Alles oder nichts von canina ================================================================================ Kapitel 19: Entscheidungen treffen und wieder verwerfen ------------------------------------------------------- «Jede andere würde jetzt sagen, nein, du sollst nicht, aber ich sage dir: Tu, was DU für richtig hältst. Niemand wird dich darin aufhalten können. Wenn du es für richtig hältst, dich für John zu opfern, dann tu es, aber wenn du es für richtig hältst, dein Leben weiter zu leben, dann tu es. Es wird dich niemand für deine Entscheidung tadeln oder loben. Denn es ist deine Entscheidung und nur deine!», antwortet Molly dem Mädchen. Lara denkt nach, lässt die Worte von Molly auf sich wirken. Nach einigen Minuten schaut sie fast beiläufig auf die Uhr und erschrickt. Es ist schon fast sechs und um halb sieben hat sie noch mit einer Freundin abgemacht! Schleunigst verabschiedet sie sich von Molly mit einer Umarmung und rennt aus der Pathologie. Sie rennt raus auf den Parkplatz. Es hat angefangen zu regnen, in Strömen laufen Bäche die Strasse hinunter, Lara ist sofort patschnass. Sie sucht und sucht, doch kann sie nirgends das Auto ihrer Mutter ausmachen. Lara geht wieder rein, fragt die Dame am Empfang, ob sie etwas gesehen hat. «Deine Mutter? Die ist verstört aus dem Krankenhaus gegangen, hat sich in ihr Auto gesetzt und ist losgefahren», antwortet die Frau. Lara wird wütend. Was erlaubt sich ihre Mutter da? Sie einfach so hierzulassen ist ja die Höhe! Lara bedankt sich und geht wieder raus in den strömenden Regen. Jetzt muss sie noch mit dem Bus nach Hause! Sie geht zur Haltestelle. Zum Glück muss sie nur ein paar Minuten warten, bis schon der nächste Bus kommt. Er ist vollgestopft mit tropfenden Menschen. Alle haben einen mürrischen Gesichtsausdruck. Die nassen Menschen bewirken, dass sich die Scheiben beschlagen, es stinkt nach feuchten Haaren und sogar nach nassem Hund. Lara sieht sich um und tatsächlich liegt weiter vorne ein kleiner, brauner Hund. Tropfnass ist auch dieser. Lara überlegt, denkt nach, über das, was heute passiert ist. Ihr Vater, John Hamish Watson, liegt im Koma und sie ist die einzige, die ihn retten kann. Das hat sie mitbekommen. Doch zu seiner Rettung muss sie ihm ihr Herz überlassen. Das heisst, sie werde sterben, ausser sie würde noch sein Herz für einige Tage oder Wochen bekommen. Doch die Chance mit seinem Herz weiterzuleben, ist gering. Was soll sie nur machen? Sie hat ihren Vater vom ersten Augenblick an geliebt, würde alles für ihn tun, doch liebt sie auch ihr Leben. Wäre es aber nicht egoistisch, wenn sie ihr Herz für sich behalten würde? Wäre sie aber auch stark genug, ihr Leben für ihn zu geben? Ja, das wäre und ist sie. Obwohl sie ihn nicht richtig kennt, obwohl sie ihn nie hat Sprechen hören, würde sie alles für ihren totgeglaubten Vater tun. Aber kann sie es, kann sie all ihre Lieben, ihre Mutter, ihre beste Freundin, einfach so alleine lassen? Nun, bei ihrer Mutter könnte sie es wohl, nachdem, was sie über sie herausgefunden hat. Doch bei ihrer Freundin muss sie es sich noch einmal sehr gut überlegen. Ihre beste Freundin Selina kennt sie nun schon seit ungefähr 12 Jahren, also eigentlich schon ihr ganzes Leben. Plötzlich hält der Bus an und Lara stolpert