Dynamische Systeme von Kiryava (Wichtelgeschichte für Finicella) ================================================================================ Kapitel 3: Sekanten ------------------- Sekanten schneiden sich einmal und treffen sich dann nie wieder. Dank Leons treuem Dienstwagen schafften sie es einigermaßen pünktlich zur Beerdigung. Unglücklicherweise hatte keiner von ihnen daran gedacht, dass es sich um eine Beerdigung handelte und man auf Beerdigungen gewöhnlich schwarz trug. Leon hatte sein weißes Diensthemd und eine Jeans an, was noch einigermaßen formell aussah, doch D erregte mit seinem Kimono einiges Aufsehen. Nicht nur, dass Ds Gewänder sowieso immer wie Kleider aussahen, dieses hier hatte auch noch ein Flammenmuster aus rot und orange. Damit wäre es nicht nur bei einer Beerdigung ein Hingucker gewesen. Es war über den Nachmittag hinweg schwüler und stickiger geworden. Der Himmel war jetzt mit einer grauen Wolkenschicht bedeckt, die die warme Luft auf die Stadt hinab zu drücken schien. Das kurze Stück vom Auto bis zum Friedhof kam Leon so anstrengend vor, wie ein Dauerlauf. Ähnlich erledigt fühlte er sich auch, als sie endlich ankamen. D machte das Klima augenscheinlich gar nichts aus. Forschen Schrittes bewegte er sich auf die Trauergäste zu, ohne die Schwüle oder die sicherlich schwere Last seines Gewandes auch nur im Geringsten zu spüren. Seine unterschiedlich gefärbten Augen suchten starr die Menge ab. Die Trauergäste hatten sich offenbar schon vollständig versammelt und es waren eine Menge Menschen gekommen. Sie standen auf der Fläche eines großen Halbkreises. Vorne mussten sich das Grab und die Angehörigen befinden. Der Parkplatz befand sich auf der Ostseite des Friedhofs, so dass sie am äußeren rechten Rand ganz hinten Platz fanden. Leon trat neben D und versuchte möglichst professionell und dazugehörig auszusehen. Bereits jetzt warfen die Leute dem in ihren Augen seltsamen Paar verwunderte Blicke zu. Es waren allesamt gebildete Leute. Akademiker, Bürgertum, kurz: Menschen, die es zu etwas gebracht hatten. Ein Meer von schwarzen Anzügen, schwarzen Kleidern, schwarzen Hüten und Strumpfhosen erstreckte sich vor ihnen. Das einzige, was dieser Erscheinung einen Teil ihrer einschüchternden Wirkung nahm, war der gequälte Ausdruck auf den meisten Gesichtern, die vor Schweiß glänzten. So viele Leute waren da, dass Leon nicht bis ganz nach vorne sehen konnte, wo er einen Pfarrer und ein Grab mehr erahnen als tatsächlich erkennen konnte. „Denken Sie dran, wir suchen eine Frau mit weißen Haaren”, mahnte D und warf ihm einen bedeutungsschwangeren Blick von der Seite zu. „Ich dachte wir suchen eine Schlange?” „Oder eine weiße Schlange”, verbesserte sich D. „Suchen Sie einfach nach beidem.” „Sie sind wirklich verrückt”, murmelte Leon. „Und Ihre Kunden sind es offenbar auch. Apropos - sehen sie die Familie?” Verärgert schüttelte D den Kopf. „Wir sind zu spät, deshalb kann ich nichts sehen.” „Wir wären pünktlich gewesen, wenn Sie unterwegs nicht auf einmal Heißhunger auf Kuchen bekommen hätten!”, versetzte Leon. „Versuchen Sie die Schuld jetzt nicht auf mich zu schieben!” „Ohne etwas Anständiges im Magen kann ich nicht arbeiten.” Hätte er es nicht besser gewusst, hätte Leon gedacht, D ziehe einen Schmollmund. „Jedenfalls müssen wir weiter nach vorne, Herr Detektiv. Hier kommen wir bestimmt nicht weiter.” Mit diesen Worten wollte D sich gerade in die Menge stürzen, als Leons Handy klingelte. In diesem Moment wünschte er sich nicht sehnlicher, als dass er nicht “I will survive” als Klingelton auf das Teil geladen hätte. Unter den teilweise vorwurfsvollen, teilweise vernichtenden Blicken wurde er rot bis unter die Haare. Hastig drehte er sich weg, um der Abneigung der gehobenen Gesellschaft nicht mehr gegenübertreten zu müssen und ging ran. „Leon?” Es war Jill. Sie klang ziemlich aufgeregt. „Was gibt’s?”, knurrte er. „Ich habe ... Moment, wo zur Hölle steckst du? Bist du etwa tatsächlich bei D?” „Nein, ich -” Im Hintergrund begann der Pfarrer zu sprechen. Einzelne Worte waren nicht erkennbar (erst später stellte Leon fest, dass sie in Latein waren, was diese Tatsache erklärte), aber sein Stimmvolumen reichte aus, um den gesamten Friedhof zu füllen. „Wo bist du?? Das klang eben wie eine Kundgebung oder so!” „Ich bin auf Yorkes Beerdigung”, gab Leon zerknirscht zu. „Hast du mir etwas Wichtiges mitzuteilen? Wenn nicht lege ich auf, ich hab schon genug böse Blicke geerntet.” „Du sollst doch nicht auf Yorkes Beerdigung gehen!”, schimpfte Jill. Unwillkürlich hatte sie jedoch ihre Stimme gedämpft, als stünde sie neben Leon auf dem ausgedörrten Rasen und lausche den Worten des Pfarrers. „Das hat uns der Boss doch extra gesagt! Kein Einmischen in das Privatleben des Opfers!” „Ich bin hier unabhängig von der Polizei”, sagte Leon. „In meiner Freizeit darf ich tun und lassen was ich will.” „Genau genommen ist dein Dienst noch nicht vorbei. Du bist nur einfach verschwunden.” „Rufst du mich extra an, um mir eine Szene zu machen oder hast du auch noch etwas Nützliches für mich?” Die Worte klangen härter als beabsichtigt. Einen kurzen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann: „Ich glaube ich habe herausgefunden, wofür das Zeichen steht.” „Und zwar?” “Diese Feige in die du rein getreten bist hat mich drauf gebracht. Hör zu. Es gibt eine mathematische Gleichung, und die Darstellung davon heißt Feigenbaum-Diagramm. Anscheinend sagt die irgendwas über die Auswirkungen komplexer Systeme aus oder so. So genau habe ich das auch nicht verstanden. Jedenfalls -” “Feigenbaum-Diagramm? Das denkst du dir doch grade aus, oder?” “Nein! Feigenbaum hieß der Typ, der das erfunden hat. Diese Zeichen sind Teile aus einem Graph, der irgendwelche Anziehungspunkte oder so darstellt. Das ist wohl das Erkennungsmerkmal des Feigenbaum-Diagramms. Jedenfalls hat Yorke an so einem Projekt für die Regierung gearbeitet. Das hat mir einer dieser Regierungsfuzzis gesteckt, nachdem