Stille Nacht von Palaver98 (Lasst uns gemeinsam singen) ================================================================================ Kapitel 1: Die Welt in Flammen ------------------------------ "Bajonett auf !", rief Ludwig mit lauter Stimme. Wieder zogen die Soldaten mit einem metallischen Schleifen die Klingen aus den Scheiden und pflanzten sie auf die Mündung ihrer Gewehre auf. Ludwig stellte seinen rechten Fuß auf der untersten Sprosse der Sturmleiter an der Grabenwand ab und machte sich bereit. Er zog seine Pistole aus dem Holster an der Hüfte und entsicherte den Kniegelenkverschluss. Wieder ergriff er seine Signalpfeife an dem Band um seinen Hals mit Daumen und Zeigefinger. Er hob sie an den Mund. Er hielt noch kurz inne und atmete ein letztes Mal tief durch. "Mit Gott für Kaiser und Vaterland! Hurra!", brüllte er und blies mit aller Kraft in die Signalpfeife. Sofort wurde das Pfeifsignal aufgenommen. Wieder dieser markdurchdringende Lärm aus den lauten Rufen der Soldaten, dem Feuer der Maschinengewehre, den Explosionen der Granaten und den Sturmpfeifen. Ludwig klemmte die Signalpfeife zwischen seinen Lippen ein und zog sich mit seiner freien linken Hand die Sturmleiter hinauf. Kaum war er mit dem Kopf über der Grabenwand, wurde er auch schon sofort mit einem Regen aus dunklem Dreck bedeckt. Die Granate war nur unweit von ihm eingeschlagen, hatte aber zwei andere Soldaten umgerissen. Die nachrückenden Männer schoben die Leichen ihrer toten Kameraden beiseite und stolperten aus dem schützenden Graben hinaus, wieder herauf auf das Niemandsland. Ludwig schob sich über die beigen Sandsäcke und stürmte geduckt vorwärts. Was blieb ihm auch anderes übrig. Würde er sich in einen der unzähligen Granattrichter kauern, er könnte genauso sterben. Der Deutsche blies immer wieder verbissen die Pfeife. Er achtete nicht mehr wirklich auf die vielen Einschläge und vorbeipfeifenden Kugeln. Er achtete nicht auf die Soldaten um ihm herum, die mit dem Gewehr in den rauen Händen rannten, die durchschossen und zerfetzt wurden, starben und fielen. Er achtete nur darauf, geduckt zu rennen. Schnell zu rennen. Ehe er es sich versah, war Ludwig an den eisengrauen Stacheldrahtverhauen. Vor ihm blitzen dicht über dem Boden pausenlos, in einer langen Reihe nebeneinander, die Mündungsfeuer der Gewehre auf. Sie gerieten ins ratternde Kreuzfeuer zweier Maschinengewehre. Er warf sich nieder. Die Männer wurden wieder niedergemäht wie Zinnsoldaten. Dicht neben ihm schrie jemand schmerzerfüllt auf, fiel vornüber mitten in den Stacheldraht und blieb blutend und regungslos darin hängen. Ob er noch lebte, atmete, stöhnte, Ludwig hörte es nicht. Er kroch auf dem Boden entlang. Die Kugeln einer Mg-Salve bohrten sich vor ihm in die nackte, zernarbte Erde. Die braunen Erdspritzer landeten direkt in seinem Gesicht. Dann fand er eine Lücke in den Stacheldrahtverhauen. Er löste den Feldspaten von seinem Koppel, dann riss er eine Handgranate ab. Er zog die Sicherungsschnur aus dem Holzstiel und schleuderte sie auf das französische Mg vor ihm. Die verschreckten, entsetzten Gesichter der Mg-Besatzung waren noch zu erkennen, bevor sie von der grell aufblitzenden Explosion weggerissen wurden. "Vorwärts! Auf geht's! Hurra!", brüllte Ludwig heiser mit weit aufgerissenem Mund, als er sich wieder aufrichtete und los stolperte. Die einzelne blonde, schmutzige Strähne, die ihm ins Gesicht hing bemerkte er nicht. Er schlug eins der ihm entgegen gerichteten Bajonette mit dem Spaten beiseite, schoss einen der Franzosen nieder und sprang in den Graben. Wieder erhob sich Geschrei, als die deutschen Soldaten den Graben stürmten. Wieder mischte es sich mit Schmerzensschreien, Schüssen und Explosionen. Ludwig feuerte auf jede blauen Rock, der in seinen Blick geriet. Einem zog er die Schneide seines Spatens durchs Gesicht. Der Mann schrie entsetzlich auf und schlug noch die Hände vor sein blutiges, aufgerissenes Gesicht, bevor er zu Boden ging. Einem anderen Franzosen hackte er schräg in den Halsansatz auf dem Rumpf. Es ertönten gurgelnde Schreie, das rote Blut quoll aus seinem Hals und färbte den blauen Kragen seines Mantels rot. Ein Franzose stürzte sich schreiend auf ihn, Ludwig packte ihn und drückte ihm die Pistole in die Magengrube. Leer. Er riss die Augen auf. Ludwig ließ die Pistole fallen, packte den Franzosen noch mit der anderen Hand und rang ihn nieder. Ihre verschwitzten Gesichter berührten sich fast, grimmige Augen, gebleckte Zähne und dreckverschmierte Wangen. Ludwig hielt den Mann mit all seinem Körpergewicht nieder und griff mit zittrigen Fingern nach seinem Messer am Koppel. Er bekam es zu fassen, zog es und drückte dem Mann die Klinge in den Bauch, spürte Blut über seinen Handrücken laufen. Die Augen seines Gegners weiteten sich, er öffnete stockend den Mund und gab ein Röcheln tief aus seiner Kehle von sich. Ludwig stand sofort wieder auf, ließ den Mann am Boden sterben und wandte sich um. Ein weiterer Franzose riss gerade seine Faust in die Luft, um ihm sein Bajonett in die Brust zu rammen. Ludwig konnte gerade noch seinen Unterarm fassen. Die beiden rangen mit einander, wurden von der wogenden Masse im engen Graben hin und her geschoben. Dann erkannte er sein Gegenüber. "Frankreich!", stieß er zwischen seine Zähnen hervor. "Allemagne!", erwiderte Francis ebenso verbissen. Arthur Kirkland fuhr mit seinem Finger die Linie nach. Kaum zu glauben, dass dieser fast schon banal wirkende, schwarze Strich von so großer Wichtigkeit war. Natürlich war es nicht der Strich selbst, aber dass, was er so harmlos scheinend symbolisierte: der Frontverlauf. Seit Wochen, Monaten lagen sie jetzt schon in den Schützengräben und nichts rührte sich. Dabei würde dieses erste Kriegsjahr bald zu Ende sein. Durch den anbrechenden Winter würden jegliche Bewegungen sowieso erstarren. Arthur fragte sich, wie gut er wohl diesen Krieg überstehen würde. Das war bei jedem von ihnen so. Auch bei Ludwig, Gilbert, Francis, Ivan und Roderich und Elizabeta. Man nannte sie schließlich nicht umsonst Vater- bzw. Mutterländer. Durch den vielen Tod und die endlose Verwüstung verschlechterte sich ihr gesundheitlicher Zustand nach Kriegen meist. Er musste an den Hundred Years War denken, den er einst mit diesem France, mit dem er nunmehr verbündet war, geführt hatte. Aber das hier war etwas noch nie dagewesenes. Ein Anflug von Schauer lief