen noch immer gefährlich nah bei dem Hund. Das Mädchen schrie irgendetwas, das wie für Leons Ohren wie „Güll” klang. Ein alter Mann mit Glatze, den Leon verspätet als Coppel identifizierte, tauchte auf, schrie etwas und zog die beiden mit sich, immer noch unter heftigem Protest des Mädchens. Sofort bewegte er sich in dieselbe Richtung wie das Dreiergespann. Wenn jemand akut in Gefahr war, dann … nur wenige Meter vor ihm stand Devaney. Seine Gestalt war auffällig, weil sie sich, anders als alle anderen, nicht unkoordiniert nach außen bewegte. Er hatte tatsächlich eine Waffe in der Hand, die er jetzt hob und zielte. Leon wollte eine Warnung ausstoßen, da sah er ein Mädchen mit dunklen Haaren, das zuvor von Devaneys Körper verdeckt gewesen war, direkt in die Schussbahn stolpern. Ein Schuss explodierte. Das schrille Kreischen einer Frau hatte ihn aus seiner Trance gerissen. Aufgeschreckt machte er den Fehler, die Augen einen Moment von seinem Opfer abzuwenden. Ein kurzes Stück vor ihm hatten eben noch eine Mutter mit zwei Töchtern gestanden. Das ohne Zweifel Auffälligste an ihnen war der große schwarze Hund, der neben ihnen saß und mit rötlichen Augen die Umgebung betrachtete. Er sah dieses seltsame Gespann einen Augenblick in völliger Bewegungslosigkeit verharren, dann glitt etwas Weißes durchs Gras. Das Bild vor seinen Augen flimmerte, wie ein Fernseher, der zwei Kanäle gleichzeitig empfängt. Einen Moment lang sah er die Frau mit den langen weißen Haaren, doch ihr Bild verschwamm, blitzte auf, bis es schließlich verschwunden war. Dann bellte der Hund einmal warnend, sprang auf und senkte den Kopf. Auf dem Boden zuckte etwas Weißes, Schweres. Friedrich konnte rote Augen sehen und den Kopf einer Schlange. Die Zähne des Hundes senkten sich knackend in ihren Körper und das kleine Mädchen schrie auf, als wäre es selber gebissen worden. Unmittelbar darauf brach das Chaos los. Der Schrei des Mädchens wurde von zahlreichen Kehlen aufgenommen und weitergetragen. Menschen, die nach einem kurzen Augenblick des Unglaubens verstanden, was sich vor ihren Augen abspielte, drehten sich um und flohen. Friedrich wurde von einer Gruppe junger Männer angerempelt und zur Seite gedrängt, die hastig vor der Schlange und dem Hund zurückwichen. Er konnte nicht sagen, ob das Rauschen in seinen Ohren aus seinem Kopf oder von draußen kam. Seine Wahrnehmung spaltete sich in viele einzelne Bilder. Momentaufnahmen von angstverzerrten Gesichtern, laufenden Füßen, Gras, seinen Händen, den ringenden Tieren die sich für Sekunden in eine Frau und einen Mann verwandelten, dann wieder der Kopf der Schlange, die Zähne des Hundes, das schreiende Mädchen und ihre Mutter, der Saum eines orangeroten Gewandes. Die Reizüberflutung brachte seinen Kopf beinahe zum Platzen. Für Momente verlor er die Orientierung, vergaß wo er war. Er rief nach Houwang. Er rief nach Sophie. Aber seine Stimme ging unter. Und vielleicht hatte er auch gar nicht geschrien. Dann fing er sich wieder, riss die Augen auf. Coppel stand nicht mehr auf seiner alten Position. Anders als alle anderen lief er auf die Schlange und den Hund zu. Sein Mund formte Worte, die erst mit einiger Verzögerung bei Friedrich ankamen. Mühsam bewegte er sich gegen den Strom nun seinerseits auf die Tiere und somit auf Coppel zu. Braune Augen. „Kelly, Sie müssen hier weg!” Das war Coppels Stimme. Er sprach mit der Frau und dem Kind. Plötzlich schirmte eine weiteres Mädchen, etwas älter diesmal, seine Sicht ab. Auch sie rief etwas, doch Friedrichs Sinne waren ausschließlich auf Coppel gepolt. „Kommen Sie!” Die Frau sagte etwas. Coppel packte das Mädchen am Arm, das sich wehrte und