ich ein paar … natürliche Reize habe spielen lassen. In dem Projekt ging es um die Vorhersage von komplexen chaotischen Systemen. So was wie das Wetter zum Beispiel. Ist wohl 'ne Menge Geld rein geflossen. Jay Block hat da wohl auch mitgearbeitet und der dritte im Bunde ist Benedict Coppel. Der lebt allerdings noch.” „Und jemand, dem dieses Projekt ein Dorn im Auge war, hat Yorke dann offensichtlich umgebracht. Und seinen kleinen Kollegen gleich mit dazu”, schlussfolgerte Leon. „Das klingt logisch.” „Mag sein, aber es könnte auch ein persönliches Motiv gewesen sein. Der Täter ...” Der Rest von Jills Satz ging in einem wütenden Gezischel seines unmittelbaren Nachbarn unter, der ihn mehr oder weniger höflich aufforderte, das Gespräch zu beenden. Er ging einige Schritte weiter weg, bis er sich außer Hörweite der Trauergäste wähnte. D stand auf Zehenspitzen in einer Gruppe von älteren Herren und suchte die Umgebung ab. „Sorry Jill, ich war eben abgelenkt. Was hast du gesagt?”, sprach Leon immer noch leise flüsternd in den Empfänger. „Ich sagte: Das seltsame ist, dass der Mörder das zweite Zeichen nicht gemalt haben kann.” „Nicht?” „Nein. Auf allen Stiften waren nur die Fingerabdrücke des Opfers. Aber die Farbe, mit der auf die Tafel geschrieben wurde, stammte eindeutig aus einem der Stifte, die dort gefunden wurden.” Leon raufte sich die Haare. Dieser Fall war wirklich zu vertrackt. „Und was heißt das jetzt?” „Ich glaube nicht, dass die Zeichen nur zufällig da waren. Ich glaube vielmehr, dass der Täter uns etwas sagen möchte. Und dass er vermutlich persönliche Motive hat, weil -” Ein dicker Mann in Anzug stampfte kampfbereit auf Leon zu. Schnell nahm er das Handy von seinem Ohr uns spannte instinktiv seine Muskeln an, sollte es zu einem Kampf kommen. „Es ist pietätlos und ausgesprochen unhöflich auf einem Friedhof zu telefonieren”, polterte der Dicke. Sein Doppelkinn zitterte dabei. Mehrere Menschen drehten sich um. Leon fragte sich, ob er den Herrn darauf hinweisen sollte, dass es mindestens ebenso pietätlos und unhöflich war, auf einer Beerdigung herumzuschreien. „Sie sollten sich schämen, dass …” Eine schmale Hand legte sich auf Leons Unterarm und auf einmal stand Graf D neben ihm. Er fixierte den Dicken einige Augenblicke lang und sagte dann, während sich sein übliches Lächeln auf seine Lippen stahl: „Mein Freund war gerade fertig. Vielen Dank für Ihren freundlichen Hinweis.” Damit zog er Leon aus der Schusslinie. „Stecken Sie das Teil weg”, zischelte der Graf, während sie auf einen anderen Teil der anwesenden Menge zusteuerten. „Wir haben etwas zu erledigen.” Obwohl Leon wusste, dass er nachher furchtbare Scherereien mit Jills verletztem Stolz haben würde, drückte er auf Auflegen. „Haben Sie Ihre Schlange gefunden?”, brummte er mürrisch. „Nein, aber dafür etwas anderes.“ Er schob Leon ein Stück zur Seite, sodass er zwischen zwei kahlen Köpfen hindurch einen Blick auf einen hochgewachsenen Mann mit Brille hatte, der offenbar unter einem allergischen Anfall oder starker Trauer litt, jedenfalls war er nervös wie ein Dalmatiner, zwinkerte und zuckte und rieb sich immer wieder die Stirn. Er kam Leon bekannt vor, aber er wusste nicht sofort, wo oder wann er ihn das letzte Mal gesehen hatte. „Das ist der Herr, der Houwang gekauft hat”, half ihm D auf die Sprünge, als eine Reaktion ausblieb. „Wen?” „Den Affen, Sie Holzkopf! Ihren Hauptverdächtigen!” Schlagartig erkannte Leon das Gesicht wieder. Natürlich! Der nervöse Kerl, der eine Schlange wollte und einen Affen gekriegt hatte. Welche Ironie! „Aber … Moment mal … wo ist denn der Affe?” D knirschte mit den Zähnen. „Er hat ihn nicht dabei. Das heißt, er hat den Vertrag gebrochen.” Wie er es geschafft hatte, nur mit fünf Minuten Verspätung zu Yorkes Beerdigung zu erscheinen, war ihm ein Rätsel. Aber er war da. Und das war genau das Problem. Er war da. Einige Kollegen grüßten ihn mit höflicher Zurückhaltung, den meisten nickte er freundlich zu. Viele Gesichter trugen traurige Mienen. Immerhin waren sie alle gut erzogen und besaßen den Anstand, die Trauer - wenn sie nicht ehrlich empfunden war - doch immerhin vorzutäuschen. Es waren unglaublich viele Menschen da, mehr noch, als Friedrich erwartet hatte. Obwohl er es sich eigentlich hätte denken können. Yorke war ein angesehener Wissenschaftler und hatte einiges auf dem Gebiet der Chaostheorie geleistet. Zumindest nahm man das an. Friedrich wusste es besser, aber das war jetzt egal. Yorke war tot. Ein seltsames Gefühl, sich vorzustellen, dass der Mann im Sarg einmal gelebt hatte. Noch viel seltsamer war es, zu wissen, dass er selber ihn umgebracht hatte. Und mit diesem Wissen zwischen die nichtsahnenden Gäste zu treten. Eine Aufbahrung hatte es glücklicherweise nicht gegeben. Das wäre für Friedrich zu viel gewesen. Vermutlich lag es daran, dass von Yorkes Brustkorb nicht mehr viel übrig sein würde. Wirklich Ahnung vom Geschäft eines Leichenbestatters hatte Friedrich zwar nicht, aber er stellte es sich schwierig vor, einen derartig zu Tode gekommenen Mann wieder hübsch herzurichten. Nein, das Begräbnis fand im Freien statt und das bei bestem Wetter. Zumindest regnete es nicht. Dafür war die Schwüle unerträglich geworden und hatte seine Kopfschmerzen in ihrem Versuch, ihn in den Wahnsinn zu treiben, noch unterstützt. Nicht dass er das jetzt gebrauchen konnte. Er musste einen kühlen Kopf bewahren. Hier zwischen all den Menschen konnte er nichts tun. Das wusste er so sicher, wie dass eins und eins addiert zwei ergab (Zumindest meistens). Trotzdem hatte er seine Aktentasche dabei. Glücklicherweise waren viele Kollegen aus der Uni zugegen, die ebenfalls ihre Taschen mitschleppten, sodass er nicht auffiel. Insgesamt, fand er, sah er aus wie ein durchschnittlicher Kollege, der kam, um einem großem Idol der Uni die letzte Ehre zu erweisen. Sehr passend. Er war von der rechten Seite auf den Friedhof gekommen, da dort die U-Bahn-Station lag. Wie es üblich für Menschen