seinen Rücken herunter. Es krachte ohrenbetäubend. Der ganze Unterstand wurde erschüttert. Arthur schrie auf, warf sich zu Boden, versuchte seinen Kopf mit den Armen zu schützen. Es knarzte und knirschte, Erde fiel von der Decke. Dann war es auch schon wieder vorbei. Langsam, mit klopfendem Herzen hob er wieder den Kopf und schaute sich unsicher um. Staub erfüllte den Raum, einer der Stützbalken unter der Decke war entzwei gebrochen und auf den Tisch gefallen. Hätte er nur wenig weiter links gestanden, er wäre erschlagen worden. Überall türmten sich Erdhaufen. "England! England! Sir, Geht es ihnen gut?", hörte er seinen Adjutanten rufen, als dieser in den Unterstand hinein stürmte. "Bitte verzeihen Sie mir, dass ich nicht bei Ihnen war, sir", sagte er, als er sich zu ihm herunter beugte um ihm aufzuhelfen. "Well, well, noch ist es nicht soweit gekommen, dass ich begraben werden müsste", murmelte Arthur schweratmend und klopfte sich den Dreck von der braunen Uniform. Dann fuhr er sich müde mit der Hand durch sein strohblondes, struppiges Haar. "Ich werde nach draußen gehen, um mir ein Bild von dem Zustand der Gräben zu machen", sagte er zu seinem Adjutanten. Als er heraustrat und sich umsah, merkte er, dass er noch einigermaßen glimpflich davon gekommen war. Direkt neben seinem war ein Unterstand von einem direkten Treffer komplett eingedrückt worden. Einige Männer waren gerade dabei, verzweifelt mit Schaufeln und bloßen Händen nach Verschütteten zu graben. "Wir sind viel zu weit vorne. Veranlassen sie, dass man mit weiter hinten einen neuen Bunker einrichtet", ordnete er an, den Blick stur geradeaus über den Grabenrand gerichtet. Dort sah er gerade die Rauchwolke und Dreckfontäne einer weiteren Granate hochgehen. Er werde einen kleine Inspektionsrundgang machen, sagte er. Arthur Kirkland bog in einen Seitengraben ein. Obwohl er sich stets zwischen den Männern, die mit ihrem Rücken an der Grabenwand standen, seitlich hindurchzwängen musste, salutierten sie jedes Mal. Wer gerade saß, erhob sich langsam und salutierte ebenfalls. Ein Soldat, der gerade seinen Kopf aus dem Loch des Bunker, in dem er und seine Kameraden seit Monaten lebten, steckte, sah erst verwundert auf, als er Arthur erblickte. Dann hob er ebenfalls die Hand zum Gruß an die Stirn. Arthur Kirkland ließ nur flüchtig seine Blicke über die Männer, seine Männer, gleiten. Er kannte diese Soldatengesichter sowieso zur Genüge. Kannte man eines, kannte man alle: Schmutzige, eingefallene Wangen, ausdruckslose Augen und verzogene Mundwinkel ohne Aussage. Arthur duckte sich wegen eines nahen Granatenscheinschlags, dann erreichte er einen breiteren Grabenabschnitt. Die Holzbretter, mit denen der Grabenboden ausgelegt war, knarzten unter seinen schweren Stiefeln. Zwei Ratten mit verdrecktem Fell huschten an ihnen vorbei. Auch an der Wand waren längs Bretter mithilfe von Pfosten angebracht, um den tiefen Graben am Einbrechen zu hindern und zu stabilisieren. Ein paar Soldaten saßen auf dem nackten Boden oder auf Holzkisten und löffelten monoton und schweigend ihre Ration aus dem blechernen Henkelmann. Ihre erdverschmierten Gesichter, Hände und ohnehin schon braunen Jacken und Mäntel glichen sich immer mehr der Erde des Grabens an. Die Gewehre standen schräg gegen die Grabenwand gelehnt. An einer Stelle hatten sie aus einem großen Leinentuch und grob geschnittenen, dicken Ästen eine Plane aufgestellt, um bei Regen, wenn die ganzen Gräben in Schlamm und Wasser ertranken, zumindest das Gröbste von oben abzuhalten. Über ihren Köpfen erstreckte sich der blaue Himmel, vom Grabenrand eingerahmt wie ein Bild. Einige weiße Wolken zogen vorüber. Der Ausblick wurde nur von den Sandsäcken und Stacheldrähten gestört, die in dieses Bild hineinragten. Arthur zog die buschigen Augenbrauen zusammen. "Very well then", wandte er sich an seinen Adjutanten "Ich denke, das genügt. Gehen wir wieder zurück." Es sah doch sowieso überall gleich aus. "Legt an!" Francis Bonnefoy machte eine kurze Pause, dann rief er laut: "Tirez!" Die Gewehre krachten, der Mann im blauen Uniformmantel brach zusammen. Die Soldaten stellten ihre Gewehre wieder neben ihren Füßen ab. Francis wartete erneut kurz, dann rief er ihnen zu: "Also gut, abtreten." Wieder ein Deserteur weniger. Er wandte sich um und ging zurück in das provisorische Hauptquartier. Es war in einem alten Gehöft eingerichtet worden, dass wundersamerweise noch nicht zerschossen worden war. Eine der großen, grauen Mauern hatte sich schnell zur Exekutionsstelle gemausert. Als er durch die breite, hölzerne Flügeltür eintrat nahm er das blau-rotes Képi ab und strich sich gedankenverloren durch sein leicht welliges, goldblondes Haar. Er wurde dafür immer wieder bewundert, dieser imbécile Angleterre hatte sogar einmal versucht, ihn nachzuahmen. Zwar war es gelungen, den Vormarsch der deutschen Brüder aufzuhalten und sie zurückzudrängen, aber jetzt saßen sie alle fest.. Francis seufzte. Wo war er da nur wieder reingeraten? Er hängte sein képi auf einem alten, hölzernen Kleiderständer auf und schritt den Gang hinunter, weiter in das Haus hinein. Die Holzdielen unter seinen Füßen knarzten hin und wieder leise, als er den Gang hinunter lief. Die Wache neben der offenen Tür zum großen Esszimmer schlug die Hacken zusammen und nahm Haltung an, als er herantrat. Wie alle Räume im Gehöft waren auch in diesem die Wände weiß verputzt, mit Bildern daran, die Bodendielen aus dunklem, fast schwarzem Holz. Hier stand ein großer, erhabener Schrank, dessen Türen mit Schnitzereien verziert waren, dort stand ein hölzernes Tischchen mit filigranen Beinen, bedeckt mit einem weißen Spitzentuch. Darauf eine blaue Vase, gefüllt mit farbenfrohen, teilweise etwas verwelkten Blumen. In seiner Funktion als Hauptquartier war die Einrichtung freilich etwas verändert worden. Größtenteils bedeckten Karten, Pläne und Berichte die Wände, genauso wie die zusätzlichen Tische. An der Wand rechts von Francis waren auf mehreren Tischen Telefone und Funkgeräte aufgebaut, auf dem großen Esstisch vor ihm, in der Mitte des Raumes, waren ebenfalls verschiedenste Materialen verteilt. Insgesamt waren, ausgenommen Francis selbst, acht Personen im Raum, davon sechs hochrangige Offiziere. "France, wir haben hier gerade einen kurzen Bericht aus den vorderen Stellungen", sprach ihn gleich einer der beiden Generalleutnants am Tisch an, als Francis