ebenfalls schrie. „Hier entlang, Kelly!” Kelly. Kelly Yorke. Friedrich kannte die Namen von Yorkes Familienmitgliedern, auch wenn er sie noch nie gesehen hatte. „Mum!”, rief das ältere Mädchen, das zwischen ihm und den Tieren stand. Er konnte sie nur verstehen, weil sie wirklich direkt vor ihm stand. Das musste die ältere Tochter sein. Egal. Er riss die Pistole aus der Tasche. Noch war Coppel in Reichweite. Er wandte ihm den Rücken zu. Friedrich zielte, aber er war kein guter Schütze. Und während er abdrückte, wusste er bereits, dass er nicht treffen würde. Das Mädchen vor ihm drehte sich zu ihm um und schrie. Sie hatte braune Augen und dunkle Haare. Sie konnte kaum älter sein als sechzehn oder siebzehn. Mit einer mächtigen Bewegung versuchte gleichzeitig die Schlange sich aus dem Biss des Hundes zu winden, bäumte sich auf und wirbelte mit ihrem Körper über den Boden. Das Schwanzende traf einen Mann an den Knöcheln, der im Laufen zu Boden fiel, bevor es wie ein Bumerang zurück wirbelte und dem Mädchen die Beine wegriss. Sie stolperte nach vorne und Friedrich, der sie instinktiv hatte auffangen wollen, drückte ab. Der Schuss hallte über den Friedhof. Das Mädchen fiel in seine Arme und schaute ihn aus überraschten Augen an. Sie standen aneinander gelehnt, allerdings nur für ein paar Sekunden. Er zitterte am ganzen Körper. Ihre linke Schulter hatte sich in eine Mischung aus Blut und Fleisch verwandelt. Mit der rechten Hand hatte sie sich an ihm festgehalten, doch trotz der Wunde schien sich ihr Stand nun zu stabilisieren, als hätte sie noch gar nicht gemerkt, dass ein Loch in ihrer Schulter war. Sie schrie auch nicht, sondern schaute ihm nur stumm und erschrocken ins Gesicht „Entschuldigung”, sagte er tonlos, als er warmes Blut über seine Handflächen rinnen spürte. „Das wollte ich nicht.” Sein Kopf pulsierte wütend. Ein Bild schob sich vor sein inneres Auge, wie sein Schädel hinten einen Riss bekam und knirschend aufbrach. Um ihn herum schien die Welt sich zu verlangsamen. Er wusste nicht, was er fühlen sollte. Das Mädchen schaute ihn immer noch an mit derart offenem Blick, dass er den Kopf abwenden musste. „Wer sind Sie?” Ratlos schaute er sie an und wusste nicht, was er antworten sollte. Sie atmete schwer und über Friedrichs Hände lief noch mehr Blut. Die Wunde anzusehen, die er verursacht hatte, konnte er nicht über sich bringen. „Es tut mir leid”, sagte er unvermittelt und leise. „Ich wollte dich wirklich nicht verletzen. Und es tut mir leid, dass ich deinen Vater umgebracht habe.” Ihre Beine knickten ein und er stützte sie, ohne zu realisieren, was er tat. Aus Friedrich brachen die Worte auf einmal hervor, als wäre ein gewaltiger Damm gebrochen. Er sprach schnell und leise. „Ich wollte ihn nicht umbringen, aber sie fingen an dieses Projekt zu planen und das sollte etwas ganz Großes werden. Sie brauchten nur einen Ansatz und Sophie forschte damals über Chaos und zwar zu diesem Diagramm. Das sagt dir bestimmt nichts, aber wenn man chaotische Systeme definiert, dann kann man das zum Beispiel über Attraktoren machen, das sind die Zustände, die nach einer Weile angenommen werden. Aber das werden natürlich immer mehr und nach einer Weile endet es trotzdem im Chaos. Und wenn du nur einen Parameter ein bisschen änderst, dann ist alles komplett anders. Das ist ja gerade das Spannende an solchen Systemen, dass man nie vorhersagen kann, was passiert. Und dann kamen Yorke und Coppel und Block mit ihrem Projekt und hatten sich vorgenommen, Chaos vorherzusagen. Als ob das möglich wäre. Sophie war die einzige, die bisher dazu geforscht hatte, deshalb haben sie ihre Ergebnisse genommen und verändert und -” Er hatte das Gefühl, dass er kurz davor war, zu hyperventilieren. „Für dieses Projekt brauchten sie Ergebnisse, aber die hatten sie nicht, zumindest nicht die, die sie wollten. Und dann haben sie angefangen, Beweise falsch anzusetzen, das geht ganz einfach, mit unterschiedlichen Definitionsräumen und so, und haben alles so weit vereinfacht, dass es gut aussah, aber Sophie hat das natürlich gemerkt und ich glaube, das hat sie kaputt gemacht. Es war ihre Forschung und auf einmal war alles falsch oder zu Unkenntlichkeit vereinfacht und dann hat sie ...” Er brach ab und schnappte nach Luft. Das Mädchen schaute ihn wortlos an. Warum hatte er ihr das alles erzählt? Sie war Yorkes Tochter und er hatte ihren Vater ermordet. Aber sie erinnerte ihn an Sophie, oder vielleicht nur an seine Vorstellung von Sophie. „Mein Gott, das ist so lange her”, stöhnte er leise. „Was ist mit ihr passiert?”, fragte Yorkes Tochter leise. „Mit Sophie?” „Sie .. sie hat ...” Er suchte nach einer Antwort, als plötzlich ein heftiger Schmerz seinen rechten Knöchel durchzuckte. Die weiße Schlange hatte ihre Zähne in sein Bein gegraben und funkelte ihn aus rubinroten Augen an. Beinahe im selben Moment wurde er von zwei kräftigen Armen zur Seite gerissen. Er fiel zu Boden. Sein Bein pulsierte und mühevoll rappelte er sich auf. Ein großer Mann mit blonden Haaren stand bei Yorkes Tochter und stützte sie. Und da war der Verkäufer aus dem Tierladen, bei dem er Houwang gekauft hatte, in einem leuchtend roten Gewandt. Doch das war so absurd, dass er ernsthaft an seiner Wahrnehmung zweifelte, denn was sollte Graf D hier zu suchen haben? ‚Vielleicht ist es das Gift’, dachte er nachdenklich, ‚oder ich werde allmählich langsam wirklich verrückt.’ Das Mädchen brach praktisch in seinen Armen zusammen. Schwer zu sagen, ob es an dem Blutverlust lag oder an der psychischen Belastung, sich gerade in der Gewalt eines Mörders befunden zu haben. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Leon konnte sie gerade noch auffangen und als er sie in den Armen hielt merkte er, dass sie das Bewusstsein verloren hatte. Ihre Schulter war voller Blut. „Wir brauchen einen Krankenwagen”, brüllte er, ohne jemanden im Besonderen zu adressieren. Das ganze war so schnell gegangen, dass alle noch immer in Aufregung waren und wie aufgescheuchte Hühner durch die Gegend liefen. Er trug das Mädchen so weit er konnte von der Schlange weg und legte sie dann auf dem Boden ab. Das Gras war trocken und knirschte unter seinen Füßen. Er fühlte ihren Puls, der zwar flatterte, aber glücklicherweise noch vorhanden war. An einer Schulterverletzung starb man normalerweise nicht, aber Leon wollte lieber nichts riskieren. „Der Krankenwagen kommt gleich”, sagte eine ältere Frau, die vorhin die ganze Zeit geweint hatte. Jetzt sah sie richtig entschlossen aus. Erstaunt dankte er ihr mit einem Nicken. „Könnten Sie vielleicht kurz bei ihr bleiben? Ich muss noch etwas erledigen.” „Natürlich.” Umständlich kniete sie sich neben das Mädchen und beugte sich über sie. Leon federte auf die Beine und fuhr herum. Jetzt galt es nur noch, Devaney zu schnappen. Doch der war nicht mehr da. Leon zog scharf die Luft ein. Eben noch hatte er den Mann von einer Riesenschlange gebissen zu Boden gehen sehen. Unmöglich, dass er weit gekommen war. D kniete neben dem riesigen, schwarzen Köter und murmelte irgendwas vor sich hin. Augenscheinlich interessierte er sich weder für seine ausgebüxte Schlange, noch für Leon oder Devaney. Die Schlange war … auch verschwunden! Leon fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Er spurtete zu D hinüber und brüllte: “D! Wo ist dein verdammtes