vor Schreck ein paar Schritte nach vorne. Hier muss sie aussteigen. Sie sieht ihre Freundin schon winken. «Lara! Schön dich zu sehen! Wie geht es dir?», fragt sie. «Nun, abgesehen davon, dass ich heute sehr viel erlebt habe, gut. Und dir?», lächelt Lara zurück. «Ja ja, auch gut. Was hast du denn erlebt? Sag schon, hast du einen Jungen kennengelernt, na?», zwinkert Selina. Als dann aber Lara erzählt, was heute passiert ist, weiten sich die Augen ihrer Freundin erschrocken. «Was? Und er ist wirklich dein Vater?», fragt sie, nachdem Lara ausführlich alles geschildert hat. «Ja» «Und er liegt im Koma und du kannst ihn retten, indem du dich für ihn opferst?» «Mhm.» «Aber... Gibt es denn keine andere Lösung, bei der ihr beide leben könnt?» Selinas Stimme wirkt immer verzweifelter. Ist ja auch klar, denn sie ist gerade drauf und dran ihre beste Freundin an den Tod zu verlieren! Selina weiss, dass Lara auch schon mit dem Gedanken gespielt hat, ihr Leben einfach so aufzugeben, alles hinzuschmeissen. Deshalb hat sie nun höllische Angst um ihre Freundin. Aber sie weiss auch, dass sie ihre Freundin in allem unterstützen sollte, was diese tut, egal was es ist. Das tun Freunde so. Aber sie kann doch nicht einfach tatenlos zusehen, wie sich ihre Freundin in die kalten Finger des Todes begibt? «Lara!», ertönt plötzlich eine Männerstimme. Die Angesprochene dreht sich um und erkennt den Mann, dessen tiefer Bariton durch die Strassen hallt. Es ist Sherlock. Er kommt mit wehendem Mantel näher und hat ein trauriges Gesicht. Die Traurigkeit macht ihn einige Jahre älter, sie lassen den Mann aussehen, als hätte er schon alles Leid der Welt gesehen. Nun hat er ja auch irgendwie. Sein Freund liegt nun schon einige Jahre im Koma und es besteht keine Chance auf Hoffnung. Fast keine. «Mister Holmes? Was tun Sie denn hier?», fragt Lara vorsichtig, als der Detective vor ihr steht. «Das tut nichts zur Sache. Ich habe mitgekriegt, dass du auch befallen bist.» «Ja, bin ich.» «Du könntest ihn also retten.» Nur eine Bemerkung, nichts weiteres. Keine Aufforderung, kein Flehen, nichts liegt in der Stimme, als der Lockenkopf diesen Satz sagt. Lara nickt nur und das ein Schweigen setzt ein. Jeder hängt seinen Gedanken nach, doch eine Frage schwebt in der Luft, die die Luft knisternd macht. Die Frage, ob Lara es machen wird, ob sie dem Detective sein Leben, seine Liebe wieder zurückgeben wird. Die Frage braucht sofort eine Antwort, doch niemand sagt ein Wort. Lara ringt mit sich, weiss nicht, was sie tun soll. Der traurige Detective tut ihr leid, es tut ihr im Herzen weh, diesen Mann so zu sehen. Er steht nämlich geknickt da und betrachtet mit einem traurigen Blick den Boden. Dennoch hat er seine Hände in die Denkposition versetzt, doch sieht es so eher aus, als würde er beten. Beten um John, dass er wieder aufstehen würde und hier hinkäme. Dass er ihn küssen würde, dass er sagen würde, dass alles gut werden wird. Dass er seiner Tochter sagen würde, dass sie sich nicht bräuchte umzubringen. Sherlock hat die kleine nämlich irgendwie gern, sie erinnert ihn an John. In letzter Zeit klammert sich Sherlock an jede noch so kleine Erinnerung an seinen Freund. Langsam vergisst er nämlich, wie sich seine Stimme angehört hat, wie sein Lächeln ausgesehen