war, drängten sie sich in einem undurchschaubaren System nach vorne, um möglichst gut zu sehen und nichts von dem Spektakel zu verpassen. Friedrich war zufrieden damit, ganz hinten zu stehen und sich so weit es ging von dem Geschehen abzusondern. Geistig und körperlich. Eine ältliche Frau mehrere unorganisierte Reihen vor ihm begann zu schluchzen, noch bevor der Pfarrer seinen ersten Satz beendet hatte. Nicht dass Friedrich viel davon verstanden hätte, denn er sprach Latein, aber diese Dame schien sehr ergriffen. Eine Erinnerung überkam ihn und ihm fiel ein, dass Yorke Anhänger einer speziellen Konfession war, die sehr an den alten Sprachen hing. „Das ist keine richtige Sekte, Friedrich, mehr eine Gemeinschaft, so wie…” Er würgte die Erinnerung ab, wie man den Stecker einer Lampe aus der Steckdose zieht. Braune Augen. Er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren. Haltung bewahren. Gerader Rücken. Er streckte sein Kreuz. Der Pfarrer oder Priester oder was auch immer er war schien eine Ewigkeit zu reden. Die Frau vor ihm hatte offenbar einen unerschöpflichen Vorrat an Tränen, denn sie schaffte es irgendwie, die gesamte Rede hindurch vor sich hin zu schluchzen. Ein Teil von ihm fand diese Emotionalität faszinierend. Beinahe beneidenswert. Ein kurzer Schwindelanfall überkam ihm und ihm wurde schwarz vor Augen. Er schwankte, hatte sich aber fast sofort wieder unter Kontrolle. Nur sein unmittelbarer Nachbar, ein Mann mit buschigem Schnauzbart, musterte ihn besorgt. Stoisch richtete Friedrich seinen Blick wieder nach vorne. Von hinten wurde er angerempelt und wich instinktiv zur Seite aus. Eine Frau mit hellen, fast weißen Haaren, die sie im Nacken zu einem Zopf gebunden hatte, drängte sich an ihm vorbei. Der Kontrast der weißen Haare und dem schwarzen Kostüm, bewirkte einen seltsamen Effekt. Friedrich musste an die geschuppte, weiche Haut einer Schlange denken. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass sie sich geschickt zwischen den anderen Menschen hindurchschlängelte, ohne dass diese etwas von ihr mitzubekommen schienen. Friedrich beobachtete die Frau, bis sie schließlich aus seinem Blickfeld verschwand. Dann wandte er den Blick wieder nach vorne. Der Priester war abgetreten und hatte die bescheidene Bühne für einen älteren Herren frei gemacht. Obwohl dieser bereits auf die 70 zuging, machte er einen lebendigen und aufgeweckten Eindruck. Sein Kopf war völlig kahl rasiert, ebenso wie sein Kinn. Lediglich die Augenbrauen wucherten ihm grau und buschig aus dem Gesicht. Er trug einen Anzug, der so eindeutig ein Markenprodukt war, das Friedrich - mit diesem angeborenen, schwer ablegbaren Instinkt - innerlich sofort eine unterwürfige Haltung einnahm. Sein eigener Anzug war mindestens fünf Jahre alt und schon damals nicht gerade der letzte Schrei gewesen. „Liebe Familie Yorke, liebe Freunde und Freundinnen, liebe Kollegen und Kolleginnen”, begann der Herr die Rede. „Wir haben uns heute aus einem unendlich traurigen Anlass hier versammelt und bevor ich überhaupt etwas sage, möchte ich zuallererst den Hinterbliebenen meines guten Freundes Jason mein Beileid aussprechen.” Bei diesen Worten schaute er nach links (rechts von Friedrichs Perspektive aus), wo sich besagte Familie befinden musste. Friedrich jedoch bekam das alles nicht wirklich mit, denn sein Hirn hatte sich in dem Moment abgeschaltet, als er den alten Mann auf der Bühne erblickt hatte. Zusammen mit seinem Gesicht war ihm ein Strom von Bildern durch den Kopf gerast, eine wahre Flut von Empfindungen und Eindrücken und allem voran ein Name: Benedict Coppel. Er kannte den alten Herrn, der da vorne in derart höflicher, trauriger Ergriffenheit stand und alle, trotz seiner begrenzten rhetorischen Fähigkeiten, in seinen Bann zog. Und sein Anblick ließ Friedrichs Hand wie von selbst zu seiner Aktentasche zucken. Und sein Kopf schmerzte. Friedrich konzentrierte sich auf seinen Atem. Ein. Aus. Ein. Aus. Ein … und versuchte der Rede nicht zu lauschen. Doch wie einem die Wahrnehmung so oft einen Strich durch die Rechnung macht, war es ihm unmöglich das Geräusch auszublenden, das er am wenigsten in seinem Kopf haben wollte. Ganz im Gegenteil: Es war sogar so, dass jedes Wort, einem Glockenschlag gleich, in sein Gehirn rauschte und dort in konzentrischen Wellen eine größere Zerstörung anrichtete, als der Kopfschmerz es je vermocht hatte. „Seine Größe lag in der absoluten Ehrlichkeit, mit der er uns alle ansteckte. Es war seine Moral, die uns fest im Boden verankerte, doch seine Ideen verliehen uns Flügel, inspirierten uns.” Wie ein Schlag ins Gesicht. „Selten hatte ich die Ehre, einen solch begabten Menschen, einen solch großen Geist, einen solch originellen Denker zu treffen und ihn meinen Freund nennen zu dürfen.” „Hey, passen Sie doch auf!” Die wütende Beschwerde einer Frau riss Friedrich aus seiner Trance. Für kurze, erholsame Sekunden zerflossen die Worte von Benedict Coppel im Hintergrund zu einer zähen Masse an bedeutungslosen Lauten. Verwirrt blickte er sich um. Er stand nicht mehr in der hintersten Reihe, sondern mitten in einer Traube von Menschen, dem Redner und somit auch dem Grab um einige Meter näher. Auf seinem Weg dorthin musste er einige Menschen grob zur Seite gestoßen oder angerempelt haben, denn ein empörter Chor schloss sich dem Ausruf der ersten Frau an. Entschuldigend senkte er den Kopf. „Bitte verzeihen Sie, ich war nur so … so … ergriffen von der Rede.” Das war nicht mal eine Lüge. „Ja, sie ist wunderschön, nicht wahr?”, schniefte die ältere Dame mit den herausragenden Tränendrüsen. Dann schnäuzte sie sich geräuschvoll in ein Spitzentaschentuch. „Ruhe jetzt!”, zischelte es von mehreren Seiten. „Was für einen Vertrag?”, fragte Leon. „Ich dachte er hätte bezahlt, warum sollte er den Vertrag gebrochen haben?” „Das verstehen Sie natürlich nicht”, erwiderte D. „Aber darum muss ich mich nachher kümmern. Wo ist die Familie von Yorke?” Leon hatte ein ungefähres Bild der