Die zwei Models von pandine ================================================================================ Kapitel 1: Im Innern noch ganz und doch zerbrochen -------------------------------------------------- Yakino Das laute, immer und immer wieder- und wiederkehrende Ringen und Dröhnen meines Weckers riss mich aus meinem Tiefschlaf. Brummend tastete ich, den Kopf im Kissen vergraben, nach der Ausschalttaste des Weckers, doch ehe ich sie herunterdrücken konnte, und damit auch endlich dieses Geräusch verbannen konnte, verschwand das Ringen wieder. Verwundert blickte ich nun wacher auf, nur wenige Zentimeter entfernt blickte ich in die Augen des Bösen. Ich schrak nach hinten zurück, verzog mich zum hinteren Rand meines Bettes, fiel beinahe sogar heraus. Zitternd erkannte ich, dass diese Augen des Bösen die meines Zwillingsbruders Yamino Hiyoki waren. Sein Zimmer grenzte in unserer relativ hellhörigen Wohnung direkt an meinem. „Ya-ki-no!“, sprach er mit langsamer, drohender Stimme, „Du, mein herzallerliebstes Brüderchen, hast mir soeben meinen wichtigen, lebensnotwendigen Sonntagsschlaf geraubt!“ Seine fuchsteufelswilden Augen wurden plötzlich total weinerlich und ich sah Tränen in ihnen glitzern. „Äh... wie... öh... MIST!“. Mir fiel siedend heiß ein, weshalb ich den Wecker so früh gestellt hatte, normalerweise schlief ich sonntags wie Yamino bis in den Mittag hinein. Ein Blick auf meinen Terminkalender, der auf dem kleinem Nachtisch neben meinem Bett aufgeschlagen lag, zeigte mir, dass ein einziger Tag in diesem Monat mit einem dickem, rotem Filzstift umkreist wurde. Und dieser Tag war heute. „Entschuldigung, Yami-chan“, sagte ich entschuldigend zu meinem Zwillingsbruder und streichelte ihm über seinen Kopf. „Ist schon okay“, meinte er – manchmal hatte er verheerende Stimmungsschwankungen wie gerade eben, vor allem, wenn er nicht genügend geschlafen hatte – und wischte sich die Tränchen aus den Augen. Sobald er dies erledigt hatte, wurde sein Blick leer, müde und schließlich schlossen sich seine Augenlider innerhalb kürzester Zeit. Er drohte auf den Boden zu fallen, doch ich konnte ihn rechtzeitig auffangen, jedoch ächzte ich unter seinem Gewicht zusammen, drohte meinerseits eine unangenehme Erfahrung mit dem Boden zu machen. Mit einigem Kraftaufwand konnte ich ihn dann doch endlich zu meinem Bett ziehen. Erschöpft holte ich nach getaner Arbeit Luft. Dann lächelte ich und deckte meinen schlafenden Zwilling sanft mit meiner noch warmen Decke ein. Ein Blick auf die Uhr trieb mich wieder zu Hast und Hetze, ich eilte ins Bad und putzte die Zähne, wusch mich schnell ab und zog mich rasch um. Da heute ein besonderer Tag war, kramte ich die Sachen aus dem Schrank, die Mutter mir mal geschenkt hatte. Ich hoffte nur, sie passten noch. Meine Befürchtungen wurden, zum Glück, widerlegt. Sie passten mir wie angegossen, da ich in den letzten Jahren nicht mehr gewachsen war. Traurig lächelnd betrachte ich mein Spiegelbild. Heute hatte ich endlich Gelegenheit, die Kleidung, die meine Mutter mir für so einen besonderen Anlass ausgesucht hatte, zu tragen. Es ist nun etwas mehr als ein Jahr her, seit sie nicht mehr unter uns weilt. Der Abschied von ihr war damals schwer erträglich für mich und Yamino gewesen und auch heute zog sich das Herz in meiner Brust an den Gedanken an ihre verlorene Wärme zusammen. Aber ich hatte auch neue Wärme gefunden, die mich tröstete und mir größtenteils über den Schmerz half. Mein Gesicht hellte sich beim Gedanken an James auf, gleichzeitig