Eroberung des roten Frühlings von Niekas (A conquistare la rossa primavera) ================================================================================ Kapitel 1: Eroberung des roten Frühlings ---------------------------------------- Fischia il vento, urla la bufera. Der Wind pfeift, der Sturm heult, und all das in Felicianos Kopf. Er wird die Bilder nicht mehr los. Im Traum sieht er die Körper vor sich, kopfüber an den Dachbalken der zerstörten Tankstelle aufgehängt, leicht hin und her schwingend. Die Arme herunter baumelnd, die Gesichter fast ausdruckslos, bestenfalls verblüfft. Er sieht sie tot hängen, die kurz vorher noch quicklebendig neben ihm gestanden haben, und er versteht die Welt nicht mehr. Die Tränen auf seinem Gesicht sind schon kalt, als Romano ihn aus dem Schlaf rüttelt, die Finger in seinen Oberarm gekrallt. „Feliciano? Alles in Ordnung?“ Feliciano weiß, dass Romano reden will, dass er ihn sprechen hören will, und wenn es nur ein einziges Wort ist. Und er lächelt stumm und winkt ab. Scarpe rotte, eppur bisogna andar. Wenn die Schuhe kaputt sind, muss man trotzdem weitergehen. Nicht, dass Felicianos Schuhe jemals kaputt gewesen wären. Er ist bei seinem Boss geblieben, und der Duce hat dafür gesorgt, dass er Schuhe hatte. Dann ist er weggelaufen, in die Berge, wo Blumen ihre Schatten auf hastig errichtete Gräber werfen, und hat sich den Partisanen angeschlossen. Frei und grausam und schön. Er ist bei ihnen geblieben, bis seine Schuhe durchgelaufen waren, und dann ist er wieder zurück gegangen. Er konnte nicht anders. Er wusste einfach nicht, auf wessen Seite es ihn zog. Das Regime unterstützen, den Krieg weiterführen, weil an eine Niederlage nicht zu denken war, weil es nur Sieg oder Tod gab? Den Widerstand, die Resistenza unterstützen, um diesem Wahnsinn ein Ende zu machen, für ihr Land, für ihre Kinder, denen sie noch in die Augen sehen wollten? Beide Seiten waren ein Teil von Feliciano, und er wusste nicht, was er zu alledem sagen sollte. Er weiß es noch immer nicht. A conquistare la rossa primavera, dove sorge il sol dell'avvenir. Das Lied spielt in seinem Kopf, begleitet vom Pfeifen des Windes. Um den roten Frühling zu erobern, wo die Sonne der Zukunft aufgeht. Es sind schöne Worte, groß und wunderschön und leer. Er weiß nicht, was sie bedeuten. Was heißt das, den roten Frühling erobern? Es war in einer Zeit, als Romano und er noch Kinder waren und plötzlich nur noch zusammen spielen wollten, Tag für Tag, obwohl sie sich weiterhin oft gestritten haben. Sie konnten einfach nicht mehr ohne einander sein, und sowohl Roderich als auch Antonio haben es bemerkt. Feliciano erinnert sich an dieses eine Mal, als sie erst nach Einbruch der Dunkelheit vom Spielen heimgekommen sind, zerkratzt und von Mücken zerstochen, Romano hatte seine Schuhe verloren. Antonio hat geschimpft, sie sogar angeschrien, was er sonst nie getan hat. Er hat versucht, seine Sorge mit Wut zu überdecken. Zur Strafe hat er sie ohne Abendessen ins Bett geschickt. Sie haben gewartet, bis jeder im Haus schlief, und sind dann hinunter in die Küche geschlichen. Romano hat ein Geheimfach im Küchenschrank geöffnet und eine Dose Bonbons herausgezogen. „Antonios Vorrat. Die kriege ich nur, wenn ich brav war. Also muss ich sie mir selber nehmen.“ Er hat Feliciano eine großzügige Handvoll klebriger Sahnebonbons überreicht und den Finger auf die Lippen gelegt. „Aber niemand erfährt hiervon, hast du verstanden? Du musst schweigen wie ein Grab. Acqua in bocca.