Die zwei Models von pandine ================================================================================ Kapitel 1: Im Innern noch ganz und doch zerbrochen -------------------------------------------------- Yakino Das laute, immer und immer wieder- und wiederkehrende Ringen und Dröhnen meines Weckers riss mich aus meinem Tiefschlaf. Brummend tastete ich, den Kopf im Kissen vergraben, nach der Ausschalttaste des Weckers, doch ehe ich sie herunterdrücken konnte, und damit auch endlich dieses Geräusch verbannen konnte, verschwand das Ringen wieder. Verwundert blickte ich nun wacher auf, nur wenige Zentimeter entfernt blickte ich in die Augen des Bösen. Ich schrak nach hinten zurück, verzog mich zum hinteren Rand meines Bettes, fiel beinahe sogar heraus. Zitternd erkannte ich, dass diese Augen des Bösen die meines Zwillingsbruders Yamino Hiyoki waren. Sein Zimmer grenzte in unserer relativ hellhörigen Wohnung direkt an meinem. „Ya-ki-no!“, sprach er mit langsamer, drohender Stimme, „Du, mein herzallerliebstes Brüderchen, hast mir soeben meinen wichtigen, lebensnotwendigen Sonntagsschlaf geraubt!“ Seine fuchsteufelswilden Augen wurden plötzlich total weinerlich und ich sah Tränen in ihnen glitzern. „Äh... wie... öh... MIST!“. Mir fiel siedend heiß ein, weshalb ich den Wecker so früh gestellt hatte, normalerweise schlief ich sonntags wie Yamino bis in den Mittag hinein. Ein Blick auf meinen Terminkalender, der auf dem kleinem Nachtisch neben meinem Bett aufgeschlagen lag, zeigte mir, dass ein einziger Tag in diesem Monat mit einem dickem, rotem Filzstift umkreist wurde. Und dieser Tag war heute. „Entschuldigung, Yami-chan“, sagte ich entschuldigend zu meinem Zwillingsbruder und streichelte ihm über seinen Kopf. „Ist schon okay“, meinte er – manchmal hatte er verheerende Stimmungsschwankungen wie gerade eben, vor allem, wenn er nicht genügend geschlafen hatte – und wischte sich die Tränchen aus den Augen. Sobald er dies erledigt hatte, wurde sein Blick leer, müde und schließlich schlossen sich seine Augenlider innerhalb kürzester Zeit. Er drohte auf den Boden zu fallen, doch ich konnte ihn rechtzeitig auffangen, jedoch ächzte ich unter seinem Gewicht zusammen, drohte meinerseits eine unangenehme Erfahrung mit dem Boden zu machen. Mit einigem Kraftaufwand konnte ich ihn dann doch endlich zu meinem Bett ziehen. Erschöpft holte ich nach getaner Arbeit Luft. Dann lächelte ich und deckte meinen schlafenden Zwilling sanft mit meiner noch warmen Decke ein. Ein Blick auf die Uhr trieb mich wieder zu Hast und Hetze, ich eilte ins Bad und putzte die Zähne, wusch mich schnell ab und zog mich rasch um. Da heute ein besonderer Tag war, kramte ich die Sachen aus dem Schrank, die Mutter mir mal geschenkt hatte. Ich hoffte nur, sie passten noch. Meine Befürchtungen wurden, zum Glück, widerlegt. Sie passten mir wie angegossen, da ich in den letzten Jahren nicht mehr gewachsen war. Traurig lächelnd betrachte ich mein Spiegelbild. Heute hatte ich endlich Gelegenheit, die Kleidung, die meine Mutter mir für so einen besonderen Anlass ausgesucht hatte, zu tragen. Es ist nun etwas mehr als ein Jahr her, seit sie nicht mehr unter uns weilt. Der Abschied von ihr war damals schwer erträglich für mich und Yamino gewesen und auch heute zog sich das Herz in meiner Brust an den Gedanken an ihre verlorene Wärme zusammen. Aber ich hatte auch neue Wärme gefunden, die mich tröstete und mir größtenteils über den Schmerz half. Mein Gesicht hellte sich beim Gedanken an James auf, gleichzeitig röteten sich meine Wangen leicht. Ich klatschte mir verlegen mehrmals auf die Wangen, dann schnappte ich mir meine Tasche, die ich schon gestern vorbereitet hatte, betrachtete flüchtig mein Spiegelbild und verließ die Wohnung dann. Ich schloss ab und ging die Treppe hinunter, James war bestimmt noch nicht da. Ich riskierte einen Blick auf meine Armbanduhr, was sich als Fehler herausstellte. Ein kleiner Moment der Unaufmerksamkeit genügte und ich stolperte. Wenige Sekunden im freiem Fall, die ich halb realisierte, doch dann war es auch schon wieder vorbei. Doch der erwartete Aufprall mit dem Boden kam nicht. Stattdessen spürte ich starke, warme Arme, welche sich sanft um meinen Körper geschlungen hatten und mich vor einem schmerzhaftem Fall bewahrten. Ich erkannte sofort seinen charakteristischen Duft wieder, den ich seit unserem erstem Treffen nicht vergessen konnte. Ich fühlte mich geborgen. Wir schwiegen eine Weile in der Haltung, bis James mich auf seinen Armen anfing wie eine Prinzessin zu tragen und lachte: „Na, schon so früh so munter?“ Er lächelte sein liebes Lächeln. Ich errötete erneut und vergrub mein Gesicht in seiner Brust, während er vorsichtig die Treppe hinunter stieg. Während ich glücklich und peinlich berührt vor mich hin schwieg, dachte ich an unseren Anfang zurück. Er war immer sehr freundlich zu mir gewesen, auch wenn ich ihn immer und immer wieder abgewiesen hatte. Um ehrlich zu sein war ich schon ein wenig von ihm fasziniert gewesen, der sein Ziel hartnäckig verfolgt hatte. Und irgendwann... Ich konnte den Satz einfach nicht mehr zum Ende bringen, ich vergrub meinen knallroten Kopf tiefer in seiner Brust. Ich ahnte, dass er belustigt lächelte. In diesen Momenten einfach nicht beschreiben, wie glücklich ich über so Vieles war, das ich mit ihm verband, und das oftmals schrecklich peinliche an diesem regelrechtem Glücksgefühlschaos war, dass er es genau wusste. Er kannte mich wie beinahe keine andere Person. Er war ein unglaublich sanfter Mensch, dass ich es manchmal nicht glauben konnte. Konnte jemand wirklich so gutmütig sein, so ein großes Herz haben, in welches scheinbar die ganze Welt reinpasste? Als wir an seinem Auto ankamen, setzte er mich behutsam wieder auf den Boden ab. Er öffnete mir die Tür zum Beifahrersitz seines elegant weißen Autos. Er wusste, dass ich das hasste, aber ich stieg ohne zu murren hinein. Er umrundete das Auto zum Fahrersitz, der sich auf der anderen Seite befand, setzte sich hin, startete den Motor und fuhr los. Lange Zeit vertieften wir uns in Schweigen, ich sank ganz tief in den bequemen Sitz ein, genoss seinen Duft, der überall im Auto haftete. Die Landschaften flogen an uns vorbei, während die Sonne weiter und weiter am Himmel ihre Runde drehte. Sie wechselte von den hohen, meist silberglänzenden Hochhäusern der Stadt zu sanften Grüntönen von Wald, Wiese und Feld. Warme Sommerbrise wehte uns vom Fahrtwind in Schwung gebracht durch die offenen Fenster. James hatte das Autodach seines Wagens herunterfahren lassen, weshalb die Sonne ihre Wärme ungehindert auf uns scheinen lassen konnte. Wir redeten nicht viel, allein die Tatsache, Zeit miteinander verbringen zu können, machte uns beide so glücklich, sodass wir keine vielen Worte brauchten. James hatte in letzter Zeit immer sehr wenig Zeit und dass er heute hier ist, bedeutete mir sehr viel. Ich wusste nicht so recht, wie ich ohne ihn je wieder zurechtkommen sollte, hoffte, dass er für immer an meiner Seite bleiben würde. Hoffte, dass er genauso empfand. Ich fing an, die Bergspitzen, an denen wir vorbeikamen, zu betrachten. Ich prägte mir die Wiesen und Flüsse ein. Ich fragte mich, wohin die Reise ging. Ich wollte, dass sie niemals endet. Es wäre so schön, wenn dieser unwirklich erscheinende Realitätstraum nie enden würde. Doch ich wusste, er und ich würden unser Glück niemals in einer sich wiederholenden Realität finden. James steuerte den Wagen in eine Seitengasse, welche von der ländlich liegenden Straße in einen angrenzenden Laubwald führte. Überall strömte fließendes Licht in den Wald hinein und ließ die Blätter in einem strahlendem Grün leuchten. Ein Duft von frischem Gras, reiner Luft und Wald strömte in das Auto, vermischte sich mit seinem, geliebtem Geruch. Tief in mir beruhigte sich etwas, mein Herz schlug ganz ruhig. Der Wald und seine Nähe ließen mich aufatmen, nach Luft holen, entspannen. Ich verband so Vieles mit dieser immer einzigartigen Landschaft und mit dem Mann, der neben mir saß. Ich konnte James' liebevollen Blick, der auf mir ruhte, ganz zart spüren. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen, fürchtete, in diesem Glück zu ertrinken. Er war der Einzige, der mir dieses Gefühl jemals gegeben hatte und geben konnte. Leise rannte eine Träne an meinen Wangen hinunter. Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Wieso weinte ich? Ich spürte den leichten Druck seiner Arme um mich, ganz sanft, es war so, als würde er denken, ich würde zerbrechen, wenn er mich zu fest in seine Arme schloss. Ich konnte nichts sagen, nur schweigen. Ich hatte keinen Grund, weshalb ich weinen sollte. Dies war alles so unglaublich überwältigend, dass ich weinen musste. Er ahnte es, dessen war ich mir ganz sicher. Er benötigte keine Worte, um mich zu verstehen. Er nahm all die feinen Bewegungen, die ich machte, aber nicht merkte, wahr und wusste sie zu deuten. Ich werde niemals in Worte fassen können, was er mir bedeutete. „Hast du dich wieder beruhigt?“, fragte er mich leise. Er hatte sich ebenfalls auf den Beifahrersitz gesetzt und ich saß nun in seinem Schoß. Doch selbst jetzt wollten die Tränen nicht aufhören. „Na komm, nicht weinen“, sagte er sanft und strich vorsichtig mit seinem Daumen ein paar Tränen weg. Ich schüttelte den Kopf, versuchte die nicht enden wollenden Tränen zu vertreiben. In seiner unmittelbaren Nähe beruhigte ich mich langsam. Nach einer Weile stillen Schluchzens in seinen Armen hörten die Tränen langsam auf. „Danke.“ Ein kleines Wort, es reichte noch lange nicht, um ihm all meine Dankbarkeit zu zeigen. „Wofür denn?“ Sein gutmütiges Lächeln schien so warm wie die durch das Blätterwerk strahlenden Sonnenlichter. „Du musst dich doch bei mir für nichts bedanken.“ „Doch“, sagte ich mit meiner trotzigsten Stimme, die Tränen von vor einigen Minuten schienen wie weggeblasen, zurück ließen sie nur das pure Glück, in seiner Nähe zu sein. „Nein“, erwiderte er entschieden. Danach öffnete er die Autotür. „Äh, wie was?!“, rief ich völlig irritiert aus, als er mich erneut auf seine Arme nahm und mich heraustrug. Ich klammerte mich krampfhaft an ihn, es kam zu überraschend. Wieder war da nur sein Lächeln, dass mich aus der Fassung brachte. Seine schwungvoll federnden Schritte bewegten sich schnell nach vorne, er hatte ein fröhliches Lächeln auf dem Gesicht. Als ob es nichts Schöneres gab, als mich durch die Gegend zu tragen. „Wohin geht denn die Reise?“, wollte ich schließlich wissen, nachdem wir eine kurze Zeit gegangen waren, beziehungsweise er mich durch die Gegend getragen hatte. „Das siehst du jetzt!“, sprach er und nickte mit seinem Kopf nach vorne. Ich drehte mich in die besagte Richtung, und das, was ich sah, würde ich mein Leben lang nicht vergessen wollen. Ein zartes Grün zog sich durch die Landschaft, am Horizont traf es auf ein ebenso zartes Blau. Der Himmel war durchzogen von feinen Wolkengebilden, die ihr dezentes Muster in den Himmel malten. Blumen, oftmals scheinbar wahllos aneinander geworfene Häufchen, zierten das Grün der Weise, sie vermischten sich zu einer Einheit, in der man doch jede einzelne Blüte und jeden Grashalm sehen konnte. Und ganz im Hintergrund konnte man die Grenze dieser Weite erkennen, schwach zu erkennende, blaue Schatten mit weißen Spitzen ragten vom Horizont empor. Er kannte wirklich all meine liebsten Landschaften, zu denen auch eine Bilderbuchwiese gehörte. Mutter hatte sie auch sehr geliebt, wenn nicht sogar mehr als ich selbst. Bei dem Gedanken an sie zuckte ein Stich der Trauer durch meine Brust. „Gefällt es dir?“, hörte ich ihn in mein Ohr flüstern, sein warmer Atem kitzelte ein wenig. In seiner Stimme klang ein Hauch Besorgnis mit. Er musste meinen von Trauer verschleierten Blick bemerkt haben. Er wusste, dass ich auch einige schmerzliche Erinnerungen mit solch einem Ort verband. „Es ist okay“, sagte ich und drückte ihn so gut es in meiner jetzigen Pose ging. „Es ist ja dennoch der Ort, von dem ich immer geträumt hatte. Und es ist auch der einzige Ort, an dem ich sie ganz nah spüren kann.“ Er lächelte. Da äußerte ich eine mir persönlich am Herzen liegende Bitte: „Lässt du mich jetzt vielleicht herunter?“ James grinste spitzbübisch, rief: „Nein, noch nicht!“, und fing dann an, mich wie ein spielendes Kind durch die weite Wiesenlandschaft zu tragen. Er warf mich teilweise sogar ein wenig in die Luft, ehe ich wieder in seine Arme plumpste. So ausgelassen hatte ich ihn noch nie erlebt, also konnte ich ihm gar nicht böse sein. Ich fing an zu lachen, woraufhin er mit seinem in meiner Seele immer wieder klingendem Lachen einstimmte. Ich liebte es, wenn er lachte. Es war ein schöner Tag. Nachdem er sich ausgetobt hatte und sich schließlich erschöpft auf das weiche Gras mit seinen bunten Sprenkeln gelegt hatte, setzte ich mich neben seine liegende Gestalt. Er hatte die Augen geschlossen. Ich beobachtete gedankenverloren sein Gesicht. Er hatte ein hübsches Gesicht mit makelloser Haut. Immer, wenn ich in seine Augen sah, war da ein klarer Blick, der sich für die Welt zu interessieren schien. Alles an ihm wirkte perfekt. Er war stets freundlich und höflich, aber dennoch mit einer gewissen Distanz. Ihm gelang alles, was er anfing, man konnte fast sagen, alles was er anfasste, wurde zu Gold. An diesem Punkt wusste ich, dass ich übertrieb. Ich wollte ihn doch nicht so sehen, ihn als einen Menschen betrachten, der Fehler machte. So hatte er es sich gewünscht. James' Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Der Wind frischte auf, wirbelte wahllos Blätter durch die Gegend. Er fuhr durch meine Haare, ich sah in die Richtung, aus der er gekommen war. Nachdenklich betrachtete ich die Berge, die in weiter Ferne lagen. Diese Berge waren die einzige Einschränkung der weiten Landschaft, die ich sah. Lange blieben wir regungslos an Ort und Stelle, genossen diesen Moment der Zweisamkeit. Ich mit offenen Augen und Blicken, die der Landschaft gewidmet waren und er mit geschlossenen Augen. Und obwohl wir uns nicht ansahen, spürten wir den jeweils anderen, spürten dessen Wärme, dessen bin ich mir sicher. Wie so oft in dem vergangenem Jahr dachte ich darüber nach, wie unsere Zukunft aussehen würde. Ich bin durch das viele Nachdenken irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass wir viel Zeit brauchen würden, doch das machte mir nichts. Solange er nicht von mir fortging. Und, zugegebenermaßen, ich war noch nicht bereit... An dieser Stelle brach ich mit überhitztem Kopf meinen Gedankengang ab. Doch nach einer Weile durchbrach ein lautes Piepsen die angenehme Stille. Verwundert und verwirrt sah ich mit hoffentlich wieder hautfarbenem Gesicht James an, der entschuldigend aufblickte und dann den Anruf entgegen nahm. Ich war ehrlich überrascht, dass er heute angerufen wurde. Ich hatte angenommen, dass er sich für heute abwesend gemeldet hatte. Es musste also etwas sehr Wichtiges sein, so vermutete ich jedenfalls. Während er telefonierte, nutzte ich diese unbeobachteten Augenblicke weiter dazu aus, ihn zu anzuschauen. Da sah ich, wie sein Gesicht sich plötzlich veränderte. Der Ausdruck in seinen Augen, er wurde... bestürzt, betrübt, erschrocken, fassungslos. Das Gespräch dauerte noch etwas länger, danach verabschiedete er sich und kam wieder zu mir zurück. Er taumelte ein wenig, doch körperlich konnte ihm niemand zugesetzt haben, schließlich hatte ich ihn doch die ganze Zeit im Blick gehabt. Hastig lief ich zu ihm, jederzeit bereit, ihn zu stützen. „Was ist passiert?“ Ich legte ihm eine Hand auf seinen Arm, aber er hatte immer noch einen benommenen Ausdruck im Gesicht. „Was?“ Er schien mich erst jetzt gehört oder gar bemerkt zu haben. Schnell wurde er sich seiner Situation bewusst und legte meine Hand sanft zur Seite, lächelte traurig. „Mir geht es gut, nur... meinem Vater nicht so. Genauer gesagt liegt er im Sterben.“ Nun trat auch in meine Augen dieser bestürzte Ausdruck. Sein Vater war zwar immer gegen unsere Beziehung gewesen, doch das hatte ich ihm auch nicht gewünscht. „Naja, jedenfalls...“ Er kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. „Ich muss nun zu ihm.“ Zuerst nickte ich nur verständlich, doch dann wurde mir die Tragweite dieser Worte bewusst. Er merkte es wohl auch, nahm mich in den Arm, drückte mich und sprach: „Sei nicht traurig, ich werde so schnell es geht wieder zu dir kommen, okay?“ Es kullerten einige Tränen, trotz seiner Worte und trotz der besonderen Situation, in der wir uns befanden, und rollten an meinen Wangen hinunter. Ich klammerte mich an ihn, wollte nicht, dass er mich verlässt. Nicht jetzt. Nicht heute. Es war nicht fair. „Bitte, es ist sein Wunsch gewesen.“ Er streichelte zärtlich mir über den Kopf. „Aber... Was ist mit dir? Tu doch auch endlich mal, was du willst!“ „Das mach ich doch, jetzt gerade.“ Ein sanftes Lächeln strahlte von seinem Gesicht, doch es wirkte auch traurig. Vorsichtig löste er meine Arme von seinem Körper und griff in seine Hosentasche. „Ich wollte es dir eigentlich später geben, aber da dies scheinbar nicht mehr möglich ist...“ Er holte ein kleines Holzkästchen hervor. Als er es öffnete, war in weißem Samt eine Vertiefung. Fast hatte ich den gläsernen Ring übersehen, der in diesem Kästchen eingebettet war. Er funkelte in der Sonne, reflektierte einige Strahlen. Er war ein Zeichen dafür, wie durchsichtig unsere Bindung noch war, doch gleichzeitig zeigte er auch, dass sie, durch das Symbol eines Rings, ebenso unendlich war wie ein Kreis. Erneut brach ich in Tränen aus, er nahm meine Hand und steckte mir den Ring an. Er passte perfekt. „Es kommt dich gleich jemand abholen, um dich nach Hause zu bringen, in Ordnung?“ Ich nickte, immer noch traurig und zur selben Zeit zu Tränen gerührt. Als er mir schließlich einen sanften Kuss auf die Stirn gab, fühlte es sich an wie der Hauch eines warmen Windes. „Ich komme wieder“, flüsterte er noch, ehe er sich von mir entfernte und mir zuwinkte. In der Sonne blitzte das Gegenstück meines Ringes funkelnd mit der Schönheit von zartem Glas. James Schweren Herzens schritt ich durch die weite Wiesenlandschaft. All die Leichtigkeit war mit diesem Anruf von mir gewichen, Trauer machte sich in meinem Herz breit. Der Tag hatte fast all seinen Zauber verloren, wäre Yakino nicht da gewesen, doch nun musste ich ihn verlassen. Ich eilte in Richtung Auto, achtete nicht auf all die Wunder der Natur, die an mir vorbeirasten. In meinen Kopf pendelten zwei Gedanken hin und her. „Vater liegt im Sterben“ und „Ich darf Yakino heute doch nicht alleine lassen!