Schlangenvieh und wo ist mein Tatverdächtiger?” Ohne aufzusehen antwortete der Graf: “Die Schlange ist keine Gefahr mehr, um die habe ich mich gekümmert.” Kam es Leon nur so vor, oder bewegte sich etwas unter seinen weiten Ärmeln? „Was deinen Tatverdächtigen angeht: Um den brauchst du dir keine Sorgen zu machen.” „Was soll das heißen?”, fragte Leon scharf. „Wo ist er?” „Ich nehme an, er ist nach Hause gegangen.” „Nach Hause? Wie? Er wurde von einer Monsterschlange gebissen!” „Ich habe doch bereits gesagt, dass diese Schlange für Menschen ungefährlich ist”, erklärte D geduldig. „Er hat keine Verletzungen davongetragen.” Vom der Straße her tönten Sirenen. Blaulicht zuckte über die Bäume. Leon fiel schlagartig auf, wie dunkel es geworden war, dabei war es später Nachmittag. Der Himmel hatte sich mit dunklen Wolken überzogen und die Luft war noch drückender geworden. Bald würde es Gewittern. Mehrere Sanitäter sprinteten über die Wiese und luden das Mädchen auf eine Trage. Leon kramte sein Handy raus. Immerhin wusste er jetzt, nach wem er suchen musste. Diesen Devaney zu finden sollte kein Problem mehr sein. Eine Hand legte sich auf seinen Arm. D hatte sich erhoben und stand nun neben ihm. „Lassen Sie es gut sein”, sagte er sanft. „Ich weiß, Sie brennen darauf, Ihren Täter dingfest zu machen, aber das ist unnötig.” „Sie haben mir eben selbst gesagt, dass er wohlauf ist”, knurrte Leon, wobei er das Handy fester umklammerte. „Ich sagte nur, dass die Schlange ihn nicht verletzt hat”, korrigierte D. „Aber zuvor sagte ich, dass er seinen Vertrag mit mir gebrochen hat.” „Was bedeutet das?” Doch D schüttelte nur den Kopf, bevor er sich wieder hinkniete und dem Hund durch das dichte Fell strich. „Den armen Kerl hier hat es übel erwischt”, sagte er traurig. „Aber er wird wieder werden. Seien Sie so lieb und tragen ihn schon mal zum Auto.” „Warum sollte ich Ihren Köter in meinem Auto mitnehmen?”, fragte Leon trotzig. “Er wird mir den Kofferraum vollbluten.” Es ärgerte ihn, dass D ihn bevormundete in Sachen, die ihn nichts angingen. Schließlich war Devaney Leons Täter, genauso wie es sein Fall war. Der Graf lächelte Leon mit seinem freundlichsten Lächeln an. „Bitte, tun Sie mir den Gefallen. Ich habe noch kurz etwas zu erledigen.” Ohne auf eine Antwort von Leon zu warten schritt er in Richtung der Stadt davon. Sein langer, roter Kimono wehte hinter ihm. Fassungslos starrte Leon ihm hinterher und schüttelte langsam den Kopf. Einer der Sanitäter sprach ihn an und wollte wissen, was geschehen sei. Er zögerte einen Moment, zuckte dann die Achseln und sagte, alles sei so schnell gegangen und er habe nichts gesehen. Der schwarze Hund öffnete die Augen, versuchte den Kopf zu haben und winselte leise. Er kniete sich neben das Tier und streichelte ihn abwesend hinter den Ohren. „Dein Herrchen hat dich wohl verlassen, hm?”, murmelte er leise. „Mich lässt er auch immer so sitzen.” Eine Weile verharrte er in dieser Position, dann ging ein Ruck durch ihn hindurch und er nahm den Hund hoch und verschwand langsam in Richtung Parkplatz mit ihm. Hinter sich konnte er die Sirenen der ankommenden Polizeifahrzeuge hören. Auf den Treppen befand sich Wasser. Es war nur ein bisschen Wasser, aber es tröpfelte unübersehbar die schmalen Stufen hinab und spiegelte das Licht der Flurlampen wider. Einer der Mieter des großen Gebäudes voller Apartments hatte sich bereits beim Hausmeister beschwert. Als man der Sache nachging, fand man die Quelle des Wassers: Es drang unter dem Türspalt des Apartments 216 B im sechsten Stock hervor. „Da wohnt dieser Doktor”, brummte der Hausmeister verwundert. Der „Doktor” hatte ihm in den acht Jahren, die