röteten sich meine Wangen leicht. Ich klatschte mir verlegen mehrmals auf die Wangen, dann schnappte ich mir meine Tasche, die ich schon gestern vorbereitet hatte, betrachtete flüchtig mein Spiegelbild und verließ die Wohnung dann. Ich schloss ab und ging die Treppe hinunter, James war bestimmt noch nicht da. Ich riskierte einen Blick auf meine Armbanduhr, was sich als Fehler herausstellte. Ein kleiner Moment der Unaufmerksamkeit genügte und ich stolperte. Wenige Sekunden im freiem Fall, die ich halb realisierte, doch dann war es auch schon wieder vorbei. Doch der erwartete Aufprall mit dem Boden kam nicht. Stattdessen spürte ich starke, warme Arme, welche sich sanft um meinen Körper geschlungen hatten und mich vor einem schmerzhaftem Fall bewahrten. Ich erkannte sofort seinen charakteristischen Duft wieder, den ich seit unserem erstem Treffen nicht vergessen konnte. Ich fühlte mich geborgen. Wir schwiegen eine Weile in der Haltung, bis James mich auf seinen Armen anfing wie eine Prinzessin zu tragen und lachte: „Na, schon so früh so munter?“ Er lächelte sein liebes Lächeln. Ich errötete erneut und vergrub mein Gesicht in seiner Brust, während er vorsichtig die Treppe hinunter stieg. Während ich glücklich und peinlich berührt vor mich hin schwieg, dachte ich an unseren Anfang zurück. Er war immer sehr freundlich zu mir gewesen, auch wenn ich ihn immer und immer wieder abgewiesen hatte. Um ehrlich zu sein war ich schon ein wenig von ihm fasziniert gewesen, der sein Ziel hartnäckig verfolgt hatte. Und irgendwann... Ich konnte den Satz einfach nicht mehr zum Ende bringen, ich vergrub meinen knallroten Kopf tiefer in seiner Brust. Ich ahnte, dass er belustigt lächelte. In diesen Momenten einfach nicht beschreiben, wie glücklich ich über so Vieles war, das ich mit ihm verband, und das oftmals schrecklich peinliche an diesem regelrechtem Glücksgefühlschaos war, dass er es genau wusste. Er kannte mich wie beinahe keine andere Person. Er war ein unglaublich sanfter Mensch, dass ich es manchmal nicht glauben konnte. Konnte jemand wirklich so gutmütig sein, so ein großes Herz haben, in welches scheinbar die ganze Welt reinpasste? Als wir an seinem Auto ankamen, setzte er mich behutsam wieder auf den Boden ab. Er öffnete mir die Tür zum Beifahrersitz seines elegant weißen Autos. Er wusste, dass ich das hasste, aber ich stieg ohne zu murren hinein. Er umrundete das Auto zum Fahrersitz, der sich auf der anderen Seite befand, setzte sich hin, startete den Motor und fuhr los. Lange Zeit vertieften wir uns in Schweigen, ich sank ganz tief in den bequemen Sitz ein, genoss seinen Duft, der überall im Auto haftete. Die Landschaften flogen an uns vorbei, während die Sonne weiter und weiter am Himmel ihre Runde drehte. Sie wechselte von den hohen, meist silberglänzenden Hochhäusern der Stadt zu sanften Grüntönen von Wald, Wiese und Feld. Warme Sommerbrise wehte uns vom Fahrtwind in Schwung gebracht durch die offenen Fenster. James hatte das Autodach seines Wagens herunterfahren lassen, weshalb die Sonne ihre Wärme ungehindert auf uns scheinen lassen konnte. Wir redeten nicht viel, allein die Tatsache, Zeit miteinander verbringen zu können, machte uns beide so glücklich, sodass wir keine vielen Worte brauchten. James hatte in letzter Zeit immer sehr wenig Zeit und dass er heute hier ist, bedeutete mir sehr viel. Ich wusste nicht so recht, wie ich ohne ihn je wieder zurechtkommen sollte, hoffte, dass er für immer an meiner Seite bleiben würde. Hoffte, dass er genauso