Die Geschichte über den Ursprung der Weihnacht von Shizana (Animexx-Adventskalender 2013) ================================================================================ Irgendwo in den nördlichen Zittergipfeln ---------------------------------------- Kühle Windzüge, seichter Schneefall. Der Horizont lag dämmernd in einem graudurchzogenen Violett. Ein leises Knistern lag in der Luft, als die Gruppe Reisende die beiden Wachposten passierte. Bewaffnet mit Schwert und Schild in ihren rot-silbernen Rüstungen sahen die beiden Männer lediglich kurz auf und lächelten zum Gruß. Es gab keinen Anlass für sie, sich zu erheben und feindliche oder nur misstrauische Züge zu zeigen. Der Weg unter ihren Sohlen war ausgetreten und vom andauernden Schneefall aufgeweicht. Fuß- und Hufspuren verliefen in breite Radstriemen von ein- und ausgefahrenen Kutschen. Es hatte etwas Heimisches; etwas, das ihnen eine unsichtbare Last von den Schultern nahm und freundlich willkommen hieß. In dem niedrig liegenden Tal, welches sie soeben erreicht hatten, waren sie nicht die ersten Rastsuchenden. Auf die verschiedenen Höhen verteilt standen Fuhrwagen zu Fuße der Bergketten abgestellt, die das Tal wie eine schützende Mauer umgaben. Geschützt durch Planen und gesichert mit Seil und Holzblöcken an den Rädern würden sie den Sammelplatz heute sicherlich nicht mehr verlassen. Unweit von den Fuhren waren Zelte zwischen den wenigen Kiefern errichtet worden, die gesund und kräftig in die Höhe ragten. Schlicht und einfach aus Leinen geschnitten oder aus Planen gebunden, durch Stöcke und Schnüre gehalten und mit Fellen überworfen, einige größer und manche kleiner. Hütten gab es hier keine. Die Dolyak – große, büffelartige Zugtiere mit langem, dichtem Fell und vier Hörnern, die zur gefährlichen Waffe werden konnten – waren losgebunden und zur geselligen Runde in die eingezäunten Pferche geführt worden. Dort ruhten sie von ihrem schweren Tageswerk, versorgt von ihren Menschen mit Wasser und Stroh. Mittig des Platzes loderte ein großes Feuer. Dessen dunkler Rauch, welcher weit und dicht hinaufstieg, war schon aus der Ferne zu sehen gewesen. Auf den Holzblöcken rundherum hatten sich einige der hier rastenden Kaufleute mit ihren Familien niedergelassen und wärmten sich durch Suppe und Tee. Später an diesem Abend würde gewiss, wie üblich, ein großer Kessel oder ein frisch erlegtes Spanferkel über den Flammen aufgestellt werden, um die Gesellschaft zu stärken. Dieses Tal hielt sich bereits seit vielen Jahren wacker, um Durchreisenden eine Zuflucht zu gewähren. Die Jakbiegung war ein bekannter Rastplatz für Abenteurer, aber auch ein wichtiger Zwischenposten für Handelsleute aller Art, die zwischen Ascalon und Kryta pendelten. Nachschübe hatten hier zumeist ihre letzte Gelegenheit, Eskorten anzuheuern und ihre Vorräte aufzustocken, bevor es talauf- oder -abwärts auf lange Strecken weiterging. Die Gruppe hatte noch nicht ganz die Platzmitte erreicht, als eine junge Frau mit schmalen Gesichtszügen auf sie zukam. Wie die meisten hatte auch sie sich ein Fellponcho über die schlichte Gerberkluft geworfen, um sich vor der vorherrschenden Kälte in den Zittergipfeln zu schützen, die zu Zeiten des Schneefalls nur noch unerbittlicher war. „Willkommen in der Jakbiegung“, grüßte sie samten und schenkte der Gruppe ein warmes Lächeln. „Seid Ihr auf der Durchreise? Mein Name ist Sadira Powell. Ich empfange Ankömmlinge. Wenn Ihr einen Platz zum Rasten sucht, führe ich Euch gern herum.“ „Wir sind Abenteurer auf dem Weg nach Kryta.“ Aus der Gruppe, bestehend aus sechs Personen, trat die größere der beiden Frauen nach vorn. Die elonische Mesmerin mit dem kurzen, schwarzbraunen Haar und den kristallblauen Augen legte sich eine schwarz behandschuhte Hand an die Brust zum Gruß. „Mein Name ist Aurelia Admirabilis. Das sind meine Gefährten.“ Sie machte eine Geste zu dem Rest der Gruppe zu ihrer Seite, welche ebenfalls Gruß tat. „Wir gehören zusammen. Wir ersuchen Rast in der Jakbiegung, wenigstens für heute Nacht. Morgen ziehen wir weiter.“ Sadira nickte. „Sehr wohl, Ihr seid uns willkommen. Folgt mir bitte.“   „Pheeew.“ Begleitet von einem lauten Seufzen ließ sich der dunkelhäutige junge Mann auf einen der mit Gerbfellen überzogenen Holzhocker sinken. Erschöpft ließ er die Arme zwischen den Beinen baumeln, während er müde zu seinen Gefährten aufblickte. „Endlich sind wir da. Für heute rühre ich meinen Stab nicht mehr an und ich will keine Zwerge mehr sehen.“ „Gewöhne dich besser daran“, entgegnete die zierlichere der beiden Frauen und ließ sich auf dem Block gegenüber dem Elementarmagier nieder. Ihr Teint war blassbraun, ihre Gesichtszüge schmal. Während sie ihre Feldtasche ablegte und auf ihrem Schoß ausbreitete, um darin nach etwas zu suchen,  sprach sie weiter: „Wir werden die nächste Zeit noch viel mehr von ihnen sehen. Der Steingipfel behütet die Zittergipfel schon seit vielen Jahren und hat sich groß angesiedelt. Vor allem in der südlichen Gegend, da ist es noch viel schlimmer als hier.“ Nachdenklich zog der Magier die dunklen Augenbrauen zusammen. Der Steingipfel war eine Gruppierung von Zwergen, die im Gegensatz zu den Deldrimor-Zwergen sehr unliebsame und grobe Zeitgenossen waren. So klein sie auch waren, so grausam und starrköpfig waren sie. Einzeln mochten sie nicht sehr stark sein, eine Gruppe von ihnen konnte hingegen sehr gefährlich werden. Ihre dunklen, kupferfarbenen Rüstungen schützten sie vor Angriffen, unter den stacheligen Eisenhelmen war nie mehr von ihnen zu erkennen als ein Paar rot glühender Augen. Ihre Stimmen waren stets tief, rau und kratzig. Alles an ihnen war wenig einladend. „Ich mag sie nicht.“ Der Magier in seiner bodenlangen, mit blassvioletten Flammen verzierten Robe schüttelte demonstrativ mit dem Kopf und fuhr sich einmal über das kurze fliederfarbene Haar, welches zu einer Igelfrisur hergerichtet worden war. „Wie weit ist es denn noch bis nach Löwenstein?“ „Weit.“ „Vielen Dank für die Auskunft“, gab er grummelnd zurück und blickte zu dem Nekromanten auf. Dieser stand nur wenige Meter neben ihm und grinste über das ganze Gesicht, als er den schmollenden Gesichtsausdruck ihres Jüngsten bemerkte. „Hat vielleicht jemand eine brauchbarere Auskunft als unser guter Mortifer?“ „Wie er schon sagte“, verkündete die Mönchin ihm gegenüber. Inzwischen hatte sie gefunden, wonach sie in ihrer Tasche gesucht hatte, und stülpte sich eine weiße, mit schwarzen Flecken durchzogene Fellmütze über Kopf und Ohren. Sie überdeckte das auf halbe Höhe geschorene Haupt, wobei der weißblonde Zopf linkerseits über ihre Schulter fiel. So gut sie konnte, vergrub sie sich in ihrem Poncho. „Es ist noch weit bis dorthin.“ „Wie weit?