den Raum betrat. "Es geht um die Versorgungslage", fuhr er fort, "es kommt noch kaum etwas bis ganz nach vorne durch. Bis auf ein paar Rationen und das Wasserloch sind sie ohne jede Versorgung." Konnte man es den Versorgungszügen verübeln? Wer würde schon gerne streckenweise hin und her über das Niemandsland ziehen, in dem es unendlich Granaten hagelte und Kugeln peitschte. Francis starrte durch das große Fenster, dass sich in der ihm gegenüberliegenden Wand befand. Da draußen erstreckte sich die Landschaft, grün wie das Gras, dass sie bedeckte, über ihr, durch den Horizont scharf getrennt, der endlos wirkende blaue Himmel. Und da draußen tobte jetzt der Stellungskrieg. "Excusez-moi, ist ihnen nicht gut?", wurde Francis von einem der anderen Stabsoffiziere am Tisch plötzlich gefragt. "Nein, nein, es ist nichts", murmelte er. "Möchten sie vielleicht ein Glas Wein?", wurde er weiter gefragt. Francis nickte kurz und ihm wurde von der Ordonnanz ein Glas Bordeaux-Wein eingeschenkt und an seinen Platz gestellt. "Gibt es sonst irgendetwas? Quelque-chose nouveau, meine ich?", fragte Francis, als er sich auf den gepolsterten Stuhl setzte. Der Generalleutnant strich sich kurz mit Daumen und Zeigefinger über seinen gepflegten, geschwungenen Schnurrbart, dann erwiderte er: "Nun ja, ein Melder, der gerade hier war, hatte diese message überbracht." Damit reichte er Francis ein schmutziges, zusammengefaltetes Papierchen herüber. Francis nahm es an, öffnete es und las. "Wie alt ist diese Meldung?", fragte er dann. Der Offizier antwortete ihm, der Melder habe sie bei einem anderen, gefallenem Melder gefunden, als er Schutz in einem Granattrichter gesucht hatte. Francis faltete das Papierchen wieder zusammen und ließ es neben sich auf den Boden fallen. "Dann können wir diese Meldung wohl vergessen, es ist wahrscheinlich sowieso schon zu spät für sie", erklärte er. Ein Stabsoffizier nahm ein Blatt in die Hand. "Ich denke dies hier ist ganz besonders wichtig. Es handelt sich um die geplante Verstärkung unserer Artilleriestellungen im Norden und die Versorgung mit ausreichend Granaten", sagte er. " Es ist außerordentlich nötig, da auch Allemagne Beobachtungen zufolge, seine Artillerie ausgebaut haben soll", fuhr er fort. "Veranlassen sie das", sagte Francis beiläufig. "Aux armes, citoyens! Formez vos battaillions! Allez..." Francis erinnerte sich noch gut daran, wie sie im August in prächtig herausgeputzen, neuen Uniformen im Gleichschritt zur Marschmusik unter wehenden Fahnen und Jubel der Menschenmassen durch die Chausseen der Stadt zur Front paradiert waren. Allemagne war schnell vorgerückt, aber sie hatten ihn zurückgeworfen. Und jetzt saßen sie hier und wussten nicht, wie sie ausbrechen könnten, ohne fürchten zu müssen, selbst einzubrechen. Francis kratzte sich in Gedanken versunken an seinem Dreitagebart. Er erinnerte sich noch daran, als er im Graben d'Allemagne gegenübergestanden hatte. Letztlich hatte der Angriff abgewehrt werden können. Doch keine drei Tage später war eine Stellung weiter östlich an diese barbares allemands gefallen. "Kommen wir nun zu dem aktuellen Frontverlauf in...", begann einer der Generalmajore und trat an die große Karte an der Wand heran. Wie es wohl weitergehen würde? Kapitel 2: Winterklagen ----------------------- Ludwig rieb sich die Ohren. Genauso wie seine Nase und Wangen waren sie von der Kälte rötlich angelaufen. Ein Glück, dass er gefütterte Handschuhe und einen dicken Schal besaß, den er mehrfach um seinen Hals gewickelt hatte. "Noch bevor die Blätter fallen", wurde gesagt. Ha, die Blätter waren schon längst gefallen, sofern es überhaupt noch Bäume gab, von denen Blätter hätten fallen können. Und es sah nicht so aus, als würde sich auf längere Sicht die Lage verändern. Ludwig seufzte und stieß eine weiße Atemwolke zwischen seinen Lippen hervor, die durch die Luft zog und schnell verflog. Um sich ein wenig warm zu halten lief Ludwig den Graben hinunter. Als er niedriger wurde, duckte er sich vorsichtig. "Den Kopf verlieren" war schon längst zum geflügelten Wort unter den Soldaten geworden. Erst vorgestern hatte es wieder geschneit. Tagsüber hatte der Schnee sich immer am Grabenboden mit der Erde zu lästigem Schlamm vermischt. Jetzt hingegen wurde es so kalt, dass der Boden gefror und man zumindest einigermaßen anständig laufen konnte. Ludwig grub in seiner Manteltasche, holte eine schmale, halb zerfledderte Pappschachtel heraus und entnahm eine Zigarette. Als er sie zwischen seine aufgesprungenen Lippen steckte fiel ihm ein, dass er sein letztes Zündholz bereits vor über einer halben Stunde verbraucht hatte. Er steckte die Zigarette wieder zurück. Jeder, an dem Ludwig vorbei lief, hatte sich so gut wie möglich in seinen Mantel gehüllt. Oft standen die Männer dicht zusammen um sich gegenseitig zu wärmen, nicht selten noch zusätzlich in eine Decke eingewickelt. Glücklicherweise hatte er von Monika einen dicken, selbstgestrickten Überzieher aus Wolle per Feldpost geschickt bekommen, den er nun stets unter seinem Uniformrock trug. Er war mehr als dankbar dafür. Ludwig richtete den Pelzkragen seines Feldmantels. Zumindest ein Gutes hatte der Winter, es blieb hier vorne relativ ruhig. Für Frontverhältnisse, natürlich. Aber wenn der Frühling begann, wenn es wieder wärmer würde, dann würden auch wieder die unendlich wirkende Folge der Granatenhagel, Maschinengewehrsalven und Sturmangriffe wieder beginnen. Von der anfänglichen Begeisterung war nun nicht mehr viel übrig, vor allem nicht an den vordersten Linien. Stattdessen hing meist eine stille, starre Schwere in der Luft, die nur zeitweilig durch Kugeln und Granaten gebrochen werden konnte. Von Granaten wie solcher, die einmal auf einen Schlag die Hälfte seines Zuges getötet hatte, als sie Stellung im Graben beziehen wollten. Er selbst war mit einer tiefen Schramme davongekommen. Er hustete. Hoffentlich hatte er sich nichts eingefangen. Einer der Ärzte hatte ihm einmal gesagt, im Sommer gäbe es Kugeln und Granatsplitter, im Winter stattdessen Fieber und Grippe. Heldenhaft an Typhus und Lungenentzündung gestorben, hatte der Arzt dann noch leise gemurmelt, als er einen Krankenbericht überflog. Ludwig hatte getan, als hätte er nichts gehört. Da entdeckte er ein Grüppchen Soldaten, das an einer Kreuzung dreier Gräben auf einer langen, sperrigen Holzkiste gedrängt beisammen saß und rauchte. Sie alle