Dynamische Systeme von Kiryava (Wichtelgeschichte für Finicella) ================================================================================ Prolog: Punkt ------------- Als grundlegendes Element der Geometrie, verfügt der Punkt über keine Ausdehnung. Trotzdem ist er der Ursprung von allem. Es war wirklich ein Wunder, dass der Graf noch nicht an Diabetes erkrankt war. Leon ging diese Erkenntnis durch den Kopf, als er den kleinen Beistelltisch des Grafen betrachtete, der - wie immer - über und über und über mit Kuchen und Keksen und Süßigkeiten beladen war. Zwischen den Schachteln, Tellern und Platten standen, etwas verloren, drei Teetassen. Die Tasse mit dem wütenden Gesicht gehörte Leon, die bekam er immer, wenn er beim Grafen war. Und er hatte sie bisher noch nicht angerührt. Leon mochte Tee eigentlich nicht. Er hätte einiges für einen schönen, heißen und vor allem starken Kaffee gegeben, aber so etwas hatte D natürlich nicht. Seufzend stierte er seine Teetasse an. Vielleicht verwandelte sich der Tee dadurch ja in Kaffee. Zwei kleine Hände schoben sich in sein Gesichtsfeld, ergriffen die Tasse, die zwischen seiner und Graf Ds stand und entfernten sie vom Tisch. Chris, Leons kleiner Bruder und der echte, wahre und einzige Grund, warum er tagein tagaus den seltsamen Tee des Grafes trank, saß auf einem Kissen auf dem Boden. In seinem Schoß lag Pon-Chan, der kleine Waschbär, der ihn überallhin begleitete. Das Ziegenmosnter konnte Leon - glücklicherweise! - nicht sehen. Vermutlich hatte man ihn weggesperrt. Er und Leon hatten nicht das beste Verhältnis zueinander. Bei diesem Gedanken begann die Bisswunde an seinem Bein, die er von seinem letzten Treffen mit T-Chan davongetragen hatte, zu jucken. D kam gerade rechtzeitig aus der Küche, als sich die Tür des Ladens öffnete, um den Kunden mit seinem gewohnten dünnen Lächeln zu begrüßen. Leon, Chris, Pon-Chan und die anderen Tiere des Ladens schauten auf, um einen Blick auf den Neuankömmling zu erhaschen. Es handelte sich um einen hochgewachsenen Mann - größer als Leon selber! - mit kantigem Gesicht, das ihn älter erscheinen ließ, als er wirklich war. Leon schätzte ihn auf Ende dreißig. Sein Haar war schwarz und an den Schläfen etwas angegraut und obwohl er in keiner Weise muskulös oder sportlich war, hätte er attraktiv sein können. Wenn er nicht so nervös in die Gegend gestarrt hätte. Oder nein, nervös war eindeutig das falsche Wort, eher … neurotisch? Leon konnte sich nicht helfen, sein polizeilicher sechster Sinn machte sich bemerkbar. Bestimmt ein Junkie, dem D seine berüchtigten Wunderdrogen verkaufte! Nicht, dass irgendjemand schon einmal von Ds berüchtigten Wunderdrogen gehört hätte, aber Leon war überzeugt, dass sie nicht nur existierten, sondern dass D auch noch einen ansehnlichen Reibach damit machte. Denn ganz ehrlich: Wie konnte er sich ein riesiges Haus in L.A. mit dem Verkauf von Haustieren leisten? Misstrauisch kniff er die Augen zusammen, um ja kein Wort, das zwischen D und seinem Kunden - “Kunden” - gewechselt wurde, zu verpassen. “Entschuldigen Sie”, sagte der Mann. Seine Pupille zuckte nervös über Leon, Chris und die Tiere, bevor sie zu Ds zu einem Lächeln gefrorenen Gesicht zurückkehrten. “Sie … Sie haben doch geöffnet, nicht wahr?” „Aber ja”, erwiderte D freundlich. „Noch bis sechs Uhr.” „Gut... gut.” Der Mann holte tief Luft. „Ich möchte ein Tier kaufen.” „Natürlich, gern. Denken Sie dabei an etwas Bestimmtes?” „Ja, ich hatte …” Mit einer schnellen Bewegung beförderte der Kunde einen karierten Zettel aus seiner Manteltasche, entfaltete ihn und hielt ihn sich vor das Gesicht. “Ich hatte an eine Schlange gedacht. Und da habe ich mich auch bereits ein wenig schlau gemacht. Ich denke am Besten würde ein Python zu mir passen. Das sind