“ Sie waren im Kampf, strebten es an, den jeweils anderen auszustechen. Ich war versucht zu schreien, es würde mich sowieso niemand hören können, doch meine Erziehung, die mir in den Knochen und in allem, was ich tat, saß, ließ es nicht zu. Nur eines hatte ich selbst bewusst entschieden. Yakino zu lieben. Als ich an ihn dachte, fühlte ich mich ein wenig freier, doch der Schatten über meiner Fröhlichkeit blieb. Ich startete das Auto ohne einen Blick nach hinten zu riskieren, sonst würde ich vielleicht sofort zurückrennen, um bei ihm zu bleiben. Nach der langen Autofahrt mit Hast und ohne Yakino kam ich bei dem Flughafen an, der am nächsten war. Es stand auch schon ein Flugzeug, welches fertig zum Abflug stand und mich zu Vater im fernen England bringen sollte. Ob es wirklich richtig war, ihn alleine zu lassen? Das Flugzeug stand außen und war ein kleineres, aber umso wendigeres und schnelles Modell. Es leuchtete in grellem Weiß wie eben erst gewartet, oder ist es gar ein ganz neues Flugzeug? Man hatte eine Treppe zum Eingang gefahren. Ich stieg die Stufen zum Flugzeug empor. Am Eingang verbeugten sich Stewardessen, die , so vermutete ich, eigens für dieses Flugzeug angestellt worden waren, und ich nickte einfach nur freundlich lächelnd. Ich lebte immer noch in prunkvollen Welt der schillernden Sterne auf der Erde. Ein Steward führte mich zu meinem Platz im Flugzeug. Die Auswahl war nicht besonders groß, es gab nur vier Plätze, dennoch gab es alles, was das reiche Herz begehrte und von dem ein ärmeres Herz nur träumen konnte. Einen großen Fernseher, mit der höchsten Auflösung, die im Moment für diese Größe auf dem Markt war, ein Billardtisch und noch anderen Kram, doch benutzen tat ich nichts. Auch die Sitze ähnelten Massagesesseln und hatten einige Extrafunktionen, die mein Vater liebte. Das Flugzeug startete ohne weitere Probleme, man reichte mir einige Drinks, aber ich wollte nichts davon. Ich schwebte in Gedanken immer noch in den glücklichen Stunden mit Yakino und nicht auf einem Flug nach England zu meinem im Sterben liegendem Vater. Irgendwann musste ich wohl eingenickt sein, denn als ich durch das Herabsenken des Flugzeuges kurze Zeit kleine Atembeschwerden hatte, wachte ich in dem Moment auf, wo das Flugzeug gerade landete. Ich erinnerte mich dunkel an meine Kindheit, die nicht ganz so prunkvoll wie heute war, aber auch damals hatte Vater seine Agentur JulyShine für Models gehabt. In diesen Zeiten hatten wir noch öffentliche Transportmittel genutzt – ich fragte mich immer noch, wieso man für ein ungefähr fünfjähriges Kind ein First-Class Ticket kaufen musste – und waren immer noch ziemlich lange nach der Landung auf dem Platz herumgekurvt. Dies war jetzt nicht der Fall. Schon nach kurzer Zeit bedeutete man mir aufzustehen und geleitete mich zur Tür hinaus. Draußen erwartete mich erneut eine Schar Diener und nun auch Bodyguards, die mich in das Anwesen meiner Familie brachten. Dies war ganz im Stile meines Vaters gehalten, der kleine Details und Perfektion liebte. Nichtsdestotrotz lebte er streng religiös, weshalb er meine Beziehung zu Yakino mehr als missbilligte, er hasste Yakino regelrecht. Vater wollte mir ebenso eine Erziehung zukommen lassen, doch Mutter hatte dies verhindern können. Sie und Vater hatten sich kennengelernt, als sie beide studiert hatten. Sie war ein einfaches Mädchen mit einem wunderschönem Lachen gewesen und war es immer noch, auch wenn sie nun eine ältere Dame war. Vater musste inzwischen 62 Jahre alt sein, leitete den Großteil seiner Agentur immer noch größtenteils selbst. Er war nicht wirklich alt, wieso musste er jetzt sterben? Erst jetzt, so nah bei ihm, machte ich erneut diese Trauer breit, die sich um mein Herz klammerte. Bitte nicht... Während ich so über Vater und seinen wahrscheinlich nicht vermeidbaren Tod nachdachte, schritten ich und meine Begleiter um mich herum immer näher an Vaters Zimmer. Ich hatte es nie zu Gesicht bekommen, allein Mutter und Vater selbst hatten Zutritt zu diesem Zimmer. Nun sollte ich also dieses geheime Zimmer bei seinem Tode sehen, was für eine Ironie. Ein Diener löste sich aus der Schar, die anderen blieben stehen. Er führte mich weiter den Gang entlang, durch eine weitere der endlos vielen Türen hindurch, ehe er sich verneigte und mich vor Vaters Tür alleine ließ. Jetzt, wo ich wirklich hier stand, zitterte ich leicht. Die Traurigkeit, die ich die ganze Zeit unterdrückt hatte, strömte aus kleinen Lecks im Behälter. Mit mulmigem Gefühl in der Magengrube klopfte ich an der Tür. „Herein“, hörte ich leise die bedrückte Stimme von Mutter. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Es überraschte mich sichtlich. Es war ein ganz schlichtes Zimmer mit den nötigsten Möbeln aus normalem Holz, einfarbigen Wänden und einem großem Fenster. In seiner Mitte war ein Himmelbett mit weich aussehenden Decken und darin eine kümmerliche Gestalt, Vater. Mutter saß neben ihm, Tränen standen ihr in den Augen. Betroffen von diesem Anblick, der sich mir bot, ging ich vorsichtig näher an Vater heran. Bisher kannte ich nur das Bild vom Vertreter der katholischen Kirche, der es trotzdem prunkvoll liebte, aber es ließ sich nicht mit ihm jetzt, in diesem Moment vereinbaren. „Hallo“, begrüßte ich die beiden mit leise. Mutter stand auf, nachdem sie noch einmal über Vaters schlaffe Haut gestrichen hatte, und ließ uns beide alleine. Unfähig etwas Weiteres zu sagen, setzte ich mich auf den Stuhl, auf den Mutter eben gesessen hatte. „Na, erstaunt, mein Sohn?“ Vaters Stimme war alt und kehlig, sie klang überhaupt nicht mehr so, wie vor einigen Tagen. Sein Zustand hatte sich in den wenigen Tagen, in denen ich nicht da war, dramatisch verschlechtert. „Dein Vater kann auch ein bescheidenes Leben führen, jawohl.“ Ein tiefes, altersschwaches Lachen. Viele, kleine Lachfältchen durchfurchten sein Gesicht, doch dann wurde er wieder ernst. „Mein Sohn, du bist der einzige Erbe, den ich habe. Ich möchte gerne, dass du die Agentur übernimmst und genauso erfolgreich weiterführst, jawohl?“ Selbst jetzt ließ ihn seine Angewohnheit 'jawohl' an das Ende eines fast jeden Satzes zu setzen nicht los. Ich nickte still und drückte seine schlaffe, schwache Hand. „Sohn?“ „Ja?“ „Ich habe noch einen Wunsch an dich, jawohl. Erfüllst du ihn mir?“ Ich erlebte die folgenden Tage wie im Fieberwahntraum, aus dem ich dringend erwachen wollte. Nachdem ich ihm das Versprechen gegeben hatte, mich mit einer gewissen Lily Maiden zu verheiraten, kam Mutter wieder hinein, sie sah nicht glücklich aus, als sie mich und Vater sah. Sie ahnte wahrscheinlich, was für ein Versprechen er mir abgenommen hatte. Trotzdem war sie nicht weniger über seinen Tod traurig, vielmehr war sie es, die die meisten Tränen vergoss. All die falschen Trauerbekundungen, die wahren Tränen meiner Mutter, die fehlende Nähe Yakinos, all das Schwarz um mich raubte mir meine letzten Nerven und in gewisser Weise auch fast mein letztes Glück. Ich versuchte freundlich zu bleiben, was mir stets mehr oder minder gelang. Nachdem Vater den Weg in sein Grab gefunden hatte, grübelte ich tagelang darüber nach, ob er sich in diesem goldenem Grab wohlfühlte. Wie gerne hätte ich ihm ein einfaches geschenkt, doch dies ging nicht. Viel zu sehr würde es den Ruf der Julys gefährden. Ob ich ihn irgendwann von vertrauensvollen Gärtnern heimlich umgraben lassen sollte? Die Agentur hatte ich auch übernommen. Es war viel Arbeit, aber sie war mir vertraut, da ich sie auch schon von vorher kannte, wenn Vater mir mal etwas über sein geliebtes Business beibringen wollte. Nun trug ich die volle Verantwortung und zeitweise häufte sich die Arbeit ins scheinbar Endlose. Ebenfalls fing ich an Lily Maiden zu umwerben. Ich tat es nicht gerne, doch ich hatte es versprochen. Ich sehnte mich nach den freien Tagen in Japan bei Yakino zurück. Yakino Nachdem er mich alleine gelassen hatte, hatte ich mich auf die Wiese gelegt und gedankenverloren in den Himmel gestarrt. Meine Gedanken waren voll von ihm in allen Variationen, doch ebenso machte ich mir um die Verfassung seiner Mutter Sorgen. Ich kannte sie nicht sehr gut, doch sie schien mir aus den Erzählungen von ihm eine sehr nette Person zu sein. Im Fernsehen hatte ich sie einige Male gesehen und jedes Mal hatte sie ein freundliches Lächeln auf. Die beiden waren sich ähnlich, er schien nach ihr zu kommen. Sie hatte, so erzählte James es mir einmal, ihren Ehemann trotz seiner manchmal doch recht herrischen Art, die er häufig in der Öffentlichkeit zeigte, sehr, sehr gern. Ich wünschte mir wirklich, dass er nicht starb. Er zeigte mir zwar immer seine Abneigung klar und deutlich, doch war er bestimmt ein guter Mensch. Auch seinen lieben Menschen um ihn herum zu liebe, unter denen auch mein ganz besonderer Mensch war. Die Wolken flogen vom Wind gejagt über den sonst strahlend blauen Himmel. Ich vermisste ihn. Es zog. Und zog. Das Dröhnen eines landenden Hubschraubers zerriss die einsame Stille, in der ich ausgeharrt hatte. Ich verließ den Ort, den er mir gezeigt hatte. Mit jedem Meter vermisste ich ihn mehr. Jeden Tag wartete ich auf eine Nachricht von ihm, irgendetwas von ihm. Mit jedem Tag, der verstrich, wurde ich von immer mehr Zweifeln geplagt, Trauer umhüllte mich mit seinem dichtem Netz, durch das ich nicht mehr klar sehen konnte. Ich wartete die ganze Zeit. Ich versuchte mich mit Spaziergängen, Arbeit, Lernen oder Fernsehen abzulenken, doch immer, wenn das Wort 'July' auch nur im Ansatz fiel, schaltete ich weg, wollte nicht durch diesen Weg mehr über seine Lage erfahren. Mir war so, als ob ich nicht mehr leben möchte. Kapitel 2: Nach außen hin anders und doch gleich ------------------------------------------------ Yakino „Ya-Ki-No!“, rief mich mein Zwillingsbruder nun zum gefühltem hundertstem Mal. Wieder lag ich einfach nur auf meinem Bett, starrte die blankweiße Decke an und fühlte mich leer. Nach einem ganzem Jahr ohne eine Nachricht von ihm, verwelkte ich wie eine Blume ohne Licht. Wieso hatte er sich nicht gemeldet? Ich malte mir die grausamsten Dinge aus, und mich stürzte jede weitere Wiederholung noch tiefer in den Graben von Zweifeln, aus dem ich allein nicht rauskommen konnte. Ein lautes Knallen riss mich kurzweilig aus meinen düsteren Gedanken. Ich hob meinen Kopf in die Richtung, aus der der Knall gekommen war, und sah Yamino im Türrahmen. Er schien aus der Puste zu sein, jedenfalls wirkte er nicht besonders fit. Sofort überfiel mich Reue, doch gleichzeitig zerrte es in meiner Herzgegend schmerzhaft. Dieses Zerren war kurz nachdem er mich verlassen hatte zu einem Dauerzustand geworden. Mit einem schwerfälligem Plumpsen landete mein Kopf wieder auf dem Kissen. „Manno, Yakino!“ Yamino zog die Decke, unter die ich mich schon sehr lange verkrochen hatte, weg und warf sie achtlos gegen die Wand. Nun ohne eine Decke, die mich vor dem fröhlichem Sonnenschein schützen konnte, verkroch ich mich von meinem Bett in die lichtloseste Ecke meines Zimmers. „Das geht doch so nicht weiter! Komm jetzt doch endlich mal raus! Bitte!“ Er klang bittend, flehend und verzweifelt. Er war mit seinem Wissen am Ende. Doch ich wusste es auch nicht. Mein Herz war ein dunkles, dunkles Loch, welches nur durch eine Person geflickt werden konnte. Aber diese Person hatte sich seit nun mehr als einem Jahr nicht mehr gemeldet. „Ich hörte, da will jemand nicht zu Potte kommen?“, fragte eine dritte Stimme scherzhaft ernst, ich erkannte sie sofort. Ruckartig stand ich aufrecht von meiner Ecke auf und betrachtete meinen im Türrahmen stehenden Vater. „Papa!“, rief Yamino, er war ebenfalls überrascht. Unser Vater war eigentlich immer irgendwo in der Welt unterwegs, wir sahen ihn sehr selten. Wenn er uns dann mal besuchen kam, wussten wir nicht, wann und wie lange. Ich konnte mich nicht recht entscheiden, ob man das schlechte Organisation oder Überraschungseffekt nennen sollte. „Was machst du denn hier?“ Meine Stimme hatte sehr, sehr leise gefragt. Da ich mich nicht viel bewegt hatte, war ich in einem eher mangelhaftem Zustand. Ich wusch mich zwar regelmäßig, doch das half nicht viel gegen meine roten und verquollenen Augen, aus denen in schier endloser Zahl neue Tränen tropften und meine so schon nassen Wangen benetzten. Dunkle Ringe des Schlafmangels hatten sich um meine Augen gelegt, meine Haut wirkte merkwürdig bleich durch das mangelnde Sonnenlicht. Unser Vater hatte mich gerade eine Sekunde angeguckt, ehe er auch schon mit großen Schritten zu mir kam. Besorgt wuschelte er meine Haare ordentlich und strich mir die Tränen, die trotz meiner Freude, dass er endlich wieder mal hier war, nicht aufhören wollten zu tröpfeln. „Was ist passiert, Yakino?“ Sein Blick war direkt und ich versuchte ihm auszuweichen, doch er zwang mich mit sanftem, bestimmtem Druck, ihm in die Augen zu sehen. „Ähm... Nichts?“, wich ich aus. „Nichts? Das glaubst du wohl selbst nicht!“ Er schien aufgebracht zu sein, doch ich wollte es nicht erzählen. Es war mir dann doch zu peinlich... „Yamino, los, erzähl!“ „Nein!“, rief ich und startete einen Befreiungsversuch, um Yamino zum Schweigen zu bringen, aber unser Vater, Fujitsu Hiyoki, hatte mich fest im Griff, ich konnte mich nicht bewegen. „Tschuldige, Yakino, aber ich denke, dass Papa es wissen sollte“, entschuldigte Yamino sich, bevor er zu erzählen anfing. Ich wollte ihn noch anschreien, dass er es nicht tun sollte, aber Vater hielt mir meinen Mund zu. „Vor so ziemlich einem Jahr haben Yakino und James Jahrestag gefeiert und sind in aller Frühe irgendwohin gefahren, wohin weiß ich nicht. Als er dann gegen Abend wieder nach Hause kam, blies er Trübsal und ich hatte keine Ahnung wieso. Er hat mir den Grund zwar nie erzählt, aber in den Nachrichten kam ja, dass James' Vater gestorben ist. James selbst hat sich bei uns nicht mehr gemeldet.“ Vaters Gesicht wurde besorgt. Sehr besorgt sogar. Und auch irgendwie enttäuscht, wobei ich nicht dachte, dass er so schaute, weil die Geschichte so unspektakulär war. Vater nickte eine Weile lang still vor sich hin, bevor er in einer verzweifelten Geste seine Hände in die Luft warf: „Okay, ich habe keine Ahnung, wie ich dich aufmuntern könnte, also schlag du etwas vor!“ „Ich?“ „Ja, du! Du kannst ja nicht den Rest deines Lebens Trübsal blasen.“ Ich überlegte. Jetzt, da Vater endlich mal wieder hier war, fühlte ich mich gleich geborgener und besser. Doch egal, wie lange ich auch nachdachte, mir fiel nichts Wirkliches ein. Ich wollte James gerne sehen, doch wie sollte ich es anstellen? Direkt zu ihm zu gehen konnte ich nicht, ich wollte nicht aufdringlich wirken, auch wenn ich ihn unbedingt sehen wollte. Warte mal... Er betrieb, da er keine weiteren Geschwister hatte, selbst die Agentur, oder? Vielleicht könnte ich... „... mich verkleiden und in die Agentur einschleichen?“, sprach ich aus Versehen meinen letzten Gedanken laut aus. Yamino und Vater sahen mich nachdenklich an. „Wenn es dir hilft...“, murmelte Vater, er schien ernsthaft darüber zu grübeln. „Wir können ihn nicht allein schicken...Sollte ich mitkommen?“, murmelte nun auch Yamino. Jetzt schmiedeten sie schon Pläne ohne mich... Wenige Minuten später war es beschlossene Sache, dass ich und Yamino - alleine ließen sie mich nicht – uns als Mädchen verkleidet – sie meinten, eine einfache Verkleidung als Junge reichte nicht – uns in der JulyShine-Agentur als Zwillingsmodels – damit wir immer zusammen waren – bewerben sollten. Der Plan war, so betrachtet, ziemlich sicher, aber ich hatte immer noch meine Zweifel, auch wenn es mehr oder weniger meine Idee war. „Am besten suchen wir uns noch neue Namen, oder? Damit man den Schwindel nicht so schnell bemerkt“, fügte Yamino erklärend zu seinem Vorschlag hinzu. „Ja, besser wäre es wohl...“ Ich verschränkte die Arme und sah nachdenklich an die weiße Decke des Wohnzimmers, an der mehrere Lampen ihr ebenso weißes Licht verbreiteten. „Wie wäre es, wenn wir erst einmal eure Namen in lateinischen Buchstaben schreiben, danach zwei Buchstaben austauschen und sie wieder in das Japanische übersetzen?“, schlug Vater vor. Er war wohl erst neulich wieder in Europa gewesen. Ob er wohl auch in England gewesen war? „Ja, das ist eine gute Idee. Die Namen klingen zwar noch ähnlich, aber sie werden mit anderen Schriftzeichen geschrieben. Also... Das wäre dann Yakino und Yamino, oder?“, überlegte Letzterer. „Wir könnten ja die beiden A in unseren Namen durch U ersetzen, dann hätten wir Yukino und Yumino. Ich finde, die Namen klingen gar nicht so schlecht“, beteiligte ich mich am Gespräch. „Ich mag die Namen, aber wie sieht es mit Nachnamen aus?“ Über die Nachnamen mussten wir länger diskutieren, als über die Vornamen. Bei der folgenden, längeren Diskussion mit vielen Vorschlägen entschieden wir uns für „Namida“, was Träne hieß. „So, da das geklärt wäre, werde ich passende Perücken und so weiter besorgen. Ihr wollt eure natürliche Haarfarbe behalten, oder?“ Vater hatte sich erhoben und seine Jacke angezogen. „Es ist auch das einfachste, oder?“ „So gesehen, ja. Wenn eine Strähne mal raus schauen sollte, dann ist es nicht so auffällig wie bei einer komplett anderen Farbe.“ „Dann nehmen wir das.“ „Gut, ich bin dann bald wieder hier, bis dann!“ Er gab uns beiden noch einen Kuss auf die Wange, ehe er durch die Tür verschwand. Yamino und ich saßen noch eine Weile still schweigend im Wohnzimmer. Auf einmal bekam ich das dringende Bedürfnis, mich bei ihm zu bedanken. „Danke, Bruderherz.“ „Aber wofür denn?“ Er wirkte ein wenig überrascht. „Dafür, dass du dich mit mir als Mädchen verkleidest und dass du immer für mich da warst.“ „Das ist doch selbstverständlich, ich bin schließlich dein Zwillingsbruder.“ „Trotzdem“, erwiderte ich mit meiner stursten Stimme, die ich gerade hatte. „Na gut.“ Er lächelte, als er ebenfalls von seinem Stuhl aufstand. „Ich werde mich mal über Modelbewerbungen schlau machen, ruh dich also aus, okay?“ Gähnend stimmte ich ihm zu. Nachdem sich all der Trubel gelegt hatte, spürte ich die Müdigkeit in meinen Gliedern stecken. Die vielen Tränen entfalteten ihre schläfrig machende Wirkung. Ich schleppte mich den Weg durch den Flur in mein Zimmer und plumpste schwerfällig auf das Bett. Nun merkte ich erst, wie müde ich war, auch wenn ich es wohl auch gut an den tiefen Augenringen hatte erkennen können. Jetzt ließ ich mich in sanfte Träume von einer heilen Zukunft und Gegenwart gleiten. „Aufstehen, Siebenschläfer!“, weckte mich Yamino. Ich erkannte ihn sofort an der Stimme, doch als ich sein Gesicht erblickte, fiel ich aus allen Wolken. Dort, wo ich Yaminos mir meist als irgendwie verschlafen wirkendes Gesicht erwartete, waren feminine Züge mit dezenter Schminke, die diese nochmal untermalten. Ich hatte nicht gewusst, dass er so weiblich aussehen konnte. „Ähm... Yamino?“, fragte ich, immer noch ziemlich verwirrt und überrascht von der Totalveränderung meines Bruders, den ich zu kennen geglaubt hatte. „Ja, Yakino?“, antwortete dieser und fuhr sich durch die Perücke. Dann grinste er hinterhältig. „Keine Sorge, gleich bist du auch an der Reihe. Um genau zu sein wollte Vater in... drei... zwei... eins...