empfand. Ich fing an, die Bergspitzen, an denen wir vorbeikamen, zu betrachten. Ich prägte mir die Wiesen und Flüsse ein. Ich fragte mich, wohin die Reise ging. Ich wollte, dass sie niemals endet. Es wäre so schön, wenn dieser unwirklich erscheinende Realitätstraum nie enden würde. Doch ich wusste, er und ich würden unser Glück niemals in einer sich wiederholenden Realität finden. James steuerte den Wagen in eine Seitengasse, welche von der ländlich liegenden Straße in einen angrenzenden Laubwald führte. Überall strömte fließendes Licht in den Wald hinein und ließ die Blätter in einem strahlendem Grün leuchten. Ein Duft von frischem Gras, reiner Luft und Wald strömte in das Auto, vermischte sich mit seinem, geliebtem Geruch. Tief in mir beruhigte sich etwas, mein Herz schlug ganz ruhig. Der Wald und seine Nähe ließen mich aufatmen, nach Luft holen, entspannen. Ich verband so Vieles mit dieser immer einzigartigen Landschaft und mit dem Mann, der neben mir saß. Ich konnte James' liebevollen Blick, der auf mir ruhte, ganz zart spüren. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen, fürchtete, in diesem Glück zu ertrinken. Er war der Einzige, der mir dieses Gefühl jemals gegeben hatte und geben konnte. Leise rannte eine Träne an meinen Wangen hinunter. Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Wieso weinte ich? Ich spürte den leichten Druck seiner Arme um mich, ganz sanft, es war so, als würde er denken, ich würde zerbrechen, wenn er mich zu fest in seine Arme schloss. Ich konnte nichts sagen, nur schweigen. Ich hatte keinen Grund, weshalb ich weinen sollte. Dies war alles so unglaublich überwältigend, dass ich weinen musste. Er ahnte es, dessen war ich mir ganz sicher. Er benötigte keine Worte, um mich zu verstehen. Er nahm all die feinen Bewegungen, die ich machte, aber nicht merkte, wahr und wusste sie zu deuten. Ich werde niemals in Worte fassen können, was er mir bedeutete. „Hast du dich wieder beruhigt?“, fragte er mich leise. Er hatte sich ebenfalls auf den Beifahrersitz gesetzt und ich saß nun in seinem Schoß. Doch selbst jetzt wollten die Tränen nicht aufhören. „Na komm, nicht weinen“, sagte er sanft und strich vorsichtig mit seinem Daumen ein paar Tränen weg. Ich schüttelte den Kopf, versuchte die nicht enden wollenden Tränen zu vertreiben. In seiner unmittelbaren Nähe beruhigte ich mich langsam. Nach einer Weile stillen Schluchzens in seinen Armen hörten die Tränen langsam auf. „Danke.“ Ein kleines Wort, es reichte noch lange nicht, um ihm all meine Dankbarkeit zu zeigen. „Wofür denn?“ Sein gutmütiges Lächeln schien so warm wie die durch das Blätterwerk strahlenden Sonnenlichter. „Du musst dich doch bei mir für nichts bedanken.“ „Doch“, sagte ich mit meiner trotzigsten Stimme, die Tränen von vor einigen Minuten schienen wie weggeblasen, zurück ließen sie nur das pure Glück, in seiner Nähe zu sein. „Nein“, erwiderte er entschieden. Danach öffnete er die Autotür. „Äh, wie was?!“, rief ich völlig irritiert aus, als er mich erneut auf seine Arme nahm und mich heraustrug. Ich klammerte mich krampfhaft an ihn, es kam zu überraschend. Wieder war da nur sein Lächeln, dass mich aus der Fassung brachte. Seine schwungvoll federnden Schritte bewegten sich schnell nach vorne, er hatte ein fröhliches Lächeln auf dem Gesicht. Als ob es nichts Schöneres gab, als mich durch die Gegend zu tragen. „Wohin geht denn die Reise?“, wollte ich schließlich wissen, nachdem wir eine kurze Zeit gegangen waren, beziehungsweise er mich durch die Gegend getragen hatte. „Das siehst du jetzt!