hatten die Krägen ihrer Mäntel hochgeschlagen, sodass diese ihre Gesichter an der Seite bis auf die Wangen bedeckten. Es waren drei. Der Erste hatte einen Vollbart, dem man ansah, dass er schon lange nicht mehr gepflegt wurde. Krausig, mit etwas Schmutz und Schnee darin, genauso wie die Gesichter. Unter seinen Augen waren die Tränensacke bereits angeschwollen, wie es für ältere Menschen üblich war, ebenso die schlaff wirkenden Augenlider. Beides verlieh ihm einen fast wehleidigen Ausdruck. Unter dem Rand seiner, mit einer zerschliessenem, feldgrauen Tuch bespannten Pickelhaube schauten noch die buschigen Augenbrauen hervor. Der Zweite trug einen leicht geschwungenen Schnurrbart, der aber auch nicht viel besser aussah als der Vollbart des anderen. Auffallend waren die hohen Wangenknochen, die sich unter der ausgezehrten Haut deutlich abzeichneten, sowie die Hakennase, hätte sie doch besser zum Älteren gepasst. Unter das geknautschte Käätzchen hatte er einen dünnen Schal um seinen Kopf gewickelt, wahrscheinlich um Ohren und Wangen besser vor der Kälte zu schützen. Der Dritte war wohl der Jüngste. Anstatt eines Bartes hatte er nur einen leichten Flaum über der Oberlippe. Ein Freiwilliger, vielleicht, Student, eventuell. Doch anstatt der strahlenden, hellen Ausstrahlung, die man von seinesgleichen gewohnt war, machte auch er schon längst diese matte, graue Erscheinung. Anders als der Erste hatte er seine Pickelhaube nicht tief über die Stirn gezogen, sondern trug sie schräg nach hinten, sodass sein braunblonden Haares sichtbar war. Er war der Einzige, der beide Hände in die Manteltaschen gesteckt hatte und beide Beine durchstreckte. Allen dreien gemein war der leere Blick, der leicht zusammengesunkene Oberkörper und die Lethargie, die sie umgab. Das einzige, was diese Lethargie brach, war der wabernde Rauch ihrer Zigaretten. Ludwig ging auf sie zu, sie bemerkten ihn, erhoben sich rasch und salutierten. "Schon gut, kann mir einer kurz Feuer geben?", fragte er mit rauer Stimme. Der Jüngste hielt ihm seine Zigarette entgegen, damit er seine daran anzünden konnte. Sie standen schweigend zusammen, in der Kälte, in ihre Mäntel gehüllt, und rauchten. Ihre Zigaretten waren krumm und aus rauem Papier, der Tabak war grob und kratzte. Der graue Rauch vermischte sich mit ihren weißen Atemwölkchen, an diesem grau verhangenen Wintermorgen. Francis betrachtete möglichst unauffällig die Gesichter der Soldaten. Sahen doch alle irgendwie gleich aus. Hohle Wangen, raue, oft aufgekratzte und dreckverkrustete Haut und leere Blicke. Und jetzt im Winter hing einigen sogar Raureif in den ungepflegten Bärten. Francis überlegte, wann er sich das letzte Mal rasiert hatte. Das war, als er hinter die Linien zur allgemeinen Lagebesprechung für diesen Frontabschnitt beordert worden war. Also so vor zwei bis drei Wochen. Francis rieb sich die behandschuhten Hände. Hätte er keinen Kalender und würde er nicht Tagebuch führen, er hätte schon längst jedes Zeitgefühl verloren. War doch jeder Tag irgendwie wie der andere: Maschinengewehrfeuer hier, Granateneinschläge dort, warten und ausharren im Dreck der tranchées und Schützenlöcher und hin und wieder mal ein Sturmangriff. Entweder Allemagne oder er selbst. Francis ließ die Zigarette vom linken in den rechten Mundwinkel wandern. Zut, das war seine letzte. Wurde Zeit, dass mal wieder Rationen ausgeteilt wurden. Oder er musste tauschen. Das Aktfoto von Francoise hatte er schon längst weggegeben. Für eine halbe Flasche Wein. "Hé, France, möchten sie wieder ihr l'image d'amour zurücktauschen?", wurde er plötzlich von hinten angesprochen. Er drehte sich um. Einer seiner Männer stand vor ihm, in zerschlissenem, blauen Rock und aufgerissener roter Hose, und hielt besagtes Aktfoto in der Hand. "Je voudrais drei oder vier Zigaretten", erklärte er. "Désole, das hier ist meine letzte", erwiderte Francis und zuckte mit dem Mundwinkel, um die Zigarette wackeln zu lassen. "Ah, ce n'est pas possible! Niemand hat mehr was übrig", entfuhr es dem Soldaten laut. Sofort schien er zu bemerken, was er da gerade gesagt hatte und presste die gefurchten Lippen mit aufgerissenen Augen wieder zusammen. Francis lächelte leicht. "Keine Sorge, mir geht es genauso. Alle denken so, je crois, aber niemand will es sagen", sagte er "aber Allmagne geht es da drüben in seinem Graben sicherlich genauso dreckig." Der Soldat nickte kurz, dann wandte er sich wieder um und ging. Francis sah ihm noch hinter her, dann drehte auch er sich um, um zu gehen. Er musste noch im Kommandostand vorbeischauen, einen Bericht für die vergangenen Tage verfassen. Würde sowieso immer dasselbe drinstehen: "An der Front nichts Neues zu vermelden.". Es krachte es gewaltig hinter ihm. Francis stolperte, fiel zu Boden und legte seine Hände schützend über den Kopf. Erst nachdem mehrere Augenblicke verstrichen waren, ohne, dass erneut eine Explosion ertönte, stand er vorsichtig auf, um zu sehen, wo die Granate eingeschlagen war. Er ging wieder zurück und bog um eine Ecke. Die Granate war nicht direkt im Graben eingeschlagen, sondern neben der Kante. Dort war jetzt ein Stück herausgerissenen. Es stieg immer noch etwas Rauch aus der Einschlagspunkt auf. Es schien keine sehr große Granate gewesen zu sein. "Verluste?", fragte Francis nüchtern. Einer der Soldaten, die gerade hinzukamen, zeigte mit dem Finger auf zwei Leichen, die etwas entfernt bäuchlings auf dem Boden lagen. Sie waren wohl nicht durch die Explosion gestorben. Die Granatsplitter hatten sie aufgerissenen. Einem ragte noch ein scharfkantiger Eisensplitter aus dem zerfetzten, blutigen Nacken. Das rote Blut quoll immer noch aus dem Hals und breitete sich über den dunkelblauen Mantelkragen und erdbraunen Grabenboden aus. Der Splitter hatte den Hals von hinten zur Hälfte aufgerissen, sodass der Kopf wie bei einer kaputten Puppe auf eine Seite überhing. Die Beine waren weit gespreizt, die Arme jedoch lagen recht eng am Körper. Die Handflächen und die verkrampften Finger zeigten nach oben. Francis beugte sich herunter und griff mit beiden Händen unter die Leiche, und drehte sie mit einem kräftigen Ruck um. Durch die heftige Bewegung wackelte der halb abgetrennte Kopf und rutschte noch mehr zur Seite, sodass ein größerer Schwall Blut heraus floss. Der Mund des Mannes war aufgerissenen, zwischen seinen rotgefärbten Zähnen tropfte Blut hervor. Das rechte Auge war