“ Exakt in diesem Moment stürzte unser Vater ins Zimmer, seine Augen leuchteten richtig. Sehr beunruhigend. „Komm, Yakino-chan“, säuselte er und nahm mich am Arm. Ich zweifelte langsam an meiner eigenen Idee, wobei diese sich deutlich von der Ausführung unterschied. Außerdem hatte ich gerade Angst vor unserem Vater bekommen. Er zog mich durch den Flur in sein Zimmer. Vaters Zimmer nahm, nachdem er es einige Male vergrößert – also die Wände der Nachbarzimmer einreißen ließ – hatte, gut mehr als die Hälfte der Wohnung ein. Hier lagerte seine komplette Schminksammlung, die er gerade nicht benötigte. Es kamen immer wieder Assistenten aus allen Teilen der Welt hierher, um Nachschub für Vater zu holen. Wie ich jetzt bemerkte, gab es hier nicht nur Schminke, sondern auch noch diverse Perücken, Regale mit irgendwelchen elektronischen Gerätschaften und auch Kleidungsstücke. Lange konnte ich mich nicht in dem für mich riesigem Raum umsehen, Vater drückte mich auch schon in einen bequemen Sessel vor einem Spiegel, der mindestens anderthalb Meter breit und zwei Meter hoch war. An dessen Rändern waren Lampen befestigt, die ihr strahlendes Licht in den Raum warfen. „Dann wollen wir doch mal“, sagte er zuversichtlich, während er mit kritischen Blicken meine Figur und mein Gesicht betrachtete. Danach verschwand er in die hinteren Tiefen seines Zimmers, in die ich nicht ohne Weiteres blicken konnte, da hier das reinste Chaos herrschte, und Vater war der alleinige, unbestrittene Herrscher. Selbst seine Assistenten brauchten eine ausführliche Erklärung, um das Gewünschte zu finden. Ich persönlich möchte lieber nicht in die weiteren Tiefen des Raumes eingeweiht werden. Als eine halbe Ewigkeit verstrichen war, kam er endlich wieder aus dem Kleidungsurwald zurück, mit einigen Sachen über dem Arm. Unter diesen Sachen war unter anderem einfache, weiße Frauenunterwäsche und ein Etwas, das nicht sehr bequem wirkte und meines Erachtens nach ausgestorben war. Scheinbar wohl nicht. Zuerst wurde mein Kopf knallrot, dann wunderte ich mich, wieso Vater diese Sachen hatte und, als letztes, aber längstes Gefühl, bekam ich eine sehr, sehr große Panik. Was hatte mein eigener Vater mit mir vor?! „Als erstes lernst du die grundlegenden Dinge, die eine Frau oder auch ein Mädchen wissen muss. Das hier“, er zeigte auf das unbequeme Ding, „ist ein Korsett. Damit zaubern wir dir eine Taille.“ Er lächelte freundlich, doch es hatte eine diabolische Aura. Er erzählte noch lange sehr ausschweifend, doch viel bekam ich nicht wirklich mit, ich wunderte mich eher, woher er all diese Kleider und das Wissen über Frauenklamotten hatte... Während er mir das nötige Wissen eines Mädchens erzählte, steckte er mich in dieses Korsett und schnürte mir die Luft ab. „Kann. Nicht. Atmen“, presste ich hervor. „Das kommt noch, du überlebst das. Schließlich ist noch niemand daran gestorben“, lachte er nur erbarmungslos und zog die vielen Schnüre noch fester. Ich versuchte Luft durch meine Lunge zu quetschen. Dieses Korsett musste ich nun jeden Tag tragen, ich glaube, ich überlebe das nicht... Er erzählte und redete und zog mich immer weiter wie ein Mädchen an. Ich hatte nun etwas an, von dem ich dachte, dass ich so etwas nie tragen würde. Ein Kleid. Und nicht einfach ein einfaches, simples Kleid, nein. Es war mit Rüschen und Schleifen bestückt, in den Farben Pink, Lila und Weiß. Ich war zu sprachlos, es war mir zu peinlich, als das ich irgendetwas sagen konnte. Schon drückte mein Vater mich wieder in den Sessel, wahrscheinlich war jetzt mein Gesicht dran. Auf Wiedersehen, schönes Jungenleben, ich habe dich sehr genossen. Nun griff Vater sich einen der vielen Pinsel, die in einer schlichten, aber vom Durchmesser durchaus breiten, Dose aufbewahrt wurden, und tupfte mit der Spitze in etwas, das nach Puder oder Ähnlichem aussah. Während er mit dem Pinsel über mein Gesicht strich – das kitzelte vielleicht! - fing er an, über Schminke zu reden. Mich interessierte das Gesagte nicht, also schloss ich für eine krze Weile meine Augen, unwissend, wirklich einzudösen. Erst als mir, unwissend wieviel Zeit vergangen war, jemand an meinen Haaren ein wenig zog und zerrte, schreckte ich aus meinem Dösen hoch. „Tsch, tsch“, machte mein Vater und bedeutete mir mit leichtem Druck auf meine Schultern, sitzen zu bleiben. Scheinbar bereitete er meine Haare darauf vor, nicht mehr an das Tageslicht zu kommen. Nachdem er mir etliche Zöpfchen gemacht und fixiert hatte, setzte er mir eine komische, hautfarbene Haube auf. Dann stülpte er mir eine Perücke in meiner natürlichen Haarfarbe, Blond, über. Kritisch beäugte er diese, fummelte an den einzelnen Haarsträhnen herum und nahm einen Lockenstab zur Hand. Er drehte in die Spitzen Locken hinein, floch kleine Zöpfe und verzierte diese mit Perlen. Nachdem er endlich zufrieden war, griff er noch einmal zur Schminke. „Da du geschlafen hast, konnte ich deine Augen nicht richtig schminken!“, klagte er. Über meinen Rücken lief ein kalter Schauer. Überhaupt kam mir meine Idee immer dämlicher und dämlicher vor. Ich wollte nicht wie ein Mädchen aussehen... „Augen auf!“ Vater hob mein Kinn an und rückte mir mit noch mehr Schminke zu Leibe. Ich durfte mich nun nach einer gefühlten Ewigkeit endgültig im Spiegel betrachten. Nun war ich vollkommen erstaunt, wobei man es doch eher geschockt nennen konnte. Ich hatte das rosane Rüschenkleid an, welches mir bis zu den Knien reichte. Ich trug weiße Kniestrümpfe, die am Saum noch mit pieksender, weißer Spitze verziert war, und passende Schuhe mit Schleifchen. Ich würde mal sagen, dies war wirklich nicht mein Geschmack. Mein Gesicht wirkte nun, ebenso wie Yamino, sehr feminin, obwohl ich immer gedacht hatte, ich hätte ein relativ maskulines Gesicht. Vater hatte mir auch einen Hauch lilarosanen Lidschatten auf die Lider gestrichen, er hatte dazu gemeint, es betone meine Augenfarbe, Blau. Da ich keine Ahnung von solchen Dingen hatte, hatte ich nichts dazu sagen können, es war mir, ehrlicherweise, auch relativ egal. Nachdem ich meinen ersten Schock, dass ich dieses Mädchen wirklich sein sollte, überwunden hatte, fand ich, dass ich gar nicht so schlecht aussah. Was hatte ich gerade gedacht? Ich war nun geschockt von mir selbst. Meine Männlichkeit schwand schneller als ich glauben wollte... In diesem Moment stürmte Yamino ins Zimmer. Das war eigentlich gar nicht seine Art, verwundert drehten sich zwei Köpfe in Richtung Tür. „Was ist...“ Ich stoppte, als er mir ein Blatt Papier unter die Nase hielt und betrachtete dies, jedoch hielt er es zu nah an mein Gesicht, sodass ich es nicht entziffern konnte. Ich nahm ihm das Blatt aus der Hand und hielt es in einem passendem Abstand von meinem Gesicht entfernt. Dann fing ich an zu lesen. „Der Traum vom Modeln...“, las ich die Überschrift laut vor, „Wolltest du schon immer ein Model werden? Jetzt hast du die Gelegenheit mit JulyShine ganz groß rauszukommen! Wir suchen die neuen Gesichter von morgen. Komm zu einem unserer Castings in deiner Stadt!“ Unten waren dann Städte mit Datum, Ort und Uhrzeit aufgelistet. Unter der eher bescheidenen Anzahl der Städte war wie durch ein Wunder auch unsere. „Warte mal...“ Ich betrachtete das Datum genauer und nahm auch die angegebene Zeit in Augenschein. „In einer Stunde ist Anmeldeschluss...“, murmelte ich, Yamino nickte eindringlich. „Wir müssen sofort los!“, rief er und zerrte mich und Vater nach draußen. Im Gehen schnappte sich Vater noch seinen Autoschlüssel. Zum Glück war das Auto nicht weit vom Haus entfernt geparkt, aber der Ort des Castings lag für uns eine knappe Autostunde entfernt, da wir am äußerstem Stadtrand unserer nicht gerade kleinen Stadt lebten. Während der Fahrt hatte ich viel Zeit zum Nachdenken und es kamen immer mehr Zweifel und Ängste auf. Yamino und Vater redeten nicht, ich redete auch nicht, die Luft war erfüllt von angespannter Stille, während wir über die vielen Straßen der Stadt rasten. Ich las mir nochmal das Flugblatt durch, zuckte zusammen, als am Ende stand, dass James und ein Mann namens Finn Jiven die Jury bildeten. Er gehörte zu der Familie, die den Julys schon seit Langem als engste Berater dienten. Nun hatte er scheinbar das Amt übernommen, seit James' Vater verstorben war. Ich kannte ihn nicht persönlich, doch James hatte schon öfters über ihn gesprochen. Schmerz durchstach mein Herz, als er wieder in meinem Kopf auftauchte. James... Er war also wieder hier in der Stadt... Wieso hatte er sich bloß nicht gemeldet? James Es kamen mehrere hundert Mädchen, die Models werden wollten, aus seiner Heimatstadt zu uns. Ich erwartete nicht, ihn in der großen Stadthalle zu treffen, doch tief in mir drin, das spürte ich, wünschte ich mir das. Doch ebenso ergriff mich auch leise Panik und Angst, weil ich einfach nicht wusste, wie ich ihm entgegen treten sollte. „Die nächste, bitte!“, bat Finn, mein Berater, der mir ebenfalls zu einem Modelcasting geraten hatte, das nächste Mädchen hinein. Ich genehmigte mir einen kurzen Schluck Wasser aus dem Glas und einen Blick auf die Uhr. Der Anmeldeschluss war fast vorbei, es standen jedoch immer noch mindestens zwanzig Mädchen auf der Liste. Von den bisherigen Mädchen, die anderen Städte mitdazugenommen, hatte mir noch keine so gut gefallen, dass ich sie für das nächste Programm von JulyShine nehmen würde, auch wenn die Zeit drängte und wir langsam wieder ein paar neue Gesichter brauchten. Jeden Tag dachte ich an Yakino und fragte mich, was er wohl machen würde. Ich traute mich jedoch nicht, ihn anzurufen oder ihm einen Brief oder Ähnliches zu schreiben, denn ich ahnte, wenn ich das tat, würde mein Herz zersplittern und ich würde das Versprechen, das ich Vater einst gab, nicht halten können. So hatte ich meine Liebe für ihn versperrt und verschlossen, auch wenn mein Herz sich auch nach einem Jahr noch dagegen wehrte. Das nächste Mädchen betrat die Bühne, wieder sah sie zwar hübsch aus, doch sie hatte erneut keine Ausstrahlung. Schnell waren Finn und ich uns einig, wir nahmen sie nicht. Nachdem ich ihr dies freundlich lächelnd mitgeteilt hatte - ich konnte trotz allem mein Lächeln behalten, was mich selbst manchmal erstaunte - kamen noch weitere Mädchen wie sie. Nun war der Anmeldeschluss erreicht und die letzte Liste mit Namen erreichte Finn. „Es sind noch drei Mädchen da. Obwohl... Warte mal, beim letztem Punkt sind zwei eingetragen.“ Er erhob sich von seinem Stuhl und erkundigte sich beim Anmeldungsleiter, der gerade dabei war, wieder durch die Tür hinauszutreten. Dieser, das konnte ich von meinem Platz beobachten, zuckte nur fragend mit den Schultern und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu. Seufzend kam Finn wieder zurück. „Was ist los?“, fragte ich freundlich. „Hier, beim letztem Punkt sind zwei eingetragen. Sollen wir sie aufspalten oder nicht?“ Er zeigte mir die Liste. Yukino Namida und Yumino Namida. „Sie scheinen verwandt zu sein.“ „Ja, man hat mir gesagt, es seien Zwillinge.“ „Dann lassen wir sie einfach zusammen auftreten, ist doch nichts dabei. Außerdem wäre das auch mal interessant, findest du nicht?“ Ich verriet nicht, dass die beiden allein vom Namen her mich insgeheim an Yakino und seinen Zwillingsbruder Yamino erinnerte. Ein Stich der Trauer zuckte durch meinen Körper, doch ich schüttelte ihn schnell ab. „Gut, ich geb der Organisation Bescheid, dann können wir uns auch die letzten ansehen.“ Yakino Ich hatte Angst. Obwohl uns eben Bescheid gegeben wurde, dass wir zu zweit casten konnten, dennoch: Ich hatte Angst. „Ruhig atmen, Yukino-chan“, mahnte Yamino mich mit seiner Mädchenstimme. Wir saßen hinter der großen Bühne, das Mädchen, welches vor uns dran war, ging gerade auf die Bühne. Durch einen kleinen Spalt im Vorhang konnte ich einen kurzen Blick auf James erhaschen, mein Herz tat einen großen Sprung. Er lächelte so freundlich und sanft wie immer, es zerriss mir mein Herz. Ich sehnte mich nach diesem Lächeln, doch gleichzeitig hielt mich diese Distanz, die zwischen uns entstanden war, davon ab, ihn direkt damit zu konfrontieren. Ihm zu zeigen, dass ich ihn immer noch liebte. Nach einer kurzen Weile wurden wir aufgefordert, auf die Bühne zu treten. Yamino hatte schon zu seiner tiefen Ruhe gefunden und ich bald auch. Gefasst traten wir auf die Bühne, kurz bevor mir das grelle Scheinwerferlicht für einen Augenblick meine Orientierung nahm Yamino, mein Fels in der Brandung, meine Hand und zog mich sanft weiter. Wir blieben dann in der Mitte der Bühne stehen, Yamino vermittelte mir mit sanftem Händedruck, dass ich stehen bleiben sollte. Während ich in Yaminos Nähe auf der Bühne stand, richtete sich mein Blick nach vorne und traf auf James. Mein Herz zog sich zusammen, Gefühle überfluteten mich, die ich nur mit Mühe zurückhalten konnte. Ich wollte ihm so vieles fragen, so vieles sagen. „Ihr seid Yukino und Yumino Namida, richtig?“, fragte uns Finn freundlich. James musterte uns nur schweigend mit seinem sanftem Lächeln, ohne etwas zu sagen. Für einen kurzen Moment dachte ich, Wiedererkennen in seinem Blick zu erkennen, doch ich hoffte stetig, wenn auch mit sich zusammenziehender Brust, dass ich mir dies nur eingebildet hätte. „Ja, ich bin Yumino und das hier ist meine Zwillingsschwester Yukino-chan“, stellte Yamino uns vor. Seine Stimme klang wie sanftes Wasserplätschern, auch wenn es komisch klang, es damit zu vergleichen. Sie war ruhig, bestimmt und wirkte beruhigend auf mich. Da fiel mir auf, dass ich vielleicht die einzige Person in diesem Raum war, die seine Stimme mit so etwas Abstraktem verglich. „Und ihr tretet zu zweit auf, weil...?“ Wieder Finn, scheinbar hatte er heute das Ruder in der Hand, aber ich hatte keinen Blick für ihn, ständig klebte mein Blick an James, ich konnte einfach nicht anders und hoffte einfach, dass er es nicht als unhöflich empfand. Ab und zu lenkte ich ihn auf Finn, aber irgendwie schwenkte es immer zurück, ohne mein bewusstes Eingreifen. „Wir haben bisher eigentlich alles zusammen gemacht, und als ich Yukino-chan gefragt hatte, ob sie mit mir zum Casting gehen würde, hat sie das getan.“ Bei uns sprach auch nur Yamino, bemerkte ich. „Interessant... Würdet ihr theoretisch denn auch alleine Modeln?“ „Wissen wir nicht wirklich, aber am Anfang würden wir es bevorzugen, zusammen zu modeln.“ Finn nickte nachdenklich, James Blick konnte ich nicht deuten. Es kam mir so vor, als würde ich ihn gar nicht mehr kennen, doch gleichzeitig bildete ich mir auch ein, sein Gesicht immer mehr wiederzuerkennen. „Gut, dann machen wir doch mal kurz ein paar Fotos. Das Thema wäre dann wie für alle anderen: Blumenstrauß! Ihr bekommt beide einen Rosenstrauß und dann würde ich euch bitten zu posieren. Unser Fotograf wird euch auch noch mit einigen Tipps versorgen, also macht euch keine Sorgen.“ Finn lächelte und winkte jemanden aus dem hinterem Bereich herbei, der zwei Sträuße in der einen Hand und eine Spiegelreflexkamera in der anderen hatte. Sofort überkam mich die Panik. Beruhigend drückte Yamino meine Hand, ehe wir die Blumensträuße entgegen nahmen und der Fotograf uns bedeutete, anzufangen. Yamino wies mir die richtigen Posen, indem er mal lachte, mich mitzog und mir den richtigen Weg wies und ebnete. Er wirkte ganz und gar wie ein Mädchen. Vielleicht sollte ich ihn und mich auch bei unseren 'Mädchennamen' nennen, wenn wir gerade solche spielen. Manchmal machte Yumino ganz alberne Posen, wie zum Beispiel, dass sie - komisch, den eigenen Bruder als Mädchen zu bezeichnen - den Blumenstrauß auf den Kopf legte, aber es war lustig und ich machte gerne mit. Nach einer Weile hatte ich James komplett ausgeblendet und lachte wieder. Yumino merkte dies und lachte zufriedener und noch glücklicher als ohnehin schon. Sein Lächeln wirkte viel, viel wärmer und das brachte mich wiederum dazu, ebenfalls von tiefem Glück erfüllt zu sein. „Okay, das reicht!“, riss uns der Ruf von Finn wieder auf die Bühne in der Stadthalle zurück, auf der wir unsere kleine, kurzweilige Welt erschaffen hatten. Wir übergaben die Blumensträuße dem Fotografen, der uns überglücklich anstrahlte, zurück und standen dann wieder in der Mitte der Bühne und warteten die Entscheidung von James und Finn ab. Plötzlich war es mir peinlich, so vor James posiert zu haben. Ebenso machte ich mir Sorgen darüber, dass wir unseren Blumenstrauß ziemlich zerfleddert zurückgegeben hatten. „James, der Agenturleiter von JulyShine und ich, sein Berater, haben uns dazu entschlossen, euch unter Vertrag zu nehmen!“ Einen Moment lang wusste ich nicht, was das bedeutete, doch als ich es realisiert hatte, atmete ich erleichtert aus. Zufälligerweise taten ich und Yumino es im selben Moment, woraufhin wir leise kicherten. „Nähere Informationen lassen wir euch zukommen, wenn ihr uns eure Kontakt...“ „Halt, halt!“, unterbrach Jemand Finn plötzlich. Ich erkannte Vater an seiner Stimme, doch wieso wartete er nicht draußen? Ich war völlig perplex, als er auf die Bühne kam, heruntersprang und vor Finn sich aufbaute und zu seiner vollen Größe aufstellte. Aber auch sein Aussehen war komplett anders, statt blonder Haare hatte er nun schwarze und trug, sonst gar nicht seine Art, eine Sonnenbrille. Auch seine Stimme hatte er leicht verstellt. „Ich bin der Vater dieser äußerst bezaubernden Zwillinge hier und werde Ihnen ganz sicher nicht die Mailadresse von ihnen geben! Bitteschön, meine müsste genügen.“ Er kritzelte eine seiner vielen Mailadressen auf das Formular, das Finn uns ursprünglich geben wollte, und nickte zufrieden. „Wir ziehen gerade um, unsere Adresse lassen wir Ihnen später zukommen, okay?“ Leicht angeschlagen und verwundert nickte Finn und betrachtete die Mailadresse. Ich vernahm ein leises Kichern, dessen Quelle James war, was natürlich sofort meine Aufmerksamkeit erregte. Tatsächlich kicherte er leise in sich hinein, es tat eben so gut wie es schmerzte, ihn wenn auch nur leise kichern zu hören. Wie gerne ich ihn gefragt hätte, weshalb, doch ich durfte nicht. „Das war es dann auch, auf eine gute Zusammenarbeit“, kam er endlich auch zu Wort. Schmerz zuckte durch mich, als ich seine Stimme nach so langer Zeit wieder hörte. „Auf gute Zusammenarbeit“, wünschte Yumino ebenfalls. Mir fiel auf, dass ich gar kein Wort gesprochen hatte, doch das war mir auch lieber so. Überhaupt fürchtete ich die ganze Zeit, er könnte mich durch meine Bewegungen und meine Art und Weise erkennen, was ich mir tief, tief in mir wünschte. Aber es durfte nicht sein. James Die ganze Zeit konnte ich meinen Blick nicht von Yukino Namida trennen. Sie faszinierte mich, sie erinnerte mich an etwas, was ich wohl in meinen Erinnerungen vergraben hatte, was ich dabei war, für vielleicht immer zu vergessen. Es war nur bei ihnen so gewesen, dass ich kaum gesprochen hatte. Ich wusste einfach irgendwie nicht mehr, was ich sagen musste, also hatte Finn immer gesprochen. Ja, es war, als hätte ich mich an etwas erinnert, eine Saite in mir hatte auf Yukino reagiert, doch ich wusste einfach nicht, wieso. Die Zwillinge waren sicherlich eine Bereicherung für die Agentur, sie hatten auch diese gewisse Ausstrahlung, die ich gesucht hatte. Der Vater der beiden war äußerst amüsant, ich musste leise kichern, als ich seine Besorgnis aus seiner Stimme erriet. Er erinnerte mich ein wenig an Yakinos Vater, den ich manchmal auf Aufträgen sah. Yakino... Ich versank in kurz Tagträumereien von einer heilen Gegenwart mit ihm, als mich etwas jäh aus den Gedanken riss. „Auf Wiedersehen“, sagte jemand. Es kam von Yukino, aber es erinnerte mich auf schmerzliche Weise an ihn. Lange konnte ich ihr nicht hinterherschauen, zu schnell war sie mit ihrer Familie hinter dem Vorhang in den Tiefen der hinteren Bühne verschwunden. „Wuoah!“ Finn streckte sich genüsslich und machte ein zufriedenes Gesicht. „Scheint als wäre heute doch kein so schlechter Tag.