“, sprach er und nickte mit seinem Kopf nach vorne. Ich drehte mich in die besagte Richtung, und das, was ich sah, würde ich mein Leben lang nicht vergessen wollen. Ein zartes Grün zog sich durch die Landschaft, am Horizont traf es auf ein ebenso zartes Blau. Der Himmel war durchzogen von feinen Wolkengebilden, die ihr dezentes Muster in den Himmel malten. Blumen, oftmals scheinbar wahllos aneinander geworfene Häufchen, zierten das Grün der Weise, sie vermischten sich zu einer Einheit, in der man doch jede einzelne Blüte und jeden Grashalm sehen konnte. Und ganz im Hintergrund konnte man die Grenze dieser Weite erkennen, schwach zu erkennende, blaue Schatten mit weißen Spitzen ragten vom Horizont empor. Er kannte wirklich all meine liebsten Landschaften, zu denen auch eine Bilderbuchwiese gehörte. Mutter hatte sie auch sehr geliebt, wenn nicht sogar mehr als ich selbst. Bei dem Gedanken an sie zuckte ein Stich der Trauer durch meine Brust. „Gefällt es dir?“, hörte ich ihn in mein Ohr flüstern, sein warmer Atem kitzelte ein wenig. In seiner Stimme klang ein Hauch Besorgnis mit. Er musste meinen von Trauer verschleierten Blick bemerkt haben. Er wusste, dass ich auch einige schmerzliche Erinnerungen mit solch einem Ort verband. „Es ist okay“, sagte ich und drückte ihn so gut es in meiner jetzigen Pose ging. „Es ist ja dennoch der Ort, von dem ich immer geträumt hatte. Und es ist auch der einzige Ort, an dem ich sie ganz nah spüren kann.“ Er lächelte. Da äußerte ich eine mir persönlich am Herzen liegende Bitte: „Lässt du mich jetzt vielleicht herunter?“ James grinste spitzbübisch, rief: „Nein, noch nicht!“, und fing dann an, mich wie ein spielendes Kind durch die weite Wiesenlandschaft zu tragen. Er warf mich teilweise sogar ein wenig in die Luft, ehe ich wieder in seine Arme plumpste. So ausgelassen hatte ich ihn noch nie erlebt, also konnte ich ihm gar nicht böse sein. Ich fing an zu lachen, woraufhin er mit seinem in meiner Seele immer wieder klingendem Lachen einstimmte. Ich liebte es, wenn er lachte. Es war ein schöner Tag. Nachdem er sich ausgetobt hatte und sich schließlich erschöpft auf das weiche Gras mit seinen bunten Sprenkeln gelegt hatte, setzte ich mich neben seine liegende Gestalt. Er hatte die Augen geschlossen. Ich beobachtete gedankenverloren sein Gesicht. Er hatte ein hübsches Gesicht mit makelloser Haut. Immer, wenn ich in seine Augen sah, war da ein klarer Blick, der sich für die Welt zu interessieren schien. Alles an ihm wirkte perfekt. Er war stets freundlich und höflich, aber dennoch mit einer gewissen Distanz. Ihm gelang alles, was er anfing, man konnte fast sagen, alles was er anfasste, wurde zu Gold. An diesem Punkt wusste ich, dass ich übertrieb. Ich wollte ihn doch nicht so sehen, ihn als einen Menschen betrachten, der Fehler machte. So hatte er es sich gewünscht. James' Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Der Wind frischte auf, wirbelte wahllos Blätter durch die Gegend. Er fuhr durch meine Haare, ich sah in die Richtung, aus der er gekommen war. Nachdenklich betrachtete ich die Berge, die in weiter Ferne lagen. Diese Berge waren die einzige Einschränkung der weiten Landschaft, die ich sah. Lange blieben wir regungslos an Ort und Stelle, genossen diesen Moment der Zweisamkeit. Ich mit offenen Augen und Blicken, die der Landschaft gewidmet waren und er mit geschlossenen Augen. Und obwohl wir uns nicht ansahen, spürten wir den jeweils anderen, spürten dessen Wärme, dessen bin ich mir