“ Feliciano hat gekichert vor Aufregung und begeistert genickt. Sie hatten ein Geheimnis, Romano und er, und es gab leckere Bonbons, und er würde schweigen, zu niemandem ein Wort, als hätte er Wasser im Mund, acqua in bocca. Wenn man den Mund voller Wasser hat, kann man nämlich nicht sprechen. Man kann auch nicht sprechen, wenn man den Mund voller Sahnebonbons hat, die einem die Zähne aufeinander kleben. Und man kann nicht sprechen, wenn man den Wind im Kopf hat. Ogni contrada è patria del ribelle, ogni donna a lui dona un sospir. Er summt die Melodie in der Dunkelheit, die Worte sind nur in seinem Kopf. Jedes Land ist Heimat des Rebellen, jede Frau schenkt ihm ein Seufzen. Eine Wunschvorstellung, ein altmodisches, klischeehaftes, ganz normales Volkslied. Könnte man meinen. Romano schläft in seinem Bett an der gegenüberliegenden Wand, aber sein ruhiger Atem wird beinahe vom Pfeifen des Windes überdeckt. Feliciano sitzt auf seiner Bettdecke, die Arme um die Knie geschlungen, und sieht durchs Fenster hinaus. Nella notte lo guidano le stelle. In der Nacht führen ihn die Sterne, Wegweiser und Freunde des Rebellen. So viele Sterne stehen da, einer für jeden Ort auf der Welt, an dem man Rebellen braucht. Feliciano erinnert sich an kalte Nachtluft und feuchtes Gras und die Stimmen der anderen und die Sterne über ihnen. Sie haben Wache gehalten, eine Straßenblockade hatten sie errichtet, hätte ja sein können, dass feige, verräterische Faschisten vorbei wollen, auf der Flucht in die Schweiz. Sie haben geredet und manchmal gelacht, leise aus Respekt vor der Nacht. Vielleicht hatte jemand eine Mundharmonika dabei, jedenfalls haben sie irgendwann das Lied begonnen. Ein langsames, trauriges und getragenes Lied. Aber es hat sie zusammengeschweißt, sie waren Partisanen, Rebellen. Sie waren die, denen die Frauen hinterher seufzten. Sie waren die mit den starken Herzen, forte il cuore, il braccio nel colpir, und den starken Armen, wenn sie zuschlugen. Sie waren frei, und jeder, der sich ihnen und ihrer Freiheit in den Weg stellte, musste vor ihnen zittern. Ein kalter Windhauch fährt Feliciano in den Nacken, und er schaudert. Es gab Tage, an denen er mit den Rebellen unter dem Sternenhimmel gesessen und Faschisten getötet hat. Und es gab Tage, an denen er mit den Faschisten Partisanen an Laternenmasten aufgehängt hat. Niemand hat das je infrage gestellt. Er war nie einer von ihnen, er stand auf keiner Seite und auf beiden zugleich. Sie werden ihn kriegen, denkt er und zieht sich sein Kissen über den Kopf, weil er Angst hat. Die Partisanen oder die Faschisten. Er hat sich auf beide Seiten und gegen beide Seiten gestellt, und irgendjemand wird ihn am Ende kriegen. Wer wohl schneller ist? „Schönes Wetter, was?“ Sie sitzen beim Abendessen. Romano wischt mit dem Brot seinen Teller sauber, Feliciano ist noch nicht fertig mit der Pasta. Er will die Spaghetti mit der Gabel aufwickeln, aber dann muss er immer an irgendetwas denken, und er vergisst, die Gabel zu drehen, und der Wind pfeift in seinen Ohren. „Morgen könnten wir zum Strand gehen. Was hältst du davon?“ Schon wieder sind die Nudeln von der Gabel gerutscht. Geduldig will Feliciano sie wieder aufwickeln, aber Romano greift nach seiner Hand. „Feliciano.“ Seine Fingernägel graben sich in Felicianos Haut. Er nimmt es hin und versucht, mit der freien Hand seine Pasta zu bändigen. „Feliciano!“, wiederholt Romano lauter. „Ich habe gesagt, wir könnten an den Strand. Was meinst du?“ Ihm wird heiß, der Wind pfeift lauter. Feliciano will nichts sagen, also streckt er die Hand nach seinem Wasserglas aus und nimmt einen großen Schluck. Er behält ihn im Mund, betrachtet mit dicken Backen Romano, der ihn fassungslos anstarrt. Er kann nichts sagen. Wenn man den Mund voller Wasser hat, kann man nicht sprechen. Acqua in bocca. Romano nimmt ihm das Glas ab und schüttet Feliciano den Rest Wasser ins Gesicht. Vor Schreck verschluckt Feliciano sich, spuckt auf seinen Teller und keucht nach Luft. „Warum denkst du immer nur an dich?