“ Ich musste zugeben, dass auch ich sehr zufrieden war. „Komm, wir bestellen etwas von Hong Yun!“ Hong Yun war ein Chinarestaurant und Finns Lieblingsrestaurant. Er hatte es einmal in Deutschland gefunden und war hin und weg, wobei ich es bis heute nicht verstand. Für ihn schickten sie auch mal Essen ins Ausland, wobei es dann natürlich nicht mehr frisch war. Was ihn immer wieder freute waren die Glückskekse, die er zu jeder Mahlzeit und manchmal auch so bekam. Er war nämlich ein ziemlicher Glückskeksfanatiker und glaubte alles, was in ihnen stand. „Hmm... Vielleicht“, lächelte ich. Yakino Zu Hause angekommen fragte ich Vater nochmal etwas: „Ähm, sag mal... Wir ziehen doch nicht wirklich um?“ Dieser grinste spitzbübisch, mir schwante Böses. „Das nicht direkt... Wir mieten uns eine Wohnung und ziehen dort für die Dauer des Projektes ein!“, eröffnete er uns mit einem sehr selbstzufriedenem Lächeln. „Was ist mit unseren Möbeln und so?“, fragte Yumino, sie zog sich ihre Perücke ab und verwandelte sich wieder in meinen altbekannten Zwillingsbruder Yamino. Naja, bis auf das Kleid, welches er immer noch trug. Und ich übrigens auch. Ich bekam das Verlangen, ihn zu umarmen und gab diesem schließlich auch nach. „Was ist denn los?“ „Ach, ich freue mich, dass du wieder der Alte bist.“ „Dann werd du doch auch wieder Yakino!“ Lachend zog er auch mir die falsche Haarpracht ab. Den restlichen Abend diskutierten Yamino und Vater über die weitere Vorgehensweise, während ich einfach nur bei ihnen saß und mich freute, dass wir zu dritt waren. An James dachte ich nur ein einziges Mal und komischerweise verspürte ich diesmal keine richtige Trauer. Kapitel 3: Etwas verloren und doch wiedergefunden ------------------------------------------------- Yakino Ich konnte die Ereignisse in den letzten Wochen nicht in Worte fassen. Zuviel passierte viel zu schnell, sodass ich es noch nicht wirklich begreifen konnte. Wir waren in Windeseile – also ca. anderthalb Tagen - umgezogen und wohnten nun seit ungefähr einer Woche in der Wohnung eines Freundes von Vaters, die seltsamerweise von demjenigen nicht genutzt wurde. Möbel waren auch schon vorhanden und wir mussten uns nur umorganisieren. Vater meldete uns von der Schule ab, mit der Begründung, dass wir wegziehen würden, was zur Hälfte ja auch stimmte. Der Abschied von meinen Schulkameraden war kurz und mit wenigen Schmerzen verbunden. Ich hatte mich sehr von ihnen entfremdet, seit ich in diese Trauerphase um meine Mutter gerutscht war. Danach hatte ich auch nur Gedanken für James übrig, ich fragte mich, ob ich es wohl bereute. Ob ich wohl bereute, die Freundschaften nicht mehr gepflegt zu haben. Bald trudelte auch schon der erste Auftrag in unseren Briefkasten. Es ging um eine Frühjahrskollektion, die bald anlaufen sollte. Diese Saison wollte die Firma sich auf Partnerlooks für Mädchen konzentrieren, da schienen wir wie gerufen zu sein. Das Thema des nächsten Frühjahrs war: „Blumig frostig“. Ich verstand dieses Thema nicht gerade, aber Yamino und Vater waren ziemlich begeistert von den Entwürfen der Kollektion, die wir in demselben Brief waren wie der Auftrag an sich. Sie sagten, der Schnitt sei toll und die Farben harmonierten so schön. In diesem Punkt konnte ich den letzten Rest meiner Männlichkeit bewahren: Ich verstand kein Stück, wovon sie redeten und nickte einfach nur höflich. Ab da wurde unser bisher sehr beschauliches Leben sehr stressig. Vater übernahm im selben Maße zwei Rollen wie wir, er war nämlich für eben diese Kollektion als Stylist angestellt worden, war aber gleichzeitig der um seine Töchter besorgte Vater. Die Besorgnis war nicht gespielt, er sorgte sich wirklich, dass wir überfallen werden könnten oder Ähnliches. Heute waren wir bei unserem erstem, professionellem Shooting. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, vor Nervosität schwitzten meine Hände aus allen Poren und ich zitterte. Mildern tat dies nur Yumino – ich nannte ihn insgeheim so, wenn er und ich als Mädchen herumliefen, wobei ich ihn und mich dann auch als Mädchen bezeichne... -, die dicht neben mir saß und versuchte, mich zu beruhigen. Auch die Tatsache, dass James heute dabei war, um zu sehen, wie wir uns machen würden, brachte meine Nervosität auf das Maximum. Komischerweise war ich nicht mehr nervös, als ich James wirklich sah. Ganz kurz hatte ich einen Blick auf ihn erhaschen können, durch die Menschenmenge hindurch hatte ich seine Gestalt erkannt. Er stand mit dem Rücken zu mir und unterhielt sich gerade mit jemandem. Als ich mich wieder zum Gehen wenden wollte, drehte er seinen Kopf ein wenig, sodass ich sein Gesicht sehen konnte. Er lächelte und ich wollte mir den Grund nicht eingestehen, wieso ich auf einmal tiefes Glück verspürte und mit dem auch Ruhe. Schnell entfernte ich mich von dem Ort, wo James stand, und folgte meinem Bruder, welcher schon etwas weitergegangen war und auf mich wartete. Mir war es ein wenig peinlich, dass Yumino wusste, dass ich James heimlich für einen Augenblick beobachtet hatte, dementsprechend war mein Gesicht auch gefärbt. Nachdem wir durch die vielen Flure des Hochhauses, wo das Shooting scheinbar stattfand, geleitet worden waren, sollten wir uns von unserem Vater schminken lassen. Es war vorteilhaft, dass er wusste, dass wir ja nur Perücken trugen und demnach auch vorsichtiger mit ihnen umging, auch wenn ich manchmal nicht glauben konnte, dass es Perücken gab, die sich so echt anfühlten und aussahen. Jedoch gab es auch einen, kleinen Nachteil... „Hach, ihr werdet wundervoll in diesen Kleidern aussehen!“, schwärmte Vater ganz verzückt. „Ich kenne den Designer, er ist ein Genie!“ Er erzählte noch viel, viel mehr über diesen Designer, den er wirklich sehr mochte und auch gut kannte. Nachdem er uns fertig gestylt hatte, wussten wir alles über einen Designer, den wir noch nie gesehen hatten, aber dies sollte sich auch schnell legen. Wir gingen nun mit Vater noch weiter in die höheren Stockwerke, als wir auf dem Flur einem Mann mittleren Alters begegneten. „Da sind ja unsere neuen Goldstücke!“, begrüßte uns dieser mit herzlichem Händeschütteln. Er hatte braune, etwas längere Haare, die er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, welcher wegen seinem schwungvollem Schritt die ganze Zeit hin und her wippte. „Ich wusste, JulyShine würde mich nicht enttäuschen.“ Sein Gesicht lächelte fröhlich, es bekam einen begeisterten Gesichtsausdruck, als er die Person hinter uns entdeckte. „Fujitsu!“ Vater trat vor uns und schien auch erfreut zu sein. „Joal!“ Nach männlicher Manier klopften sie sich gegenseitig auf die Schulter und plauderten dann frauenhaft über Mode. Yumino und ich tauschten einen ratlosen Blick aus. Ich zuckte mit den Schultern, sie auch. „Sollten wir ihnen einfach folgen?“, fragte ich. „Wäre wohl am besten, hoffentlich führen sie uns nicht in eine Bar oder so“, scherzte Yumino halb im Ernst, halb in Sorge. Nun ein wenig beunruhigt liefen wir den beiden nach, die immer noch eine hitzige Diskussion führten. Zum Glück gingen sie durch die vielen Flure in einen Aufzug, der uns dann zu dem gewünschtem Ort brachte, in den Dachgarten des Hotels, wovon die Modefirma für heute den Dachgarten für das Shooting gemietet hatte. Der Aufzug fuhr surrend hoch, die polierten und lackierten Wände des Aufzugs glänzten im Licht der Aufzugslampe in einem goldenem, weißlichem Schein. Die Fahrt nach oben dauerte nicht lange, aber dennoch lang genug, um sich wieder in eine nervöse, stocksteife Puppe zu verwandeln, die hin und her zitterte. Es beruhigte sich ein wenig mit der Zeit, ich konnte mein Zittern verbergen. Die Türen des Aufzuges glitten zur Seite und gaben den Blick auf ein kleines, grünes Paradies frei. Wir traten aus und Yumino und ich bewunderte die grüne Pracht, durch die die ein oder andere schillernd bunte Blume ihre Akzente setzte. „Kommt ihr bitte hierher?“, wandte sich nun wieder jemand uns zu. Dieser Jemand, der uns gerufen hatte, war niemand Geringeres als James höchstpersönlich. Unweigerlich fing mein Herz an, wie verrückt zu klopfen und gleichzeitig setzte eine komische Ruhe ein, die sich überhaupt nicht mit meinem schnellem Herzschlag vertragen wollte. Am Schluss siegte die Ruhe, ich atmete tief ein und aus, um meinen Puls wieder herabzusenken. Yumino zog mich, die gerade wohl mehr oder weniger tagträumte, zu James und Finn, der mit dem Rücken zu uns stand und gerade scheinbar geschäftliche Dinge erledigte. „Da sind wir“, merkte Yumino an, nachdem wir die wenigen Meter Weg überbrückt hatten. „Gut, wir wollen euch dann mal in den heutigen Tagesverlauf einweihen.“ Finn hatte sich beinahe sofort uns zugewandt, als wir angekommen waren, und fing an, fast ohne Punkt und Komma Zahlen und Tätigkeiten herunter zu rattern. Am Ende hatte ich einen rauchenden Verstand, doch Yumino hatte ständig nur genickt und verstehend geschaut. Scheinbar hatte James gemerkt, dass ich nicht wirklich mitgekommen war, denn nachdem die beiden noch heftigst über irgendein offensichtlich wichtiges Thema diskutierten und dabei wahrscheinlich unbewusst hin und her gingen, erklärte er mir den Tagesablauf noch einmal ruhig und ohne Eile. „Zuerst werdet ihr unter dem Thema 'In der Stadt im Grünen' hier auf dem Dach shooten. Heute fotografiert Joal persönlich, er ist wirklich begeistert von euch. Nachdem wir das Shooting auf dem Dach fertig haben, wird zu Mittag gegessen. Danach geht es in den Park und nach dem Shoot werden die bisherigen Bilder begutachtet. Darauf folgt das Abendessen und danach, wenn Joal der Sinn danach steht, wird es noch spontane Shootings am Abend geben. Zwischendurch gibt es immer noch Kostümwechsel.“ Ich wusste wirklich nicht, wie James etwas, was Finn so kompliziert dargestellt hatte, so einfach erklären konnte. Auch hatte ich nicht gewusst, dass ein oder zwei Models fast die ganze Kollektion präsentierten. Während seines letzten Satzes musste mein Gesicht fragend geguckt haben, da er noch etwas an seine Erklärung dranhing. „Keine Sorge, das ist nur mit Joal heute so. Er hat wirklich einen Narren an euch gefressen und will euch unbedingt die ganze Kollektion haben“, lächelte James amüsiert. Wie immer sah es bei ihm einfach nur freundlich sanft aus, es lag kein Hauch von Spott in diesem Lächeln. Ich errötete und schaute sofort weg. Ich wusste nicht, wie sein Gesichtsausdruck jetzt war, aber ehe ich weiter darüber grübeln konnte, rief man mich auch schon: „Namida-san, wir wollen jetzt anfangen!“ „Ich komme!“ Ich versuchte so gut es ging die Erleichterung in meiner Stimme zu verbergen. James nickte nachdenklich und wandte sich anderen Sachen zu. Schnell eilte ich zu Yumino, die schon am Ort des Shootings stand. „Wo warst du denn?“, fragte sie mich leise, wurde dann jedoch von Joals lauter Stimme unterbrochen. „Heute werde ich das Fotografieren ausnahmsweise übernehmen, also gebt euch Mühe!“ Er lächelte wie ein kleines Kind, das neues Spielzeug bekommen hatte. „Ja!“, antworteten ich und Yumino wie aus einem Munde. „Gut, das Thema ist, wie ihr bestimmt schon wisst, gerade 'In der Stadt im Grünen', auf dem Dachpark ist es aber auch 'Dem Himmel nahe', okay? Seid also bitte wie immer ganz locker und frei“, erklärte er uns. Wir nickten und er fuhr fort: „Ich möchte gerne als erstes ein paar Spiegelbilder haben, also Bilder, in der ihr den jeweils anderen nachahmt.“ Sofort zog Yumino mich mit. Sie machte eine Pose und ich ahmte sie nach. Mal lachten wir und mal schauten wir ernst. Es gab Bilder, wo wir Rücken an Rücken in den Himmel sahen, auf einigen formten wir unsere Hände zu Herzen, mal standen wir nah zusammen, mal war sie weit weg. Es gab Bilder mit Blumensträußen und blühenden Büschen, mit dem Himmel und nur mit Grün. Ich wunderte mich selbst, wie befreit ich mich fühlte und wie viel Spaß ich hatte. Die erste Stunde und die ersten vollen Gigabytes waren schnell voll geknipst. Zufrieden lud Joal uns in ein nobel wirkendes Restaurant ein. Es war im Hotel, man musste „nur“ achtzehn Stockwerke hinunter fahren, um dorthin zu gelangen. Der Raum, in dem wir aßen, hieß „Delicious Heaven“ - der Name war passend, aber auch in einigen Weisen merkwürdig – und war ziemlich teuer, ich achtete darauf, die billigsten Gerichte zu nehmen, die jedoch auch schon Wucherpreise hatten. Yumino hielt sich nicht wirklich zurück, sie nahm einfach alles, was sie essen wollte. Das einzige, worauf sie achtete, war der Geschmack. Wie durch einen Zufall, der mit dem Namen „Fujitsu Hiyoki“ gesegnet war, saßen ich und James nebeneinander. Insgeheim verfluchte ich Vater dafür, andererseits genoss ich die Zeit, in der ich ihm so nahe sein konnte. Trotz allem wurde meine Freude darüber von Schatten verdunkelt. Je länger ich Zeit mit ihm verbrachte, umso deutlicher wurde mir, dass er gerade nur „Yukino Namida“ in mir sah und nicht derjenige, der ich unter dieser Verkleidung eigentlich war. So verging das schweigsame Mittagessen zwischen mir und ihm, in der ich keinen Mut fand, ihn anzusprechen oder mit ihm zu reden. „Genau, so ist es richtig!“, freute sich Joal im Park. Der Ort des Shootings hatte inzwischen gewechselt. Mal wieder nahm Yumino mich einfach mit. Ich dachte immer mehr, dass ich ohne sie aufgeschmissen wäre. Nach dem Mittagessen war das ganze Team vom Dachpark in den normalen Park umgezogen, der jetzt für dieses Shooting leergeräumt wurde. Es waren auch einige Paparazzi vor Ort, jedoch waren unsere Gesichter und eigentlich unser ganzer Körper in schwarzen Decken vermummt, als wir den Platz gewechselt hatten, sodass sie nichts von uns sehen konnten. Erst im Herzen des Parks durften wir die Decken abnehmen, James entschuldigte sich bei uns mit den Worten, dass es für einen gewissen Überraschungseffekt war. Yumino verstand, wie immer, sofort, während ich die Erklärung einfach hinnahm ohne weiter darüber nachzudenken. Auch dieses Shooting verging wie im Flug und mit vielen Bildern, die mir selbst auch gefielen. Yumino hingegen war sich selbst gegenüber immer kritisch, auch wenn andere meinten, dass diese Bilder wirklich toll waren. Selbst Finn, der auf mich ziemlich perfektionistisch und kritisch wirkte, war mit den Ergebnissen des Nachmittags zufrieden, ganz zu schweigen von Vater und Joal, die hellauf begeistert waren. Sie entdeckten, nachdem ich dachte, sie würden endlich damit aufhören, immer noch neue Bilder, die sie begeistert betrachten konnten. Nur was James über die Bilder dachte konnte ich nicht herausfinden, er stand einfach nur nachdenklich neben Finn, während dieser sich die Bilder ansah und seine Kommentare mit Yumino teilte. Auch beim darauffolgendem Abendessen waren sie voller Lob. Nun aßen wir in einem normalem, japanischem Restaurant, trotz der Tatsache, dass Finn sich am laufendem Band beschwerte, dass er chinesisches Essen haben wollte... Ich fühlte mich für Japan dezent beleidigt. In diesem Restaurant gab es nur Paartische – also quadratische Tische, an denen an einem Paar paralleler Seiten Stühle waren -, weshalb Vater mich erneut mit James an einen Tisch setzte. Ich sah sein inneres, diabolisches Lachen. Seufzend ließ ich mich auf meinen Stuhl nieder. „Entschuldige, dass ich schon wieder mit dir an einem Platz sitze“, entschuldigte sich James verlegen lächelnd auf einmal. Er hatte mein Seufzen scheinbar gehört und total missverstanden. Schnell versuchte ich, das Missverständnis aufzuklären. „Nein, nein, es liegt nicht an dir. Nur...“ Er sah mich fragend an, ich brach auf der Stelle meinen Satz ab und mein Gesicht ging in Flammen auf. „Ähm...“, stotterte ich vor mich hin. „Wenn du es nicht sagen willst, musst du es nicht. Wirklich nicht.“ Er lächelte freundlich, ich fühlte mich irgendwie schlecht. Eine peinliche Stille entstand, in der ich meinen Kopf in die Speisekarte vergrub. „Schwesterchen!“ Ich brauchte eine Weile, um zu registrieren, dass ich damit gemeint war und dass es Yumino war, die mich gerufen hatte. Hastig antwortete ich: „Ja?“ Dabei blickte ich mich suchend nach ihr um, fand sie dann aber sofort an dem Tisch etwas weiter neben uns. Das Restaurant war in einem schönem, japanischem Stil gehalten. Wir saßen an den Tischen an der linken Wand neben dem Eingang. Es war ein kleines Restaurant, welches man in der Nähe des Parks etwas versteckt finden konnte. „Hast du dich schon entschieden?“ „Nein, noch nicht. Und du?“ Ich war froh, diese Stille mit etwas füllen zu können. Es war wirklich komisch. Wenn ich Yakino war, fühlte ich mich nicht so beklemmend. Es war noch nicht einmal diese anfängliche Peinlichkeit, diese hatte ich am Anfang nicht einmal wirklich gespürt, sie war nicht da gewesen. Warum also jetzt? Vermutlich weil ich gerade als Mädchen verkleidet herumlief, mein Zwillingsbruder ebenfalls so herumlief und sich erschreckenderweise als ein ziemliches Mädchen entpuppte, ich mich und Yamino/Yumino als Mädchen bezeichnete, James von alledem nicht einmal etwas ahnte und ich mich irgendwie ziemlich schräg fühlte? Ja, das war es wohl. „Ich nehme wohl Katsudon nach Art des Hauses.“ Wahrscheinlich konnte nur ich diesen hungrigen Schimmer in ihren Augen sehen. „Ich nehme das dann auch“, lächelte ich, amüsiert über diese Ehrlichkeit, die nur ich sehen konnte. Gewissermaßen retteten mich die Gespräche mit meinem Zwilling immer, wenn ich irgendwie in einer Zwickmühle saß. James Heute begleiteten ich und Finn unsere Neuzugänge ausnahmsweise den ganzen Tag lang. Es schien ein Tag der Ausnahmen zu sein, da auch Joal höchstpersönlich die Fotos schoss und es nicht einem seiner erprobten Fotografem überließ. Er hatte wirklich einen Narren an den beiden gefressen. Nur manchmal hatte ich das Gefühl, dass Yukino mich nicht wirklich leiden kann oder so ähnlich, jedenfalls benahm sie sich irgendwie komisch. Sie war anders als die anderen Mädchen, die ich während meiner Laufbahn als Agenturleiter kennen gelernt hatte. Ich konnte es nicht wirklich beschreiben. Es war, als zöge sie sich eher aus meiner Nähe. Als würde ihr meine Nähe Schmerzen bereiten oder irgendeine andere, unangenehme Empfindung. Es erinnerte mich zwangsläufig an Yakino, auch er hatte sich mir am Anfang nur schwer geöffnet, jedoch war dies irgendwie anders. Es war das normale Misstrauen einem Fremdem gegenüber, doch sie schien sich in meiner Nähe an jemand unfreundlichen erinnert zu fühlen. Diese Gedankengänge verfolgten mich beim Abendessen, welches wir in einem nahegelegenem, japanischem Restaurant zu uns nahmen. Finn maulte wie eigentlich immer abends herum, dass er chinesisches Essen haben wollte. Wenn man ihm dieses dann aber vorsetzte, verlangte er Essen von seinem Lieblingsrestaurant, also ignorierte man ihn am besten einfach, er kam immer damit zurecht. Jedenfalls irgendwie. Yukino schien mich wirklich nicht mögen zu können, doch ich wusste nicht wirklich, wie ich ein Gespräch mit ihr anfangen sollte, um sie besser kennenzulernen und um mich besser mit ihr zu vertragen. Nachdem wir alle unsere Bestellung aufgegeben hatten, versank ich wieder in meine Gedanken, wir schon so oft heute. Ich dachte an die gelungenen Fotos von heute, an das wunderschöne Lächeln von Yukino, das mich an irgendetwas erinnerte, als ein schmerzlicher Stich in meinem Herzen zog. Ich hoffte, dass man nicht merkte, wie ich kurz gezuckt hatte. Ich wusste nicht, weshalb mein Herz plötzlich so schmerzte, aber ich vermisste ihn. Ich wünschte, ich hätte mich irgendwie gemeldet, aber nun, nach einem ganzem Jahr, würde er ganz sicher nicht mehr auf mich warten. Oder doch? Meine Gedanken zerrissen sich gegenseitig. Als dann das Essen kam, mahnte ich mich zur Vorsicht. Wir waren immer noch an einem öffentlichem Ort. Ich nahm mein Essen in Empfang. „Dankeschön“, bedankte ich mich freundlich bei der Bedienung. „Also dann, guten Appetit!