sicher. Wie so oft in dem vergangenem Jahr dachte ich darüber nach, wie unsere Zukunft aussehen würde. Ich bin durch das viele Nachdenken irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass wir viel Zeit brauchen würden, doch das machte mir nichts. Solange er nicht von mir fortging. Und, zugegebenermaßen, ich war noch nicht bereit... An dieser Stelle brach ich mit überhitztem Kopf meinen Gedankengang ab. Doch nach einer Weile durchbrach ein lautes Piepsen die angenehme Stille. Verwundert und verwirrt sah ich mit hoffentlich wieder hautfarbenem Gesicht James an, der entschuldigend aufblickte und dann den Anruf entgegen nahm. Ich war ehrlich überrascht, dass er heute angerufen wurde. Ich hatte angenommen, dass er sich für heute abwesend gemeldet hatte. Es musste also etwas sehr Wichtiges sein, so vermutete ich jedenfalls. Während er telefonierte, nutzte ich diese unbeobachteten Augenblicke weiter dazu aus, ihn zu anzuschauen. Da sah ich, wie sein Gesicht sich plötzlich veränderte. Der Ausdruck in seinen Augen, er wurde... bestürzt, betrübt, erschrocken, fassungslos. Das Gespräch dauerte noch etwas länger, danach verabschiedete er sich und kam wieder zu mir zurück. Er taumelte ein wenig, doch körperlich konnte ihm niemand zugesetzt haben, schließlich hatte ich ihn doch die ganze Zeit im Blick gehabt. Hastig lief ich zu ihm, jederzeit bereit, ihn zu stützen. „Was ist passiert?“ Ich legte ihm eine Hand auf seinen Arm, aber er hatte immer noch einen benommenen Ausdruck im Gesicht. „Was?“ Er schien mich erst jetzt gehört oder gar bemerkt zu haben. Schnell wurde er sich seiner Situation bewusst und legte meine Hand sanft zur Seite, lächelte traurig. „Mir geht es gut, nur... meinem Vater nicht so. Genauer gesagt liegt er im Sterben.“ Nun trat auch in meine Augen dieser bestürzte Ausdruck. Sein Vater war zwar immer gegen unsere Beziehung gewesen, doch das hatte ich ihm auch nicht gewünscht. „Naja, jedenfalls...“ Er kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. „Ich muss nun zu ihm.“ Zuerst nickte ich nur verständlich, doch dann wurde mir die Tragweite dieser Worte bewusst. Er merkte es wohl auch, nahm mich in den Arm, drückte mich und sprach: „Sei nicht traurig, ich werde so schnell es geht wieder zu dir kommen, okay?“ Es kullerten einige Tränen, trotz seiner Worte und trotz der besonderen Situation, in der wir uns befanden, und rollten an meinen Wangen hinunter. Ich klammerte mich an ihn, wollte nicht, dass er mich verlässt. Nicht jetzt. Nicht heute. Es war nicht fair. „Bitte, es ist sein Wunsch gewesen.“ Er streichelte zärtlich mir über den Kopf. „Aber... Was ist mit dir? Tu doch auch endlich mal, was du willst!“ „Das mach ich doch, jetzt gerade.“ Ein sanftes Lächeln strahlte von seinem Gesicht, doch es wirkte auch traurig. Vorsichtig löste er meine Arme von seinem Körper und griff in seine Hosentasche. „Ich wollte es dir eigentlich später geben, aber da dies scheinbar nicht mehr möglich ist...“ Er holte ein kleines Holzkästchen hervor. Als er es öffnete, war in weißem Samt eine Vertiefung. Fast hatte ich den gläsernen Ring übersehen, der in diesem Kästchen eingebettet war. Er funkelte in der Sonne, reflektierte einige Strahlen. Er war ein Zeichen dafür, wie durchsichtig unsere Bindung noch war, doch gleichzeitig zeigte er auch, dass sie, durch das Symbol eines Rings, ebenso unendlich war wie ein Kreis. Erneut brach ich in Tränen aus, er nahm meine Hand und steckte mir den Ring an. Er passte perfekt. „Es kommt dich gleich jemand abholen, um dich nach Hause zu bringen, in Ordnung?