“ „Von hier aus gerechnet“, beteiligte sich der stämmige, dunkelblonde Krieger in seiner robust gepanzerten Rüstung an der Unterhaltung und legte das Feuerholz neben der Feuerstelle vor ihrem Zelt ab, welches man ihnen zur Übernachtung zur Verfügung gestellt hatte, „dürften es noch zwei Tage sein. Einen Tag für die Durchquerung der Zittergipfel und den zweiten für den letzten Rest bis nach Kryta und nach Löwenstein.“ „Zwei Tage?!“ Der Magier stöhnte. „Ich dachte, wir hätten die Hälfte bereits hinter uns?“ „Nein. Erst, wenn wir den Borlispass überquert haben.“ Aurelia, die Mesmerin, ließ sich auf den Holzblock neben dem Jüngsten nieder. Sie überlegte. „Wenn wir das Frosttor durchqueren –“ „Davon würde ich abraten“, wurde sie von Lumir, dem Waldläufer und somit dem Letzten in ihrer Runde, unterbrochen. Er war gerade damit beschäftigt, das Holz aufzulegen und sich um das Feuer zu kümmern, das sie wärmen sollte. „Der Steingipfel belagert die Front und setzt den Zwergen zu. Wir sollten besser nicht dazwischengeraten, sicher ist sicher.“ „Also gehen wir über die Eisenrossmine.“ Aus der Halterung an ihrem Hüftgürtel zog sie einen Dolch unter ihrem schwarzen Mantel hervor und begann, auf dem Boden vor ihren Füßen einen Plan in die Erde zu zeichnen. „Das wird anstrengend. Selbst wenn die meisten Steingipfel zum Frosttor abgerufen worden sind, werden wir es noch mit den Drydern und Ettins zu tun bekommen. Unsere nächste Rastmöglichkeit wird die Eiszahnhöhle im Nordwesten der Gipfel sein, aber dort müssen wir uns vor wilden Minotauren in Acht nehmen. Im Deldrimor-Becken dann –“ „Du machst dir wieder viel zu sehr ‘nen Kopf“, klopfte Mortifer ihr auf die Schultern, als er unbemerkt hinter sie getreten war. Der fast 30-jährige hatte ein unbekümmertes Lachen auf den Lippen. Er musste sich die langen, roten Haarsträhnen seines schief verlaufenden Ponys aus den Augen pusten, da sie ihn kitzelten. „Löblich, löblich, aber vollkommen unnötig. Wir haben mit Ascaron eine starke Front, mit Lumir eine schnelle Hinterhand und wir beide bilden zusammen mit unserem guten Munk eine undurchstößliche Magiefront.“ „Wenn ein gewisser Nekromant denn mal in dieser bleiben würde“, brummte die Mönchin von der Seite. „Und unsere gute Asine hier bekommt das locker geheilt“, fuhr Mortifer unbekümmert fort, wobei er der Mönchin schelmisch zuzwinkerte. Diese schnaubte zwar und warf den Blick zur Seite, jedoch war ihr anzusehen, dass sie sich über das Lob freute. „Zwei Tage“, murmelte Munk die Worte des Kriegers vor sich hin. Laut stöhnend raufte er sich die Haare. „Verdammt! Das heißt, wir schaffen es nicht mehr rechtzeitig zurück!“ „Ich hab’s dir ja gesagt“, kommentierte Asine trocken. Sie blies sich in die Hände und rieb sie, um sich zu wärmen. „Drei Tage sind das Minimum von Löwenstein nach Ascalon. Rechne ein bis zwei Tage dazu, falls Unannehmlichkeiten die Reise behindern und weil es nun schneller dunkel wird. Das habe ich dir alles gesagt, als du den Auftrag angenommen hast.“ „Ja, aber ich hatte gedacht, dass wir es schneller schaffen würden, da wir am Ende zu sechst waren.“ „Auf dem Hinweg waren wir gut zu Fuß“, befand Mortifer und nickte überzeugt. Grinsend fuhr er fort: „Zurück wäre nicht das Problem gewesen, wenn.“ Daraufhin stieß Aurelia ein schweres Seufzen aus. Mit ernster Miene sah sie zu Munk herüber. „Wie oft haben wir dir schon gepredigt, wie wichtig es ist, dass du immer gut vorbereitet sein sollst, wenn du zu einer Mission aufbrichst?“ „Den Portalstein habe ich dieses Mal dabei!“, verteidigte er sich rasch und kramte in den Innentaschen seiner Robe. Prompt holte er den handgroßen Kristall hervor und hielt ihn vor sich in die Höhe. Das Licht brach sich schwach in ihm und ließ ihn in allen Regenbogenfarben glänzen. „Da, siehst du?“ Erneut seufzte Aurelia und schenkte dem jungen Magier einen bedauernden Blick. „Munk …“ „Ja, ich weiß …“ „Ohne die magische Schriftrolle nützt er dir wenig.“ Der Nekromant zog eine Augenbraue in die Höhe. Geknickt steckte Munk den Stein zurück an seinen Platz. „Ja, ich weiß. Ich habe vergessen, mir noch eine zu beschaffen, ehe wir aufgebrochen sind. Ich weiß, ich weiß.“ „Also ehrlich.“ Die Mönchin schüttelte ungläubig mit dem Kopf. „Eines Tages vergisst du noch deinen Stab. Wir hätten uns einfach nach Missionsabschluss zurückteleportieren können, wenn du Trantüte nicht die Schriftrolle vergessen hättest. Jeder außer dir hat daran gedacht. Aber es hätte auch nichts genützt, wenn wir dich in Ascalon zurückgelassen hätten. Als Eskorte hättest du die doppelte Zeit zurück gebraucht, mindestens.“ „Schon gut“, brummte Munk grimmig. „Ich hab’s kapiert. Ist jetzt auch egal, es ärgert mich nur. Ich wäre gern rechtzeitig wieder bei der Gilde gewesen.“ Daraufhin breitete sich Schweigen in der Gruppe aus. Lumir war es inzwischen gelungen, ein Feuer zu entzünden, und bemühte sich, die Flammen schneller auflodern zu lassen. Das leise Knacken des feuerfangenden Holzes erfüllte die drückende Stille. „Sie wird sich sicher Sorgen machen“, war es irgendwann Asine, die das anhaltende Schweigen brach. „Wer?“ Munk blickte nur vorsichtig in ihre Richtung auf. „Shizana.“ Dieses eine Wort und der Blick der Mönchin sprachen mehr, als zu erklären nötig gewesen wäre. Ihre sanften, braunen Augen wirkten verloren, während sie auf den Rücken des Kriegers und des Waldläufers ruhten, die sich hockend um das Feuer bemühten. Lichtgrün schimmerte der Totenschädel mit den beiden, gekreuzten Knochen auf dem rot-schwarz verlaufenden Stoff des Umhanges, der jedes Mitglied ihrer Gilde auszeichnete. „Die Leaderin?“ Munk folgte ihrem Blick. Unwillkürlich hob er sich seine Hand an die vergoldete Brosche am Kragen seiner Robe, mit welcher das Cape auch über seinen Schultern befestigt war. Für einen Moment ließ er das Bild ihres Gildenwappens auf sich wirken. „… Vielleicht.“ „Bestimmt. Wir haben ihr gesagt, dass wir in fünf Tagen zurück sein werden.“ Ein schweres Seufzen stieß sich aus ihr hervor und sie ließ die Schultern nach vorn fallen. „Das wäre gestern gewesen. Sie wird sich Sorgen machen, da bin ich mir ganz sicher.“ „Bestimmt trabt sie schon ganz unruhig auf und ab, während Zyntia ihr auf Schritt und Tritt folgt und sie nur noch wahnsinniger macht.“ Bei der Vorstellung musste der Nekromant lachen, doch es klang nicht mehr so unbeschwert wie die Male zuvor. „Kann ich mir irgendwie nicht vorstellen“, sagte Munk aufrichtig, verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. „Ich meine, sie und unruhig werden? Sie hat bisher nie den Eindruck auf mich gemacht, als würde sie sich wirklich jemals um etwas einen Kopf machen. Im Gegenteil: Ich habe eher das Gefühl, dass ihr alles und jeder egal ist, der keinen Nutzen für die Gilde bringt.