ebenfalls weit geöffnet, wie bei einem großen Schreck, das linke hingegen halb geschlossenen, wie bei dämmriger Müdigkeit. Francis hielt kurz inne. Dann griff er in die Innentasche des Mantels und holte ein schmales, ledernes Portemonnaie heraus. Er öffnete es, griff mit Zeige- und Mittelfinger hinein und fischte das Aktfoto von Francoise heraus. "Und, auch schon Pläne für die Weihnachtszeit, England?", fragte Allister zynisch grinsend. "Well, das Übliche: Im trench rumstehen und auf den Sieg, den Tod oder das Christkind warten", antwortete Arthur, ohne sich seinem schottischen Bruder zu zuwenden. Der Brite schaute durch das Periskop, das er mit beiden Händen festhielt, über den Grabenrand. Nichts tat sich auf dem Niemandsland und drüben bei Deutschland. Ab und zu glaubte er, die Spitze einer Pickelhaube, die über den Grabenrand heraus ragte, erkennen zu können. Ansonsten nur die üblichen Granattrichter, Stacheldrahtverhaue, Sandsäcke und Leichen gefallener Kameraden. Wobei, einen Unterschied gab es tatsächlich. Jetzt im Winter war alles von einer dünnen, weißen Schneeschicht bedeckt. Fast schon ganz ansehlich, dieses Weiß auf dem hässlichen Schlachtfeld. Wehmütig dachte er an die Winter der vergangenen Jahre. Er, Schottland, Alice und, wenn er Zeit hatte und über den großen Teich kam, sogar Kanada, hatten dann immer gemeinsam Christmas Eve gefeiert. Alfred wäre es zu peinlich, mit ihnen in England zu feiern und er wollte sowieso nichts mit dem Rest der Welt zu tun haben, insbesondere nicht mit den Ländern Europas. Aber er schickte trotzdem immer eine Wagenladung Geschenke und Weihnachtsgrüße an alle. Arthur erinnerte sich an etwas, das Amerika einmal gesagt: "Ihr europeans nutzt doch jede occasion, euch wegen machtpolitischen Kleinigkeiten gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Someday managed ihr's noch, euch alle zu zerfleischen." Hatte der Kerl doch einmal Recht gehabt. "He, England, willst du eine Zigarette?", fragte Allister Kirkland wieder. Diesmal wandte sich Arthur ihm zu. Allister hielt ihm eine verschrumpelte Zigarettenschachtel entgegen, aus der eine Zigarette ragte. "Thank you", sagte Arthur, als er sie mit zittrigen Fingern herauszog. Allister zog den Wollschal um seinen Hals etwas zurecht, dann steckte er sich ebenfalls eine Zigarette in den Mund und entzündete sie mit einem Streichholz. Dann bot er Arthur die kleine Flamme an. Er nickte dankend und steckte sich seine an. Allister lehnte sich mit dem Rücken und mit verschränkten Armen gegen die Holzbretter der Grabenwand neben Arthur. Wie es typisch für ihn war, trug er sein Glengarry schräg auf seinem roten Haarschopf. Seinen uniformgemäßen Kilt hingegen hatte er schon längst gegen eine dicke Hose eingetauscht. "Say, Scotland, wie findest du es eigentlich, dass du hier mit mir im Krieg seien musst?", fragte Arthur nach einer kleinen Weile. Allister antworte nicht, stattgessen blickte er hinauf in den Winterhimmel. Dann erwiderte er: "Ich werde es dir ganz ehrlich sagen: Für mich warst du schon immer der größte ass, dem ich je begegnet bin. Am liebsten wäre ich zu Hause geblieben und hätte dich hier alleine vor die Hunde gehen lassen. Mich gehen deine Streitereien nichts an." "I beg your pardon", sagte Arthur heiser. Plötzlich wandte Allister ihm sein Gesicht zu und fing an zu grinsen. "Aber irgendjemanden muss ja geben, der auf dich aufpasst, oder? Wäre very bad, wenn du im Graben oder Stacheldreht verreckst. Wir müssen ja auch an Alice, Kanada und Amerika denken. Sie sollen schließlich nicht jede Weihnachten von jetzt an ohne uns feiern müssen", meinte er. Arthur fiel darauf erst keine Antwort ein, aber dann lächelte er schwach. Kapitel 3: Lasst uns singen (1) ------------------------------- "Alarm, Alarm! Prepare for defense!", schallte es zusammen mit den Pfeifsignalen durch die abendlichen Gräben. Sofort wandelte sich die bisherige trügerische Ruhe in hektische Lebendigkeit. Wer im Bunker saß oder im Bett lag, sprang auf und schnappte sich beim Herausstürmen sein Gewehr. Wer im hinteren Teil der Gräben war, rannte los. Reihen von Soldaten eilten dicht gedrängt zwischen den engen Grabenwänden nach vorne. Der Grabenboden erbebte unter ihren Stiefeln. "Hurry, Hurry!", riefen die Unteroffiziere und trieben ihre Mannschaften zur Eile an. Im vordersten Graben angekommen, wurden Schützenauftritte und Maschinengewehre besetzt und Gewehre geladen und angelegt. Dann machte sich eine ruhige, aber angespannte Erwartung angesichts des bevorstehenden deutschen Angriffs bereit. Die Soldaten drängten sich hinter dem Grabenrand wie Hühner auf einer Stange, spähten mit nervösen Blicken auf das Niemandsland heraus, kauten auf ihren Lippen, atmeten in kurzen Stößen und hielten sich bereit. "What's the situation?", fragte Arthur mit harschem Ton, als er sich ebenfalls schnellen Schrittes auf den Weg zu den Schützenauftritten machte. "Wir haben auf der Seite von Germany's Gräben Lichter dicht am Boden entdeckt. Wahrscheinlich bereiten sie sich auf den Angriff vor", erklärte sein Adjutant hinter ihm eilig. Die ganzen letzten Tage über hatte es keinen Angriff gegeben, aber jetzt, zur Abenddämmerung, schien dieser Germany doch noch auf Ärger aus zu sein. Und dann auch noch kurz bevor die Weihnachtsfeiertage beginnen würden. War dem denn gar nichts heilig ? Versteh den mal einer. Aber was sollte man auch von jemanden erwarten, der auf die Idee kam, die Seemacht der Royal Navy und des British Empire herauszufordern ? Sie erreichten die Schützenauftritte des vordersten Grabens. Arthur trat herauf, öffnete das Holster an seiner rechten Hüfte und zog seinen schweren Webley-Revolver heraus. Er legte sich die große Schlaufe der Kordel um den Hals und spannte mit dem Daumen den Hahn. Der Engländer drängte sich zwischen die Soldaten,um einen besseren Ausblick zu haben. "Be careful, England, sir", hörte er seinen Adjutanten hinter sich. Arthur hob seinen Revolver und machte sich so klein, dass er gerade über den Grabenrand hinausschauen konnte. Es war noch früh am Abend, trotzdem war die Sicht bereits nicht mehr so gut, aber das schwache Licht wurde von dem Schnee, der noch lag, ein wenig gespiegelt und so verstärkt. Über ihnen war der Himmel dunkel, aber sternenklar. Er kniff seine Augen zusammen und suchte mit nervös hin und her springendem Blick die gegenüberliegende Seite ab. Tatsächlich entdeckte er dort