“ Ich nickte, immer noch traurig und zur selben Zeit zu Tränen gerührt. Als er mir schließlich einen sanften Kuss auf die Stirn gab, fühlte es sich an wie der Hauch eines warmen Windes. „Ich komme wieder“, flüsterte er noch, ehe er sich von mir entfernte und mir zuwinkte. In der Sonne blitzte das Gegenstück meines Ringes funkelnd mit der Schönheit von zartem Glas. James Schweren Herzens schritt ich durch die weite Wiesenlandschaft. All die Leichtigkeit war mit diesem Anruf von mir gewichen, Trauer machte sich in meinem Herz breit. Der Tag hatte fast all seinen Zauber verloren, wäre Yakino nicht da gewesen, doch nun musste ich ihn verlassen. Ich eilte in Richtung Auto, achtete nicht auf all die Wunder der Natur, die an mir vorbeirasten. In meinen Kopf pendelten zwei Gedanken hin und her. „Vater liegt im Sterben“ und „Ich darf Yakino heute doch nicht alleine lassen!“ Sie waren im Kampf, strebten es an, den jeweils anderen auszustechen. Ich war versucht zu schreien, es würde mich sowieso niemand hören können, doch meine Erziehung, die mir in den Knochen und in allem, was ich tat, saß, ließ es nicht zu. Nur eines hatte ich selbst bewusst entschieden. Yakino zu lieben. Als ich an ihn dachte, fühlte ich mich ein wenig freier, doch der Schatten über meiner Fröhlichkeit blieb. Ich startete das Auto ohne einen Blick nach hinten zu riskieren, sonst würde ich vielleicht sofort zurückrennen, um bei ihm zu bleiben. Nach der langen Autofahrt mit Hast und ohne Yakino kam ich bei dem Flughafen an, der am nächsten war. Es stand auch schon ein Flugzeug, welches fertig zum Abflug stand und mich zu Vater im fernen England bringen sollte. Ob es wirklich richtig war, ihn alleine zu lassen? Das Flugzeug stand außen und war ein kleineres, aber umso wendigeres und schnelles Modell. Es leuchtete in grellem Weiß wie eben erst gewartet, oder ist es gar ein ganz neues Flugzeug? Man hatte eine Treppe zum Eingang gefahren. Ich stieg die Stufen zum Flugzeug empor. Am Eingang verbeugten sich Stewardessen, die , so vermutete ich, eigens für dieses Flugzeug angestellt worden waren, und ich nickte einfach nur freundlich lächelnd. Ich lebte immer noch in prunkvollen Welt der schillernden Sterne auf der Erde. Ein Steward führte mich zu meinem Platz im Flugzeug. Die Auswahl war nicht besonders groß, es gab nur vier Plätze, dennoch gab es alles, was das reiche Herz begehrte und von dem ein ärmeres Herz nur träumen konnte. Einen großen Fernseher, mit der höchsten Auflösung, die im Moment für diese Größe auf dem Markt war, ein Billardtisch und noch anderen Kram, doch benutzen tat ich nichts. Auch die Sitze ähnelten Massagesesseln und hatten einige Extrafunktionen, die mein Vater liebte. Das Flugzeug startete ohne weitere Probleme, man reichte mir einige Drinks, aber ich wollte nichts davon. Ich schwebte in Gedanken immer noch in den glücklichen Stunden mit Yakino und nicht auf einem Flug nach England zu meinem im Sterben liegendem Vater. Irgendwann musste ich wohl eingenickt sein, denn als ich durch das Herabsenken des Flugzeuges kurze Zeit kleine Atembeschwerden hatte, wachte ich in dem Moment auf, wo das Flugzeug gerade landete. Ich erinnerte mich dunkel an meine Kindheit, die nicht ganz so prunkvoll wie heute war, aber auch damals hatte Vater seine Agentur JulyShine für Models gehabt. In diesen Zeiten hatten wir noch öffentliche Transportmittel genutzt – ich fragte mich immer noch, wieso man für ein ungefähr fünfjähriges Kind ein First-Class Ticket kaufen