“ Daraufhin brach der Nekromant in ein lautes, schallendes Gelächter aus. „Du irrst dich“, widersprach Aurelia ruhig, aber bestimmt. „Du unterschätzt unsere Leaderin gewaltig“, bestätigte auch Lumir und blickte über die Schulter zu den Gefährten zurück. Selbst unter der vorgebundenen schwarzen Ledermaske, die von Nasenbein bis Kinn das Gesicht des blonden Waldläufers verdeckte, blieb der Vorwurf an den jungen Magier nicht verborgen. Es stand in seinen stechend grünen Augen geschrieben. „Sie macht vielleicht nicht den Anschein“, sprach Ascaron tief und ruhig, „aber wer einmal mit ihr Seite an Seite gekämpft hat, weiß, dass stets auf sie Verlass ist. Selbst wenn sie nicht immer sofort die passende Lösung parat hat. Sie ist immer zu einhundert Prozent bei der Sache und würde eher in die Nebel gehen, als einen Gefährten zurückzulassen. Vielleicht mag man es darauf schieben, dass sie eben eine Nekromantin ist –“ „Soll ich mich jetzt beleidigt fühlen?“, scherzte Mortifer und warf ein Zwinkern in die Richtung des Kriegers. Ein Kopfschütteln war die Antwort. Ascaron trug ein mildes Lächeln auf den Lippen, wandte sich dann wieder dem Magier zu. „Du bist noch nicht sehr lange bei uns und kennst die Gilde noch nicht so gut. Aber ich bin mir sicher, wenn du die Leaderin das erste Mal in Aktion gesehen und mit ihr zusammen gekämpft hast, wirst du verstehen, was wir meinen.“ „Hm.“ Mehr war es nicht, was Munk darauf zu erwidern hatte. Er ließ die Worte auf sich wirken und versuchte, sich ein Bild dazu auszumalen, das auf die Gildenanführerin passen musste. Der Erfolg jedoch schien auszubleiben, denn seine Stirn runzelte sich bemüht, ohne dass eine Einsicht in seinen Augen abzulesen war. Nach einigen Minuten der vergeblichen Bemühungen seufzte er schließlich geschlagen. „Wenn ich dich so höre“, sagte er, „frage ich mich, wieso du kein Offizier geworden bist. Ich meine, Aurelia merkt man es ja an.“ Er ließ den Blick zu der Mesmerin schweifen. „Jepp, ohne Frage. Und bei Asine kann ich es auch noch verstehen. … Mortifer hingegen wirkt irgendwie gar nicht wie ein Offizier auf mich.“ „Tjaaa“, legte der Nekromant ein breites Grinsen auf, ohne ein einziges Anzeichen nach außen zu geben, die Beurteilung des Jünglings als Beleidigung aufgefasst zu haben. „Ich habe eben meine ganz eigenen Qualitäten, musst du wissen. Ich bin speziell!“ „Gib doch endlich zu, dass du dich nur hochgeschlafen hast“, witzelte Lumir herüber, woraufhin Mortifer laut zu lachen begann. „Klar! Wusstest du das noch nicht? Haha, nein, Spaß. Das habe ich gar nicht nötig.“ In all der Ausgelassenheit gab es nur eine Person, die sich nicht anschließen konnte. Selbst an der Mesmerin schien jeglicher Unmut verflogen, so wie sie der Gruppe ein sanftes Lächeln schenkte. Der Mönchin hingegen blieb es verloren. „Ich weiß nicht, wie ihr in unserer Situation noch lachen könnt“, verkündete sie ihren Unmut, was ungewollt schärfer aus ihr herausgekommen war, als sie es beabsichtigt hatte. Sofort verstummte das Gelächter um sie herum und fünf Augenpaare richteten sich auf sie. Sie seufzte schwer. Unwillig, ihren Gefährten in die Augen zu schauen, ließ sie ihren Blick ziellos über den Platz schweifen. „Wir sollten längst in der Gildenhalle im Warmen sitzen, zusammen mit den anderen. Stattdessen hocken wir hier, hoch oben in den Zittergipfeln, wo es auch so schon kalt genug ist, selbst wenn es nicht schneien würde. Vor übermorgen kommen wir nicht in Kryta an, weil es zu gefährlich ist, im Dunkeln zu reisen. Und bis dahin ist es ohnehin zu spät.“ „Es ist nie zu –“ „Spar’s dir!“, fiel sie dem Nekromanten ruppig ins Wort und warf einen stechenden Blick zu ihm herüber, woraufhin er verstummte. „Wir hatten den Zeitplan extra zuvor durchgekaut, nicht wahr? Um sicher zu gehen, dass wir pünktlich zurück sein werden.“ Ihr Blick schweifte hinüber zu dem Magier, welcher sofort zu Boden auswich. „Wir wollten zu Weihnachten zurück sein und mit der Gilde im Gemütlichen feiern. Morgen! Wir haben es versprochen. Stattdessen hocken wir hier und nix ist! Bei den fünf Göttern!“ Keiner sprach nur ein einziges Wort. Keiner sah den anderen an. Die Atmosphäre zwischen ihnen war drückend. So hielt es sich für mehrere Minuten, bis es schließlich Mortifer war, der sich regte und einige Schritte von der Gruppe wegtrat. „Ich besorg‘ uns was Warmes. Euch ist sicher auch kalt? Die Runde geht auf mich. Munk, Lumir, leiht ihr mir mal bitte ‘ne Hand?“   Der frühe Abend war inzwischen über sie hereingebrochen und läutete eine weitere lange Nacht ein. In der Jakbiegung war man auf die früh einsetzende Dunkelheit eingestellt. Noch ehe die Sonne gänzlich hinter den eisüberzogenen Gipfeln verschwunden war, hatte man rund um die Siedlung Fackeln entzündet, die den Eingekehrten Licht spendeten. Mittig des Platzes loderte das Lagerfeuer breiter und höher denn zuvor und nach und nach sammelten sich Handelsleute und Reisende daran, um sich zu wärmen und gegenseitig zu versorgen. Zwei Frauen verteilten aus einem großen Kessel, der über einem kleineren Feuer unweit des Sammelplatzes aufgestellt worden war, Schalen mit selbst zubereiteter Suppe unter den müden Gesichtern. Weitere Leute folgten diesem Beispiel und teilten Brot, Wurst und was sie sonst noch zu vergeben hatten mit ihren Nachbarn. Es war ein friedliches, gütiges Miteinander, wie es seit den schweren Zeiten Tyrias längst nicht mehr überall üblich war. Abseits dieser Gesellschaft saß die Gruppe Abenteurer auf ihrer kleinen Anhöhe linker Hand des Wachpostens vor ihrem zugeteilten Zelt beieinander und beobachtete stillschweigend das gemütliche Treiben weiter unten. Das fröhliche Geplauder und Gelächter war bis zu ihnen hinauf zu hören. Seit Asine ihrem Unmut Luft gemacht hatte, hatte die Gruppe nicht mehr als nötig miteinander gesprochen. Während sich die beiden Frauen um das Herrichten des Lagers bemühten, kehrte Mortifer bereits mit einem kleinen, dampfenden Tonkessel in der einen und einer alten, etwas beuligen Blechkanne in der anderen Hand  zu ihnen zurück. Ihm folgten Lumir und Munk, ausgerüstet mit einigen Fellen, Decken, Tonbechern und Broten, die sie unter den Gefährten verteilten. Man nahm es dankend entgegen, und während Ascaron noch eine Schicht Holz im Feuer nachlegte, teilte der Nekromant bereits von der würzig duftenden Suppe aus. „Hey, Leute“, richtete Munk nur leise sein Wort an die Gruppe. Wie ein Häufchen Elend saß er auf seinem Hocker, die Schultern hängend und den Becher mit der Suppe in seinen Händen, von der er kaum einen Schluck genommen hatte. „Hört mal, es tut mir leid. Nur wegen mir hängen wir jetzt hier herum und verbringen Weihnachten irgendwo in der Pampa.“ „Uhm-uhm.“ Die Mönchin schüttelte sacht mit dem Kopf. „Ist schon gut, es ist nicht nur deine Schuld. Wir sind genauso mit verantwortlich. Keiner von uns hat daran gedacht, noch einmal alle Vorbereitungen zu kontrollieren, bevor wir losziehen. Selbst wenn die Gruppe noch so erfahren ist, sollte man das eigentlich nie vernachlässigen, sonst endet man zum Schluss in einer Situation wie …“ „Kann passieren. Sollte zwar nicht, kann aber.