“, wünschte ich Yukino lächelnd. „Guten Appetit“, erwiderte sie ebenfalls, sah mich jedoch nur mit einem flüchtigem Blick an. Mochte sie mich wirklich nicht? Yakino/Yukino Ich konnte kaum zu ihm aufsehen, als James mir lächelnd „Guten Appetit!“ gewünscht hatte. Mein Gesicht war jetzt bestimmt knallrot, schnell schaufelte ich mir möglichst elegant Nudeln in meinen Mund, um nicht reden zu müssen. Auch das restliche Abendessen verlief schweigend, während von den anderen Tischen heiteres Geplauder zu uns schwappte. Yumino diskutierte mal wieder mit Finn, Vater und Joal redeten über Mode, James und ich schwiegen. Ich blinzelte kurz zu ihm hoch, zum Glück sah er gerade in eine andere Richtung. Bestimmt dachte er jetzt, dass ich ihn nicht mögen würde. Manchmal wollte ich ihm wirklich alles sagen, von meinen Gefühlen hin bis zu dem Geheimnis hinter dieser albernen Verkleidung, aber ich traute mich einfach nicht, mich ihm direkt zu stellen. Was für ein Feigling ich doch war. James Ich und Yukino sprachen nicht miteinander. Ich wusste ehrlicherweise auch nicht, worüber ich mit ihr sprechen sollte. Ich kannte sie kaum, doch bei anderen Neulingen fand ich immer sofort einen Zugang, aber bei ihr war es anders. Ich sah praktisch die ganze Zeit in eine andere Richtung, damit sie meinen Blick nicht ertragen musste, auch wenn ich nicht wusste, ob es ihr half. In diesem Moment kam noch jemand in das Lokal hinein. Neugierig sah ich in Richtung Eingang, als ich bemerkte, dass es ein Postbote war, da er ein Päckchen in der Hand hielt. Er sprach kurz mit dem Ladenbesitzer, der schließlich auf uns zeigte. Der Postbote bedankte sich und kam zu uns herüber. Langsam schwante mir, was hier vor sich ging. „Guten Abend, wer von euch ist Finn Jiven?“, fragte dieser dann, was meine letzten Ahnungen bestätigte. Hastig erhob Finn sich, seine Augen strahlten wie ein kleines Kind, das ein langersehntes Geschenk bekam, und unterschrieb den Lieferbeleg so schnell wie er konnte. Dann hatte das Päckchen seine ganze Aufmerksamkeit. Er setzte sich wieder hin, legte das Päckchen vorsichtig auf seinen Schoß und entfernte vorsichtig die Klebestreifen, die dieses verschlossen hielten. Yumino beugte sich interessiert zu ihm hinüber, um einen Blick auf den Inhalt zu erhaschen. Danach blickte Finn einige Momente verträumt den Inhalt an, ehe er ziemlich schnell den Rest seines Essens aß und sich dann schließlich seine Belohnung holte. Er öffnete, immer noch mit verträumtem Ausdruck im Gesicht, seine erste Glückskekspackung seit seiner letzten Lieferung von Hong Yun, die vor ungefähr zwei Tagen leer gegangen war. Ich fand es immer wieder amüsant zu beobachten, wie versessen er auf diese Kekse war. Er glaubte wirklich alles, was in ihnen stand. Manchmal hatte ich Angst, dass das zu seinem frühzeitigem Tod führen konnte, aber er beruhigte mich jedes Mal mit eigentlich sehr überzeugenden Argumenten, auch wenn ich es nicht so recht glauben konnte oder wollte. Yakino/Yukino Ich war ziemlich überrascht, als ein Postbote plötzlich hereinkam und Finn Glückskekse lieferte. Ich hatte nicht gewusst, dass er so ein Glückskeksfanatiker war. Ich kicherte unter vorgehaltener Hand darüber. Es herrschte im Allgemeinem eine ausgelassene Stimmung, doch wechselte ich kein weiteres Wort mit James mehr. Ich hatte das Gefühl, er akzeptierte es einfach, so wie ich wohl akzeptieren musste, dass ich jetzt Yukino war und nicht Yakino. Musste ich dafür meine Gefühle verschließen und nochmal von vorne anfangen? Joal summte vor sich hin, als wir das Restaurant verließen. Wir folgten ihm alle, er wollte unbedingt noch Bilder mit dem Abendhimmel in der Stadt haben. Da die Kleider alle auch ziemlich blumig waren, hatte er sich wahrscheinlich spontan für das Thema „Blumen in der Stadt“ entschieden. Die Bilder, die am Ende entstanden, waren wirklich schön. Sie waren ebenso schön wie die Bilder im Grünen, doch hier wirkte es manchmal so, als seien wir wirklich die Blumen der Stadt gewesen. Es ist wohl eine Art Selbstverherrlichung, wenn ich so dachte, aber für mich war das so. Wir shooteten auch nicht nur in leeren, verlassenen Teilen der Stadt, sondern einfach in allen. Vater hatte seine wichtigsten Schminkutensilien mitgenommen, damit er uns immer wieder nachschminken konnte. Am Ende des Shootings war die Sonne bereits untergegangen und hatte den Sternen und dem Mond ihren Platz am Himmel überlassen. Wir machten langsam Schluss, die letzten Bilder wurden geknipst, die letzten Abschiedsworte ausgetauscht. Am Ende eines anstrengenden Tages fand ich mich in meinem Bett wieder. Nachdenklich betrachtete ich die Decke. Von nebenan hörte ich, wie das Licht ausgeknipst wurde und Yamino sich auf das Bett plumpsen ließ. Vater hatte sich schon vor geraumer Zeit schlafen gelegt und obwohl die Müdigkeit mir meinen Verstand langsam raubte, konnte ich nicht einschlafen. Unruhig rollte ich mich hin und her. Ich wusste absolut nicht, was ich tun sollte. Es schien alles so kompliziert und einfach zu sein... Der nächste Morgen war schon fast vorbei und war auf direktem Wege Mittag zu werden, als ich mich endlich aus dem Bett schleppen konnte. Meine beiden, verbliebenen Familienmitglieder waren beide in der Küche, aus der ein verdächtig leckerer Geruch strömte. Yamino saß am Küchentisch in der Mitte des Raumes, während Vater an der einen Seite am Herd seine speziellen Pfannkuchen machte. „Morgen!“, gähnte ich immer noch verschlafen und ließ mich neben meinem Zwilling nieder. „Was schaust du dir an?“ „Die Fotos von gestern, wir haben eine Kopie von ihnen bekommen.“ Er zeigte auf die Fotos, einige waren zerstreut vor ihm, rechts neben diesen Fotos lag ein unordentlicher Haufen, der jedoch viel kleiner war als der Stapel links. Es waren eine Menge Fotos, die wir bekommen hatten. „Warte mal... Joal hat uns von allen Bildern Kopien geschickt?“ „Er hat gemeint, er hätte die besten genommen, aber eigentlich meint er alle, ja.“ Mit einem grübelndem Ausdruck im Gesicht sah er sich mit ernster Miene die Bilder an. Ich beschloss ihn in Ruhe zu lassen, weshalb ich mich zu Vater in die Küche gesellte. „Habt ihr schon gefrühstückt?“, fragte ich. „Nein, obwohl dein Brüderchen schon ziemlich lange auf den Beinen ist.“ „Echt?“ „Jap, um ca. acht Uhr habe ich sein erstes Lebenszeichen gehört.“ Ich starrte Yamino mit offenem Mund an. Normal schlief er ziemlich lange, was war also los? „Ich glaube, er hat die Bilder in Empfang genommen“, fuhr Vater fort. Schwungvoll warf er den Pfannkuchen, den er gerade briet, auf einen Teller, auf dem schon weitere lagen. „Ich decke dann schon mal den Tisch.“ James „James? Die Kopien der Bilder von gestern sind da! Willst du sie dir anschauen?“, riss mich Finn morgens um neun aus meiner Konzentration. Er kam in das Zimmer, das mir in diesem Hotel als Arbeitszimmer diente. Mit dabei hatte er einen ordentlichen Stapel an Fotos. „Wieso nicht.“ Ich räumte den Laptop vom Tisch und machte Platz für die Fotos. Sie hatten alle DinA-4-Format und waren qualitativ hochwertig auf mattem Fotopapier gedruckt. Gedankenversunken betrachtete ich die Bilder, hatte nur Augen für Yukino. Sie erinnerte mich wirklich an etwas oder an jemanden, aber mir wollte einfach nicht mehr einfallen, was... „Die sind wirklich gut geworden, was?“ Ich nickte nur. Am Morgen des nächsten Tages flogen wir wieder zurück nach England. Die Castings in Japan waren abgeschlossen und wir machten einen kurzen Halt im Hauptsitz in England, um zu überprüfen, ob alles in Ordnung war, bevor die Castings in Deutschland starteten. Außerdem hatte sich Lily beschwert, dass ich ihr trotz unserer Verlobung viel zu wenig Beachtung schenke. Bei dem Gedanken an die bevorstehende Verabredung mit ihr bekam ich ein schlechtes Gewissen, wie jedes Mal. Obgleich ich sie eigentlich tief in mir verschlossen hatte, konnte ich ihn einfach nicht vergessen. Was er wohl heute machte? Wie es ihm ging? Ob er noch an mich dachte? Während ich den weiten, blauen Himmel betrachtete, war mein Kopf gefüllt von ihm. „Das Flugzeug startet gleich“, teilte Finn mir mit. In seinen Händen hielt er zwei Glückskekse. „Magst du einen haben?“ Ohne eine Antwort abzuwarten drückte er mir einen in die Hand. „Gern geschehen.“ Er schien bester Laune zu sein, wahrscheinlich weil er bald wieder frisch in seinem Lieblingsrestaurant essen konnte. „Danke.“ Ich öffnete die Verpackung, in der der Glückskeks lag und brach ihn in seiner Mitte entzwei. Finn war schon dabei, die Nachricht zu lesen. Ich strich den kleinen Zettel glatt. You'll find something again that you've lost. (Du wirst etwas wieder finden, was du verloren hast.) Ich glaubte nicht an die Sprüche, die in Glückskeksen waren, also lächelte ich nur verschmitzt und machte mir keine weiteren Gedanken darüber. Dann sah ich zu Finn hinüber, er starrte grüblerisch durch die Gegend. Ich beschloss, ihn weiter in Ruhe zu lassen. Vielleicht hatte ihm etwas zu denken gegeben, was bei ihm nun höchste Priorität hatte. Ich für meinen Teil ließ meine Gedanken in die weite Ferne schweifen, erneut in die Zukunftsvision der Gegenwart, die nicht war. Ich überlegte mir, was mir Yakino wohl in meiner Lage - eines der Models, die bei mir unter Vertrag war, mag mich scheinbar nicht - raten würde. Schnell hatte ich seine meist auf Emotionen beruhte Lösung gefunden. Freunde dich mit ihr an, schien er mir zu zulächeln. Unweigerlich hellte sich meine Miene auf, meine Mundwinkel bewegten sich nach oben, meine Augen schauten fröhlich aus dem Fenster nach unten, auf die so klein wirkende Welt. Der Gedanke an sein Lächeln stieß eine Welle der wohlig warmen Gefühle aus, die ich für diesen Moment erst einmal genoss, ehe sich das Leben wieder über mich ausbreitete. Kapitel 4: Der Schein ist wahr und doch falsch ---------------------------------------------- James Die Tage in England waren erfüllt vom stressigem Hin- und Hereilen, vorwurfsvoll anmutenden Blicken von Lily und nervenzermürbenden Gesprächen. Ich ließ mir meine teilweise genervte Laune nicht anmerken, aber seit wann war ich so reizbar? Es war wirklich schrecklich und ich ahnte, dass meine Mutter mich schon lange, bevor ich irgendetwas gemerkt hatte, durchschaut hatte. Die einzigen ruhigen Momente waren die Gedankenbilder von Yakino, die ich manchmal erlaubte, in mein Bewusstsein einzutreten, unterbewusst waren sie immer da. So war ich mehr als nur erleichtert, als wir nach zwei Monaten wieder nach Japan reisten. Wir konnten nicht direkt zu der Stadt, in der Yukino und Yumino lebten, aber ich war froh, sie überhaupt innerhalb dieser Zeitspanne zu sehen. Vor allem auf Yukinos Gesicht freute ich mich, doch ich wusste nicht wieso und erst recht wusste ich nicht, wie ich Yakinos imaginären Vorschlag erfüllen sollte. Sie direkt anzusprechen erschien mir unsensibel und war mir, ehrlich gesagt, auch ein wenig peinlich. „James? Wir brauchen deinen Rat!“, rief Finn mich aus meinem Wirrwarr meines Kopfes. Ich fühlte mich erleichtert, meine Energie für kurze Zeit auf etwas Anderes lenken zu können, jedoch meldete sich auch mein schlechtes Gewissen im Hintergrund. Ich ignorierte es und widmete mich meiner eigentlichen Arbeit. Die Zeit verging wie im Flug und bald saßen wir in einem Zug, der zu der Stadt fuhr, in dem zwei Zwillingspaare wohnen, die mir beide am Herzen lagen. Und einer ganz besonders. Wie es ihm wohl ging? Was machte er wohl? Würde ich ihn jemals wiedersehen? Fragen ohne Antworten spukten durch meinen Kopf, als der Zug sich ruckelnd dem Stillstand näherte. Ich verdrängte schnell all meine Gedanken an ihn und widmete mich wieder dem Hier und Jetzt. Als wir Drei - Joal hatte darauf bestanden, mitzukommen - ausstieg, warteten dort die Zwillinge und Fujitsu Hiyoki, die uns am Bahnhof abholen wollten. Ich war immer noch auf der Hut, ob Fujitsu mir Standpauken machen würde, da ich mich so lange nicht bei seinem Sohn gemeldet hatte. Seltsamerweise hatte er bisher davon abgesehen, obwohl er mich früher immer direkt zur Brust genommen hatte, was seine Söhne anging. Ich genoss die vorübergehende Waffenruhe erstmal mit Vorsicht. „Guten Abend! Wie war die Fahrt?“, erkundigte sich Yumino bei uns, nachdem wir ausgestiegen waren. „Gut. Wie waren die letzten Aufträge?“, erwiderte Finn. Er trug seinen üblichen schwarzgrauen Anzug, wie ich auch, jedoch hatte er einen Rucksack geschultert. Das Problem war nicht der Rucksack - er war wie jeder normale Rucksack auch -, es war eher die von mir befundene Tatsache, dass ein Anzugträger keinen Rucksack tragen sollte, da dies irgendwie... befremdlich aussah. „Zieh den Rucksack aus“, meinte nun auch Yumino mit kritischem Blick. Ich lächelte zustimmend, sah mich dann aber eher nach Yukino um, als ihrem Gespräch zu folgen. Sie stand neben ihrer Schwester. Ich nahm noch wahr, wie sie mich ansah, als sie auch schon wieder ihren Blick den ungeheuer interessanten Gleisen zuwandte. Mein Plan geriet ins Wanken. Als ich mich eine vergleichsweise kurze Weile meinen Gedankenkämpfen hingegeben hatte, seufzte ich leise auf und näherte mich ihr einfach. „Wie geht es dir?“ Sie blickte überrascht auf, schaute wieder weg und antwortete eher zum Boden als zu mir: „Ganz gut, und dir?“ „Ja, ich denke den Umständen entsprechend auch gut. Wie liefen die letzten Foto-Shoots?“ Ich fing an, über die Arbeit zu reden, da ich keine Ahnung hatte, welches Thema ich sonst anschneiden sollte. Als sie antwortete, sah sie mir auch direkt ins Gesicht, sie hatte ein wirklich hübsches Gesicht. „Ja, sie liefen alle sehr gut und die Auftraggeber waren zufrieden. Yumino und Finn haben auch Nummern getauscht, für geschäftliche Zwecke, wie sie meinte.“ Entspannt setzte sich unser Gespräch am Bahnsteig fort. Yakino/Yukino Heute kam James wieder, ich konnte vor Aufregung die Nacht vor ihrem Besuch einfach nicht schlafen. Finn hatte Yumino geschrieben, dass sie nur für wenige Tage blieben würden, aber ich fand diese Zeitspanne lang genug. Länger war James auch vor dem Tod seines Vaters nie geblieben, er hatte einfach viel zu wenig Zeit. Ich hatte mich in dieser Nacht dazu entschlossen, mich mit James als Yukino Namdia anzufreunden, auch wenn es mir oft in meiner Herzgegend zog, wenn ich an ihn dachte. Es war wirklich schwer erträglich und für mich auch schwer runter zu spielen, es zu ignorieren, vor allem, wenn ich gerade bei der Arbeit war und er in meinen Gedanken auftauchte. Ganz unangekündigt und plötzlich. Meine Entschlossenheit, mit ihm ins Reine zu kommen, geriet jedoch ins Wanken, als ich ihn wirklich erblickte und er nicht einfach nur ein Bild in meinen Gedanken war.. Ich sah ihn zwar an, während er nicht zu mir schaute, aber als er mir seinen Blick mit einem freundlichem Lächeln zuwandte, konnte ich nicht anders als peinlich berührt und ertappt die Gleise zu betrachten. Auch als er mich ansprach bekam ich den ersten Satz kaum raus, ohne ihn dabei nicht anzusehen. Ehe ich auf seine zweite Frage antwortete, erinnerte ich mich, was ich doch machen wollte, seufzte und atmete leise tief durch. Ich hob meinen Kopf, sah ihm direkt in die Augen und versuchte, nicht rot zu werden oder andere Dinge, die ich nachher ganz sicher bereuen würde. Während sich das Gespräch in eine klare Richtung entwickelte, entspannte mich das Reden über alltägliche Sachen sehr. Ich wusste nicht warum, vielleicht lag es am Stress der letzten Tage, aber mir bei James die Seele aus dem Leib zu reden, ließ mich um einiges leichter werden. Es war dasselbe erleichternde Gefühl, das ich hatte, wenn ich früher mit James gesprochen hatte. Und erneut fragte ich mich, wieso er sich bloß das ganze letzte Jahr nicht gemeldet hatte? „Wollen wir uns dann mal in ein Restaurant setzen und uns nicht nur hier im Stehen unterhalten?“, fragte Vater – nachfolgend lieber Fujitsu, sonst verplappere ich mich noch -, laut an uns alle gerichtet. Wir hielten alle in unseren Gesprächen inne. „Gute Idee, ich verhungere gleich!“, rief Finn aus, der sein Gepäck - unter anderem ein Rucksack, der überhaupt nicht zu seinem Anzug passte, soviel wusste ich auch - gerade einem Angestelltem von Joal übergab, der sich um das Gepäck kümmerte und sicher in das Hotel brachte. Yumino nickte zustimmend. „Ich würde sagen, wir gehen in...“, voller Eifer zählte Joal uns mir unbekannte Namen von scheinbar namhaften Restaurants und Gaststätten auf. Ich wusste nicht, dass es in der Stadt so viele Nobelrestaurants gab. Fujitsu machte ein nachdenkliches Gesicht, die zwei Obersten von JulyShine, Yumino und ich hielten uns aus dieser hitzig wirkenden Diskussion raus und ließen die beiden allein entscheiden. Nachdem ein paar weitere Minuten verstrichen waren, konnten sie sich endlich einigen. „Wir gehen ins Iron Blue“!, verkündeten sie uns freudestrahlend. Das 'Iron Blue', wie es von Stammkunden liebevoll zu nennen gepflegt wurde, war ein angesehenes Restaurant, dessen voller Name 'The Iron Blue of a distant World' hieß. Die Inneneinrichtung war in den Farben reines Weiß und verschiedensten Blauvariationen gehalten. Die Preise waren in den letzten Jahren in schwindelerregende Höhen gestiegen, doch Stammkunden erhielten einen nicht kleinen Rabatt. Unsere kleine Truppe begab sich nun auf den Weg zum 'Iron Blue'. Es lag nicht weit vom Bahnhof entfernt, also ließen die Neuankömmlinge ihr Gepäck von Angestellten in das Hotel bringen und wir gingen alle gemeinsam zu Fuß dorthin. Mein Herz klopfte nicht mehr so hastig wie am Anfang, es beruhigte sich langsam, aber stetig. Während wir sechs uns mal unterhaltend, mal schweigend unseren Weg fortsetzten, gewöhnte ich mich als Yukino immer mehr an seine angenehme Nähe. Ich erfuhr nach mehr als einem schmerzlichem Jahr nicht als der, der ich einmal war, die beruhigende Gegenwart James. Schon wieder setzte das Ziehen in meinem Herz ein. Es tat weh, es machte mich so unglaublich traurig, ich fühlte mich zerrissen. Es war, als hätte ich auf einmal zwei Persönlichkeiten bekommen. Unbewusst blieb ich stehen. „Yukino, kommst du?“, fragte James mich und reichte mir seine Hand, damit ich sie ergreifen konnte. Er war ein wenig von mir entfernt. Als ich stehen geblieben war, hatte er es wohl gemerkt. Diese Haltung... Sie erinnerte mich an etwas. Sie erinnerte mich an den einen Karnevalstag. Mein Herz zog sich erneut krampfhaft zusammen, auch wenn der Grund jetzt ein anderer war als vorher. Ich wünschte mir die heile Vergangenheit wieder herbei. „Ist alles in Ordnung, Yukino?