er bereits hier wohnte, noch nie Schwierigkeiten gemacht. Alles was er tat war korrekt und formrichtig. “Da muss was passiert sein”, brummte er und machte sich wieder auf den Weg nach unten. Im Erdgeschoss befand sich sein Kabuff in dem er alle Schlüssel zu allen Apartments aufbewahrte. Unglücklicherweise war zusammen mit dem Wasserfluss auch der Aufzug ausgefallen. Das Teil war nicht unbedingt das neuste Modell und fiel schon ab und zu mal aus, aber gerade im Zusammenhang mit fließendem Wasser, bereitete dem Hausmeister nicht ganz einwandfreie Elektronik sorgen. Deshalb beeilte er sich auch, die 103 Stufen hinunter zu seinem Büro so schnell wie möglich zurückzulegen. Leider war er nicht mehr der Jüngste und litt seit Jahren unter schwerem Rheuma, besonders in den Knie- und Fußgelenken. Ein Abstieg, der einen gesunden Menschen nur wenige Minuten gekostet hätte, dauerte bei ihm eine Viertelstunde. Und dann musste er auch noch den richtigen Schlüssel finden und wieder nach oben schnaufen. Insgesamt dauerte es eine dreiviertel Stunde, bis der Hausmeister ein zweites Mal oben vor der Tür des Apartments Nummer 216 B stand. Das hatte einer seltsamen Gestalt, die einigem Fußgängern wegen ihres auffällig gefärbten Kleidungsstücks aufgefallen war, genug Zeit gegeben, um vom Dach des gegenüberliegenden Hauses zu springen und durch das sich öffnende Fenster ins innere der Wohnung zu dringen. Was er vorfand, hätte jeden, der den Bewohner des Apartments 216 B kannte, erschreckt. Auf dem Boden lag eine knöchelhohe Schicht Müll. Scherben, Papier, Holz, Federn, Stoff, kaum ein Material war nicht vertreten. Alle Wasserhähne waren aufgedreht worden und die überquellenden Waschbecken hatten den Fußboden längst unter Wasser gesetzt. Alle Regale und Schränke standen offen und waren leer. Außerdem hatte jemand die Vorhänge am Fenster in Brand gesetzt, die allerdings aus einem Stoff bestanden, der weniger brannte, als vor sich hin schwelte. Die Gestalt in dem bunten Kimono sprang vom Fensterbrett auf den Boden und ging mit Zehenspitzen in die Mitte des Zimmers. Dort lag ein Mann um die dreißig, mit weichen, braunen Haaren und einer Brille, die ihm allerdings schief von der Nase gerutscht war. In seinem Kopf befand sich ein großes, klaffendes Loch. Das herausströmende Blut färbte das Wasser und die Müllschicht auf dem Boden rot und bildete einen makabren Heiligenschein um den Kopf des Mannes. Eine Pistole lag auf dem Boden, ebenso wie eine schwarze Aktentasche, die allerdings leer war. An dem Mann saß ein Affe, dessen Schultern auf Kniehöhe der Gestalt im bunten Kimono waren. Der Affe hatte kupferfarbenes, leicht gelocktes Fell. An seinen Händen befanden sich Schnittwunden und auch auf seinem hübschen Fell befanden sich ein paar Blutstropfen. Mit großen Augen spielte er mit dem Feuerzeug, das er zwischen den langen Fingern hielt. Als die Silhouette der Gestalt das Fenster verdunkelte, hob der Affe den Kopf, bewegte sich jedoch nicht von der Stelle. Mit tänzelnden Schritten bewegte sich die Gestalt über den Müll auf dem Boden und blieb vor dem Affen stehen. Sie beugte sich zu ihm hinunter, nahm ihn in die Arme und warf einen nachdenklichen Blick auf den jungen Mann am Boden. Der Affe legte die Arme um den Hals der Gestalt, wobei er das Feuerzeug fallen ließ, und blickte ebenfalls auf die Leiche hinab. Einige Herzschläge verharrten sie so, dann knarzte draußen die Treppenstufe. Lautlos huschte die Gestalt zum Fenster und sprang hinaus. Ungefähr um sechs Uhr hatte es urplötzlich angefangen zu regnen. Chris hatte das laute, unvermittelte Prasseln aus seinem Spiel mit Pon-chan gerissen und schnell liefen sie