“ Mortifer versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. „Davon abgesehen, hätte es schlimmer kommen können. Solange uns nicht die Beine abgehackt werden, kommen wir auch immer wieder nach Hause.“ „Sicher.“ „Du bist mehr um etwas anderes besorgt, nicht wahr?“, wandte sich Aurelia ihr zu. Sie griff nach einem der leeren Becher zu ihren Füßen, befüllte ihn mit dem nach Zimt und Kräutern duftenden Tee aus der Blechkanne und reichte ihn anschließend mit einem Lächeln an die Mönchin herüber. „Mach dir keine Sorgen. Ich bin mir sicher, dass Shizana und die anderen inzwischen wissen, dass wir uns nur verspäten.“ Dankbar nahm Asine den Becher entgegen, der ihr sogleich die kalten Hände wärmte, jedoch nicht, ohne der Mesmerin einen zweifelnden Blick zuzuwerfen. „Wie kannst du dir da so sicher sein?“ „Reden wir über etwas anderes. Unsere Zeit ist doch viel zu schade, um Trübsal zu blasen.“ Um sicherzugehen, dass die Gruppe ihm ihre Aufmerksamkeit entgegenbrachte, klatschte Mortifer zweimal in die Hände, ehe er seinen Blick in der Runde herumgehen ließ. „Weihnachten steht vor der Tür, wie wäre es mit einer angemesseneren Atmosphäre? So was wie Geschichten erzählen. Ich kann euch die von den verwunschenen Schneemännern anbieten oder, falls ihr es etwas heroischer haben wollt, kommt auch die über den Zusammenschluss der Götter gegen Grenths Schabernack-Grentche immer gut. Oder kennt ihr schon die von dem heiligen Kind und dem Ursprung der Weihnacht?“ „An die Letztgenannte kann ich mich gar nicht erinnern“, gab Ascaron zur Antwort und legte nachdenklich die Hand ans Kinn. Lumir neben ihm nickte. „Das würde mich auch wundern. Die hab‘ ich erst kürzlich von zwei Klatschweibern am Hafen von Seitung aufgeschnappt.“ Sichtlich stolz auf seine Errungenschaft schwellte der Nekromant die Brust und klopfte sich selbst auf die Schulter. „Bei deinem Heimatbesuch neulich, hm?“, vermutete Aurelia schmunzelnd. Zum damaligen Zeitpunkt hatte Mortifer versucht, diese Tatsache unter dem Vorwand einer Solomission zu tarnen, und glaubte, damit erfolgreich gewesen zu sein. Getroffene Hunde bellten bekanntlich am lautesten, und auch jetzt war in dem gebürtigen Canthaner zu lesen wie in einem offenen Buch. „Dann erzähle uns die“, ging ihm Asine im richtigen Moment dazwischen, bevor er gegen die These der Mesmerin protestieren konnte. „Die anderen beiden kennen wir schon vom letzten Jahr. Und da wir dich vermutlich eh nicht umstimmen können –“ „Nein, das könnt ihr nicht!“, bestätigte er sogleich mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, wobei er von seinem Platz aufsprang und Richtung Zelt stapfte. Der Mesmerin durchlief ein kaum ersichtliches Zucken, als sich Mortifer ihres Qual-Stabes bemächtigte, welcher bei den anderen Waffen der Gruppenmitglieder gegen die Plane lehnte. Noch im selben Moment berief sie sich zur Besinnung, wissend, dass die Zaubererwaffe in fremden Händen nicht mehr war als ein langer, schwarzer Stab mit einem glänzenden, schwarzen Edelstein als Kopf, der durch einen dunkelvioletten Halterungsring fixiert wurde. Nur sie als rechtmäßige Trägerin war in der Lage, den Stein zum Leuchten zu bringen und in Verbindung mit ihrer Magie die des Stabes zu entfesseln. „So dann!“, rief er aus, sprang auf den freien Holzblock und streckte den Arm empor, den imposanten Stab gen schwarzen Abendhimmel gerichtet. Der Nekromant legte eine ernste, finster dreinblickende Miene auf. „Es trug sich zu vor sehr langer Zeit in einem weit entfernten Land in einer kleinen Stadt, deren Name mir gerade entfallen ist. Unsere Geschichte handelt von einer Frau und einem Mann, die in einer kalten, finsteren Winternacht hinfortgetrieben werden, um in die Geburtsstadt des Mannes zurückzukehren.“ „Wird das eine Weihnachts- oder Gruselgeschichte?“, unterbrach Asine die theatralische Ausführung des Nekromanten in unverkennbarer Skepsis und zog sich die wärmende Decke enger um ihren Körper. Aurelia und Ascaron ließen daraufhin ein leises Lachen verlauten. Mortifer räusperte sich. „Das Paar besaß weder Geld noch Ansehen, so hatten sie keine andere Wahl, als der Aufforderung Folge zu leisten. Mit ihren wenigen Habseligkeiten bepackten sie einen Esel und zogen los in besagte Heimatstadt. Sie mussten weit gehen. Sie froren und ihnen schmerzten bald die Füße. Die Frau“, er richtete den Stab in einer schnellen Bewegung auf die Mönchin, „ihr Name war Maria. Sie war hochschwanger und die Geburt ihres Kindes stand kurz bevor.“ „Eh?“ Irritiert blinzelte sie mehrere Male. „W-wie jetzt? Wieso zeigst du mit dem Stab auf mich? … M-Moment! Ich soll diese Maria sein?!“ Ein breites Grinsen spielte sich auf das Gesicht des Nekromanten, der äußerst zufrieden mit ihrer Reaktion schien. Ohne auf die Frage einzugehen, fuhr er in seiner Erzählung fort: „Ihr Gatte, sein Name war Josef, war sich dessen wohl bewusst.“ Bei diesen Worten ließ er den Stab künstlerisch in seiner Hand rotieren, bis er ihn in einem spontanen Beschluss auf Lumir richtete. „Er war sehr in Sorge um seine Frau und das ungeborene Kind, das sie im Leibe trug. Mehr als um die Kälte und den langen Weg, den sie noch vor sich hatten.“ „Oho!“ Munk stieß einen langen Pfiff aus. „Gibt es da vielleicht etwas, das wir wissen sollten? Habt ihr es schon der Leaderin gesagt? Die sollte so was vielleicht wissen.“ „Sp-spinn doch nicht rum!“ Entsetzt, dass ihr Jüngster auf den kleinen Scherz des Nekromanten eingegangen war, schnappte Asine hörbar nach Luft. Sie warf einen zaghaften Blick zu dem Waldläufer hinüber, doch dieser schenkte ihr keinerlei Beachtung. Er war voll und ganz damit beschäftigt, seine Pfeile für den morgigen Tag aufzubereiten und zu präparieren. Asine bezweifelte, dass er mitbekam, was um ihn herum passierte, geschweige denn, dass er und sie soeben durch Mortifer „vermählt“ worden waren. „Kannst du nicht einfach die Geschichte erzählen, ohne uns da mit reinzuziehen?“, wandte sie sich zurück an Mortifer. Dieser schüttelte mit dem Kopf. „Nein, das wäre viel zu langweilig“, erklärte er fest, räusperte sich anschließend, um mit seiner Erzählung fortzufahren. „Auf jeden Fall … wo war ich? … Ach ja! Doch handelte es sich bei Josef nicht um den Vater des Kindes, welches Maria im Leibe trug.“ Daraufhin ließ er eine lange Pause folgen, ließ seinen Blick durch die Runde gehen und sorgte so für eine künstliche Spannung. „Sie war ihm untreu“, tippte Munk, woraufhin sich Mortifer ihm zuwendete, seinen freien Arm ausstreckte und mit dem Daumen nach unten zeigte. „Falsch!“ „Wusste Josef davon?“, wollte Ascaron wissen. Mortifer drehte seinen Daumen nach oben. „Bingo! Er erfuhr es von Maria, dass ein Engel ihr die Botschaft überbrachte, Gottes Kind zu empfangen und als heilbringender zukünftiger Herrscher zur Welt zu bringen.