“, James besorgte Stimme riss mich aus meinen schmerzhaften Gedanken. „Jaja“, beeilte ich mich mit meiner Antwort, obwohl dem nicht so war, „Wieso sollte ich nicht in Ordnung sein?“ Ich holte schnell zu ihm auf, ignorierte jedoch immer noch mit zerreißenden Gedanken seine Hand. „Du hast so ein... schmerzverzerrtes Gesicht gemacht“, erklärte James, „Aber wenn du sagst, dass alles in Ordnung ist, dann glaube ich dir.“ Sein freundliches Lächeln überstrahlte meine Sorgen und mein inneres Ringen um meine wahre Persönlichkeit, aber es machte sie nicht ungeschehen. Er hatte es wohl einfach so hingenommen, dass ich seine Hand nicht genommen hatte. „Nein, ich war nur in Gedanken versunken“, lächelte ich nun ein wenig zwanghaft. „Das schienen aber nicht die angenehmsten Gedanken gewesen zu sein“, bemerkte er. „Das waren sie in der Tat auch nicht.“ „Möchtest du mir davon erzählen?“ „Nein, vielleicht ein anderes Mal“, wich ich aus. „Okay, ich bin jederzeit für dich da.“ Ich hörte den Ernst in seiner Stimme. „Ja.“ „Hier, ich gebe dir meine Nummer, okay? Du kannst mir jederzeit eine Nachricht schreiben oder mich anrufen-“ Er nahm aus seiner Anzugstaschen einen Terminkalender heraus, kritzelte mit einem Stift, der am häufig benutzt wirkendem Kalender befestigt war, seine Nummer auf ein freies Blatt und riss den Auszug schnell und präzise heraus. „Danke, das werde ich im Hinterkopf behalten.“ Ich schenkte ihm ein Lächeln, das er erwiderte. Dankend nahm ich das kleine Stück Papier von ihm an und verstaute es in den Tiefen meiner Umhängetasche. „Willst du dir vielleicht auch meine Nummer aufschreiben?“ Ich zeigte auf den Kalender und den Stift, die er immer noch in der Hand hielt. „Ich denke, das wäre von Vorteil.“ Er schlug eine Seite im vollgeschriebenem Adressverzeichnis des Kalenders auf und reichte mir seinen Stift. Schnell schrieb ich mit seinem Stift, der angenehm in der Hand lag, meine Nummer, die ich als Yukino hatte, auf. „Bitteschön.“ Ich reichte ihm seinen Kalender wieder. Er verstaute ihn wieder an dem Ort, aus der er ihn hervorgeholt hatte und schaute dann den Weg entlang zum Horizont. „Wir sind ja schon fast da.“ Er deutete mit einem Kopfnicken auf ein sich in die Höhe reckendes Gebäude, dessen Fassade im Licht der untergehenden Sonne lilafarben schimmerte. Das 'The Iron Blue of a distant World' war ein mehrstöckiges Nobelrestaurant, das nur hier vertreten war. Ganz oben hatten reiche Stammkunden ihre Plätze und konnten ihr Mahl mit einer atemberaubenden Aussicht genießen. Das Restaurant verdankte seinen Namen der metallisch blau schimmernden Fassade bei Tag, das wie aus einer anderen Welt wirkte. Als wir den gut bewachten Eingang problemlos und ohne einen Halt passieren konnten, betraten wir den großen Eingangssaal, der prächtig mit edler Dekoration aller Art verziert war. Joal sprach kurz flüsternd mit der Rezeption, die eher wie in einem Hotel als in einem Restaurant aussah, danach nahmen wir einen der vielen, ebenfalls aufwendig verzierten Aufzüge rechts vom Eingang und fuhren nach oben. Es dauerte nicht lange bis wir den dreißigsten Stock erreicht hatten, der höchste, wie die Tasten im Aufzug verrieten, doch ich fragte mich wirklich, ob es nun tatsächlich nur 30 Stockwerke waren. Der Aufzug hielt mit einem kaum spürbarem Ruck und öffnete seine Türen. Damit gewährte er uns die Sicht auf ein wunderschönes Panorama. Die Sonne senkte sich über die Stadt, ließ die Umrisse der Hochhäuser, hinter denen sie sich zu Ruhe bettete, seltsam glühen. In der Ferne sah man die Berge, sie ragten noch höher in den Himmel hinauf als das höchste Hochhaus in der Stadt. Feine Wolkengebilde sammelten und reflektierten das verbliebene Sonnenlicht. Sie nahmen ebenfalls einen glühenden Umriss an, schienen in den unterschiedlichsten Farben und erstrahlten in den verschiedensten Formen. Quer über den Himmel, den ich wahrnehmen konnte, flog ein Flugzeug und zog eine neue Spur hinter sich, dessen reines Weiß im Licht der Sonne zu glimmen schien. Einige Wolken muteten zu bizarren Gebilden an. Von hier oben sah die abendliche Betriebsamkeit, die ich jeden Tag als Bewohner dieser Stadt hautnah erlebte, wie kleinste Bewegungen aus, die jedoch viel größer waren, als sie schienen. Ich konnte nicht einmal einen japsenden Laut oder Ähnliches von mir geben, so gebannt war ich von diesem Bild der untergehenden Sonne, welches sich mir bot. „Immer wieder beeindruckend, was?“, durchbrach Joal als erster die Stille. Er schob einige sanft, aber bestimmt um den Aufzug herum. Ich wandte gewaltsam meinen Blick von der Szenerie ab und folgte den anderen, die schon halb hinter dem mächtigem Aufzug verschwunden waren. Nur James stand noch da und wartete auf mich. Als ich ihn nach wenigen Sekunden erreichte, bewegte er sich mit mir fort. Wir gingen mit einem kleinem Abstand voneinander auf die anderen zu. Unsere Arme schwingen im Gleichtakt vor und zurück, unsere Füße hatten denselben Rhythmus. Mein Herz pochte in gleichmäßigen Abständen, auch wenn sie mir schnell und hastig vorkamen. Ich wusste nicht, wie James dabei fühlte, er hatte denselben, ruhigen Gesichtsausdruck, der mich manchmal zu Weißglut trieb. In diesem Moment jedoch beruhigte mich seine Aura der Ruhe und Sanftheit so, wie nur er es konnte. „Die Aussicht ist wirklich atemberaubend, oder?“, fing er ein Gespräch an, als wir am Tisch, an dem die anderen schon saßen, Platz nahmen. Der Tisch war hinter den Aufzügen versteckt gewesen und hatte eine längliche Form, sodass alle einen wunderbaren Blick aus dem hier ebenfalls vorhandenen Panoramafenster hatten. Inzwischen gab es schon gewisse Sitzgruppen. „Ja, wirklich. Ich habe so etwas noch nie gesehen und die Stadt habe ich auch bisher noch nie so gesehen, obwohl ich schon ziemlich lange hier wohne.“ „Seit wann denn?“ „Seit ich denken kann, glaube ich. Was gibt es eigentlich zu essen?“, versuchte ich schnell James Interesse an Yukinos Vergangenheit zu stoppen und auf etwas Anderes zu lenken. James ging zum Glück bereitwillig darauf ein. „Ich weiß nicht, das, was Joal uns bestellt, nehme ich an.“ Ehe wir unser Gespräch fortsetzten konnten, kamen einige Angestellte in der blau-silbernen Uniform des 'Iron Blue' hinein und brachten einige Teller voll von Essen mit. Sie stellten es in gleichmäßigen Abständen vor uns auf den Tisch. Ich konnte Joals verzückte Rufe und das überschwängliche Lob wahrnehmen, als er Fujitsu begeistert Essen auf den eben noch leeren Teller schaufelte. Yumino ging es ruhig an, sie wartete erst einmal, bis die Angestellten wieder gegangen waren und nahm sich dann von allem ein bisschen. Finn nahm sich gezielt etwas von einigen Tellern, andere ließ er jedoch unberührt. James nahm sich, genau so, wie ich ihn kannte, erst eine Schüssel Reis und danach nahm er sich von hier und da einen Happen. Ich für meinen Teil wusste überhaupt nicht, was ich von all den dampfenden Schüsseln und Tellern nehmen sollte. Es war alles so raffiniert angerichtet, sodass ich mich kaum traute, etwas von den Tellern zu nehmen. „Es ist schwer, sich zu entscheiden, oder?“, fragte James freundlich nach. Er hatte seine Schüssel wieder auf den Tisch gelegt, er hatte vielleicht einen Bissen genommen. „Ich empfehle die hausgemachten Muscheln!“, rief Joal vom anderem Tischende zu uns. „Besonders toll ist hier aber auch das Sushi oder die Nudeln!“ Ein kleines, kaum merkbares Nicken seitens Yumino. Sie hatte ihre Probeportionen innerhalb kürzester Zeit aufgegessen und holte sich nun Nachschlag von den Sachen, die sie mochte, wobei das auch nicht wenige waren. „Ich mag die Ramen, die sie hier zubereiten“, warf Fujitsu in den Raum. „Oh nein, die hab ich ganz vergessen!“ Joal ergriff mit einem schnellem Griff eine Glocke, die scheinbar unter seinem Platz verborgen gewesen war, und läutete einmal kräftig. Das Metall der Glocke schimmerte bläulich. „Ja, Sie wünschen?“ Es kam sofort jemand scheinbar aus der Wand. Verblüfft starrte ich die Stelle an, an der vorher noch keine Tür gewesen war, oder spielten mir meine Augen einen Streich? „Wer von euch möchte Ramen des Hauses probieren?“, fragte Joal uns, den Kellner ganz ignorierend. „Ich.“ „Ich auch!“ „Auf jeden Fall!“ „Gerne.“ „Es spricht doch nichts gegen guten Ramen!“ Am Ende bestellte Joal sechsmal Ramen des Hauses. Es dauerte auch nicht lang, bis die Bestellung bei uns ankam, vielleicht fünf Minuten, dann hatten wir auch schon dampfende Schüsseln mit Ramen und allem drum und dran vor uns stehen. Zögerlich nahm ich mir die Stäbchen, elegante Verzierungen schmückten den schwarzen, glatten Kunststoff, aus dem sie gemacht waren, und fing an zu essen. Es verging eine ganze Weile mit Essen, Trinken und Reden. Immer hatten wir diesen wundervollen Ausblick vor unseren Augen, den ich in vollen Zügen genoss. Die Zeit, die ich mehr und mehr mit James als Yukino verbrachte, wurde mir bekannter, vertrauter. Ich gewöhnte mich daran. Wir aßen, sprachen, schwiegen, genossen und lachten. Die Uhr, die groß und gläsern an der Wand - man konnte sogar die feine Mechanik der Uhr sehen - hing, zeigte nach Mitternacht an, als wir den Raum verließen und mit dem gleichem Aufzug nach unten fuhren. Inzwischen hatte ich herausgefunden, dass sie nur die nächsten drei Tage bleiben konnten. Ich wusste nun auch, dass James verlobt war. Die Nachricht hatte mich wahrlich zu Boden gerissen. Auch wenn er es nicht sehr freudig schauend gesagt hatte, traf mich diese Nachricht wie ein dumpfer, harter Schlag. Trotz allem versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen, schließlich wusste er nicht, mit wem er hier wirklich redete, wem er all diese Dinge erzählte. Wem er mit jedem Tag das Herz ein Stückchen mehr brach. Dunkle, düstere Gedanken waberten ein feines Netz um mich herum, das ich einfach nicht zerreißen konnte, egal wie sehr ich mich innerlich in diesem wand und drehte, kein Ausweg war aus diesem feinmaschigem Netz zu sehen. Verzweiflung holte mich ein. Der nächste Morgen brach an und rief mich direkt zur Arbeit, zu der uns James und Finn begleiten würden. Dank Vaters und Yaminos Hilfe konnte ich mich irgendwie damit arrangieren. Yamino hatte hinter all dem James' Vater vermutet, doch ob das stimme, wusste nur eine Person wirklich und diese ahnte nichts von alldem. James Ich warf mich todmüde in das weiche Hotelbett und spielte kurz mit dem Gedanken, in meinem Anzug schlafen zu gehen, als ich das altbekannte Rascheln von Plastik hörte, worauf ein Reißen folgte. Finn aß seinen täglichen Glückskeks. Als ich meinen Kopf nach einigen Minuten Schweigen von meinem Kissen erhob, hatte sich Finn lautlos auf einen der vielen Stühle, die im Zimmer standen gesetzt. Nachdenklich starrte er einen Punkt in der Luft an, man konnte förmlich seine Konzentration spüren. Ich wandte mich nach ungefähr einer halben Minute Starren wieder ab, es kam ab und zu schon mal vor, dass er so gedankenversunken nach dem Lesen einer Glückskeksbotschaft da saß - Er dachte einfach über die Bedeutung nach, an der er immer festhielt. Ich ließ mich währenddessen von meinen Gedanken auf dem Grad zwischen Traum und Realität schaukeln, während diese zugleich ihre eigene, kleine Welt formten. In dieser befanden sich vor allem zwei Personen: Yakino und Yukino. Die ganze Zeit fragte ich mich, was er machte, ich fragte mich, ob ich Fujitsu fragen sollte, fragte mich, inwieweit ich und Yukino befreundet waren, war es wirklich richtig, ihr von der Verlobung zu erzählen? Sollte ich ihr vielleicht auch noch von Yakino erzählen, damit ich es irgendjemandem endlich sagen konnte, oder waren wir nicht so gut befreundet? Ich fragte mich, ob sie es schocken würde, wenn sie wüsste, dass ich in einen Jungen verliebt war. Wie alt war er jetzt? 16? Also in ihrem Alter. Ob sie ihn wohl kannte? Fragte mich, was ich machen sollte, wenn Yakino plötzlich vor mir auftauchen sollte, fragte mich, ob er den gläsernen Ring von eins noch hatte. Fragte mich, ob er mich immer noch liebte. „Ich hab es endlich!“ Ein Jubelschrei riss mich aus meiner verwirrenden Gefühlswelt, die ich innerlich einfach nicht unter Kontrolle hatte, aber nach außen hin war es manchmal so einfach, ein Lächeln aufzusetzen und so tun, als wäre nichts. „Was?“, fragte ich, immer noch mit einem Fuß in meiner eigenen, inneren Welt versunken. „Yukino und Yumino sind Jungs.“ Mit meiner Benommenheit hatten die Worte, die er voller Überzeugung in den Raum warf, keinen Sinn. Erst eine ganze Weile später fragte ich, verwirrt und ungläubig: „Wieso denn das? Ich finde sie sind sehr weiblich.“ „Es gibt einige gute Crossdresser in der Welt.“ „Ich denke trotzdem nicht, dass sie sich als Mädchen verkleiden. Wozu auch?“ Für mich war das Thema abgeschlossen, doch für ihn nicht. „Keine Ahnung, weiß ich doch nicht. Ich weiß nur, dass sie sich als Mädchen verkleiden.“ „Und woher nimmst du deine Beweise.“ „Hier raus.“ Er streckte mir einen kleinen, weißen und rechteckförmigen Streifen weißen Papiers entgegen. „Sag nicht, dass das...“ „Doch, das sage ich.“ Bestimmt drückte er mir den Schnipsel in die Hand, sodass ich ihn lesen musste. Something that seems so, isn't true. (Etwas, das so scheint, ist nicht wahr.) „Und warum kommst du hier auf die Zwillinge?“ „Sie sind das Einzige in meiner Umgebung, das ich nicht so gut kenne. Sie müssen es einfach sein!“ Immer noch skeptisch aber sehr, sehr müde wandte ich ein: „Ich glaub es zwar nicht, aber wenn du dich unbedingt beweisen willst, mach es später. Ich bin wirklich müde, okay?“ Damit war Finn zufrieden, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und dachte erneut über etwas nach. Ich war mittlerweile wirklich todmüde geworden, also machte mich flott bettfertig und schlief dann sofort ein, als mein Kopf das Kissen berührte. Yakino/Yukino Yumino und ich unterhielten uns am Rande der jetzigen Location mit einer Arbeitskollegin, mit der wir uns in den letzten Monaten immer mehr angefreundet hatten. Sie hatte oft an denselben Orten Shootings, weswegen wir sie nun gut kannten. Sie hieß Koiko und wurde bei einem der Castings in einem der europäischen Ländern entdeckt, da sie einen Ausflug zu ihnen gemacht hatte und zufälligerweise war dort eines der Castings zum rechtem Zeitpunkt. Sie war gebürtige Japanerin, nur hatte sie auch die typischen, schwarzen Haare, während wir mit europäisch-asiatischen Vorfahren blond waren. „Ich habe eben vom Staff gehört, dass Finn vollkommen besessen der Überzeugung ist, ihr zwei seid Jungs!“, platzte sie mit der wichtigsten Neuigkeit des Tages heraus. Daraufhin fing sie auch an, schallend zu lachen. Schnell fingen wir an, mit ihr zu lachen, versteckten weitestgehend unsere Unsicherheit und das Gefühl der Ertappheit. „Was? Wirklich? Das ist ja... lächerlich!“, sagte Yumino gespielt ungläubig. „Nicht wahr? Und er will euch testen, indem er euch während des Shootings Achterbahn fahren lässt. Er meinte, nur Jungs würden diese Bahn ohne Kreischen durchstehen.“ Koiko zuckte ratlos mit den Schultern, als sie auch schon wieder weg gerufen wurde. „Bis dann!“ Sie lief davon und Yumino und ich hatten eine kurzweilige Ruhe für uns. „Du weißt, was zu tun ist, oder?“ Wortlos nickte ich. Wir sahen uns noch einmal abschätzend in die Augen, ehe wir uns wieder entspannten und einen normalen Schein wahrten. Als dann, wenige Zeit später, tatsächlich Angestellte uns mitteilten, dass wir eine Planänderung hatten, taten wir überrascht, waren innerlich jedoch bis zum Zerreißen gespannt. Jedenfalls ich. Noch nie im Leben hatte ich das getan, was ich jetzt tat. Wirklich nicht. Wie erwartet fuhren wir mit James, der uns entschuldigend anlächelte, und Finn, der uns beinahe die ganze Fahrt misstrauisch anstarrte, zu einem Freizeitpark mit einer sehr schnellen, kurvigen und unangenehme Achterbahn. Bei ihr angekommen durften wir sofort hinein in das Vergnügen. Wir gingen durch die raunende flüsternde Menschenmenge, die sich bereitwillig vor den zwei hübschen Zwillingen – peinlich, uns so zu nennen... - und den zwei attraktiven Männern teilte. Als alle Sicherheitsvorkehrungen für die Fahrt getroffen waren, startete die Bahn zuerst gemächlich ruckelnd. Die Sitze waren gut gepolstert, ließen jedoch immer noch viel Spielraum nach links, rechts oder vorne, gegebenenfalls auch nach hinten, zu schwanken. Ich kannte diese Achterbahn nicht, weshalb ich einfach mal beschloss, mich in meinen Sitz zu krampfen, ein möglichst vor Angst verzogenes Gesicht zu machen und, als flott auch schon der erste Hügel kam, anfing aus Herzenslust zu kreischen. Als es tief herunterging, als wir schnell in eine Kurve fuhren, bei jeder möglichen Kleinigkeit fing ich an zu kreischen. Gleichzeitig krallte ich meine Hände in meine Perücke, damit sie im schnellem Fahrtwind nicht verloren ging und sorgte mich um meine armen Stimmbänder, die so etwas gar nicht gewohnt waren. Überhaupt war diese Fahrt sehr belastend. Ich musste wie ein Mädchen kreischen, der Fahrtwind zerrte an mir, es kamen Kurven und Absenkungen ohne Ende, ich musste wie ein Mädchen kreischen, auf meine Perücke aufpassen, mich in den Sitz klammern, wie ein Mädchen kreischen, mich von der Achterbahn hin und her schmeißen lassen, wie ein Mädchen kreischen, in den Sitz krampfen. Wie überstanden Mädchen eigentlich so etwas? Naja, einen Lichtblick gab es in dieser in allen Maßen nervenaufreibenden Fahrt. James, der neben mir Platz genommen hatte, hatte seine Hand die ganze Zeit auf meiner liegen gehabt. „Nie-nie-nie wieder“, keuchte Yumino beim Aussteigen. Sie war leichenblass und konnte sich gerade noch so auf den Beinen halten, eine wirklich großartige Schauspielerin, oder sollte ich in dieser Hinsicht Schauspieler sagen? Oder war es vielleicht doch die reale Anstrengung? „Ach, ich fand sie nicht so schlimm.“ Finn sah so aus wie eh und je, doch sein misstrauischer Blick ist auch geblieben. „Du vielleicht nicht! Was war eigentlich Sinn und Zweck der ganzen Übung?“ „Das ist leicht zu erklären. Finn-“, wollte James uns erklären, was wir eigentlich ohnehin schon wussten, als er von eben diesem weggezogen wurde und uns nur irritiert zurückließ. Wir vertrieben uns jedoch die Zeit, in der wir allein waren, mit Reden. „Ich mach das wirklich nie wieder“, fing ich an und schüttelte mich. Mein Körper fühlte sich erledigt an. „Ja, das war eine Tortur“, pflichtete mir auch mein Zwilling bei. „Wie machen Mädchen das nur?“ „Ein Rätsel...“ „Ich hoffe jedenfalls, dass dies alles war... Nicht auszuhalten, was noch kommen würde...“ Yumino nickte stillschweigend und sah nachdenklich in die Leere, ich schloss meine Augen und wartete darauf, dass James' Stimme mich aus meinen Tagträumereien weckte. James „Was? Dir war das nicht Beweis genug?“ Skeptisch musterte ich Finn, der mich sehr ernst ansah. „Nein. Kreischen kann jeder.“ „Du hast diese Prüfung ausgesucht, wieso willst du noch eine?“ „Um es genauer zu wissen.“ „Das glaub ich nicht.“ „Na gut, es war wieder ein Glückskeks. Zweimal fast dasselbe auf einem Zettel, das kann kein Zufall sein!“ „Hör zu, ich möchte damit nicht weiter gestört werden, auch von dir nicht, okay?