mehrere, aber vereinzelt stehende, kleine, gelbe Lichter, dort, wo Deutschlands Graben verlief. Doch nichts geschah. Arthur biss die Zähne zusammen. Was war das schon wieder für eine Masche? Sie warteten weiter. Ein Schweißtropfen lief Arthurs Stirn trotz der winterlichen Kälte herunter. Dann glaubte Arthur etwas von drüben zu hören. Er spitzte die Ohren. Es ertönte erneut. War das etwa Lachen? God-damned laughing? Dann mischte sich etwas Neues hinein. Es klang melodisch und breitete sich über die gesamte andere Seite aus. Arthur runzelte verwundert die Stirn. Das war tatsächlich Gesang. Leise noch, aber er schwoll schnell an. "They're singing", sagte er leise, "sie singen Lieder." "Und, was haben Sie bekommen, Herr Deutschland?", fragte ein bärtiger Soldat mit einer Pfeife im Mund, vom Bunkereingang aus."Weiß ich noch nicht. Ich habe das Paket noch nicht aufgemacht", antwortete Ludwig, das verschnürte Paket Monikas prüfend mit beiden Händen wiegend. "Dann machen Sie mal. Sie sollten froh sein, dass ihnen überhaupt jemand was schickt", forderte ihn der Soldat auf und blies eine Rauchwolke zwischen den Lippen hindurch in die kalte Winterluft. Es war später Nachmittag, mitten im Dezember des ersten Kriegsjahres. Weil Weihnachten war, hatten viele Soldaten von ihren Verwandten und Liebsten ganz besondere Pakete geschickt bekommen. Ohne diese Pakete hätte Ludwig beinahe vergessen, dass es Weihnachten überhaupt noch gab. Sie enthielten bunte Karten, Kekse, Plätzchen, Schnaps, Christstollen und dergleichen. Natürlich war alles inzwischen trocken und zerkrümelt, aber es war mehr als willkommen. Nicht nur als Abwechslung für den Magen. Jetzt saß, wer solche Pakete erhalten hatte, im Bunker oder Graben und öffnete diese neugierig. Auch wurden Sonderrationen ausgeteilt. Ludwig legte das Paket wieder auf dem Tisch ab und zog sein Messer, um die Schnüre zu durchtrennen. Das Paket war relativ lang und ziemlich gut in billigen Stoff eingewickelt worden. Luise wollte wohl sicher gehen. Nachdem er auch den Stoff auseinander gefaltet hatte, sog Ludwig kurz die Luft ein. Ein rotes Blechkästchen lag neben einem zusammengeschnürtem Packen Briefe, sowie mehreren Pappschachteln. Das Blechkästchen war bis zum Rand mit Plätzchen gefüllt. Ludwig beugte sich herunter und roch vorsichtig mit geschlossenen Augen daran. Natürlich waren sie trocken, weil sie schon so lange in diesem Blechkästchen lagen, aber gleichzeitig hatten sie so einen Teil ihres Duftes beibehalten. Ein Geruch nach Teig, gemischt mit leichten Gewürznoten. Es kam ihm vor, als hätte er so etwas Köstliches seit Jahren nicht mehr gerochen. Ludwig musste sich schwer zurückhalten, um nicht gleich das ganze Kästchen leer zu essen. In einer der Pappschachteln waren sechs lange, weiße Kerzen, in einer anderen Zündhölzer. Eine weitere enthielt Zigaretten einer besonders guten Marke. Außerdem hatte Monika ihm noch ein Paar dicke Wollsocken und Glücksbringer an einer langen Kette geschickt. Er bestand aus einem kleinen, silbernen Kreuz, dass auf einem fünfzackigen Messingstern befestigt war. Auf der Rückseite schwungvoll eingraviert stand "Mein Liebster". In einem Brief waren mehrere Fotos. Das erste zeigte Monika in ihrer Reit- und Jagdkleidung. Hose, Reitstiefel, offene Jacke und Bluse, so, wie Ludwig sie gewohnt war. Ihr kräftiger, großer Körperbau kam dabei besonders gut zu Geltung. Sie saß auf einer kleinen Bank mitten im Garten ihrer Stadtvilla. In ihrem Rücken stand ein großer Busch, der vereinzelt Blüten trug. Das zweite hingegen zeigte sie in ihrem besten Festtagskleid. Es war ziemlich tief ausgeschnitten, sodass man einen klaren Blick auf ihren üppigen Busen hatte. Verstärkt wurde die Wirkung noch durch das enge Korsett unter dem Oberteil, sodass das Kleid äußerst kurvenbetont ausfiel. Die Stola über ihren Schultern, der weite, aufwendig gefaltete und mit Spitzen und Rüschen verzierte Rock und die Spange in ihrem kurzen, blonden Haar, rundeten ihr Bild ab. Das dritte Foto war ein Querformat. Darauf waren er, sein älterer Bruder Preußen, sowie Monika und Maria zusammen zu sehen. Er saß links, Preußen rechts in der Mitte. Schräg hinter ihnen standen Monika und Maria. Die beiden Männer trugen schwarze, offene Anzüge, Monika ein helles und Maria ein dunkles Kleid. Wahrscheinlich Preußischblau, ihre und seines Bruders erklärte Lieblingsfarbe. Sie waren in einem großen Zimmer, neben ihnen stand ein prächtig geschmückter Weihnachtsbaum. Es war das Erinnerungsfoto der Weihnachsfeier des letzten Jahres. Das Datum stand sogar in der rechten Ecke, unten. Ludwig spürte bei der Erinnerung daran ein kräftiges, inneres Zittern. Als Ludwig das vierte und letzte Foto anschaute lief er sofort rot an. Monika saß auf der Bettkante eines prächtigen, weiß bezogenen Himmelbettes, den Oberkörper leicht nach hinten gelehnt und stütze sich nach hinten mit beiden Händen ab. Ihren Kopf hatte sie zur Seite gewendet, sodass man ihr Gesicht im Profil sah. Ihre Oberschenkel waren gespreizt, ihr rechtes Bein angehoben und angewinkelt, sodass der gestreckte, zarte Fuß das linken Knie berührte. Sie trug nichts als schwarze, mit Rüschen, Schleifen und Spitzen geschmückte, enge und äußerst knappe Reizunterwäsche. Hastig schob Ludwig das Foto unter den Briefstapel. Dann öffnete er den nächsten Briefumschlag. Der Brief war auf sehr feinem Papier mir schwarzem Zierrand geschrieben. Er las im gelblich flackernden Schein der Petroleumlampe: "Lieber Ludwig, wir haben schon mit den Vorbereitungen für unsere Weihnachtsfeier angefangen. Wir sind natürlich bei Wilhelm II. eingeladen. Leider werden dieses Jahr wohl nur Maria und ich von uns vieren zusammen feiern können. Wir bedauern es sehr, dass Preußen und du nicht bei uns sein könnt. Ohne euch ist es einfach so schrecklich leer im Haus. Aber lass dir versichert sein, dass wir so viel Freude wie immer haben werden , wenn nicht sogar mehr. Schließlich schlagt ihr die Schlachten da draußen ja auch für uns. Ich bin überzeugt, dass es euch gut geht und dass ihr euch tapfer haltet. Sicherlich habt ihr Frankreich, England und Russland bereits soweit, dass wir schon nächtes Ostern alle zusammen feiern können. Vor allem Maria ist, selbstverständlich, vollkommen davon überzeugt, dass wir einen großartigen Sieg erringen werden. Um dir die Weihnachtszeit da vorne etwas näher und fröhlicher zu machen, habe ich ein besonderes