hat. Sherlock versucht das Ganze angestrengt aufzuhalten, doch kann er es nicht, er ist einfach zu schwach. Genau das macht ihn aber enorm wütend! Schwächer zu sein, als etwas, als eine Krankheit, macht ihn zornig. Auch wenn er es sich nie eingestehen würde, sein Bruder war immer stärker als Sherlock. Das brachte den Detective immer wieder auf die Palme, verstärkte den Hass nur noch mehr, der zwischen ihnen steht. Doch aus diesem Hass wurde wieder Bruderliebe. Zwar nicht sehr stark, doch es reichte immerhin zu einer Versöhnung der beiden. «Ihnen fehlt er, nicht wahr?» Es ist nur eine rhetorische Frage, dennoch antwortet der Lockenkopf: «Ja, sehr.» «Mir auch. Irgendwie», flüstert sie. Selina steht währenddessen neben den beiden und sieht dem ganzen Geschehen interessiert zu. Was passiert als nächstes? Und warum kennt Lara den besten Detective der Welt? «Ich bin übrigens Sherlock», sagt der Lockenkopf plötzlich. Doch kein Lächeln huscht über sein Gesicht, keine freundliche Geste wird von ihm gemacht. Nur diese vier Worte, beiläufig, als wären sie nur eine Bemerkung am Rande. Dabei hat der Detective dem Mädchen gerade das Du angeboten! «Ok, Sherlock.» Genauso beiläufig, genauso emotionslos. Doch innerlich brodelt es in Lara. Ihre Gedanken schwirren in ihrem Kopf herum, ihre Gefühle spielen verrückt. Was soll sie nur tun? Ihren Vater retten? Dann wäre Sherlock wieder glücklich, ihre Mutter auch. John würde wieder leben, ihr Vater wäre wieder am Leben. Doch sie wäre tot, ihr Leben Geschichte. Selina wäre todtraurig, Allie wohl glücklich. Sie will ihre Tochter ja nicht, so wie es aussieht. Doch dann kommt Lara die andere Möglichkeit in den Sinn. Was wäre, wenn sie am Leben bleiben würde und John sterben lassen würde? Ihr Vater wäre dann tot, von seinen Leiden erlöst. Sherlock würde sich wohl das Leben nehmen, ihre Mutter wäre wohl unglücklich bis an ihr Lebensende. Selina wäre aber froh und Lara würde am Leben bleiben. Fazit: Irgendjemand muss einfach sterben und bei beiden Seiten gäbe es traurige Menschen. In beiden Fällen aber würde sie ihren Vater niemals kennenlernen, könnte niemals mit ihm sprechen. Was soll sie nur tun? Was soll sie nur tun? Diese Frage immer wieder in ihrem Kopf wiederholend steht sie da. Es fängt wieder an zu regnen, doch niemanden der drei interessiert das. Plötzlich verabschiedet sich Sherlock mit einem schnellen „Bis bald“ und geht. Lara sieht ihm nachdenklich nach, bis Selina sie aus ihrer Trance mit einem lauten «Lara», herausholt. «Ehm, ja? Sorry, war gerade in Gedanken», antwortet sie. «Hab ich gesehen. Ich muss nach Hause, tut mir Leid.» Die beiden Mädchen verabschieden sich ausgiebig voneinander und jede geht ihren Weg nach Hause. «Hi Mama», ruft Lara mit einer gespielten Freundlichkeit, als sie nach Hause kommt. War ja klar, sie ist nicht zu Hause. Lara lässt sich ein Bad ein, macht ihren CD-Spieler an und legt sich ihre Lieblings-CD ein. Es ist „Sleeping sun“ von Nightwish. Mit voller Lautstärke und in einem warmen Bad lässt es sich am besten überlegen. Also legt sich Lara genüsslich in das warme Wasser und hört den Klängen ihrer Musik zu. Währenddessen überlegt sie sich, was sie tun soll, wie sie sich entscheiden soll. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)