alle zum Fenster, um hinauszusehen. Es war so dunkel, dass die Straßenlaternen angegangen waren und es goss in Strömen. Dicke Tropfen prallten an die Scheiben des Ladens und fielen spritzend zu Boden. Nur wenige Minuten später konnten sie die Scheinwerfer eines langsam fahrenden Autos ausmachen, das vor dem Laden anhielt. ‚Das sind Leon und Graf D!’, rief Chris aufgeregt und lief zur Tür um ihnen zu öffnen. Kurz darauf stolperte Leon in den Raum. Der kurze Weg vom Auto zur Tür hatte ihn bereits komplett durchnässt und er schimpfte und fluchte. Der Körper eines großen, muskulösen Mannes lag über seiner Schulter, was vermutlich einen Großteil seiner Wut bedingte. Hinter ihm kam D, der ebenfalls jemanden trug. In seinen Armen lag allerdings ein Junge, ungefähr in Chris’ Alter. Anders als der Mann, war der Junge bei Bewusstsein. Seine goldenen Augen zuckten zu Chris und er grinste ihn an. Unwillkürlich grinste Chris zurück. „Das ist doch Houwang”, wisperte Pon-chan. „Den hat der Graf doch diesem Mann verkauft, der neulich da war.” ‚Stimmt, du hast Recht’, bestätigte Chris nickend. ‚Und ich glaube, der Mann da ist Gwyll.’ Ungewohnt direkt unterbrach D ihr Gespräch: „Chris, mach uns doch Tee und Kuchen, wir sind bis auf die Haut durchnässt. Wir bringen derweil Houwang und Gwyll nach hinten.” Er schob sich an Leon vorbei und betrat den hinteren Teil des Ladens. Leon ächzte und bemühte sich, dem Graf zu folgen, was angesichts des schweren Körpers auf seinen Schultern nicht unbedingt einfach war. Pon-chan und Chris gingen in die Küche und setzten Wasser auf. ‘Seltsam’, meinte Chris, während das Wasser sich langsam zu erhitzen begann. Pon-chan balancierte auf einer Stuhllehne, um aus dem geheimen Vorrat des Grafen Kekse zu holen. ‘Sie wollten doch eigentlich Bai-chan suchen und kommen jetzt mit zwei Leuten wieder, die eigentlich Besitzer haben.’ „Du hast nicht genau genug hingesehen, Chris”, erklärte T-chan, der in der Küchentür lehnte und ihnen zusah. “D hatte die Schlange dabei, aber sie war in seinem Ärmel versteckt.” ‚Wie hat er das geschafft?’ „Der Graf ist ein Meister darin, große Dinge auf sehr engem Raum zu verstauen”, erwiderte T-chan rätselhaft. “Aber das wirst du alles noch lernen.” Epilog: Attraktor ----------------- Attraktoren sind Zustände von dynamischen Systemen, die diese nach einer gewissen Zeit dauerhaft oder immer wieder annehmen. Der Tisch war überhäuft mit Kuchen. Irgendein Kunde von D hatte ihm scheinbar eine Wagenladung davon zukommen lassen. Das wirklich Beunruhigende war, dass D schon mindestens die Hälfte in sich versenkt hatte. Leon hatte sich ein paar Stücke genommen, aber jetzt hatte er genug von Kuchen. Viel lieber wäre ihm ein gutes Stück Fleisch, aber so etwas suchte man in Ds Laden vergeblich. ‚Und was ist dann passiert?’, fragte Chris neugierig und schaute Leon mit großen Augen an. ‚Warum hat er denn die beiden Leute umgebracht?’ Mit der Gnade des Erzählers, an dessen Lippen alle hingen, ließ Leon seinen Blick über sein Publikum schweifen. Chris, sein Waschbär und noch ein paar andere Tiere aus dem Laden, die Leon nicht kannte, hatten sich um ihn herum versammelt und lauschten seiner Geschichte. Er erzählte ihnen grade, wie er den Mörder der Mathematiker (wie er auf dem Revier hieß) dingfest gemacht hatte. Das traf sich gerade gut, denn D war im hinteren Teil des Ladens, wo er irgendetwas aufräumen musste. Die Geschichte, die Leon erzählte, entsprach nicht ganz der Wahrheit. Selbst jetzt verstand er noch nicht, wie D es geschafft hatte, an Devaneys Affen zu kommen. Der Mörder selber hatte sich am Sonntag, kurz nach der Beerdigung in seiner Wohnung das Leben genommen. Das hatte Leon der Zeitung entnehmen können. Von D oder einem Affen stand jedoch kein Wort drin. „Nun“, setzte er seine Erzählung fort, „er war eifersüchtig auf den Erfolg dieser Wissenschaftler. Vermutlich hätte er selber gerne an diesem geheimen Projekt mitgearbeitet.