musste – und waren immer noch ziemlich lange nach der Landung auf dem Platz herumgekurvt. Dies war jetzt nicht der Fall. Schon nach kurzer Zeit bedeutete man mir aufzustehen und geleitete mich zur Tür hinaus. Draußen erwartete mich erneut eine Schar Diener und nun auch Bodyguards, die mich in das Anwesen meiner Familie brachten. Dies war ganz im Stile meines Vaters gehalten, der kleine Details und Perfektion liebte. Nichtsdestotrotz lebte er streng religiös, weshalb er meine Beziehung zu Yakino mehr als missbilligte, er hasste Yakino regelrecht. Vater wollte mir ebenso eine Erziehung zukommen lassen, doch Mutter hatte dies verhindern können. Sie und Vater hatten sich kennengelernt, als sie beide studiert hatten. Sie war ein einfaches Mädchen mit einem wunderschönem Lachen gewesen und war es immer noch, auch wenn sie nun eine ältere Dame war. Vater musste inzwischen 62 Jahre alt sein, leitete den Großteil seiner Agentur immer noch größtenteils selbst. Er war nicht wirklich alt, wieso musste er jetzt sterben? Erst jetzt, so nah bei ihm, machte ich erneut diese Trauer breit, die sich um mein Herz klammerte. Bitte nicht... Während ich so über Vater und seinen wahrscheinlich nicht vermeidbaren Tod nachdachte, schritten ich und meine Begleiter um mich herum immer näher an Vaters Zimmer. Ich hatte es nie zu Gesicht bekommen, allein Mutter und Vater selbst hatten Zutritt zu diesem Zimmer. Nun sollte ich also dieses geheime Zimmer bei seinem Tode sehen, was für eine Ironie. Ein Diener löste sich aus der Schar, die anderen blieben stehen. Er führte mich weiter den Gang entlang, durch eine weitere der endlos vielen Türen hindurch, ehe er sich verneigte und mich vor Vaters Tür alleine ließ. Jetzt, wo ich wirklich hier stand, zitterte ich leicht. Die Traurigkeit, die ich die ganze Zeit unterdrückt hatte, strömte aus kleinen Lecks im Behälter. Mit mulmigem Gefühl in der Magengrube klopfte ich an der Tür. „Herein“, hörte ich leise die bedrückte Stimme von Mutter. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Es überraschte mich sichtlich. Es war ein ganz schlichtes Zimmer mit den nötigsten Möbeln aus normalem Holz, einfarbigen Wänden und einem großem Fenster. In seiner Mitte war ein Himmelbett mit weich aussehenden Decken und darin eine kümmerliche Gestalt, Vater. Mutter saß neben ihm, Tränen standen ihr in den Augen. Betroffen von diesem Anblick, der sich mir bot, ging ich vorsichtig näher an Vater heran. Bisher kannte ich nur das Bild vom Vertreter der katholischen Kirche, der es trotzdem prunkvoll liebte, aber es ließ sich nicht mit ihm jetzt, in diesem Moment vereinbaren. „Hallo“, begrüßte ich die beiden mit leise. Mutter stand auf, nachdem sie noch einmal über Vaters schlaffe Haut gestrichen hatte, und ließ uns beide alleine. Unfähig etwas Weiteres zu sagen, setzte ich mich auf den Stuhl, auf den Mutter eben gesessen hatte. „Na, erstaunt, mein Sohn?“ Vaters Stimme war alt und kehlig, sie klang überhaupt nicht mehr so, wie vor einigen Tagen. Sein Zustand hatte sich in den wenigen Tagen, in denen ich nicht da war, dramatisch verschlechtert. „Dein Vater kann auch ein bescheidenes Leben führen, jawohl.“ Ein tiefes, altersschwaches Lachen. Viele, kleine Lachfältchen durchfurchten sein Gesicht, doch dann wurde er wieder ernst. „Mein Sohn, du bist der einzige Erbe, den ich habe. Ich möchte gerne, dass du die Agentur übernimmst und genauso erfolgreich weiterführst, jawohl?“ Selbst jetzt ließ ihn seine Angewohnheit 'jawohl' an das Ende eines fast jeden Satzes zu setzen nicht los. Ich nickte still und drückte seine schlaffe, schwache Hand. „Sohn?