“ „Welcher Gott?“ „Vermutlich Dwayna, die Göttin des Lebens und der Luft“, beantwortete Aurelia die Frage der Mönchin. „Das würde auch den Engel erklären, der für ihre übliche Darstellung steht.“ „Oder die Leute kennen keinen Paragon“, gab Munk seinen nächsten Versuch zum Besten. Der Gedanke schien ihn zu erheitern, denn seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen. „Ich meine, wenn es canthanische Dorfleute waren, die sich diese Geschichte erzählt haben, haben die bestimmt noch nie einen gesehen. Wie auch? Dafür hätten sie ihren Horizont erweitern und nach Elona gehen müssen. Wie auch immer. Man sagt ja nicht umsonst, dass ein Paragon ein von den Göttern erwählter, himmlischer Krieger sei. In manchen Volksmunden werden sie sogar als Engel mit unsichtbaren Flügeln bezeichnet, würde also auch passen.“ „Ist doch vollkommen egal jetzt!“, ging Mortifer den wilden Spekulationen und Erklärungsversuchen seiner Gefährten dazwischen und zeigte dabei wenig Geduld, sich für so lange Zeit unterbrechen zu lassen. „Auf jeden Fall war der Jungfrau Maria ein von, meinetwegen Dwayna, gesandter Engel erschienen, der ihr verkündete, dass sie ein Kind gebären und der Welt so einen wohlwollenden neuen König schenken würde. Sie solle sich nicht fürchten und ihrem Gatten nach, äh, seiner Stadt eben folgen, die Götter wären bei ihnen und würden sie auf ihrer Reise begleiten und über sie wachen.“ Wieder ließ er den Stab rotieren, bis er ihn dieses Mal in Aurelias Richtung stoppte. „Hm? Ich?“ Vollkommen überrumpelt deutete sie fragend auf sich selbst. „Dein Part.“ „Oh, ich bin aber nicht sonderlich gut in so was.“ Trotz aller Zweifel, die sie entgegen ihrer zugeteilten Rolle hegte, erhob sie sich von ihrem Platz und drehte sich in die Richtung der Mönchin. Für einen Moment überlegte sie, ehe sie sich vornehmlich räusperte und die Hände in einer Gebetshaltung vor ihrer Brust faltete. „Fürchtet Euch nicht, Maria. Ich komme zu Euch, um Euch frohe Kunde zu tun. Die Götter wissen um das Leid und den Unmut der Menschen. Sie erbieten Euch Kraft und neuen Glauben. Die heilige Dwayna, Göttin des Lebens und der Güte, wird Euch ein Kind schenken. Ihr, Maria, werdet es empfangen und ihm Leben geben, auf dass es Gott unter den Sterblichen wird – der Menschheit neuer König, um sie in eine Zeit der Freiheit und des Friedens zu führen. So fürchtet Euch nicht, Maria. Ihr und Euer Gatte werdet demnächst nach … äh … in eine ferne Stadt entsandt werden. Folgt diesem Weg ohne Furcht. Melandru, die Göttin der Erde und Natur, wird über Euer Wohl wachen und Balthasar, der Gott des Feuers und des Kampfes, wird Euch die nötige Kraft geben. Lyssa wird Euch gnädig gestimmt sein und stets den richtigen Weg weisen. Habt Mut, Maria, die Götter sind mit Euch.“ Als sie geendet hatte, kehrte ein bestaunendes Schweigen ein, das sich hielt, bis sich Mortifer nicht mehr länger halten konnte und herzhaft zu lachen begann. „Wie war das noch? Du bist nicht sonderlich gut in so was?“ „Das war großartig! Absolut umwerfend! Du hast Talent zur Schauspielerin, Aurelia“, rief Asine aus und klatschte begeistert in die Hände. „Meinst du?“, zweifelte die Mesmerin, löste ihre Haltung und setzte ein verlegenes Lächeln auf. „Das war wirklich gut.“ Ascaron nickte. „Vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, Mortifers Geschichte mit einem kleinen Rollenspiel zu verbinden. Das macht es irgendwie heiterer. Hey, Morti, bekomme ich auch eine Rolle zugeteilt?“ „Ähm, da finde ich bestimmt noch was, wenn ihr mich nicht immer so aus dem Fluss holen würdet.“ Er stieß ein theatralisches Seufzen aus, bei dem er die Schultern nach vorn sacken ließ. Kurz überlegte er, bis er entschieden aufstampfte. „In Ordnung, es ist entschieden! Du bekommst die Rolle des Gastwirtes!“ „Gastwirtes?“, hakte Asine nach. „Gut, was muss ich tun?“ „Also eigentlich wäre es ja eine Gastwirtin, aber da du leider keine sonderlich gute Frau abgeben würdest, ist es jetzt eben ein Kerl.“ Der Nekromant räusperte sich. „Maria und Josef waren nun also schon lange unterwegs. Ihnen frierte, sie waren müde, hungrig und erschöpft. Und Maria wusste, dass es nicht mehr lange sein würde, bis sie ihr Kind zur Welt bringen würde.“ Als sich der Stab daraufhin auf Asine richtete, zuckte die Mönchin zusammen. „Was? Äh … Josef, lass uns Rast suchen. Ich bin müde, mir friert und meine Füße mögen mich nicht länger tragen. Das Kind in meinem Leib, ich kann spüren, dass es noch diese Nacht zur Welt kommen will …?“ Ein Nicken bestätigte, dass Mortifer mit ihrem Part zufrieden war. Er richtete den Stab auf Lumir, um dessen Zug anzukündigen. „Ihr Gatte versuchte, sie zu trösten, und versprach, ihnen eine Unterkunft zu suchen.“ „Tröste dich, ich find‘ uns schon ‘ne Unterkunft.“ „…“ – Das Schweigen der Gruppe sprach für sich. „Jedenfalls“, fuhr Mortifer zögerlich fort, „klopfte Josef an vielen Türen, doch niemand wollte ihnen Unterschlupf gewähren. Die Familien fürchteten Fremde und die Wirte entschuldigten sich, dass sie kein einziges Zimmer mehr frei hätten. Die Situation schien aussichtslos. Josef wollte bereits aufgeben, da ermutigte ihn Maria, es ein weiteres Mal zu versuchen.“ „Ähm … Gib die Hoffnung nicht auf, geliebter Josef. Die Götter sind mit uns. Versuche es erneut, ein letztes Mal, an der nächsten Tür und bitte um Einlass für uns, dass ich das Kind gesund zur Welt bringen kann.“ „Okay. Klopf, klopf.“ „…“ – Im Stillen wurde sich die Gruppe darüber einig, dass Lumir nicht zur glaubwürdigen Schauspielerei geboren war. Für das nächste Mal würden sie es sich merken. Mortifer räusperte sich. „Ihnen öffnete ein alter Wirt und Josef stellte ihm dieselbe Frage, wie schon den letzten Leuten zuvor. »Wir erbitten einen Platz für die Nacht. Wir haben nicht viel Geld, doch uns ist kalt und der Weg noch weit. Meine Frau erwartet ein Kind, so bitte, guter Mann, gewährt uns Unterkunft.« Doch auch der Wirt gab ihm nur dieselbe Antwort wie schon die Leute zuvor.“ Ascaron überlegte, dann erhob er sich mit klirrender Rüstung und wandte sich dem Nekromanten zu. „Es tut mir leid, guter Mann, doch unsere Zimmer sind allesamt belegt. Ich kann Euch keine Unterkunft bieten, zieht bitte weiter.“ „Da Maria erkannte, dass ihr Gatte nicht sehr erfolgreich war, versuchte sie ihr Glück bei dem Wirt. Ihr wäre jede Unterkunft recht, und sei es nur ein Stall, in dem sie das Kind gebären könnte.“ „Ähm … Ich bitte Euch, guter Mann, von ganzem Herzen: Gewährt uns Unterschlupf. Es muss kein Zimmer sein, ein Stall tut uns auch Genüge, solange es nur trocken und warm ist, sodass ich mein Kind gebären kann. Bitte, ich erflehe Eure Gutherzigkeit, lasst uns hinein.“ „Also, jetzt übertreibst du aber“, schnalzte Lumir zu seiner „Gattin“ hinüber. „Und du tust gar nichts“, konterte sie brummig. „Munk auch nicht.