Zurückgebliebenen vor Augen, konnte sie aber von seiner Position so weit hinten nirgendwo ausmachen. Inzwischen stand ganz vorne auch ein anderer Mann mit Glatze, der eine Rede hielt, von der Leon nur Worte wie „seine Ideen verliehen uns Flügel“ und „begabten Menschen“ aufschnappte. Auch wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er nicht über das Meer von Köpfen hinwegsehen. Vermutlich wollte die Familie sich auch abschirmen und nicht auf dem Präsentierteller stehen. Leon konnte das gut verstehen, schließlich war es ihm bei der Beerdigung seiner Mutter nicht anders gegangen. Wie lange das schon her war! „Wir müssen weiter nach vorne”, verkündete D und begann einen eleganten Tanz zwischen den Menschen hindurch in Richtung des redenden Glatzkopfes. Bevor Leon ihm folgte, warf er noch einen Blick in Richtung von Devaney, doch der befand sich nicht mehr an seinem ursprünglichen Platz. Vielleicht war er nach Hause gegangen, er hatte wirklich sehr mitgenommen ausgesehen. Oder er hatte D entdeckt, sich an den ominösen Vertrag erinnert und das Weite gesucht. Widerwillig riss er sich von dem Gedanken los und folgte D, sehr viel weniger elegant als dieser. Vor ihm huschte Ds farbenfroher Kimono durch den Wald aus schwarz. Wenigstens war es leicht, diesem Farbfleck zu folgen. Er drängte sich zwischen zwei Menschen hindurch, stolperte über eine Tasche auf dem Boden und stieß mit der Schulter in den breiten Rücken eines Mannes vor ihm. Empört drehte dieser sich um. Es war der dicke Mann, der ihn vorhin bereits angepflaumt hatte. Sein Glück heute war wirklich sondergleichen. Das Gesicht des Dicken verfinsterte sich. „Sie schon wieder! Haben Sie nicht schon genug gestört?” Der kleine, rot-orangene Punkt von Ds Gewandt verlor sich hinter den schwarzen Anzügen. Er durfte ihn nicht verlieren, schließlich war der Plan ja, D festzunehmen, sobald er die illegale Schlange in Händen hielt. Wenn er jetzt trödelte, gab er ihm Zeit, mit dem gefährlichen Tier zu verschwinden. Ohne nachzudenken presste Leon eine Entschuldigung hervor und hoffte, dass er sich damit an dem Dicken vorbei nach vorne drängen konnte. Leider war dies nicht der Fall. Der Dicke fuhr links und rechts zwei voluminöse Ellbogen aus und versperrte das bisschen Platz, das sich zwischen den Trauergästen gebildet hatte. „Sie bleiben schön da hinten”, knurrte er leise, bevor er sich erneut dem Redner zuwandte und den Eindruck machte, als würde er diesem lauschen. „Mein Begleiter ist da vorne und ich möchte ihn nicht verlieren, könnten Sie mich nicht kurz durchlassen?”, bat Leon den breiten Rücken des Fettwanstes. Eine Antwort bekam er nicht. Offenbar hatte der Mann sich dazu entschieden, dass man Probleme am besten löste, indem man sie ignorierte. Inzwischen war D allerdings komplett aus seinem Blickfeld verschwunden. Am besten er versuchte es von der anderen Seite noch einmal. Er wandte sich nach rechts und wollte sich parallel durch die Menge drängeln, als auf einmal Devaney wieder in seinem Sichtfeld auftauchte. Er sah - falls das überhaupt möglich war - noch derangierter aus als zuvor. Seine Augen waren glasig und sein gesamtes Gesicht war angespannt, wie Leon es bei Menschen gesehen hatte, die einen starken Migräneanfall hatten. Unvermittelt bückte eine junge Frau vor ihm sich nach ihrem Taschentuch und Leon konnte für einen kurzen Moment Devaneys Oberkörper sehen. Er trug eine lederne Aktentasche unter seinem linken Arm und schien etwas darin zu suchen. Den Blick hatte er starr nach vorne gerichtet und lauschte der Rede mit großer Aufmerksamkeit. Leon war seit Jahren ein Cop und er war immer ein guter Cop gewesen, denn er hatte diesen sechsten Sinn, den Polizisten entwickeln und der ihnen hilft, den Täter aus einer großen Menge an Verdächtigen zu filtern. Ebenso war Leon bereits einigen Menschen gegenüber gestanden, die Pistolen gezogen und auf ihn gerichtet hatten. Oft hatte ihn nur das intuitive Wissen darüber gerettet, wann ein Mensch zieht und wann er abdrückt. Die wenigen Herzschläge die er ein solches Ereignis vorhersagen konnte, bildeten oft den Unterschied zwischen Leben und Tod. Und er wusste mit der gnadenlosen Gewissheit eines langjährigen Cops, dass Devaney kurz davor war, eine Waffe zu ziehen. Und wenn Devaney eine Waffe zog, dann hieß das, dass er nicht als Trauergast hier war. Seine Anwesenheit hatte einen anderen Grund, der Leon in diesem Moment wie Schuppen von den Augen fiel. Die Haare des Affen in der Tüte des Gerichtsmediziners. Der nervöse Blick von Devaney in Ds Laden. “Es könnte auch ein persönliches Motiv sein.” Das Gesicht des Affen. “Das Opfer muss den Mörder gekannt haben.” Der Flur in der Universität. Decoding the chaos butterfly. „Der dritte im Bunde ist Benedict Coppel.” Benedict Coppel. Das Mädchen richtete sich wieder auf und Devaney war von ihr und ihrem schwarzen Hut wieder beinahe vollständig verdeckt. Langsam aber stetig bewegte er sich nach vorne. Ruckartig wandte sich Leon dem alten Herrn neben ihm zu. „Entschuldigen Sie, wie heißt der Redner?” Er deutete nach vorne. Der Mann schaute ihn ratlos an, zuckte die Schultern und deutete auf seine Ohren. Dann sagte er sehr laut: „Schwerhörig.” Aufgebrachtes Gezischel von allen Seiten. Die hier versammelten Leute schienen sich allesamt verschworen zu haben, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Wütend schnaubte er und wollte sich wieder abwenden, als sich die Ehefrau des Schwerhörigen an ihrem Mann vorbei zu ihm beugte und sagte: „Ich glaube er heißt Coppel oder Cappel oder so. Und der Vorname war irgendwas mit B. Benjamin?” „Benedict Coppel?”, suggerierte Leon aufgeregt. „Ja, das könnte es gewesen sein.” Sie klappte ihren Kopf wieder zurück und nahm ihren vorigen Platz ein. Ein kurzer Kontrollblick zu Devaney. Der war inzwischen schon einen guten Meter vorwärtsgekommen. Ohne zu zögern wandte Leon sich um und drängte sich grob aus der Menge nach hinten. Kaum hatte er wieder einigermaßen Raum um zu Laufen, sprintete er nach rechts und schlug einen Bogen um die versammelte Menge. Devaney befand sich gerade genau in der Mitte. Da er relativ groß war, verlor man ihn auch nicht so leicht aus den Augen. ‚Er hat definitiv etwas vor’, schoss es Leon durch den Kopf. „Und wenn mich nicht alles trügt, dann haben wir hier unseren Täter.’ Kurz überlegte er, Jill anzurufen, aber dafür hatte er jetzt keine Zeit. Er musste handeln. Die Menge stand im Halbkreis um das Grab und den überschwänglichen Redner, Benedict Coppel, herum. Wenn er sich ihm einfach von hinten näherte, konnte er ihn aus der Schusslinie ziehen. Vorausgesetzt, Devaney bemerkte ihn nicht und drückte vorher ab. Inzwischen stand er schon verdammt weit vorne. Die Zeit wurde langsam knapp. Natürlich war es riskant, aber einen anderen Plan hatte Leon gerade nicht. Er war am äußeren Ende der Versammlung angekommen und schlug einen Bogen, um sich Coppel von hinten zu nähern, als auf einmal ein spitzer Schrei, gefolgt von einem wahren Tumult aus der Menge nach außen drang. Der erste Gedanke, der Leon durch den Kopf schoss, war: ‚Der Bastard hat abgedrückt!’ Doch Coppel war auf den ersten Blick unverletzt. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf eine Stelle ein kleines Stück vor ihm. Ein Hund stieß ein tiefes Knurren aus. Weitere Schreie ertönten. Aus den vielen Stimmen die durcheinander schrien, konnte Leon auf einmal ganz deutlich die schrille Stimme einer Frau vernehmen, die kreischte: „Eine Schlange! Da ist eine Schlange!” ‚Auch das noch!’ Am anderen Ende der Menschenmenge konnte er einen rot-orangenen Fleck erkennen, der sich gegen den Strom der Menschen in seine Richtung schob. Dann wichen auch die Menschen um Leon herum zurück und gaben den Blick auf eine Kampfszene frei. Ein großer schwarzer Hund hatte die Zähne um die breite Windung einer weißen Schlange geschlagen, die so lang war, dass ihr Schwanzende zwischen den Umstehenden nicht mehr zusehen war. Knurrend hielt er sie nun gepackt und schüttelte sie hin und her. Doch sein fester Biss nützte ihm nicht viel, denn er hatte die Schlange einen guten Meter hinter dem Nacken erwischt. Ihr Kopf hob sich, schlug aus und biss den Hund in die Seite. Mehr Schreie folgten. Eine blasse Frau zerrte an der Hand eines ungefähr zehnjährigen Mädchens. Am Rande seines Bewusstseins erkannte Leon sie als die Frau und Tochter von Yorke. Leute stoben auseinander und versuchten aus der Kampfzone heraufzukommen. Der gewaltige Körper der Schlange schlug heftig nach allen Seiten aus. Leon sah einen Mann zu Boden gehen, der von einem Schlag getroffen worden war. Ein furchtbarer Lärm tobte, während Menschen um Hilfe riefen oder anderen mitteilten, was passiert war. Um Leon herum herrschte ein einziges Chaos. Als Polizist hätte er eigentlich etwas tun müssen, doch der Hund war so groß wie ein Pony und die Schlange mindestens fünf Meter lang. Und zu allem Übel hatte er seine Dienstwaffe auch noch im Auto liegen gelassen, da er ja als Privatperson hier war. Sich unbewaffnet mit zwei Biestern dieses Kalibers anzulegen war Selbstmord. Es gab nur einen, dem er zutraute, den Kampf zu beenden, doch D war wieder verschwunden. Nirgendwo konnte Leon sein rotes Gewandt ausmachen. ‚Verdammt, wenn ich ihn einmal brauche!’ Mrs Yorke und ihre Tochter standen noch immer gefährlich nah bei dem Hund. Das Mädchen schrie irgendetwas, das wie für Leons Ohren wie „Güll” klang. Ein alter Mann mit Glatze, den Leon verspätet als Coppel identifizierte, tauchte auf, schrie etwas und zog die beiden mit sich, immer noch unter heftigem Protest des Mädchens. Sofort bewegte er sich in dieselbe Richtung wie das Dreiergespann. Wenn jemand akut in Gefahr war, dann … nur wenige Meter vor ihm stand Devaney. Seine Gestalt war auffällig, weil sie sich, anders als alle anderen, nicht unkoordiniert nach außen bewegte. Er hatte tatsächlich eine Waffe in der Hand, die er jetzt hob und zielte. Leon wollte eine Warnung ausstoßen, da sah er ein Mädchen mit dunklen Haaren, das zuvor von Devaneys Körper verdeckt gewesen war, direkt in die Schussbahn stolpern. Ein Schuss explodierte. Das schrille Kreischen einer Frau hatte ihn aus seiner Trance gerissen. Aufgeschreckt machte er den Fehler, die Augen einen Moment von seinem Opfer abzuwenden. Ein kurzes Stück vor ihm hatten eben noch eine Mutter mit zwei Töchtern gestanden. Das ohne Zweifel Auffälligste an ihnen war der große schwarze Hund, der neben ihnen saß und mit rötlichen Augen die Umgebung betrachtete. Er sah dieses seltsame Gespann einen Augenblick in völliger Bewegungslosigkeit verharren, dann glitt etwas Weißes durchs Gras. Das Bild vor seinen Augen flimmerte, wie ein Fernseher, der zwei Kanäle gleichzeitig empfängt. Einen Moment lang sah er die Frau mit den langen weißen Haaren, doch ihr Bild verschwamm, blitzte auf, bis es schließlich verschwunden war. Dann bellte der Hund einmal warnend, sprang auf und senkte den Kopf. Auf dem Boden zuckte etwas Weißes, Schweres. Friedrich konnte rote Augen sehen und den Kopf einer Schlange. Die Zähne des Hundes senkten sich knackend in ihren Körper und das kleine Mädchen schrie auf, als wäre es selber gebissen worden. Unmittelbar darauf brach das Chaos los. Der Schrei des Mädchens wurde von zahlreichen Kehlen aufgenommen und weitergetragen. Menschen, die nach einem kurzen Augenblick des Unglaubens verstanden, was sich vor ihren Augen abspielte, drehten sich um und flohen. Friedrich wurde von einer Gruppe junger Männer angerempelt und zur Seite gedrängt, die hastig vor der Schlange und dem Hund zurückwichen. Er konnte nicht sagen, ob das Rauschen in seinen Ohren aus seinem Kopf oder von draußen kam. Seine Wahrnehmung spaltete sich in viele einzelne Bilder. Momentaufnahmen von angstverzerrten Gesichtern, laufenden Füßen, Gras, seinen Händen, den ringenden Tieren die sich für Sekunden in eine Frau und einen Mann verwandelten, dann wieder der Kopf der Schlange, die Zähne des Hundes, das schreiende Mädchen