“ „Ja?“ „Ich habe noch einen Wunsch an dich, jawohl. Erfüllst du ihn mir?“ Ich erlebte die folgenden Tage wie im Fieberwahntraum, aus dem ich dringend erwachen wollte. Nachdem ich ihm das Versprechen gegeben hatte, mich mit einer gewissen Lily Maiden zu verheiraten, kam Mutter wieder hinein, sie sah nicht glücklich aus, als sie mich und Vater sah. Sie ahnte wahrscheinlich, was für ein Versprechen er mir abgenommen hatte. Trotzdem war sie nicht weniger über seinen Tod traurig, vielmehr war sie es, die die meisten Tränen vergoss. All die falschen Trauerbekundungen, die wahren Tränen meiner Mutter, die fehlende Nähe Yakinos, all das Schwarz um mich raubte mir meine letzten Nerven und in gewisser Weise auch fast mein letztes Glück. Ich versuchte freundlich zu bleiben, was mir stets mehr oder minder gelang. Nachdem Vater den Weg in sein Grab gefunden hatte, grübelte ich tagelang darüber nach, ob er sich in diesem goldenem Grab wohlfühlte. Wie gerne hätte ich ihm ein einfaches geschenkt, doch dies ging nicht. Viel zu sehr würde es den Ruf der Julys gefährden. Ob ich ihn irgendwann von vertrauensvollen Gärtnern heimlich umgraben lassen sollte? Die Agentur hatte ich auch übernommen. Es war viel Arbeit, aber sie war mir vertraut, da ich sie auch schon von vorher kannte, wenn Vater mir mal etwas über sein geliebtes Business beibringen wollte. Nun trug ich die volle Verantwortung und zeitweise häufte sich die Arbeit ins scheinbar Endlose. Ebenfalls fing ich an Lily Maiden zu umwerben. Ich tat es nicht gerne, doch ich hatte es versprochen. Ich sehnte mich nach den freien Tagen in Japan bei Yakino zurück. Yakino Nachdem er mich alleine gelassen hatte, hatte ich mich auf die Wiese gelegt und gedankenverloren in den Himmel gestarrt. Meine Gedanken waren voll von ihm in allen Variationen, doch ebenso machte ich mir um die Verfassung seiner Mutter Sorgen. Ich kannte sie nicht sehr gut, doch sie schien mir aus den Erzählungen von ihm eine sehr nette Person zu sein. Im Fernsehen hatte ich sie einige Male gesehen und jedes Mal hatte sie ein freundliches Lächeln auf. Die beiden waren sich ähnlich, er schien nach ihr zu kommen. Sie hatte, so erzählte James es mir einmal, ihren Ehemann trotz seiner manchmal doch recht herrischen Art, die er häufig in der Öffentlichkeit zeigte, sehr, sehr gern. Ich wünschte mir wirklich, dass er nicht starb. Er zeigte mir zwar immer seine Abneigung klar und deutlich, doch war er bestimmt ein guter Mensch. Auch seinen lieben Menschen um ihn herum zu liebe, unter denen auch mein ganz besonderer Mensch war. Die Wolken flogen vom Wind gejagt über den sonst strahlend blauen Himmel. Ich vermisste ihn. Es zog. Und zog. Das Dröhnen eines landenden Hubschraubers zerriss die einsame Stille, in der ich ausgeharrt hatte. Ich verließ den Ort, den er mir gezeigt hatte. Mit jedem Meter vermisste ich ihn mehr. Jeden Tag wartete ich auf eine Nachricht von ihm, irgendetwas von ihm. Mit jedem Tag, der verstrich, wurde ich von immer mehr Zweifeln geplagt, Trauer umhüllte mich mit seinem dichtem Netz, durch das ich nicht mehr klar sehen konnte. Ich wartete die ganze Zeit. Ich versuchte mich mit Spaziergängen, Arbeit, Lernen oder Fernsehen abzulenken, doch immer, wenn das Wort 'July' auch nur im Ansatz fiel, schaltete ich weg, wollte nicht durch diesen Weg mehr über seine Lage erfahren. Mir war so, als ob ich nicht mehr leben möchte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)