“, schreit Romano ihn an. Seine dunklen Augen blitzen vor Wut und Enttäuschung. „Ich schaffe das nicht ohne dich, Feliciano! Du kannst nicht einfach aufhören mit ... mit allem aufhören! Wir sind Brüder, und du verdammter Egoist lässt mich im Stich!“ Feliciano hustet und röchelt, seine schöne Pasta ist ganz verwässert. Romano knallt das Glas auf den Tisch und rauscht hinaus. Se si coglie la crudele morte, dura vendetta verrà dal partigian. Sie werden sich rächen, Feliciano weiß es. Er kauert sich auf dem Sofa zusammen und zieht die Knie vor die Brust. Sie werden kommen und ihn aufknüpfen, aus Rache für die vielen Toten. Er hört sie singen, tief und drohend und zu allem entschlossen. Ormai sicura è già la dura sorte del fascista vile traditor. Das harte Schicksal des Faschisten, des feigen, verräterischen Faschisten, ist schon besiegelt. Er weiß, dass sie ihn kriegen werden. Vielleicht nicht heute, nicht morgen, aber eines Tages. Sein Leben ist lang, und sie können warten. Sie werden warten. Er versucht sich einzureden, dass er ja auch auf ihrer Seite stand, dass es nicht er ist, dem die Partisanen ihre blutige Rache ankündigen, weil er keiner von den feigen, verräterischen Faschisten ist. Aber wenn man Angst hat, ist es schwer, der eigenen Ausrede zu glauben. „Ich verstehe dich nicht, Feliciano. Weißt du, wie ich um dich gezittert habe? Himmel, wir haben ja fast zwei Jahre nichts voneinander gehört! Ich habe dich im Fernsehen gesehen, ja, aber wie hätte ich feststellen sollen, ob sie nicht einen Doppelgänger für dich engagiert hatten? Weil du zu den Rebellen gerannt warst, was mir noch am liebsten gewesen wäre, oder weil du vor lauter sinnlosen Bombenangriffen nicht mehr stehen konntest, oder weil die Partisanen dich erschossen oder die Faschisten dich wegen Verrats angeklagt hatten, deportiert, gefoltert, woher hätte ich es denn wissen sollen? Ich habe kaum noch schlafen können. Die ständigen sarkastischen Bemerkungen von diesem Bastard von Arthur haben auch nicht geholfen, kann ich dir sagen! Ich hatte Angst, Feliciano. Und jetzt bist du wieder da. Oder ... bist du? Ich weiß es nicht.“ Dabei gibt Feliciano sich doch solche Mühe. Anfangs war er wie gelähmt, hat nicht zugehört, nicht gesprochen, nicht einmal essen wollen. Romano hat sich um ihn gekümmert, hat ständig etwas Neues zu essen besorgt, alles, was Feliciano gern mag. Wo er die teilweise recht exquisiten Nahrungsmittel in dieser schweren Zeit hergenommen hat, bleibt sein Geheimnis. Nusseis mit Schokolade und Sahne. Carpaccio. Eine venezianische Variante von Paella. Einmal hat er Maisbrei gekocht, selbst gemacht. Feliciano liebt Maisbrei. Romano hat ihn an den Tisch gesetzt, seine Hand geführt, den Löffel gefüllt. „Komm schon, das schmeckt gut. Ein Löffelchen für Romano. Nur ein Happen.“ Wie immer hat Feliciano nicht reagiert, und Romano hat schwer geatmet, eine ganze Weile lang. Dann hat er den Löffel quer durch den Raum geschleudert, Feliciano am Nacken gepackt und sein Gesicht auf den Teller gedrückt. „Friss es, polentone! Verdammte Scheiße, friss es schon!“ Er hat den Teller umgeworfen und das Tischtuch heruntergerissen, und sie sind unter den Tisch gerollt. Romano hat auf ihn eingeprügelt, und Feliciano hat das Blut in seinem Mund geschmeckt und begonnen, zurück zu schlagen. Er ist der jüngere Bruder und hat in ihren Raufereien schon immer den Kürzeren gezogen, aber auch er kann schlagen und kratzen und spucken, wenn er möchte. Als sie beide erschöpft und zerschlagen und blutig waren, hat Romano sich auf seiner Brust zusammengekauert, Felicianos Kragen zusammengeknüllt in den Fäusten. Seine Stimme klang erstickt. „Ich wollte nicht polentone sagen.