wohl sehr ruhige Tiere. Aber die kriegt man natürlich nicht überall, deshalb hat man mir Ihren Laden empfohlen.” Der Graf strich sich ein paar Mal über das Kinn und murmelte ein paar bestätigende Worte, so als wären ihm einige wichtige Dinge eben eingefallen. Leons Augen begannen zu funkeln. Eine Schlange, natürlich! Die man nicht überall kriegt, auch klar! Schlange war natürlich ein Codewort für Ds Wunderdroge! (Wer wollte schon ernsthaft und freiwillig einen riesigen Python als Haustier?) Deshalb auch dessen umständliches Getue. Wenn er sich jetzt geschickt anstellte, konnte er D vielleicht endlich überführen! Nur schade, dass geschickt so gar nicht Leons Art war; zumindest nicht, wenn es um Graf D ging. Er hievte sich aus den Tiefen der Kissen heraus auf die Sofakante, die Ellbogen auf die Knie gestützt und beobachtete die beiden wie eine lauernde Katze. 'Großer Bruder …', hörte er auf einmal Chris' Stimme in seinem Kopf. 'Was hast du vor?’ “Das geht dich nichts an, Chris”, murmelte Leon, ohne seine Beute aus den Augen zu lassen. “Ich denke ich habe genau das Richtige für Sie”, hatte D inzwischen verkündet. “Folgen Sie mir bitte.” Mit einer einladenden Handbewegung führte er den Gast durch den Laden zu der Hintertür, aus der seine Kunden für gewöhnlich mit den seltsamsten Tieren wieder in den Verkaufsraum traten. Aber diesmal nicht! Stürmisch erhob Leon sich und folgte den beiden. „D, ich würde nur zu gerne sehen, was Sie da eigentlich -” Der Graf scheuchte seinen nervösen Kunden durch die Tür, drehte sich zu Leon um und sagte mit den freundlichsten Lächeln, das er im Repertoire hatte: “Mein lieber Detektiv. Sie wissen, dass dieser Teil des Ladens ausschließlich für Kunden ist. Sie haben dort im Moment nichts verloren.” Und damit - mit einem Knall der seine honigsüßen Worte auf bizarre Art unterstrich, schlug er Leon die Tür vor der Nase zu. „Was zum -?” Sofort packte Leon den Türgriff und zog daran, drückte, zog wieder, doch da war nichts zu machen, die Tür war verschlossen. Ganz und gar und vollständig verschlossen. „D, du kleiner, mieser Verbrecher, du wirst schon sehen, eines Tages kriege ich dich und deine zwielichtigen Spielchen und dann -” Sein Rütteln an der Tür, sein cholerisches Geschrei, seine Tritte gegen eben jene Tür, all das machte einen Höllenlärm. Doch Chris' Stimme in seinen Gedanken schaffte es problemlos, dies zu übertönen. Er spürte, wie sein Bruder ihn an der Rückseite seines T-Shirts packte und zurück zum Tisch zog (und der Waschbär hatte sich an sein Hosenbein gehängt!), während er mit leiser Sorge meinte: 'Wenn der Graf nicht will, dass du ihn begleitest, dann solltest du das akzeptieren, großer Bruder.' Sagte eben jener kleine Rotzlöffel, den Leon hunderte Male durch eben jene Tür hatte verschwinden sehen. Aber jetzt war sie verschlossen. Für ihn. Wegen ihm. Er beschloss zu schmollen. Und Ds Tee kalt werden zu lassen. Und so fanden der Graf und sein Kunde ihn auch wieder vor, als diese in den Verkaufsraum zurückkamen. Der Mann wirkte immer noch etwas nervös, was vermutlich darauf zurückzuführen war, dass er anstelle der ersehnten Schlange einen kleinen Affen mit rotgoldenem, fluffigem Fell an der Hand führte. Die beiden marschierten zur Tür, wobei der Affe energiegeladen von einem Bein auf das andere Hüpfte, sich am Ohr kratze, einen Zettel aus der Tasche des Mannes fischte, diesen dann wegwarf und ... auf dem kurzen Weg zur Tür mehr Unsinn anstellte, als Leon während seiner gesamten Zeit als Dreikäsehoch. „Vielen Dank, Graf D”, sagte der Mann, als er sich verabschiedete. Leon beneidete ihn nicht um seine neuste Errungenschaft. „Keine Ursache”, säuselte D und nippte an seinem Tee. „Geben Sie nur gut auf ihn Acht.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)