“, seufzte ich. „Noch einmal“, bat Finn mich mit überzeugter Stimme. Zweifelnd überlegte ich. „Noch ein einziges Mal“, gab ich mich schließlich geschlagen. Ich ahnte, dass Finn mich damit immer weiter belästigen würde. Ich wollte ihn auch nicht als meinen Berater verlieren, da er immer gute Ratschläge hatte, jedoch auch etwas eigensinnig war, aber dennoch: Ich hatte schon sehr viel Zeit mit ihm verbracht und wollte dies nicht einfach ignorieren. „Danke. Beim nächsten Mal entlarve ich sie ganz sicher, glaub mir.“ Ein boshaftes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. „Komm ihnen aber körperlich nicht zu nah, okay?“ Ich machte mir ernsthafte Sorgen um die beiden. „Keine Sorge, morgen ist alles vorbereitet. Ich geh schon mal vor, okay? Du kannst ja noch ein wenig hierbleiben oder so. Der Fotograf ist damit einverstanden, hier einige Bilder zu knipsen.“ Er winkte mir noch einmal zu, ehe er in der Masse untertauchte. Ein wenig verwirrt blieb ich zurück, doch dann beeilte ich mich, wieder zu den beiden zurückzukehren. „Es hat leider doch eine Weile gedauert, entschuldigt bitte.“ Als ich bei ihnen ankam, hatte Yukino die Augen geschlossen gehabt, Yumino sah mit leer wirkendem Blick irgendwohin. Wie aus einer Trance erwachten die beiden ruckartig, wobei Yumino sofort das Fehlen Finns bemerkte: „Wo ist Finn den hin?“, fragte sie ein wenig verwirrt, wie es mir schien. „Er musste noch etwas erledigen und ist eher gegangen. Habt ihr etwas gegen Shootings hier im Park?“ „Ich hätte generell nichts dagegen, nur hätte ich vorher vielleicht etwas zu essen“, antwortete Yukino verlegen. „Ich muss leider woanders hin...“ Überrascht schwenkte Yukinos Kopf in die Richtung ihres Zwillings. „Wirklich?“ „Ja...“ Sie sahen sich eine Weile lang schweigend in die Augen, schienen auf diese mir unerklärliche Weise zu kommunizieren. „Na gut“, seufzte Yukino schließlich. Yumino verneigte sich kurz zum Abschied, ehe sie davoneilte und mich mit James allein ließ. Yukino/Yakino Ich hatte keine Ahnung, wieso sie plötzlich woanders hin musste, doch ich respektierte es einfach und fand mich damit ab. „Nein, nein, nein!“, vernahm ich die Klagelaute des Fotografen. „Wieso ist denn Yumino nicht bei euch?“ „Sie hatte noch etwas Dringendes zu erledigen“, sprang ich für sie ein und hoffte, er würde sich damit zufrieden geben. „Aber das geht so nicht! Heute wollte ich doch nur Duo-Fotos machen, was soll ich nur machen?“ Er schien wirklich am Rande der Verzweiflung zu sein, wobei ich seinen Grund nicht so ganz verstand. „Ich könnte ja einspringen...“, sagte James dann auf einmal. Überrascht sah ich ihn aus großen, wahrscheinlich auch fragend dreinblickenden Augen an, doch er lächelte einfach nur freundlich. „Natürlich nur, wenn Yukino auch damit einverstanden ist.“ „Wie, äh, was, ich?“, stotterte ich, ehe ich endlich einen richtigen Satz herausbringen konnte. „Äh, ja, wieso nicht?“, war das Einzige, was ich herausbrachte, bevor der Fotograf laut aufjubelte. Kapitel 5: Am Ende zum Abschluss gebracht und doch nicht beendet ---------------------------------------------------------------- Yukino/Yakino Der restliche Tag im Freizeitpark verlief sehr angenehm. Der Fotograf hatte sich voller Begeisterung für das Thema „Liebespaar im Freizeitpark“ entschieden, welches ich und James dadurch erfüllten, dass wir uns so verhielten wie meistens auch. Das reichte dem Fotografen aber zum Glück, ich wollte ihm als Yukino nicht näherkommen als unbedingt nötig und außerdem war er verlobt. Bei diesem Gedanken musste ich einen Kloß in meinem Hals hinunterschlucken. Trauer und Verzweiflung mischten sich miteinander, verschwanden teils jedoch wieder unter James' Licht, seiner Wärme. Ein dunkler Schatten blieb dennoch. James und ich teilten uns Zuckerwatte und anderes Essen, lachten, fuhren die verschiedensten Fahrgeschäfte - die Achterbahnen ließen wir jedoch in Einstimmigkeit aus - und verbrachten entspannt ein paar Stunden miteinander. In diesen Momenten vergaß ich manchmal, dass ich ja Yukino spielen musste, und nur der Wind, der mir durch meine lange Perücke strich, erinnerte mich daran, wer ich in diesem Augenblick war. Wann würde ich ihm wohl endlich wieder als Yakino sehen können? Wann würde er mich als Yakino wiedersehen? Mein Herz verkrampfte sich in solchen Momenten schmerzhaft, doch versuchte ich es, zu überspielen. Wäre ich Yakino gewesen, hätte James mit Leichtigkeit erkennen können, dass etwas nicht stimmte. „Ähm, was?“ Meine Gesichtszüge entgleisten mir, als unsere Kollegin uns erneut über die Machenschaften Finns aufklärte. „Finn hat vor, eure Männlichkeit mit Kitschromanen zu beweisen“, lachte sie erneut, sie schien es wirklich zu amüsieren, „Naja, damit kann er wahrscheinlich jeden Typen aus der Reserve locken, Jungs fassen sie ja nicht einmal an. Dabei sind sie doch nicht so schlecht.“ Dann setzte sich für eine kurze Weile ein nachdenklicher Zug über ihr Gesicht, während ich mich darum bemühte, meine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen. Yumino nahm die Nachricht erstaunlich gelassen an, wieso bloß? „Habt ihr eigentlich schon mal einen gelesen?“, fragte sie dann mit neugieriger Miene. „Vor einigen Monaten schon, aber jetzt habe ich kaum Zeit. Kannst du uns vielleicht etwas Gutes empfehlen?“, antwortete Yumino mit einer zuerst bedauernden Miene, dann wurde sie freundlich und lächelte. Mein Gesicht war dabei, zum zweitem Mal zu entgleisen. Wie er es bloß immer schaffte, sich so extrem umzustellen... Oder war mein Bruder zum Mädchen mutiert...? „Was? Wieso ist es schon so lange her?! Ihr braucht dringend Lesestoff und eine gute Portion Leidenschaft, ich sehe es schon.“ Danach fing sie an, mit glänzenden Augen und sogar einigen Kreischanfällen eine ganze Endlosliste an Titeln und Beschreibungen und Schwärmereien von die männlichen Protagonisten aufzuzählen, wobei ich, ehrlicherweise, nicht wirklich zuhörte. Nach schon mehr als fünfzig Titeln, rief uns endlich jemand, damit wir das endlich hinter uns bringen konnten. Wieder wurden wir an einen uns fremden Ort gebracht, doch auch diesmal wussten wir, was uns erwartete. Jedenfalls so in etwa. Mir grauste immer noch der Gedanke an die seltsamen Romane, denen Mädchen sowie Frauen aus unerfindlichen Gründen reihenweise verfielen. Schweigend fuhren wir ungefähr 10 Minuten lang durch die Stadt, als wir dann vor einer Buchhandlung zum Stehen kamen. Sie war nicht besonders klein und zog sich über mehrere Etagen. Als Kind bin ich immer mit Yamino hierhergekommen, wobei ich eine Abteilung immer gemieden hatte. „Guten Morgen allerseits!“, begrüßte uns Finn mit überschwänglicher Fröhlichkeit, doch sein Lachen hatte irgendetwas... Teuflisches an sich. Ich erschauderte. „Morgen. Wieso sind wir heute denn schon wieder woanders?“, fragte Yumino mit leicht naiv fröhlicher Stimme. „Ach, James wollte euch unbedingt noch etwas schenken, bevor wir ja schon bald wieder abreisen“, grinste Finn siegessicher. Er konnte seine Emotionen manchmal nicht gut verstecken. „Ach, wollte ich das-“ James wurde ruckartig von einem Stoß in seine Seite von Finns Ellebogen gestoppt. „Genau, genau.“ Er lächelte, was jedoch gequält wirkte, und rieb sich die schmerzende Stelle. „Heute, so dachten wir uns, tun wir euch mal etwas Gutes und füllen eure Regale mit ein paar Büchern zum Zeitvertrieb. Was lest ihr denn so? Sollen wir vielleicht als erstes in die... Wie hieß sie sogleich... Romantik-Abteilung?“ „Gerne, ich war lange aus Zeitmangel nicht mehr dort.“ Yumino schien wie er sehr selbstsicher, ich jedoch bekam beim bloßem Gedanken an dieses Stück Fläche weiche Knie und Zittern. Unsere kleine Truppe marschierte also nach diesem merkwürdigem Schlagabtausch in die besagte Abteilung. Der Weg bis dahin dauerte nicht lange, wir schlängelten uns durch die vielen Bücherregale in der aufgeräumten Buchhandlung hindurch. Sie hatte viele Fenster, durch die das Licht hineinfiel und hatte erst neulich renoviert. Der Geruch von frischer Farbe haftete hier und da an den weiß gestrichenen Regalen. Es waren nicht sehr viele Leute da, vielleicht nur ein oder zwei hier und da verstreut. Stillschweigend zogen wir durch die teils sehr leeren Abteilungen, wobei ich sehr gerne in einer Abteilung stehen geblieben wäre, doch wir gingen einfach daran vorbei. Schmerzhaft zwang ich mich, meinen Blick nach vorne zu richten und nicht den Büchern nachzutrauern, die wir nicht beachtet hatten. „Da wären wir!“ Finn blieb vor Regalen stehen, die zuerst wie jede anderen auch aussahen. Doch der erste Blick trügte. Allein Titel wie Himmlische Verführung, Immer bei dir, oder Unendliche Leidenschaft schlugen jeden normalen Jungen in die Flucht. So eigentlich auch mich, wenn wir uns nicht in einer besonderen Situation befänden. „Sucht euch ruhig etwas aus, wir warten hier.“ Finn setzte sich auf einen bequem aussehenden Sessel direkt neben den Regalen und startete eine Analyse unserer Reaktionen. „Ja, danke“, flötete Yumino fröhlich und widmete sich intensiv den Büchern zu, nahm welche in die Hand, las die Beschreibung, blätterte ein wenig, legte sie wieder zurück und dann fing das ganze wieder von vorne an. Zögerlich wagte ich mich auch an die Furcht säende Abteilung, merkte aber mein starkes Zittern. In der Hoffnung, man würde es als überschäumende Freude abstempeln, las ich den Klappentext des Buches. Allein beim Lesen drehte sich mir der Magen um, auch wenn ich es so gut es mir möglich war, zu verbergen versuchte. Katharina, ein armes Bauernmädchen, begegnet dem Mann ihres Lebens. Aber dieser ist der Prinz des Nachbarreiches, doch das weiß sie nicht. Sie weiß nichts über den Mann, mit dem sie sich einlässt... Eine Geschichte, die Ihr Blut in Wallung geraten lässt! Schnell wandte ich mich einem anderem der zahlreichen Bücher zu, doch jedes glich dem anderem. Sie waren für mich einfach alle... gleich. Jedenfalls ähnelten sie sich stark. Als ich schon die Hälfte der Bücherregale hinter mich gebracht hatte, stand Yumino noch bei ihrem zweitem von insgesamt zehn Regalen. Ich wunderte mich einmal mehr, wie gut er ein Mädchen spielen konnte, denn man merkte nicht, dass er eigentlich ein Junge war. Im Moment. Sonst benahm er sich aus meiner Sicht ziemlich knabenhaft. „Und? Hast du schon etwas gefunden?“ James hatte sich, als ich in Gedanken versunken war, über mich gebeugt - er war um einiges größer als ich, aber auch älter - und das Buch betrachtet, das ich gerade in der Hand hielt. Erschrocken ließ ich es kurzerhand fallen, fasste es jedoch rechtzeitig an einer Ecke, ehe es auf den Boden fallen würde. „Oh, entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken“, entschuldigte sich James, ein verlegenes Lächeln zierte sein Gesicht, während meines von einem sanftem Rotton überschattet wurde. „Ach, nein, macht doch nichts.“ „Das erleichtert mich. Hast du etwas gefunden?“ Er betrachtete mit gewisser Neugier den Einband des grünen Buches, das ich in der Hand hielt. „Der Name der Autorin kommt mir bekannt vor...“ „Ja?“, war die einzige Antwort, die mir einfiel. „Hmm... Ah, genau! Sie hat auch eine sehr berühmte Fantasy-Trilogie geschrieben, glaube ich.“ Nun schaute ich mir den Autorennamen noch einmal genauer an. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: „Die Bow and Arrow-Trilogie, oder?“ Meine Stimme klang begeisterter und hitziger als beabsichtigt. James sah mich verwundert an. „Ja, genau. Ich wusste nicht, dass du Fantasy liest. Da fällt mir auf, wir sind eben an der Abteilung für Fantasy vorbeigelaufen, oder? Magst du da vielleicht nach etwas suchen?“ „Ja!“, rief ich impulsiv aus. Ich ahnte schon, dass meine Augen einen leuchtenden Glanz bekommen hatten, ich mochte dieses Genre einfach. Diese Fantasie, die Action. „Ich sag dann noch kurz Finn Bescheid, oder?“ Plötzlich würde mir wieder bewusst, dass ich gerade dabei war, unseren Plan zu vereiteln. Ich schluckte einmal, dann noch einmal. Verbarg meine Leidenschaft für dieses Genre weitestgehend und zupfte kurz an James' Anzugsärmel, ehe er gehen konnte. „Ähm, nein, doch lieber nicht.“ Nun blickte er noch verwunderter als vorher. „Wieso denn plötzlich dieser Umschwung?“ „Äh, nun... Ich habe solange keinen mehr aus dieser Abteilung hier gelesen, also würde ich mich gerne noch ein wenig umsehen“, erfand ich eine Ausrede, in der Hoffnung, er würde es glauben. „Okay, dann lass ich dich wieder allein.“ Er winkte mir zu und drehte sich dann um. Ich hatte einen Hauch von Skepsis in seiner Stimme hören können, ich kannte ihn zu gut, um das nicht zu hören. James Während ich durch die teils deckenhohen Regale ging, dachte ich angestrengt nach. Ich dachte über Yukino nach, die mich manchmal so sehr an Yakino erinnerte. Ihre Liebe zu Fantasy... Es war dieselbe, die Yakino mir einmal offenbart hatte. Seine leuchtenden Augen... Ich möchte ihn wiedersehen. Ich würde so gerne wieder in seinen Augen versinken. Yukino/Yakino „Und, seid ihr fertig?“ Finn hatte sich zu uns gesellt, James schlich irgendwo in der Buchhandlung herum. Finn lächelte voller Triumph. „Ja, ich habe diese hier ausgewählt, ich hoffe, das geht in Ordnung?“ Yumino hatte sich zwei sehr dicke Romane ausgesucht, deren Titel Ruf der Engel und Liebespaar undercover hieß. Für mich klangen sie relativ normal, was Finn wohl dazu sagen würde? „Schön.“ Er lächelte eher verhalten, unsicher. „Und du, Yukino?“ „Ich nehm dieses hier.“ Ich zeigte ihm das Cover des in verschiedensten Grünschattierungen gestaltete Buch, welches Freiheit bei dir hieß. Es war jenes, das die Autorin der Bow and Arrow-Trilogie geschrieben hatte. „Gut, dann gehen wir zur Kasse. James wartet sicher schon.“ Sein Lächeln hatte sich versteinert. Ich und Yumino hielten unsere Bücher bereit und folgten ihn zum Ausgang. Er bezahlte und wir stießen auf James, der ebenfalls eine Tüte der Buchhandlung in der Hand hielt. Den Inhalt konnte man durch das Plastik nicht sehen, doch es schien nur ein einziges Buch zu sein. „Hast du auch etwas für dich gefunden?“, fragte ich ihn. „Ein Buch, das ich wohl versuchen werde, in meiner Freizeit zu lesen.“ „Versuchen?“ „Ich hab nicht soviel Freizeit.“ Er sah ein wenig traurig aus. „So, wollen wir dann fahren?“ Ein sich um sein Lächeln bemühender Finn unterbrach unsere kleine Konversation, wir stiegen in das Auto ein. Die restliche Fahrt verlief eher schweigend, ohne ein Wort. An unserer vorübergehender Wohnung verabschiedeten wir uns von ihnen, sie fuhren in ihr Hotel. Wir standen kurz am Straßenrand, winkten dem immer kleiner werdendem Auto hinterher. James Finn sah, nachdem die Zwillinge ausgestiegen waren, missmutig aus dem Fenster. „Ich muss mir einen besseren Plan einfallen lassen...“ Ich war mittlerweile unglaublich genervt von seiner Vorstellung, die Zwillinge könnten Jungs sein. „Bitte hör endlich auf mit deiner Wahnvorstellung! Glaub doch nicht immer, was in Glückskeksen steht! Es ist doch eindeutig bewiesen, dass sie Mädchen sind!“ „Glückskekse lügen nicht!“, wehrte sich Finn. „Und wieso gingen deine letzten beiden Pläne nicht auf?“ Er schwieg. „Sieh es doch ein! Es sind Mädchen und keine Jungs!“ „Aber-“ „Kein aber!“ „Aber-“, versuchte er es erneut. „Finn, ich schätze deine Fähigkeiten als Ratgeber, aber wenn du nur wegen Glückskeksen denkst, zwei unserer Models verkleiden sich als das andere Geschlecht und lügen uns an, dann denke ich nicht, dass du noch weiter als Berater arbeiten kannst.“ „Wieso glaubst du mir nicht?“ „Bitte, lass uns nicht weiter über das Thema streiten.“ „Sie sind aber-“ „Finn! Du bist...“ Ich zögerte. Ich wusste wirklich nicht, ob ich soweit gehen konnte, doch ich wusste, dass ich nicht möchte, dass unsere beiden Neulinge Schlagzeilen machten oder Ähnliches. Ich nahm noch einmal einen tiefen Atemzug. „Entlassen.“ Yukino/Yakino „Er ist gefeuert worden?“ Betretenes Schweigen machte sich in unserem kleinem Wohnzimmer breit, gerade erst hatte Yumino die Nachricht von der Entlassung Finns erhalten. „Etwa wegen der Sache mit uns?“ „Vielleicht, wahrscheinlich...“ Yuminos Miene zeigte keine Regung. Es wirkte als wäre es ihr egal, aber ich ahnte, dass es ihr alles andere als egal war. „Auf jeden Fall müssen wir heute beim Shooting wieder alles geben, sonst werden wir auch noch gefeuert. James begleitet uns heute wieder.“ Ich nickte nur, verarbeitete die Nachricht. „Komm, wir müssen los.“ Yumino reichte mir ihre Hand, sie hatte sich von ihrem Platz erhoben. Ich nahm sie und ließ mich hochziehen. Mir war immer noch ein wenig schummrig im Kopf, wie hatte James so etwas Derartiges tun können? Er war doch immer so freundlich, geduldig. Mir wurde ein Rätsel nach dem anderem gestellt, doch die Antworten wusste ich alle nicht. „Guten Morgen!“, rief uns James schon von Weitem zu, als wir den Ort des heutigen Shootings, das Restaurant IronBlue, betraten. Man hatte uns gebeten, als Models für die nächste Werbeanzeige zu posieren. „Guten Morgen.“ Ich winkte ihm zu. „Ihr habt die Mail gelesen?“, fragte er uns mit fast nebensächlicher Stimme, aber eben nur fast. „Ja...“ Sofort machte sich ein mulmiges Gefühl in mir breit. Musste es wirklich so weit kommen? „Wieso hast du Finn entlassen?“, fragte Yumino in einem Tonfall, der nicht darauf aus war, ihn mit Schuldgefühlen zu bedrängen. „Das war, weil...“ Er schwieg und schien nachzudenken. „Meine Lieben, da seid ihr ja!“, begrüßte uns der Inhaber des Restaurants, Inven Lebleu, seines Zeichens Franzose mit multikulturellen Kochkünsten, bevor James uns eine Antwort geben konnte. Er war ein Mann, der die 50 schon hinter sich gelassen hatte, aber seine Energie und Kreativität schien nie nachzulassen. Seine mit leichten, grauen Strähnen versehenen Haare hatte der ordentliche Koch zu einem Zopf zusammengebunden. Nun trug er aber keine Kochkleidung sondern einen schwarzen, teuer aussehenden Anzug. „Ja, da sind wir. Freut mich, Euch kennenzulernen, Monsieur Lebleu“, begrüßte Yumino den Auftraggeber höflich und machte einen Knicks. „Ach, seien wir doch nicht so förmlich. Ihr könnt mich ruhig Inven nennen. Mit wem habe ich denn gerade das Vergnügen?“ „Yumino Namida, sehr erfreut.“ Sie reichte ihm eine Hand, und er schüttelte sie kurz und herzlich. Als er mir seine Hand reichte, nahm ich sie. Seine Hand war ziemlich groß und fühlte sich ein wenig rau an, aber sie war angenehm warm. „Ich bin Yukino Namida“, stellte ich mich auch vor. „Entschuldigt bitte, aber ich kann euch beide bestimmt nicht auseinanderhalten“, lächelte er verlegen, „aber ich werde es versuchen!“ Wir nickten beide, dann wandte er sich James zu. „James, mein junger Freund! Wie geht es dir?“ Die beiden Männer begrüßten sich vertraut mit einer Umarmung und Schulterklopfen. „Ganz in Ordnung, würde ich sagen.“ „Wieso denn nur 'in Ordnung'?“ „Ähm... Lass uns doch woanders darüber reden.“ Ich merkte, wie er uns aus den Augenwinkeln ansah. Als er sah, dass ich es gesehen hatte, blickte er ertappt in eine andere Richtung. „Gerne, die Mädchen können wir solange in die Maske schicken, oder?“ „Ja, das dauert ja auch immer seine Zeit.