Päckchen verschickt. Es ist nicht allzu viel, aber es sollte dich für ein paar Augenblicke von dem ganzen Kämpfen ablenken und dir das Herz erwärmen. Wir beten und hoffen inständig täglich für euren siegreichen Kampf und vor allem für euer Wohlbefinden und eure baldige Rückkehr. Bitte enttäuscht uns nicht. In Liebe, deine Monika" Es war nicht gerade ein langer Text, wie von Monika gewohnt, aber Ludwig wusste erst gar nicht, was er denken sollte. Das kam so gut wie nie vor. Aber er wusste, dass es ihm kaum möglich wäre, ehrlich und sicher auf den Brief zu antworten. Langsam steckte er ihn wieder zurück. Die übrigen Briefe öffnete er gar nicht. Nachdem Ludwig so schweigend eine Weile dagesessen hatte, griff er in das rote Blechkästchen und aß ein paar der Kekse. Sie schmeckten wie erwartet wunderbar. Nachdem er einige gegessen hatte, nahm er die übrigen Briefe und las sie ebenfalls. Er las sie immer und immer wieder. Plötzlich hörte Ludwig von draußen aus dem Graben Lachen und fröhliche Rufe. Sicher, es war Weihnachten und man hatte schöne Päckchen und Grüße bekommen, aber war das bereits Grund genug zum Lachen? Ludwig erhob sich, setzte seine Schirmmütze auf und trat aus seinem Bunker heraus nach oben. Er schaute sich mit seinen strengen, blauen Augen um. Es war inzwischen Abend geworden. Zwei Soldaten gerade damit beschäftigt, einen kleinen, dunkelgrünen Weihnachtsbaum, eigentlich war es ja nur der obere Teil eines Tannenbaumes, unter dem Grabenrand zu befestigen. Weitere Soldaten standen um die beiden herum. Das Bäumchen war mit buntem Allerlei geschmückt, dass wahrscheinlich mit der Post gekommen war. Auf der Spitze steckte sogar ein glänzend polierter Messingstern. Außerdem waren drumherum mehre Kerzen in die Erde gesteckt und entzündet worden. "Seid ihr denn des Wahnsinns? Geht doch gleich rüber und zeichnet auf Englands Karte ein, wo wir unsere Stellungen haben!", rief Ludwig laut. Überrascht drehten sich die Soldaten zu ihm um. Einige grüßten. Andere nicht. Sie schauten sich schweigend an. "Nu kommen se schon, Herr Deutschland. können se nich mal den Kameraden ein bissl Weihnachtsfreude gönnen?", wurde er dann unerwartet von einem Leutnant gefragt. Ludwig straffte bereits seinen Rücken um eine scharfe Antwort zu geben, dann hielt er jedoch inne. Es stimmte doch. Es war Weihnachten, der Krieg war um Längen nicht so verlaufen, wie er eigentlich sollte und alle waren erschöpft. Das war bei England und Frankreich drüben sicher genauso. Einen Abend wenigstens sollte man auch mal an etwas andres denken können, außer, dass man jeden Moment sterben könnte. Einen Abend wenigstens. Ludwig schloss den Mund wieder. Dann nickte er und sagte: "Fahren Sie fort." Sofort fingen die Männer um ihn herum wieder an zu grinsen und die Beiden kümmerten sich wieder um den kleinen Baum. Als Ludwig sich umsah, entdeckte er noch weitere, die ebenfalls entweder unten oder oben am Graben angebracht worden waren. Und hin und wieder waren Kerzen entzündet worden, deren kleine, gelb flackernden Flammen dafür sorgten, dass sich die Schatten, die die Männer warfen, zu bewegen schienen. Obwohl es durch die Abenddämmerund bereits grau geworden war, verbreiteten diese kleinen Lichtinseln einen schwachen, aber erleichternden Schein inmitten des dunklen, eintönigen Grabens. Dann begann jemand plötzlich Mundharmonika zu spielen. Stille breitete sich aus und jeder hörte zu, jeder erkannte die Melodie sofort. Einige fingen an zu summen. Ludwig schwieg. Dann, ohne wirklich darüber nachzudenken, erhob er heiser und leise seine Stimme: "Stille Nacht, heilige Nacht! Alles schläft; Einsam wacht, nur das traute heilige Paar!..." Er stockte immer weniger und sang immer lauter und voller: "...Holder Knab im lockigen Haar; Schlaf in himmlischer Ruh! Schlaf in himmlischer Ruh!" Mit dem Refrain fielen einige Männer mit in das Lied ein: "Stille Nacht, heilige Nacht! Gottes Sohn, o wie lacht; ..." Nun sang jeder, egal ob er stand, lehnte oder saß: "...Da uns schlägt die rettende Stund; ..." Der Gesang tönte durch den ganzen Grabenabschnitt. Die Stimmen waren heiser und brüchig, aber der Gesang war laut und kräftig. Sie sangen weiter, Strophe für Strophe. Wer den Text nicht kannte, summte mit: "...der Retter ist da!" Schließlich waren sie fertig. Schweigen breitete sich aus, niemand rührte sich. Irgendjemand schluchzte. Verständlich. Plötzlich ertönte etwas von drüben über das Niemandsland. "Sagt mal, Kameraden, hört ihr das auch?", fragte einer der Mäner, als er wie alle verwundert umher schaute und horchte. "Klingt nach Musik aus Englands Graben", sagte Ludwig. "Aber was genau ist das?", fragte ein weiterer. Ludwig hörte konzentriert hin. Dann antwortete er: "Dudelsäcke, glaube ich." "Silent night, holy night! All is calm, all is bright! Round yon virgin mother and child...", sangen die Männer so laut und kraftvoll sie konnten. Das mussten sie auch, um gegen die entsetzlich laute Begleitmusik anzukommen. Arthur sang ebenfalls mit. Neben ihm stand Allister und spielte seinen Dudelsack. Nachdem sie verstanden hatten, was drüben in Deutschlands Graben gesungen wurde und, dass das auf dem Grabenrand tatsächlich kleine, kerzenerleuchtete Weihnachtsbäume waren, hatte sich die Anspannung schlagartig in Verwunderung verwandelt. Und dann hatte Allister seinen Dudelsack geholt und angefangen die Melodie dieses Liedes, das sie alle kannten, zu spielen. Immer mehr Spieler der Royal Scott Guard waren mit eingefallen und schließlich sangen auch die übrigen Männer mit. Auf einmal erschienen auch welche, die ebenfalls kleine Weihnachtsbäume in den Händen trugen und stellten sie auf den Grabenrand. Kerzen wurden entzündet, während sie sangen. "Chantez, chantez!", feuerte Francis seine Soldaten an. "Douce nuit; sainte nuit! Dans les cieux; l'astre luit! Le mystére annoncé s'accomplit!...", wurde von all seinen Männern so vollstimmig wie möglich gesungen. Francis hatte damit angefangen, als er erst den leisen Gesang aus Deutschlands Richtung von der anderen Seite de no man's land und dann diese horrible Dudelsäcke aus Englands Graben gehört hatte.Weihnachten war das Fest d'amour, da wollte er um keinen Preis zurückstehen, erst recht nicht hinter Allemagne und Angleterre, auch wenn sie gerade mitten im Krieg waren. Er hatte einem der Soldaten befohlen, seine Zieharmonika zu holen und Douce nuit nachzuspielen. Es war schon trés