“ „Ich habe ja auch noch keine Rolle zugeteilt bekommen, Depp.“ „Auf jeden Fall“, erhob Mortifer die Stimme, um der ausschweifenden Diskussion ein Ende zu setzen, „ließ sich der Wirt durch Marias Bitten am Ende doch noch erweichen, betrachtete kurz ihren runden Bauch unter dem weiten Stoff und bot ihnen schließlich seinen Stall an.“ „Soll ich das jetzt nochmal wiederholen?“ „Kommt doch einfach zum Punkt“, murrte Munk ungeduldig und goss sich neuen Zimttee in seinen Becher. „Meinetwegen“, lenkte Mortifer ein, wenn auch sichtlich widerwillig. „So fanden Maria und Josef also Unterkunft in dem kleinen Tierstall des erbarmungsvollen Wirtes. Sie teilten sich das weiche Stroh mit Eseln und Büffeln und während die Nacht fortschritt, gebar Maria ihr Kind. Als –“ „Du erzählst das, als wäre das so einfach“, fiel ihm Asine ins Wort. „So eine Geburt dauert lange, ist mit viel Schmerzen verbunden und ist für alle Beteiligten eine äußerst komplizierte Angelegenheit. Es kann die ganze Nacht dauern. Bei dir kommt es so rüber, als wäre die ganze Sache mit einem Handwink erledigt.“ „Ist das jetzt dein Ernst?“ „Natürlich, sonst hätte ich es nicht angesprochen.“ „Ich soll jetzt nicht ernsthaft in aller Einzelheit eine erfundene Geburt nacherzählen, oder?“ „Das hat doch auch gar keiner gesagt!“ „Es ist doch nur eine Geschichte“, versuchte Aurelia die erhitzten Gemüter zu besänftigen. „Kommt schon, Leute. Streitet ihr jetzt deswegen?“ „Nein!“, kam es simultan aus der Mönchin und dem Nekromanten zurück, woraufhin Aurelia beide Hände in eine beschwichtigende Geste hob und ein leises „Schon gut, schon gut“ lächelte. „Hey, schaut mal.“ Ohne viel Wert auf die kleine Auseinandersetzung in der Gruppe zu geben, erhob sich Munk von seinem Platz und trat auf den Abhang zu, der die Seitenbereiche auf mehrere Zentimeter Höhe vom Zentralplatz absonderte. Aus Richtung des Wachpostens, der die einzige Möglichkeit darstellte, die Siedlung zu betreten oder zu verlassen, war ein lauter Trubel zu vernehmen. Mehrere Männer blockierten den Durchgang, hatten Schild und Schwert erhoben, um den Außenposten im schlimmsten Fall vor dem, was sich ihnen dort näherte, zu verteidigen. Selbst aus ihrer Position konnte die Gruppe die vielen Lichter erkennen, die vor den Wachen über den Boden tanzten – vermutlich stammten sie von mehreren Fackeln. „Da scheint was los zu sein“, sprach Munk leise, vorsichtig, ohne den Blick von dem Schauplatz abzuwenden. „Die Wachen sammeln sich. Scheinen viele zu sein. … Steingipfel-Zwerge vielleicht? Vielleicht sollten wir –“ „Warte“, hielt ihn Aurelia entschieden zurück. Einig erhob sich nun auch der Rest der Gruppe und sammelte sich an der Seite ihres Jüngsten. „Der Steingipfel hält sich für gewöhnlich von der Siedlung fern. Sie sind geringer in der Zahl und die Jakbiegung ist bestens gegen einen möglichen Angriff von ihnen gerüstet. Die Zwerge wissen das aus früheren Offensiven. Sie gehen ein solches Risiko nicht ein, aus dem sie mehr Verluste als Gewinne erfahren würden. Lieber lauern sie wehrlosen Reisenden und Händlern auf, um sie in allem auszurauben, was sie bei sich führen. Ich bezweifle, dass es sich um einen Angriff handelt.“ „Was kann es dann sein? Für Güterzüge und Eskorten ist es bereits zu spät“, bemerkte die Mönchin und hob ihren Blick gen Horizont. Die Nacht war längst über sie hereingebrochen und der Schneefall hatte ausgesetzt. Schwere Wolken bedeckten den Himmel großflächig und ließen nur vereinzelte Sterne hindurchschimmern. Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Jedes Kind weiß doch, dass es einem Selbstmordkommando gleichkommt, die Zittergipfel im Dunkeln passieren zu wollen.“ „Heeey!“ Laut und kräftig drang der Ruf wie ein Appell von draußen in die Siedlung hinein und reichte über den gesamten Platz. Die helle, etwas brüchig klingende Männerstimme ließ die Gruppe sofort aufhorchen. „Heeey, Leuteee! Wir siiiind’s!“ „Ist das Light?“ Asine zog hörbar die Luft ein. „Hey, Morti!“, rief es erneut. „Du fauler Sack, beweg dich ma‘ und schwing deinen Arsch hierher!“ Alle Blicke der Gruppe richteten sich auf Mortifer. Es stand außer Frage, dass er gemeint war, was dieser auch zu wissen schien. Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. „Jepp, das ist unser Light, kein Zweifel. Na, dann werd‘ ich mal kurz gehen und die Dinge da unten klarstellen.“ In einer Seelenruhe und von einem unbeschwerten Pfeifen begleitet, entfernte sich der Nekromant von der Gruppe und näherte sich dem regen Treiben am Durchlass. Gespannt beobachteten die Gefährten, wie er sich zwischen die Wachmänner schob und anschließend für mehrere Minuten aus ihrem Sichtfeld verschwunden blieb, wohl um die Formalitäten zwischen den beiden Fronten zu klären. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Männer ihre Waffen sinken ließen und letztlich zur Seite traten, um die Ankömmlinge passieren zu lassen. Sie trauten ihren Augen kaum, als Mortifer mit einer rothaarigen, hochgewachsenen Frau mit undurchlässiger Miene und in schwarzglänzender Nekromantenrüstung an seiner Seite auf sie zusteuerte – einen ganzen Zug an Personen hinter sich herziehend. Ein markanter, rubinbesetzter Kopfschmuck hielt das karminrote Haar der Frau zusammen und je drei Silberstäbe ragten wie Fühler zu den Seiten hinauf.  „Shizana?!“, brachte die Mönchin japsend hervor. Ohne weiter zu zögern, machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte der Masse entgegen. Der Rest ihrer Gruppe folgte ihr langsam. „Ihr alle? Was macht ihr denn hier?“ „Und als das Kind geboren ward, ließ der Engel, der Maria einst die Botschaft gebracht hatte, einen hellleuchtenden Stern über dem Stall aufsteigen, der im gesamten Land zu sehen war.“ Das breite Grinsen in Mortifers Gesicht schien wie eingemeißelt. Großzügig gestikulierte er hinter sich auf das Gefolge, welches aus etwa zwanzig Mann bestehen musste. „Und er sprach zu den Hirten, die unweit auf einer Wiese des Nachts ihr Vieh hüteten: »Ihr guten Hirten, fürchtet Euch nicht. Euch ist heut‘ Nacht der Heiland geboren; der neue König Euresgleichen, der Euch in eine gute Zeit führen wird. Seht das Kind mit eigenen Augen, folgt dem hellen Stern am Himmelszelt. Er wird Euch zu ihm führen.«“ „Kind? Welches Kind?“, fragte einer der Männer, der am dichtesten hinter dem Nekromantenpaar folgte. Das offene, orangerote Haar reichte ihm bis aufs Schulterblatt und hinter seinem Rücken ragte ein schwarzer Bogen hervor. Seine Stimme war ohne Frage jener zuzuordnen, welche zuvor nach ihnen gerufen hatte. „Ach, wir haben uns ein wenig Geschichten erzählt und es in ein kleines Rollenspiel umgewandelt“, erklärte Aurelia, die inzwischen bei der ungläubig dreinblickenden Mönchin angekommen war, und lächelte zu dem Freund hinüber. „Dahingehend: Muss ich das jetzt nochmal aufsagen?“ „Wie kommt ihr denn hierher?