“ Nun lächelte er wieder amüsiert. Eine Frau vom Staff zeigte uns den Weg zur Maske. Diese war in einem eher abgelegenem, aber dennoch gut vom Licht des anbrechenden Tages beleuchtetem Teil des Erdgeschosses aufgebaut. „So, die Stylisten müssten jeden Moment kommen, ihr seid nämlich ein wenig zu früh dran“, lächelte die Frau. Sie gab uns noch Informationen über den näheren Ablauf, so wie Finn einst. Wieder krampfte sich mein Herz ein wenig zusammen, doch dies konnte ich wenigstens noch ansatzweise aushalten. Nicht wie die Schmerzen in meiner Brust, als ich solange nichts und wieder nichts von James gehört hatte. „Okay, also shooten wir den ganzen Tag quer durch alle Räume und Geschosse des Restaurants, oder?“ „Genau, das Restaurant hat für heute geschlossen, damit man schönere Bilder schießen kann.“ „Dann habe ich alles verstanden.“ „Gut, dann gehe ich mal wieder. Wie schon gesagt, die Stylisten müssten jeden Moment auftauchen, wartet hier einfach. Ihr könnt euch gerne schon mal hinsetzen.“ Mit diesen Worten verschwand sie in einen der vielen Winkel dieses Gebäudes. „Puah!“, seufzte Yumino, als sie sich hinsetzte. „Was ist los?“ Ich hatte mich geräuschloser in den bequemen Sessel, der ein wenig abseits der Maske aufgestellt worden war, gesetzt. „Ach, irgendwie ist es komisch, nicht mehr von Finn eingewiesen zu werden, wenn die beiden hier sind“, antwortete sie ehrlich. „Ja, irgendwie schon schräg...“ Ich sah die Decke an. Mit kleinen, symmetrisch angeordneten Lampen erstrahlte sie Blau, Silber und Weiß. Sie leuchteten auf einem blassblauem Holzgrund, der hier und da mit silbernen Bändern geschmückt war. Aus irgendeinem Grund fiel mir auf, dass ich und James noch nie zusammen in den Urlaub gefahren sind... Ob wir das wohl jemals machen werden? Ich dachte noch eine Weile über dieses Thema nach, die Zeit verlor ich komplett aus dem Blick. „Ihr seid sicher die Zwillinge, oder?“, ertönte plötzlich eine Stimme. Ich schreckte aus meinen Tagträumereien hoch und sah mehrere Leute, eine Gruppe auf uns zukommen. Sie waren alle mit verschiedensten Werkzeugen ausgestattet, ich vermutete, dass das die Stylisten waren. „Ja, Yumino Namida, sehr erfreut.“ Yumino verbeugte sich höflich und ich tat es ihr hastig gleich. „Ich bin Yukino Namida.“ „Flanie Hunon, auf gute Zusammenarbeit!“, sie schüttelte unsere Hände und stellte noch das restliche Team, bestehend aus vier Frauen und zwei Männern, vor. Sie schien die Chefin zu sein. „Dann folgt mir doch mal, damit wir dann beginnen können. Wir sind leider ein wenig spät, der Zug hatte eine Verspätung.“ Sie scheuchte uns auf die Stühle und sofort begannen Leute, sanft unsere Haare – oder Perücke - zu richten oder uns zu schminken. Geduldig ließen wir alles über uns ergehen, es war während der letzten Aufträge und Tage Gewohnheit geworden. Einmal mehr bedankte ich mich gedanklich bei der Perücke, dass sie so gut saß wie echte Haare und sich auch so anfühlte. Während wir geschminkt und aufgehübscht wurden, ließ ich meine Gedanken in jede erdenkliche Richtung ausschweifen, doch sie wählten immer nur einen Weg. James. Kritisch musternd beäugte die Leiterin des Stylistenteams das eben vollbrachte Werk. In der Zeit, in welcher das Team uns geschminkt und frisiert hatte, stand sie immer mit Rat und manchmal auch mit Tat zur Seite. Ich und Yumino hatten eigentlich die gleichen Frisuren und Schminke bekommen, nur bei ihr war es spiegelverkehrt als Kontrast zu meinem Aussehen gemacht worden. Unsere Haare, oder besser gesagt die Perücke, aber das wussten sie ja nicht, wurden ganz locker und voluminös gemacht und mit Blumen und Bändern in den Farben des Iron Blue verziert. Ich trug einen Zopf auf der rechten und Yumino auf der linken Seite, man hatte einige Strähnen auch ein wenig blau oder silber eingefärbt. Unsere Schminke fiel sehr schlicht aus, damit es nicht so überladen wirke, wie Flanie uns aufklärte. Man hatte also nur kleine Sachen retuschiert, unsere Teint aufgehellt, blauen Lidschatten, der schwach silbern glitzerte, aufgetragen und kaum erkennbare Muster mit einem sehr dünnen Pinsel und weißem Lidschatten gemalt. „Perfekt!“, rief Flanie nach mindestens einer halben Stunde Rundumfixierens aus. Erleichtert atmete ich auf, schließlich saßen wir nun knapp zwei Stunden hier. Die Männerrunde hatte bestimmt auch keinen Gesprächsstoff mehr, jedenfalls wusste ich nicht so recht, worüber man so lange reden konnte. „Das trifft sich ja gut, wenn wir heute noch ein paar Fotos im Kasten haben wollen“, kam es von der nun genervt wirkenden Frau, die Finns Platz eingenommen hatte. Sie kam etwa eine Stunde nachdem sie uns alleine gelassen hatte, also als wir schon in etwa eine Dreiviertelstunde geschminkt worden waren, da das Team ungefähr eine Viertelstunde verspätet kam. „Jaja, es braucht eben Zeit“, konterte Flanie mit einem kurzem, todbringend wirkendem Blick. „Los, sie warten schon!“ Sie hatte den Blick eisig ignoriert und hetzte uns durch die Flure des hinteren Erdgeschossteils nach vorne. Ich konnte einen Blick aus den allgegenwärtigen Panoramaglasfenstern erhaschen, die Sonne stand jetzt vollständig am Horizont. Feinste Wolkengebilde hatten sich im strahlend blauen Himmel gebildet, inmitten von großen Wolkenkolossen wirkten sie zerbrechlich und ungeheuer zart. „Nicht trödeln!“, rief sie uns zu, sie stand ungeduldig wartend etwas entfernt von uns. Scheinbar war Yumino auch unbewusst stehengeblieben, um den Himmel zu betrachten. Nun eilten wir weiter, wobei ich mir Angst um meine Frisur machte. Sie war an einigen Stellen relativ instabil, wie ich fand, doch sie hielt. Mit großen Schritten hatten wir uns von der Maske entfernt, schlugen aber nicht den Weg zum Eingang ein, wie ich zuerst dachte. Da fiel mir auf, dass wir unsere Kostüme ja noch gar nicht hatten. „Hier sind sie endlich! Liegen die Kostüme schon bereit?“, rief sie in den Raum hinein, den wir eben nach vielen Abzweigungen endlich erreicht hatten. „Aber natürlich!“ An der Tür des Raumes stand eine leicht pummelige Frau, die ich auf 30 oder 40 Jahre schätzte. Hinter ihr stand eine vollbeladene Kleiderstange, die einen weiteren Blick in den Raum verbarg. Ich konnte nur schätzen, welche Tiefe er hatte oder wie viele Kleidungsstücke in ihm lagerten. „Zuerst das Mittagskleid, nicht wahr?“ Ihre Stimme klang freundlich, ganz im Gegensatz zu der immer noch gehetzt wirkenden Frau. „Genau. Ich warte draußen, lass dir bitte nicht allzu viel Zeit, wir sind schon so im Verzug!“ Mit diesen Worten und einem Handy am Ohr ging sie hinaus. Kurze Zeit später hörten wir, wie sie dieses leise anschrie, aber dann verebbten die Geräusche von ihr auch wieder. „Hach, manchmal ganz schrecklich, diese Dame. Christina hieß sie, glaube ich“, seufzte die Kostümfrau mit schüttelndem Kopf. Dann klatschte sie ruckartig ihre Hände zusammen: „So, dann will ich euch zwei Hübschen doch mal fertig machen. Ich bin übrigens Diana Suna, freut mich.“ Sie schüttelte uns kurz und freundlich die Hände, als sie sich umdrehte und durch die Kleider verschwand. Verwirrt blickten wir diese an, als Diana hinter der regelrechten Mauer aus Stoff und mehr uns zurief: „Kommt, ihr sucht euch eure Kleider bei mir schon selbst aus!“ Wir folgten ihr also, Yumino ging vor. Ich hatte richtige Angst, als ich nach ihr durch diese Wand gehen musste, da ich mich fragte, ob ich die schönen Klamotten nicht zerstörte, wenn ich zwischen ihnen durchging. Ich spaltete mit leichtem, vorsichtigem Druck zaghaft die Kleider und duckte mich unter der Stange hindurch. Zum Glück verfing sich nichts, nichts riss und als ich wieder hoch sah, blickte ich in eine Fülle von den verschiedensten Kleidern und Outfits, alle in den Farben des Iron Blues. Ich kam nicht umhin, einen erstaunten Laut von mir zu geben. „Wow...“ „Willkommen in Dianas Paradies für das Iron Blue!“, kicherte Diana, ehe sie uns beide an die Hand nahm und uns weiter nach hinten zog. „Hopp, hopp, wir haben heute noch eine Menge vor.“ Dann zeigte sie uns einige Kleider mit den passenden Accessoires wie Ketten oder Ohrringe. Zur Auswahl standen uns für den Mittag ein Matrosenkleid, ein trägerloses Kleid in Blau und Weiß mit silbernem Schmuck und viele, viele mehr. Am Ende entschied Yumino allein für uns beide, da ich schon immer schlecht im Aussuchen von Kleidung war. Sie wählte ein schlichtes, weißes Kleid mit filigranen, silbernen Verzierungen am Saum aus. Es reichte über die Knien und hatte Spaghetti-Träger. Als Schmuck bekamen wir ein feines Armband aus silbernen Ösen, durch die blauweiße Bänder und Blüten geflochten waren. Unseren Hals schmückte ein breites, weißes Band, an dem ein großes, mit dezenten Mustern versehenes, tiefblaues Glasoval mit silbernem Rahmen befestigt war. Diana half uns flott in die Kleider, ohne unsere Frisur oder das Make-Up zu zerstören. Danach perfektionierte sie nochmal den Sitz der Kleidung und des sanft fallenden Stoffes, ehe sie uns auf einem anderem Weg, der zu meinem Glück keine Kleiderstangen kreuzte, hinaus führte. „Wir sehen uns dann Nachmittags, Abends und Nachts wieder, meine Lieben!“ Danach verschwand sie auch wieder in den Tiefen der vielen Kleider. „Und weiter geht’s!“ Christina führte uns zu den Aufzügen. „Gehen wir nicht zu den and-“, wollte ich fragen, als wir nach oben fuhren, da ich dachte, sie wären immer noch im Eingangsbereich. „Sie warten oben“, fiel sie mir genervt ins Wort. Sie bemühte sich dennoch in irgendeiner Weise um einen freundlichen Tonfall. Der Aufzug gab einen klingenden Laut von sich, als wir das 15. Stockwerk erreichten. Als die Türen sich lautlos zu öffnen begannen, hörte ich James' entferntes Lachen. Die Aufzugstüren öffneten ganz und gaben den Blick auf die kleine Gruppe frei, die auf uns wartete. Da war James und... Ich wusste nicht wer diese Person war. Diese Person, die ganz nah bei ihm stand. Dieses Mädchen mit dem wunderschön lachendem Gesicht. Dieses Mädchen, die ihm scheinbar sehr nahe stand. Dieses Mädchen, zu dem James sich herunterbeugte. Dieses Mädchen, die anscheinend seine Verlobte war. Mein Kopf... drehte sich. Mir war schummrig. Schwindelig. Übel. Ich hatte das Gefühl, in mir versammelten sich alle negativen Gefühle der Erde, einschließlich der Eifersucht, Trauer und vielem mehr, was zu Liebeskummer gehörte. Ich versucht, mich in eine dunkle, am besten in die finsterste Ecke meines Bewusstseins zu verkriechen und zu schlafen, um all das nicht mit erleben zu müssen. James Als Christina, die ich kurzzeitig mit Finns Aufgaben betreut hatte, mir mitteilte, dass Lily hier herkommen würde, war ich erst einmal total überfordert. Ich und Inven waren gerade in einer hitzigen Diskussion verwickelt gewesen und ich musste erst einmal einige Sekunden nachdenken, was zu tun war. Doch da betrat Lily auch schon das Zimmer. Sie hatte wie immer ein weites, grünes Kleid mit einigen Rüschen und Schleifen an. Ihre Familie war eine sehr traditionelle Familie, wenn auch toleranter als mein Vater es gewesen war. Ihre braunen Haare hatte sie offen gelassen, wellig fielen sie ihr bis zu ihrem Rücken hinunter. „James! Wieso hast du mich nicht besucht?“, beklagte sie sich aufgebracht dreinblickend. „Ähm... Ich... hatte keine... Zeit?“, stotterte ich eher schlecht als recht. Daraufhin seufzte sie einmal tief, und als sie ihren Blick wieder zu mir hob, war er nicht mehr ganz so verärgert. „Dafür bleib ich aber solange, bis du auch abreist und fliege mit dir.“ „Hab ich eine Wahl?“ „Nein.“ Ihre rehbraunen Augen funkelten frech. So verbrachten wir also die restliche Zeit miteinander, bis das Shoot beginnen konnte, da die Zwillinge sehr lange brauchten. Ab und zu grübelte ich insgeheim darüber, was Yukino wohl heute tragen wird. Lily wollte mir gerade etwas ins Ohr flüstern, als ich einen dumpfen Aufprall hörte. Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass der Aufzug da war und die Zwillinge somit ebenfalls. Als ich schnell meinen Blick in die Richtung des Aufzuges wandte, war Yukino auf den Aufzugsboden gesunken. Hastig eilte ich zu ihr, sie war bewusstlos. Angst packte mich, ich hatte wirkliche Panik. Was war mit ihr passiert? Ich nahm ihre eine Hand, um ihren Herzschlag zu überprüfen, doch meine Hand schwitzte sehr viel. Ihre kleine Hand rutschte mir aus den Fingern, doch vorher erfasste ich etwas Glattes an ihrem Finger. Zuvor hatte ich ihn nie bemerkt, aber sie trug einen Ring. Ich hatte ihn nicht gesehen, weil er aus Glas war. Genau wie Yakinos. Ein Gedanke durchzuckte mich. War sie vielleicht wirklich keine... sie? Ich betrachtete ihr Gesicht noch einmal genauer. Da erkannte ich ihn endlich. „Es tut mir wirklich Leid.“ Ich stand Lily gegenüber, sie saß, ich stand. Nachdem ich sichergestellt hatte, dass Yakino versorgt wurde, hatte ich sie zur Seite gezogen, um mit ihr ungestört reden zu können. Ich hatte sie mit ausschweifenden Gesten und manchmal peinlich tiefen Einblicken in meine Gefühlswelt der letzten Monate aufgeklärt, in der Hoffnung, sie würde es verstehen. Ich will ihn wirklich nicht noch einmal verlieren. Nun saß Lily mit nachdenklich trauriger Miene auf dem Stuhl, betrachtete den Boden und schwieg in ihren eigenen Gedanken verstrickt. Sie brauchte nicht lange, um wieder etwas zu sagen. Sie fand immer in kürzester Zeit die richtigen Worte, sie war wirklich ein bewundernswertes Mädchen, denn trotz ihres Alters von 16 Jahren wirkte sie häufig schon wie eine erwachsene Frau. „Da habe ich wohl verloren, das sehe ich ein. Wer seinen alten Schlüssel wiederfindet, braucht den neuen nicht mehr, oder so ähnlich, nicht wahr?“ Jetzt war ich an der Reihe, ein wenig dämlich zu schauen. „Wie bitte?“ „Das ist ein Zitat aus meinem Lieblingsmärchen. Jedenfalls so ähnlich, in Märchen steht das ja häufig nicht wortwörtlich, aber ich denke, so passt es ganz gut.“ Sie lächelte versonnen, sie schien an eine glückliche Erinnerung zurückzudenken. „Ja? Und wie heißt dieses Märchen?“ „Da fällt mir auf, eure Geschichte erinnert mich ziemlich daran.“ Sie schmunzelte. „Ah, ich glaube, allmählich weiß ich, welches Märchen zu meinst. Wirklich erstaunlich...“ „Wirklich ein lustiger Zufall.“ Sie sah mich herausfordernd an. „Verrat mir doch den Titel.“ „Die zwölf Jäger.“ Epilog: Wie es weitergeht und doch nicht alles ist -------------------------------------------------- Yakino Als ich aufwachte, fand ich mich in einem Krankenhaus wieder. Grelles Sonnenlicht blendete meine Augen, sodass ich erst heftig blinzelte, ehe ich dann direkt in James' Augen sah. „Na, bist du endlich aufgewacht?“, lächelte er mich sanft an. „Warum liege ich hier?“ Ich setzte mich hin und rieb mir meinen schmerzenden Kopf. Mir wurde bewusst, dass etwas fehlte. Wo war die Perücke? Hektisch schaute ich mich um, tastete an meinem Kopf herum. Da wurde mir noch etwas klar. „Ähm... Du weißt es jetzt?“, piepste ich verlegen. „Ja.“ Sein freundliches Lächeln bröckelte nicht, dennoch wurde es eine Spur traurig. Schweigen breitete sich unter uns aus. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte oder wollte. All meine Szenerien, all meine Gedanken, Sätze, die ich ihm sagen wollte. Meine überschäumenden Gefühle. Ich wusste nicht wohin mit ihnen. „Es tut mir leid.“ Er durchbrach die Stille mit einer zögerlichen Stimme. Ich blickte in seine Augen, sie sprachen voller Reue zu mir. „Ich weiß nicht, wie ich das wiedergutmachen soll. Vielleicht sollten wir nochmal von vorne beginnen.“ Sein Satz hatte etwas Endliches an sich. Eine Träne fand ihren Weg meine Wange hinunter, dicht gejagt von anderen Tränen floß sie leise hinunter. „H-habe ich etwas Falsches gesagt?“ James wurde unsicher, verwirrt. Manchmal wusste er wirklich nichts von meinen Gefühlen, aber er war schließlich auch nur ein Mensch. Und ich auch. Ich vergrub mein Gesicht in meine Hände, wischte die Tränen quer über mein Gesicht, schluchzte. „Ich will nicht, dass es so endet. Ich will das nicht!“ Er schwieg, sagte nichts, also füllte ich nun die Stille zwischen uns, damit meine Gefühle ihn erreichten. „Ich will nicht, dass wir das, was wir zusammen erlebt haben, einfach vergessen! Ich will nicht! Ich will meine Zeit mit dir nicht vergessen! Ich will es einfach nicht...“ Beim letztem Satz zitterte meine Stimme. „Ich will das nicht...“ Sturzbäche flossen aus meinen Augen, bedeckten meine einfache Krankenhauskleidung. Ich machte mich ganz klein. „Ich will das nicht... Ich will die Zeit mit dir nicht vergessen!“ Starke, warme Arme umfassten mich, hüllten das kleine, heulende Wesen ein und wärmten es. Beruhigten es. Verstanden es. „Ich... will es auch nicht. Entschuldige bitte. Ich bin so ein Dummkopf und Narr. Kannst du mir noch einmal verzeihen?“ Er war warm. Es war seine Stimme, die ich schon so lange nicht mehr an mich gerichtet gehört hatte. Ich klammerte mich an ihn, wollte, dass er mir nie wieder von der Seite wich. „Ja“, antwortete ich leise. „Ja“, wiederholte ich es mit Nachdruck. Er drückte mich ganz fest und nahm mich auf seinen Schoß. So saßen wir eine Weile lang, bis sich mein Zittern und Weinen verflüchtigt hatte, die letzte Träne getrocknet war und er mich sanft hin und her wiegte. Er hatte sein Kinn auf meinem Kopf platziert und schien nachzudenken. Ich störte mich nicht daran und genoss seine Nähe. „Yakino?“ Wie lange ich nicht mehr gehört hatte, wie er meinen Namen sagt... „Ja?“ „Magst du nicht zu mir ziehen?“ Eine Woche später war es dann wirklich soweit. Ich hätte mir nicht einmal in meinen Träumen ausmalen können, dass ich mal zu ihm ziehen würde. Mit ihm unter einem Dach leben würde. Insgeheim freute ich mich, ehrlich gesagt, darauf, endlich mal eine seiner Schwächen zu Gesicht zu bekommen. Zusammen mit Yumino und unserem Vater zogen wir in das Anwesen der Julys, wo auch Finn wohnte, der nun, da er ja doch nicht gelogen hatte, seine Arbeit wieder aufnehmen konnte. Er war James auch nicht arg böse, meinte er zu uns. Schließlich konnte er ihn ja doch irgendwie verstehen. Jetzt, wo ich am Eingang unserer ehemaligen Wohnung stand, trauerte ich schon ein wenig, meine Heimat zu verlassen. Zum Glück würde Vater diese Wohnung weiterhin als sein Lager benutzen, sodass wir immer wieder hierher zurückkehren konnten. Ich erinnerte mich an die schöne Zeit mit ihr zurück. Erinnerungen aus einer unwirklich schienenden Vergangenheit, die doch real war. Erinnerungen an meine Mutter, an Vater, an all die Missgeschicke, an Yumino, an die Pläne, die in dieser Wohnung geschmiedet worden waren. „Träumst du noch?“ Große Hände verdeckten meine Augen. Ich versuchte nicht, mich aus diesem Griff zu befreien. „Ja“, antwortete ich und seufzte. „Willst du doch hierbleiben?“ „Nein.“ Behutsam löste ich mich nun doch aus seinem Griff und drehte mich zu ihm um. Er lächelte. „Ich werde die Wohnung hier schon vermissen.“ Er drehte mich wieder um und legte sein Kinn auf mein Kopf. „Wieso denn?“ „Du wirst sie doch auch vermissen.“ „Ja, aber wieso du?“ „Na, weil du sie vermissen wirst.“ „Gibt es auch einen richtigen Grund?“ „Natürlich.“ „Verrätst du ihn mir auch?“ „Vielleicht irgendwann mal. Lass uns jetzt gehen, okay?“ „Ja.“ Ich sah noch einmal zurück. James ging schon einmal die Treppe hinunter. Ich atmete tief ein und wieder aus. Dann schloss ich die Tür fürs Erste endgültig. Dann folgte ich James, der am unterem Treppenende auf mich wartete. Ich wusste nicht, wie es passiert war oder was passiert war, bis ich mich in seinen Armen wiederfand. „Na, schon so früh so munter?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)