“ Dies entsprach vermutlich sogar der Wahrheit. Zumindest war es Teil des offiziellen Statements, welches das LAPD abgegeben hatte. „Als mir das also klar geworden war-“ Er brach ab, denn jemand war in den Laden gekommen. Chris sprang sofort auf und lächelte breit. Es war ein Mädchen mit langen, dunklen Haaren, braunen Augen und einem riesigen Verband an der Schulter. „Guten Tag“, sagte Leon langsam und lächelte. Da er es vorgezogen hatte, nicht von seiner Anwesenheit bei der Beerdigung zu sprechen, wusste nur die alte Frau mit dem Handy, die den Krankenwagen gerufen hatte, dass er dort gewesen war. Magdalena Yorke sollte ihn eigentlich nicht erkennen. Trotzdem runzelte kurz die Stirn, während sie zum ihm hinübersah, als versuche sie sich an etwas zu erinnern. „Ist Graf D nicht da?“, fragte sie zögerlich. „Doch, natürlich“, erklang eine Stimme aus dem hinteren Teil des Ladens. „Wie kann ich dir helfen?“ Sie holte tief Luft und sagte dann: „Am Sonntag war die Beerdigung meines Vaters und ... vielleicht haben Sie gehört, dass dort –“ „Ich habe es in der Zeitung gelesen“, unterbrach sie der Graf sanft. Erleichtert nicht mehr alles erzählen zu müssen, nickte sie. „Ich glaubte dort eine Frau gesehen zu haben, die ich bereits in ihrem Laden einmal getroffen habe“, fuhr sie zögerlich fort. „Niemand sonst hat sie gesehen, weder meine Mutter, noch meine Schwester. Alle reden immer nur von einer Schlange. Vielleicht ... könnte ich noch einmal mit dieser Frau sprechen, nur um sicherzugehen, dass ich nicht verrückt werde?“ Der Graf überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. „Das ist leider nicht möglich“, sagte er leise. „Die Frau, die du gesehen hast, war dieselbe Schlange, die alle anderen sahen. Nur für dich hatte sie die Gestalt einer Frau.“ „Aber ... wie ist das möglich?“ „Diese Schlange ist sehr alt und sie war sehr lange alleine. Einst hatte sie eine Schwester, mit der sie sich sehr gut verstanden hat, doch die ist in einem Kampf ums Leben gekommen. Vermutlich glaubt sie, dass du ihre wiedergeborene Schwester bist, weshalb sie dich als Besitzerin erwählt hat. Sie war bei der Beerdigung, um dich zu schützen.“ „Meine Mutter sagt, die Schlange habe Gwyll angegriffen“, wandte sie ein. „Nein, Gwyll hat die Schlange angegriffen, weil er sie für eine Bedrohung hielt und weil die Sicherheit seiner Besitzer oberste Priorität für ihn hat“, erklärte D. „Aber es war Bai Suzhen, die dich vor dem Mann mit der Waffe gerettet hat. Danach ist sie wieder in meinen Laden zurückgekehrt und wird hier weiter an sich arbeiten. Dich zu sehen hieße für sie nur, dass sie aus ihrem inneren Gleichgewicht gebracht wird. Aber“ - D ging zur Hintertür und öffnete sie – „ich dachte mir bereits, dass du kommen würdest. Und deshalb habe ich dir einen anderen Beschützer mitgebracht.“ Durch die Tür trottete der große schwarze Hund, nur dass er Leon auf einmal nicht mehr so groß vorkam und auch nicht mehr so gefährlich. Seltsam, dass er solche Angst vor dem Tier gehabt hatte. Das Mädchen stieß einen Freudenschrei aus und umarmte Gwyll. „Sie haben ihn gefunden! Vielen Dank, Graf D! War er verletzt?“ Der Graf lächelte unschuldig. „Ja, ein bisschen. Aber ich konnte ihn in den Laden zurücktragen und hier versorgen.“ Wie von der Tarantel gestochen sprang Leon vom Sofa auf. „D, Sie mieser Lügner!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)