“ Munk trat nur zögerlich neben die Mesmerin, die Überraschung war ihm deutlich anzusehen. Eine weitere Frau mit schmaler Brille trat nach vorn. Obgleich sie offensichtlich keine zwanzig mehr war, trug sie das feine, brünette Haar in zwei langen Seitenzöpfen. Arme und Beine waren in einem dunklen, transparenten Stoff gehüllt, aus welchem schwarze Dornen bedrohlich herausragten. Ihr Brust- und Beckenbereich war durch eine schwarze, weiß konturierte Rüstung geschützt. Ein Lächeln zierte ihre roten Lippen und ihre Stimme klang samten, als sie sprach: „Vermutlich auf demselben Weg wie ihr, als ihr zu eurer Mission aufgebrochen seid.“ „So viel kann man sich wohl denken, Meranie“, erwiderte Ascaron ohne jeglichen Vorwurf in seinen Worten. Seine Gesichtszüge waren entspannt und deuteten ebenfalls ein Lächeln an. „Ich denke, Munks Frage bezog sich eher darauf, wieso ihr hier seid. Und vor allem, gleich alle.“ „Nicht ganz“, entgegnete jung und hauchzart klingend eine Nekromantin, die kleiner war als die meisten anderen neben ihr. Ihre schmalen, hohen Gesichtszüge verrieten ihre canthanische Herkunft trotz ihrer porzellanenen Hautfarbe. Die junge Frau schien viel Wert auf ihr Äußeres zu legen, so war ihre violette, mädchenhaft-elegant zugeschnittene Rüstung perfekt auf ihre gleichfarbigen Haare abgestimmt. „Wir sind nicht komplett“, erklärte sie dumpf. „Armada hilft den Kurzick aus. Cheeper, Ji, Livius und Aligra sind auf Mission und Rave vergnügt sich irgendwo in der Kristallwüste. Zett haben wir nicht erreicht.“ „Gut informiert wie eh und je, Shuai“, lobte Ascaron das gute Gedächtnis der jungen Nekromantin, welche es nicht weiter zu beachten schien. „Ich verstehe noch immer nicht“, sprach Asine leise, den Blick auf jene Nekromantin geheftet, die noch immer neben Mortifer stand und in deren violetten Augen keinerlei Regung abzuerkennen war. „Aurelia hat mich über eure Lage in Kenntnis gesetzt.“ Meranie nickte lächelnd zu der Mesmerin herüber. „Sie meinte, dass ein gewisser Magier in eurer Gruppe in den Vorbereitungen gepatzt hat und sich eure Reisepläne daher unfreiwillig verschoben hätten. Da Shizana zu der Zeit noch mit einer Gruppe unterwegs war, habe ich die Information fürs Erste entgegengenommen und die Gilde im Nachhinein darüber unterrichtet, als alle versammelt waren. Den Rest könnt ihr euch sicher denken.“ „Aurelia, du hast …?“, wandte sich Asine nach der Gefährtin um. Ihr Erstaunen war nicht zu verbergen. „Wann hast du …? Du hast uns gar nichts davon gesagt.“ „Ich hatte keine Gelegenheit“, erwiderte sie wahrheitsgemäß. „Außerdem hat mich Shizana später noch einmal kontaktiert und gebeten, euch nicht zu verraten, dass die Gilde auf dem Weg zu uns ist. Ich hatte also auch im Nachhinein keine Wahl.“ Sie lächelte vorsichtig als stumme Entschuldigung an die Freundin. Asine sagte daraufhin nichts. Erst nach einiger Zeit, in der sie vorwurfsvolle Blicke zwischen der Leaderin und der Mesmerin umhergehen lassen hatte, wandte sie sich noch einmal an Aurelia. „Ab wann?“ „Kurz nachdem wir die Bresche durchquert hatten.“ „Also quasi seit heute Vormittag.“ Aurelia nickte. Von Asine kam keine weitere Antwort, stattdessen sank ihr Blick an der Mesmerin herab und blieb an ihrer Hüfte haften. Unter ihrem schwarzen Mantel trug Aurelia den magischen Spiegel, den sie als Medium für solche Verständigungsaktionen nutzte, dessen war sie sich durchaus bewusst. Bemüht versuchte sie sich zu entsinnen, wann sie der Mesmerin Gelegenheit gegeben hatten, sich mit der Gilde kurzzuschließen. War es wirklich möglich, dass sie von alldem nichts bemerkt hatten? „Ich habe Meranie gleich gestern Abend Bescheid gegeben, nachdem wir festgestellt hatten, dass wir den Rückweg zu Fuß machen müssen“, klärte Aurelia auf, als hätte sie die Gedanken der Freundin gelesen. „Heute Morgen dann kontaktierte mich Shizana, dass sie und die Gilde bereits auf dem Weg zu uns seien. Das alles ging sehr schnell. Tut mir leid, ich durfte euch nichts davon sagen.“ „Also deswegen warst du die ganze Zeit über so unbesorgt“, schlussfolgerte Munk und warf einen vorwurfsvollen Blick zu der Leaderin hinüber. Noch immer zeigte sie keinerlei Gefühlsregung. Der Jungmagier ließ ein Grummeln verlauten. „Gemein.“ „Es war nicht meine Idee“, sprach sie schließlich, endlich, und ihre schneidend ruhige Stimme jagte Munk einen kühlen Schauer über den Rücken. „Es war meine. Meine!“ Sichtlich stolz verschränkte der, den sie Light nannten, die Arme vor der Brust und reckte das Kinn nach vorn. Obwohl er genau wie Lumir ebenfalls den Waldläufern angehörte, verzichtete er offenbar auf eine Maske und zeigte unverblümt sein schelmisches Grinsen. „Ich dachte mir, es wäre so lustiger und die Überraschung größer, wenn wir auf einmal in gesammelter Mannschaft hier auftauchen. Und eure dämlichen Gesichter waren es auf jeden Fall wert, haha!“ „Ich sage ja, es war nicht meine Idee.“ „Ach, nun komm schon“, stichelte Meranie zu der Leaderin und stieß ihr freundschaftlich in die Seite. „Tu nicht so, ja? Du warst doch von uns allen die Erste, die mit dem Gedanken gespielt hatte, eigenhändig loszuziehen und die Truppe abzuholen. Ich habe gesehen, wie du eine Schriftrolle gekauft hast, und dachte mir schon, dass sie für unseren vergesslichen Jungmagier sein sollte. Nur, weil du es nicht als Erstes ausgesprochen hast, heißt es nicht, dass unser kleiner Aufmarsch hier nicht auch dir zu verschulden ist.“ Ohne etwas auf die Worte zu erwidern, drehte Shizana den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Meranie reichte dies als Bestätigung, sie ließ es mit einem Schmunzeln darauf beruhen. „Ihr wart schnell“, bemerkte Lumir in ihre Richtung. „Auf Misuzu und Nihlus ist eben Verlass“, entgegnete an ihrer Stelle ein Ritualist, der in dunkelblauen und mit vielen kleinen Schmucksteinen verzierten Gewändern gehüllt war. Selbst sein Gesicht verbarg er unter einer undurchdringlichen Kopfbandage, welche silberne Münzen und verschiedenfarbige Ketten schmückten. „Außerdem, bei einer so großen Zuggruppe ziehen sich die meisten Geschöpfe lieber zurück, als sich ihr entgegenzustellen. Wir hatten kaum Zwischenfälle auf unserem Weg hierher.“ „Falsch, Nosfer“, widersprach Light und grinste nur noch breiter. „Die wussten eben, dass man sich besser nicht mit der Nation Of Destiny anlegt. Die taten nur gut daran, uns aus dem Weg zu gehen, hehe.“ „Sicher, sicher“, gab sich Shuai wenig beeindruckt. Die junge Nekromantin zuckte mit den Schultern und winkte ab. „Also“, wandte sich Light an Mortifer, „was ist nun von wegen »Kind«?“ „Nur ‘ne kleine Weihnachtsgeschichte, die wir nachgespielt haben“, erklärte er. „Ah, okay. Und wir sind die Hirten, oder wie war das? Ich sehe aber kein Kind.“ Der Nekromant legte nachdenklich das Kinn in die Hand. „Kommt vielleicht wirklich etwas doof, aber wir haben auch nicht richtig gespielt. Es ist ja auch nur eine Geschichte.