“ Es war das letzte Mal, dass Feliciano das Essen verweigert oder besser ignoriert hat. Seitdem isst er und zieht sich um und wäscht sich, alles allein und ohne Hilfe. Nur gesprochen hat er immer noch kein Wort. Hat er etwa nicht ihre Lieder gesungen, ihre Fahnen geschwungen, ist durch die Straßen marschiert mit den Schwarzhemden, hat dem Duce ewige Treue geschworen und den Arm steif zum Gruß gehoben? Natürlich hat er das. Aber ist er nicht auch in die Berge gegangen, hat mit den Rebellen unter freiem Himmel gesessen, ihre Lieder gesungen, ihre Fahnen geschwungen, ihnen Waffen beschafft und die carabinieri auf die falschen Fährten gelockt? Er war zwiegespalten. Er stand neben sich und sah sich zu. Es war Krieg. Sie wollten in die Schweiz. Feliciano hatte Angst vor Basch, aber er wagte nicht, es zu sagen. Die Nachricht hatte sie erreicht, dass die Partisanen andere Regierungsmitglieder an der Grenze abgefangen hatten, vielleicht verschleppt, vielleicht getötet, wer konnte es wissen. Die Angst war greifbar, beim Duce und allen, die noch zu ihm standen oder zu ihm gestanden wurden. Feliciano hatte Launen in dieser Zeit, mal fanatisch, mal apathisch, meistens hysterisch. Er kreischte, heulte, bettelte, verfluchte Freund und Feind und den lieben Gott dazu. Er wusste nicht, wo ihm der Kopf stand. Sie wollten über die Grenze, zuerst nach Österreich, dann in die Schweiz. Feliciano freute sich auf ein Wiedersehen mit Roderich, es war ein Lichtblick in seinem Wahnsinn, eine blasse Erinnerung an die scheinbar heile Welt seiner Kindheit. Er dachte nicht daran, in welchem Zustand er Roderich antreffen würde, und an seinen eigenen Zustand erst recht nicht. Als die Partisanen sie an der Grenze abfingen, hatte er keine Angst. Als sie den Duce und seine Geliebte und all ihre Begleiter festnahmen, wurde Feliciano vergessen. Er schien nicht zu existieren, also lief er hinterher, von niemandem bemerkt. Sie haben die Gefangenen erschossen, allesamt. Sie haben ihre Körper öffentlich ausgestellt, kopfüber an einem Dach aufgehängt. Alle haben die Leichen verhöhnt, angespuckt und geschändet. Feliciano hat mitgemacht. Er hatte plötzlich so viel Wut in sich, und sie musste heraus. Er erinnert sich daran, dass Alfred ihm eine Ohrfeige gegeben hat. „Was zum Teufel machst du da?“ Feliciano weiß noch, dass die Leichen auf dem Marktplatz lagen, jemand muss sie abgenommen haben. Alfred hat sie angesehen und das Gesicht verzogen. „Du wirst sie so schnell wie möglich wegschaffen und unauffällig irgendwo beisetzen. Ist das klar?“ Er hat die Leichen angesehen, die ausdruckslosen Gesichter mit den blutigen Lippen und Schläfen, die nach oben gekehrten Augen, die zerknitterten und verdreckten Kleider. Sie haben ein bisschen ausgesehen wie die Märtyrer auf den Kirchengemälden. Aber so aussehen kann jeder, oder nicht? „Ist das klar?“, hat Alfred lauter wiederholt, aber Feliciano hat nicht geantwortet. Da schon nicht. Im Fernsehen läuft einer dieser Filme mit viel Gesang und Tanz, Mann liebt Frau mit Kleid, Frau liebt Mann mit Zylinder, Mann beginnt grundlos zu tanzen, die Welt ist schön. Romano sitzt neben Feliciano auf dem Sofa und hat überhaupt keine Augen für den Fernseher. Schon den ganzen Abend über hat er Feliciano beobachtet. „Sprich mit mir.“ Die Frau dreht sich im Kreis, dass ihr Rock um sie herum fliegt. Feliciano sieht ihr hübsches, junges Gesicht, die geschminkten Lippen, die strahlenden Augen. Die Welt ist schön. „Feliciano?“ Romanos Hand legt sich auf seinen Arm. „Du kannst nicht ewig schweigen, Feliciano. Wie sieht das denn aus vor dem Rest der Welt? Ich meine ... eigentlich ist es mir ja egal, was diese figli di puttana denken. Aber was ist mit mir, Feliciano? Eh?“ Die Hand zittert leicht. „Ich tue alles für dich, das weißt du doch. Du brauchst kein Wort mit ihnen zu reden, du kannst von mir aus so tun, als wärst du stumm geworden. Aber mit mir musst du doch reden. Ja? Feliciano?