und ihre Mutter, der Saum eines orangeroten Gewandes. Die Reizüberflutung brachte seinen Kopf beinahe zum Platzen. Für Momente verlor er die Orientierung, vergaß wo er war. Er rief nach Houwang. Er rief nach Sophie. Aber seine Stimme ging unter. Und vielleicht hatte er auch gar nicht geschrien. Dann fing er sich wieder, riss die Augen auf. Coppel stand nicht mehr auf seiner alten Position. Anders als alle anderen lief er auf die Schlange und den Hund zu. Sein Mund formte Worte, die erst mit einiger Verzögerung bei Friedrich ankamen. Mühsam bewegte er sich gegen den Strom nun seinerseits auf die Tiere und somit auf Coppel zu. Braune Augen. „Kelly, Sie müssen hier weg!” Das war Coppels Stimme. Er sprach mit der Frau und dem Kind. Plötzlich schirmte eine weiteres Mädchen, etwas älter diesmal, seine Sicht ab. Auch sie rief etwas, doch Friedrichs Sinne waren ausschließlich auf Coppel gepolt. „Kommen Sie!” Die Frau sagte etwas. Coppel packte das Mädchen am Arm, das sich wehrte und ebenfalls schrie. „Hier entlang, Kelly!” Kelly. Kelly Yorke. Friedrich kannte die Namen von Yorkes Familienmitgliedern, auch wenn er sie noch nie gesehen hatte. „Mum!”, rief das ältere Mädchen, das zwischen ihm und den Tieren stand. Er konnte sie nur verstehen, weil sie wirklich direkt vor ihm stand. Das musste die ältere Tochter sein. Egal. Er riss die Pistole aus der Tasche. Noch war Coppel in Reichweite. Er wandte ihm den Rücken zu. Friedrich zielte, aber er war kein guter Schütze. Und während er abdrückte, wusste er bereits, dass er nicht treffen würde. Das Mädchen vor ihm drehte sich zu ihm um und schrie. Sie hatte braune Augen und dunkle Haare. Sie konnte kaum älter sein als sechzehn oder siebzehn. Mit einer mächtigen Bewegung versuchte gleichzeitig die Schlange sich aus dem Biss des Hundes zu winden, bäumte sich auf und wirbelte mit ihrem Körper über den Boden. Das Schwanzende traf einen Mann an den Knöcheln, der im Laufen zu Boden fiel, bevor es wie ein Bumerang zurück wirbelte und dem Mädchen die Beine wegriss. Sie stolperte nach vorne und Friedrich, der sie instinktiv hatte auffangen wollen, drückte ab. Der Schuss hallte über den Friedhof. Das Mädchen fiel in seine Arme und schaute ihn aus überraschten Augen an. Sie standen aneinander gelehnt, allerdings nur für ein paar Sekunden. Er zitterte am ganzen Körper. Ihre linke Schulter hatte sich in eine Mischung aus Blut und Fleisch verwandelt. Mit der rechten Hand hatte sie sich an ihm festgehalten, doch trotz der Wunde schien sich ihr Stand nun zu stabilisieren, als hätte sie noch gar nicht gemerkt, dass ein Loch in ihrer Schulter war. Sie schrie auch nicht, sondern schaute ihm nur stumm und erschrocken ins Gesicht „Entschuldigung”, sagte er tonlos, als er warmes Blut über seine Handflächen rinnen spürte. „Das wollte ich nicht.” Sein Kopf pulsierte wütend. Ein Bild schob sich vor sein inneres Auge, wie sein Schädel hinten einen Riss bekam und knirschend aufbrach. Um ihn herum schien die Welt sich zu verlangsamen. Er wusste nicht, was er fühlen sollte. Das Mädchen schaute ihn immer noch an mit derart offenem Blick, dass er den Kopf abwenden musste. „Wer sind Sie?” Ratlos schaute er sie an und wusste nicht, was er antworten sollte. Sie atmete schwer und über Friedrichs Hände lief noch mehr Blut. Die Wunde anzusehen, die er verursacht hatte, konnte er nicht über sich bringen. „Es tut mir leid”, sagte er unvermittelt und leise. „Ich wollte dich wirklich nicht verletzen. Und es tut mir leid, dass ich deinen Vater umgebracht habe.” Ihre Beine knickten ein und er stützte sie, ohne zu realisieren, was er tat. Aus Friedrich brachen die Worte auf einmal hervor, als wäre ein gewaltiger Damm gebrochen. Er sprach schnell und leise. „Ich wollte ihn nicht umbringen, aber sie fingen an dieses Projekt zu planen und das sollte etwas ganz Großes werden. Sie brauchten nur einen Ansatz und Sophie forschte damals über Chaos und zwar zu diesem Diagramm. Das sagt dir bestimmt nichts, aber wenn man chaotische Systeme definiert, dann kann man das zum Beispiel über Attraktoren machen, das sind die Zustände, die nach einer Weile angenommen werden. Aber das werden natürlich immer mehr und nach einer Weile endet es trotzdem im Chaos. Und wenn du nur einen Parameter ein bisschen änderst, dann ist alles komplett anders. Das ist ja gerade das Spannende an solchen Systemen, dass man nie vorhersagen kann, was passiert. Und dann kamen Yorke und Coppel und Block mit ihrem Projekt und hatten sich vorgenommen, Chaos vorherzusagen. Als ob das möglich wäre. Sophie war die einzige, die bisher dazu geforscht hatte, deshalb haben sie ihre Ergebnisse genommen und verändert und -” Er hatte das Gefühl, dass er kurz davor war, zu hyperventilieren. „Für dieses Projekt brauchten sie Ergebnisse, aber die hatten sie nicht, zumindest nicht die, die sie wollten. Und dann haben sie angefangen, Beweise falsch anzusetzen, das geht ganz einfach, mit unterschiedlichen Definitionsräumen und so, und haben alles so weit vereinfacht, dass es gut aussah, aber Sophie hat das natürlich gemerkt und ich glaube, das hat sie kaputt gemacht. Es war ihre Forschung und auf einmal war alles falsch oder zu Unkenntlichkeit vereinfacht und dann hat sie ...” Er brach ab und schnappte nach Luft. Das Mädchen schaute ihn wortlos an. Warum hatte er ihr das alles erzählt? Sie war Yorkes Tochter und er hatte ihren Vater ermordet. Aber sie erinnerte ihn an Sophie, oder vielleicht nur an seine Vorstellung von Sophie. „Mein Gott, das ist so lange her”, stöhnte er leise. „Was ist mit ihr passiert?”, fragte Yorkes Tochter leise. „Mit Sophie?” „Sie .. sie hat ...” Er suchte nach einer Antwort, als plötzlich ein heftiger Schmerz seinen rechten Knöchel durchzuckte. Die weiße Schlange hatte ihre Zähne in sein Bein gegraben und funkelte ihn aus rubinroten Augen an. Beinahe im selben Moment wurde er von zwei kräftigen Armen zur Seite gerissen. Er fiel zu Boden. Sein Bein pulsierte und mühevoll rappelte er sich auf. Ein großer Mann mit blonden Haaren stand bei Yorkes Tochter und stützte sie. Und da war der Verkäufer aus dem Tierladen, bei dem er Houwang gekauft hatte, in einem leuchtend roten Gewandt. Doch das war so absurd, dass er ernsthaft an seiner Wahrnehmung zweifelte, denn was sollte Graf D hier zu suchen haben? ‚Vielleicht ist es das Gift’, dachte er nachdenklich, ‚oder ich werde allmählich langsam wirklich verrückt.’ Das Mädchen brach praktisch in seinen Armen zusammen. Schwer zu sagen, ob es an dem Blutverlust lag oder an der psychischen Belastung, sich gerade in der Gewalt eines Mörders befunden zu haben. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Leon konnte sie gerade noch auffangen und als er sie in den Armen hielt merkte er, dass sie das Bewusstsein verloren hatte. Ihre Schulter war voller Blut. „Wir brauchen einen Krankenwagen”, brüllte er, ohne jemanden im Besonderen zu adressieren. Das ganze war so schnell gegangen, dass alle noch immer in Aufregung waren und wie aufgescheuchte Hühner durch die Gegend liefen. Er trug das Mädchen so weit er konnte von der Schlange weg und legte sie dann auf dem Boden ab. Das Gras war trocken und knirschte unter seinen Füßen. Er fühlte ihren Puls, der zwar flatterte, aber glücklicherweise noch vorhanden war. An einer Schulterverletzung starb man normalerweise nicht, aber Leon wollte lieber nichts riskieren. „Der Krankenwagen kommt gleich”, sagte eine ältere Frau, die vorhin die ganze Zeit geweint hatte. Jetzt sah sie richtig entschlossen aus. Erstaunt dankte er ihr mit einem Nicken. „Könnten Sie vielleicht kurz bei ihr bleiben? Ich muss noch etwas erledigen.” „Natürlich.” Umständlich kniete sie sich neben das Mädchen und beugte sich über sie. Leon federte auf die Beine und fuhr herum. Jetzt galt es nur noch, Devaney zu schnappen. Doch der war nicht mehr da. Leon zog scharf die Luft ein. Eben noch hatte er den Mann von einer Riesenschlange gebissen zu Boden gehen sehen. Unmöglich, dass er weit gekommen war. D kniete neben dem riesigen, schwarzen Köter und murmelte irgendwas vor sich hin. Augenscheinlich interessierte er sich weder für seine ausgebüxte Schlange, noch für Leon oder Devaney. Die Schlange war … auch verschwunden! Leon fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Er spurtete zu D hinüber und brüllte: “D! Wo ist dein verdammtes Schlangenvieh und wo ist mein Tatverdächtiger?” Ohne aufzusehen antwortete der Graf: “Die Schlange ist keine Gefahr mehr, um die habe ich mich gekümmert.” Kam es Leon nur so vor, oder bewegte sich etwas unter seinen weiten Ärmeln? „Was deinen Tatverdächtigen angeht: Um den brauchst du dir keine Sorgen zu machen.” „Was soll das heißen?”, fragte Leon scharf. „Wo ist er?” „Ich nehme an, er ist nach Hause gegangen.” „Nach Hause? Wie? Er wurde von einer Monsterschlange gebissen!” „Ich habe doch bereits gesagt, dass diese Schlange für Menschen ungefährlich ist”, erklärte D geduldig. „Er hat keine Verletzungen davongetragen.” Vom der Straße her tönten Sirenen. Blaulicht zuckte über die Bäume. Leon fiel schlagartig auf, wie dunkel es geworden war, dabei war es später Nachmittag. Der Himmel hatte sich mit dunklen Wolken überzogen und die Luft war noch drückender geworden. Bald würde es Gewittern. Mehrere Sanitäter sprinteten über die Wiese und luden das Mädchen auf eine Trage. Leon kramte sein Handy raus. Immerhin wusste er jetzt, nach wem er suchen musste. Diesen Devaney zu finden sollte kein Problem mehr sein. Eine Hand legte sich auf seinen Arm. D hatte sich erhoben und stand nun neben ihm. „Lassen Sie es gut sein”, sagte er sanft. „Ich weiß, Sie brennen darauf, Ihren Täter dingfest zu machen, aber das ist unnötig.” „Sie haben mir eben selbst gesagt, dass er wohlauf ist”, knurrte Leon, wobei er das Handy fester umklammerte. „Ich sagte nur, dass die Schlange ihn nicht verletzt hat”, korrigierte D. „Aber zuvor sagte ich, dass er seinen Vertrag mit mir gebrochen hat.” „Was bedeutet das?” Doch D schüttelte nur den Kopf, bevor er sich wieder hinkniete und dem Hund durch das dichte Fell strich. „Den armen Kerl hier hat es übel erwischt”, sagte er traurig. „Aber er wird wieder werden. Seien Sie so lieb und tragen ihn schon mal zum Auto.” „Warum sollte ich Ihren Köter in meinem Auto mitnehmen?”, fragte Leon trotzig. “Er wird mir den Kofferraum vollbluten.” Es ärgerte ihn, dass D ihn bevormundete in Sachen, die ihn nichts angingen. Schließlich war Devaney Leons Täter, genauso wie es sein Fall war. Der Graf lächelte Leon mit seinem freundlichsten Lächeln an. „Bitte, tun Sie mir den Gefallen. Ich habe noch kurz etwas zu erledigen.” Ohne auf eine Antwort von Leon zu warten schritt er in Richtung der Stadt davon. Sein langer, roter Kimono wehte hinter ihm. Fassungslos starrte Leon ihm hinterher und schüttelte langsam den Kopf. Einer der Sanitäter sprach ihn an und wollte wissen, was geschehen sei. Er zögerte einen Moment, zuckte dann die Achseln und sagte, alles sei so schnell gegangen und er habe nichts gesehen. Der schwarze Hund öffnete die Augen, versuchte den Kopf zu haben und winselte leise. Er kniete sich neben das Tier und streichelte ihn abwesend hinter den Ohren. „Dein Herrchen hat dich wohl verlassen, hm?”, murmelte er leise. „Mich lässt er auch immer so sitzen.” Eine Weile verharrte er in dieser Position, dann ging ein Ruck durch ihn hindurch und er nahm den Hund hoch und verschwand langsam in Richtung Parkplatz mit ihm. Hinter sich konnte er die Sirenen der ankommenden Polizeifahrzeuge hören. Auf den Treppen befand sich Wasser. Es war nur ein bisschen Wasser, aber es tröpfelte unübersehbar die schmalen Stufen hinab und spiegelte das Licht der Flurlampen wider. Einer der Mieter des großen Gebäudes voller Apartments hatte sich bereits beim Hausmeister beschwert. Als man der Sache nachging, fand man die Quelle des Wassers: Es drang unter dem Türspalt des Apartments 216 B im sechsten Stock hervor. „Da wohnt dieser Doktor”, brummte der Hausmeister verwundert. Der „Doktor” hatte ihm in den acht Jahren, die er bereits hier wohnte, noch nie Schwierigkeiten gemacht. Alles was er tat war korrekt und formrichtig. “Da muss was passiert sein”, brummte er und machte sich wieder auf den Weg nach unten. Im Erdgeschoss befand sich sein Kabuff in dem er alle Schlüssel zu allen Apartments aufbewahrte. Unglücklicherweise war zusammen mit dem Wasserfluss auch der Aufzug ausgefallen. Das Teil war nicht unbedingt das neuste Modell und fiel schon ab und zu mal aus, aber gerade im Zusammenhang mit fließendem Wasser, bereitete dem Hausmeister nicht ganz einwandfreie Elektronik sorgen. Deshalb beeilte er sich auch, die 103 Stufen hinunter zu seinem Büro so schnell wie möglich zurückzulegen. Leider war er nicht mehr der Jüngste und litt seit Jahren unter schwerem Rheuma, besonders in den Knie- und Fußgelenken. Ein Abstieg, der einen gesunden Menschen nur wenige Minuten gekostet hätte, dauerte bei ihm eine Viertelstunde. Und dann musste er auch noch den richtigen Schlüssel finden und wieder nach oben schnaufen. Insgesamt dauerte es eine dreiviertel Stunde, bis der Hausmeister ein zweites Mal oben vor der Tür des Apartments Nummer 216 B stand. Das hatte einer seltsamen Gestalt, die einigem Fußgängern wegen ihres auffällig gefärbten Kleidungsstücks aufgefallen war, genug Zeit gegeben, um vom Dach des gegenüberliegenden Hauses zu springen und durch das sich öffnende Fenster ins innere der Wohnung zu dringen. Was er vorfand, hätte jeden, der den Bewohner des Apartments 216 B kannte, erschreckt. Auf dem Boden lag eine knöchelhohe Schicht Müll. Scherben, Papier, Holz, Federn, Stoff, kaum ein Material war nicht vertreten. Alle Wasserhähne waren aufgedreht worden und die überquellenden Waschbecken hatten den Fußboden längst unter Wasser gesetzt. Alle Regale und Schränke standen offen und waren leer. Außerdem hatte jemand die Vorhänge am Fenster in Brand gesetzt, die allerdings aus einem Stoff bestanden, der weniger brannte, als vor sich hin schwelte. Die Gestalt in dem bunten Kimono sprang vom Fensterbrett auf den Boden und ging mit Zehenspitzen in die Mitte des Zimmers. Dort lag ein Mann um die dreißig, mit weichen, braunen Haaren und einer Brille, die ihm allerdings schief von der Nase gerutscht war. In seinem Kopf befand sich ein großes, klaffendes Loch. Das herausströmende Blut färbte das Wasser und die Müllschicht auf dem Boden rot und bildete einen makabren Heiligenschein um den Kopf des Mannes. Eine Pistole lag auf dem Boden, ebenso wie eine schwarze Aktentasche, die allerdings leer war. An dem Mann saß ein Affe, dessen Schultern auf Kniehöhe der Gestalt im bunten Kimono waren. Der Affe hatte kupferfarbenes, leicht gelocktes Fell. An seinen Händen befanden sich Schnittwunden und auch auf seinem hübschen Fell befanden sich ein paar Blutstropfen. Mit großen Augen spielte er mit dem Feuerzeug, das er zwischen den langen Fingern hielt. Als die Silhouette der Gestalt das Fenster verdunkelte, hob der Affe den Kopf, bewegte sich jedoch nicht von der Stelle. Mit tänzelnden Schritten bewegte sich die Gestalt über den Müll auf dem Boden und blieb vor dem Affen stehen. Sie beugte sich zu ihm hinunter, nahm ihn in die Arme und warf einen nachdenklichen Blick auf den jungen Mann am Boden. Der Affe legte die Arme um den Hals der Gestalt, wobei er das Feuerzeug fallen ließ, und blickte ebenfalls auf die Leiche hinab. Einige Herzschläge verharrten sie so, dann knarzte draußen die Treppenstufe. Lautlos huschte die Gestalt zum Fenster und sprang hinaus. Ungefähr um sechs Uhr hatte es urplötzlich angefangen zu regnen. Chris hatte das laute, unvermittelte Prasseln aus seinem Spiel mit Pon-chan gerissen und schnell liefen sie alle zum Fenster, um hinauszusehen. Es war so dunkel, dass die Straßenlaternen angegangen waren und es goss in Strömen. Dicke Tropfen prallten an die Scheiben des Ladens und fielen spritzend zu Boden. Nur wenige Minuten später konnten sie die Scheinwerfer eines langsam fahrenden Autos ausmachen, das vor dem Laden anhielt. ‚Das sind Leon und Graf D!’, rief Chris aufgeregt und lief zur Tür um ihnen zu öffnen. Kurz darauf stolperte Leon in den Raum. Der kurze Weg vom Auto zur Tür hatte ihn bereits komplett durchnässt und er schimpfte und fluchte. Der Körper eines großen, muskulösen Mannes lag über seiner Schulter, was vermutlich einen Großteil seiner Wut bedingte. Hinter ihm kam D, der ebenfalls jemanden trug. In seinen Armen lag allerdings ein Junge, ungefähr in Chris’ Alter. Anders als der Mann, war der Junge bei Bewusstsein. Seine goldenen Augen zuckten zu Chris und er grinste ihn an. Unwillkürlich grinste Chris zurück. „Das ist doch Houwang”, wisperte Pon-chan. „Den hat der Graf doch diesem Mann verkauft, der neulich da war.” ‚Stimmt, du hast Recht’, bestätigte Chris nickend. ‚Und ich glaube, der Mann da ist Gwyll.’ Ungewohnt direkt unterbrach D ihr Gespräch: „Chris, mach uns doch Tee und Kuchen, wir sind bis auf die Haut durchnässt. Wir bringen derweil Houwang und Gwyll nach hinten.” Er schob sich an Leon vorbei und betrat den hinteren Teil des Ladens. Leon ächzte und bemühte sich, dem Graf zu folgen, was angesichts des schweren Körpers auf seinen Schultern nicht unbedingt einfach war. Pon-chan und Chris gingen in die Küche und setzten Wasser auf. ‘Seltsam’, meinte Chris, während das Wasser sich langsam zu erhitzen begann. Pon-chan balancierte auf einer Stuhllehne, um aus dem geheimen Vorrat des Grafen Kekse zu holen. ‘Sie wollten doch eigentlich Bai-chan suchen und kommen jetzt mit zwei Leuten wieder, die eigentlich Besitzer haben.’ „Du hast nicht genau genug hingesehen, Chris”, erklärte T-chan, der in der Küchentür lehnte und ihnen zusah. “D hatte die Schlange dabei, aber sie war in seinem Ärmel versteckt.” ‚Wie hat er das geschafft?’ „Der Graf ist ein Meister darin, große Dinge auf sehr engem Raum zu verstauen”, erwiderte T-chan rätselhaft. “Aber das wirst du alles noch lernen.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)