“ „Pech, ich will jetzt das Kind sehen. Ich liebe Kinder!“ „Du wirst dir kaum eines von den Leuten hier ausleihen können“, merkte Shuai trocken an. Ihr Blick schweifte hinunter zum Platz, wo inzwischen wieder Ruhe eingekehrt war. Einige neugierige Blicke lagen noch immer auf der Gruppe und es war zu erkennen, dass die Leute untereinander tuschelten. Es kam vermutlich nicht sehr oft vor, dass sich eine ganze Gilde in solcher Menge in der verhältnismäßig unauffälligen Jakbiegung zusammentraf. „Mir egal, ich will hier jetzt ein Kind sehen! Ansonsten streike ich, weiterhin ‘nen Hirten zu spielen.“ „Wenn das so ist“, sprach Shizana leise und inspizierte die nähere Umgebung. Sie suchte nach etwas, wurde aber offensichtlich nicht fündig, weswegen sie schwer seufzte. „Natürlich nicht“, murmelte sie in ihrer Resignation. Mit beiden Händen umfasste sie ihren Stab, welcher dieselbe Beschaffenheit aufwies wie Aurelias. Der schwarze Kopfstein leuchtete rhythmisch, als besäße er einen eigenen, ruhigen Herzschlag, und schickte Wellen von hellen Energiestößen durch den Schaft. Sie zog einen Halbmeterkreis vor sich auf dem Boden, ehe sie den Stab wendete, sodass der Edelstein nach oben zeigte. Konzentriert schloss sie die Augen, murmelte etwas, das wie eine unverständliche Formel klang. Kurz darauf leuchtete die Kreislinie auf, ein schwaches Runensymbol erschien giftgrün in der Mitte des Kreises, ehe sich eine Mauer aus hellgrünem Licht aus der Linie auf etwa einen Meter auftat und etwas in seiner Mitte gebar, das sich knackend, knirschend und röchelnd erhob. Als sich die Magie verflüchtigte und die Mauer aus Licht in die Erde zurückzog, stand eine kleine, unförmige Kreatur vor ihnen, die mehr aus Knochen und zerfallendem Fleisch bestand und an der Muskeln und Sehnen offen sichtbar waren. Ein Arm krüppelig, der andere zu lang geraten und schlaff, stand es auf zwei dürren Beinchen und schwankte selbst im Stehen, während es den halslosen Kopf hob. Das kleine Monstrum hatte absolut nichts Menschliches, wies keine Augen auf, dafür jedoch ein breites Maul mit einer Reihe von scharfen Zähnen, zwischen denen Geifer triefte. Die Nekromantin entspannte ihre Haltung, musterte ihre Schaffung für einen Moment, ehe sie sich mit dem Kopf Mortifer zudrehte. „Bitte, ich leihe ihn euch“, sagte sie mit aller Ernsthaftigkeit und deutete mit ihrem Stab auf die ächzende Kreatur vor ihnen. „Nicht dein Ernst“, brachte Mortifer hervor, schlug sich die Hand an die Stirn und schüttelte den Kopf, wobei er lachte. „Aura des Lich, um einen Knochendiener zu erschaffen, der als heiliges Kind herhalten soll? Sorry, haha, aber das grenzt selbst für einen Nekromanten schon an Blasphemie.“ „Auslegungssache“, entgegnete sie trocken. „Wenn man es so sehen will, sind Untote auch nur durch Grenth gesegnete Kinder. Ich sehe keine Blasphemie darin.“ „Ist klar, haha.“ „Nimm’s mir nicht übel“, äußerte sich Asine, die Nase gerümpft, „aber das Ding da rühre ich nicht an. Davon abgesehen … müffelt es. Bestialisch.“ „Bei einem frischen Kadaver wäre es anders“, erklärte die Leaderin. „Klar, dieser Diener ist aus der Unterwelt beschworen. Es ist nichts als verwesendes Fleisch, das durch Magie bewegt wird. Möglich, dass ich nicht das beste Exemplar erwischt habe, so auf die Schnelle.“ „Ich glaube … mir wird gleich … richtig schlecht.“ „Verzeihung“, klang zögerlich eine Frauenstimme zu ihnen hoch. Sadira, die Fremdenführerin der Jakbiegung, stand unweit der Anhöhe, auf der sich die Gildenleute versammelt hatten, und suchte offenbar unschlüssig nach der verantwortlichen Person für die Gruppe. „Bitte, keine Magie und keine Kämpfe im Außenposten“, sagte sie leise und deutete auf das kleine Monstrum inmitten der Menschenmenge. „Einige hier sind unbewaffnet, wir haben Alte und Kinder unter uns. Wir möchten sicherstellen, dass niemand versehentlich zu Schaden kommt.“ Stille kehrte unter ihnen ein. Aufmerksam ruhte der Blick der Nekromantin auf der einfachen Frau, die nicht den Anschein machte, als trüge sie selbst Waffen bei sich oder wäre irgendeiner Form der Magie mächtig. Vermutlich hatte sie ihr ganzes Leben in der Jakbiegung verbracht als gewöhnliche Handelsfrau und Versorgerin. Kurzentschlossen schwenkte Shizana ihren Stab zur Seite. In dem Moment, in welchem das Leuchten des Stabes erstarb, gab der untote Diener einen erstickten Laut von sich, wand sich, bis er schließlich von einem Moment zum nächsten in sich zusammenbrach und seine Gestalt zu Staub zerfiel. „So viel zu dem heiligen Kind.“ Munk stieß ein leises Seufzen aus. „Wie geht die Geschichte denn nun eigentlich aus?“, wandte sich Aurelia fragend an Mortifer. „Maria gebar ihr Kind im Stall, der Engel führte die Hirten und drei Könige zu ihnen und sie beschenkten es und beteten es an. Im Gegenzug schenkte das Kind ihnen Wärme und Frieden im Herzen. Und das wäre dann die Geschichte über den Ursprung der Weihnacht gewesen, wieso man einander gegenseitig beschenkt und welche Bedeutung dieser Tag für jeden haben sollte.“ „Na passt doch! Wir haben nämlich Geschenke dabei. Tjaaa, da staunt ihr, was?“ Daraufhin gab Light einen Wink zu den Leuten hinter ihm, von denen sechs Mann nach vorn traten. Jeder von ihnen trug ein Reisegepäck auf dem Rücken, welches sie nun abnahmen und zusammen auf den Boden stellten. Der Waldläufer machte sich sofort daran, eines davon nach Zufallsprinzip unter Beschlag zu nehmen und löste mit einem Grinsen die Verschnürung. „Da hätten wir Krytanischen Weinbrand, Absinth, Reis- und Apfelwein, Eierflip … und natürlich gutes, altes Zwergenbier. Mh, Karamelläpfel, bunte Zuckerstangen … sind das da Schokohasen?! Ernsthaft, Leute?“ „Und vor allem sind wir alle zusammen“, sprach Meranie mit einem Lächeln. „Eben wie es sich an Weihnachten gehört, nicht wahr?“ „Mhm, ja“, nickte Aurelia zu ihr herüber. Verloren in der ausgelassenen Atmosphäre, die sich allmählich in der Runde breitmachte, ließ sie ihren Blick von einem zum nächsten schweifen. Die Gesichter der Freunde und Gefährten waren erhellt durch ein Lächeln, sie strahlten eine solche Vertrautheit und Wärme aus. Es zählte nicht, wo sie waren, solange sie nur zusammen waren. Ihr Blick blieb an dem jungen Magier haften. Anders als die anderen zierte seine Lippen kein Lächeln, sondern zeigten eine gerade Linie. Seine Aufmerksamkeit lag voll und ganz auf der Gilde und ihrem Treiben; er beobachtete und lauschte, aber etwas an ihm zeigte, dass er es nicht verstand. Nichts von alledem; es war ihm unerklärlich, er hatte keine Antwort. Bald, nicht mehr lange, dann würde er verstehen. Er war längst Teil ihrer Familie. Aurelia wusste das, jeder hier wusste das, und bald würde auch er es wissen. Sie lächelte. „Frohe Weihnachten, Nation Of Destiny!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)