“ Die Frau und der Mann fallen einander in die Arme, und Feliciano überlegt, ob sie eine Blume auf seinem Grab pflanzen wird, wenn er mal stirbt. „Sprich mit mir!“ Romanos Stimme steigert sich zu einem Kreischen. „Sprich mit mir! Verdammt nochmal, Feliciano, sprich mit mir!“ Aber Feliciano kann nicht. In seinen Ohren pfeift der Wind. Das Land ist verwüstet. In den Straßen türmen sich die Leichen, Männer und Frauen und Kinder, ihr Blut sickert in den Boden. Da hängt ein Partisan an einer Laterne, und da hängt ein feiger, verräterischer Faschist kopfüber an einem Dachbalken. Das Blut läuft über das Pflaster, durch die Rinnsteine. Es wird Herbst, die Blätter fallen. Es wird Winter. Dann kommt der rote Frühling. Die Pflanzen haben das Blut der Toten aufgesaugt, die Bäume sind rot, die Blumen am Wegrand, der Weizen auf den Feldern. Feliciano steht inmitten des roten Frühlings und wünscht sich, das alles wäre nie passiert. Vor ihm türmt sich eine Wand auf, hoch wie der Himmel und breit wie der Horizont. Feliciano hat Angst vor ihr. Es ist eine Wand aus Schmerz. Die Toten sind da, stehen überall um ihn herum und beobachten ihn. Er sieht sie nicht, aber er kann sie spüren. Felicianos Blick irrt umher, streift die Bäume und Sträucher, den roten Frühling, wandert aber immer wieder zu der Wand zurück. Er hat Angst vor ihr, solche Angst. Er möchte sich umdrehen und weglaufen, aber er hört den Wind in seinen Ohren pfeifen. Wenn er wegläuft, wird er ihn niemals loswerden. Der Wind ist laut, aber noch lauter ist die Stimme. „Sprich mit mir! Verdammt nochmal, Feliciano, sprich mit mir!“ Seine Knie zittern. Die Wand ragt drohend vor ihm auf, so groß, und er ist so winzig. Was soll er tun, wenn nicht wegrennen? „Ich tue alles für dich, das weißt du doch.“ Es gibt nur eines, wofür ein roter Frühling gut ist. Er muss erobert werden. „Sprich mit mir!“ „Ich komme!“, schreit Feliciano. Er rennt, seine Füße schlagen auf den Boden, der Wind braust um seine Ohren, die Luft in seinen Lungen brennt. Er rennt und rennt, die Wand kommt näher, und ohne zu zögern wirft er sich geradewegs in den Schmerz. Cessa il vento, calma è la bufera. Der Wind legt sich, der Sturm kommt zur Ruhe. Feliciano wacht morgens auf, und es ist still. Das Fenster steht offen, der Vorhang bläht sich im Wind. Er ist alt und ausgewaschen, aber Feliciano erkennt, dass er einmal rot war. Seit wann hat er einen roten Vorhang? Torna a casa il fiero partigian, sventolando la rossa sua bandiera – vittoriosi, al fin liberi siam! Er steht auf und tritt mit nackten Füßen ans Fenster. Draußen dämmert ein blasser Morgen herauf. Er späht auf die Straße und erwartet halb, jemanden nach Hause kommen zu sehen. Es müsste ein Partisan sein, den Kopf stolz erhoben, mit sicherem Schritt. Torna a casa il fiero partigian, sventolando la rossa sua bandiera. Und er müsste eine rote Fahne schwingen. Vittoriosi, al fin liberi siam! Ohne es zu bemerken, summt Feliciano vor sich hin. Man kann es so gut singen, sventolando, er schwingt die Fahne, und sich dabei hin und her wiegen, sven-to-lan-do, hin und her. Dann findet er, dass die Fahne lange genug geweht hat, und schließt das Fenster. Der rote Vorhang erschlafft und hängt leblos herab. „Was ist los?“ Romano hebt den Kopf aus seinem Kissen und blinzelt Feliciano verschlafen an. „Was machst du da?“ „Ich habe das Fenster geschlossen“, sagt Feliciano. „Warum das denn?“, brummt Romano. „Es wird so stickig, wenn ...“ Dann hält er inne. In Felicianos Kopf ist es still, und er genießt die Stille und den leblosen Vorhang und Romanos fassungslosen Blick. Seine Lippen formen leise Worte, es fühlt sich gut an. Vittoriosi, al fin liberi siam. „Hast du gerade...?“ „Ja“, antwortet Feliciano und lächelt. Wir haben gesiegt, endlich sind wir frei. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)