curieux. Krieg herrschte, sie hatten sich allesamt in die Erde gegraben und lebten wie die Ratten im Dreck, wenn nicht gerade angegriffen wurde. Sein Erzfeind Allemagne lag nur gerade mal einhundert Meter, peut-être sogar weniger, von ihm entfernt und nun sangen sie. Sangen Weihnachtslieder. Aber Francis kümmerte das nicht. Er sang und mit jeder Strophe wurde ihm das Herz etwas leichter. "...C'est l'amour infini; C'est l'amour infini!", beendeten sie auch schon das Lied. Viel zu früh, für Francis' Geschmack. Langsam herrschte wieder Schweigen. Niemand sagte etwas oder rührte sich, alle schienen auf etwas zu warten. Oder würden sie wieder in die Anspannung wie die Tage zuvor zurückfallen? Francis dachte nicht lange nach. Er wandte sich um. Erst zögerlich, dann immer sicherer kletterte er die Sturmleiter hinauf. Hinter sich hörte er die erschreckten Rufe seienr Männer: "France, France, was machen Sie da? Sind Sie fou?", rief einer laut. "Non, mais nous avons besoin de vous!", rief ein weiterer ängstlich. Francis hatte breits seinen einen Fuß auf dem Boden des schneebedeckten Niemandslandes gestellt, mit dem anderen war er noch auf der letzten Sprosse der Sturmleiter, als er sich endlich umdrehte und lächelnd antwortete: "N'avez pas so große Sorgen. Um unsergleichen umzubringen braucht es mehr, als ein Jahr Krieg. En plus, je ne crois pas, dass ich in Gefahr bin. Attendez." Mit diesen Worten stolperte Francis zwischen dem Stacheldrahtverhau hindurch, auf den gegenüberliegenden Graben zu. "...the savior is born!" Das Lied war zu Ende, die schottischen Spieler setzten ihre Dudelsäcke ab. Trotz der abendlichen Dunkelheit, der ständigen Präsenz des Grabens, der Sandsäcke und des Stacheldrahts fühlte Arthur eine gewisse Ruhe in sich. Kein Gefühl des Friedens, aber ein Gefühl der Erleichterung. Es war nicht viel, was sie hatten. Kein Festessen, kein bunt geschmückter Saal, keine Festtagskleidung und keine Familie. "Comrades!", erhob Arthur seine Stimme "Wir haben nur mud in den Gräben, barbed wire im Niemandsland und beinharte cakes als Rationen. Aber, comrades, lasst uns trotzdem unser bestes tun, diese heilige Nacht zu feiern. Wäre doch a shame, bliebe ich hinter Germany zurück!" Mit den lezten Worten riss er grinsend beide Fäuste in die Luft. Die Männer applaudierten und riefen laut hooray. Jetzt wurden auch endlich die ersten Weihnachtspäckchen herausgeholt. Lachen und eine, unter diesen Umständen, heitere Stimmung breiteten sich aus. Arthur lehnte sich mit dem Rücken gegen die Grabenwand. Of course, er hatte Alice in weiser Vorraussicht bereits vor einiger Zeit einen Weihnachtsbrief geschickt, aber bis jetzt hatte er noch keine Antwort erhalten. Natürlich, die Feldpost war nicht gerade die zuverlässigste und natürlich wurde nicht alles sofort abgeschickt und obendrein auch kontrolliert, aber er fühlte sich trotzdem leer. Und er vermisste sie. Alle, seine Alice, den schüchternen Canada und sogar diesen undankbaren jungen Kerl America. Wehmütig dachte er an die Weihnachtsfeste der letzten Jahre. Da klopfte ihm jemand auf die Schulter. Arthur wandte sich um. Allister stand neben ihm und hielt ginsend eine Flasche besten Scotch-Whiskey in der Hand. "What is it, England? Warum so niedergeschlagen? Du hast doch selbst eben erst gesagt: do your best to enjoy this night!" Damit drückte er ihm die Flasche in die Hand. "B-but, Scotland...ich kann doch nicht, i mean, das ist ein Geschenk für dich, isn't it?", stammelte Arthur überrascht. "No worries!", erwiderte Allister lachend und deutete mit dem Daumen über seine rechte Schulter auf eine offene Holzkiste, die auf dem Boden lag "meine Jungs haben mir 'ne ganze Ladung geschickt! Und jetzt, cheers, du altes, britisches Ekel!" Allister zog eine weitere Flasche hervor und öffnete sie, um mit Arthur anzustoßen. Arthur schluckte. Ob das angesichts der Kriegslage eine gute Idee war? "England, da draußen tut sich was!", rief plötzlich jemand laut. Schlagartig riss Arthur mit weit geöffneten Augen seinen Kopf herum. Damn it, er hätte diesem trügerischem Frieden doch nicht trauen sollen! Im ganzen Graben erstarb die verhältnismäßig fröhliche Laune schlagartig. Ernüchterung und Anspannnung machte sich wieder breit. Arthur trat ans Scherenfernrohr heran. "Let me see for myself", sagte er und schaute hindurch. Kapitel 4: Lasst uns singen (2) ------------------------------- "Ja, sind Sie denn verrückt geworden?", rief Ludwig laut, als er sah, was der Soldat da gerade im Begriff war zu tun: Er war drauf und dran, unbewaffnet den Graben über die Sturmleiter zu verlassen. "Keine Sorge, Herr Deutschland. Ich denke nicht, dass mir etwas geschehen wird. Es wurde doch den ganzen Tag nicht geschossen." Mit diesen Worten war der Mann auch schon über den Grabenrand verschwunden. Ludwig biss die Zähne zusammen. Mit festem Ziel, aber vorsichtigen Schrittes lief Francis auf den gegenüberliegenden Graben zu. Mon dieu, was hatte ihn da eigentlich geritten? Sie hatten alle gesungen, Weihnachtsbäumchen und Kerzen aufgestellt, mehr aber auch nicht. Und jetzt stolperte er hier durch das Niemandsland auf seinen ennemi zu. Un miracle, dass er nicht längst mit einer Kugel im Kopf oder abgerissenen Beinen in einem der unzähligen Granattrichter lag. Doch mit jedem Schritt, den Francis näher an den anderen Graben näher kam, verflogen seine Zweifel immer mehr. Er war sich immer sicherer, dass Allemagne nicht auf ihn schießen würde, es war ein Gefühl, eine Intuition, ein vager Gedanke, mehr nicht. Auf einmal sah er, wie sich beim deutschen Graben etwas bewegte. Überrascht und unsicher blieb der Franzose kurz stehen und kniff die Augen zusammen. Er erkannte eine einzelne Gestalt, die sich aus dem Boden erhob und dann anfing, langsam in seine Richtung zu laufen. War es Allemagne selbst, oder nicht? Er konnte in dem Dunkel der Nacht auf diese Entfernung nur wenig mehr als Schemen wahrnehmen. Es gab nur einen Weg, sich zu versichern. Francis lief wieder weiter vorwärts. "Hey, you've gone mad, haven't you?", fragte Arthur mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen "alleine auf das Niemandsland heraufzusteigen? What are you planning?" "You'll see, England, Sir, es wird nichts passieren, da bin ich mir sicher", antwortete der Soldat, ohne sich umzudrehen und stieg die Leiter zielsicher weiter hinauf. Damn it, nur weil dieser verrückte France und einer von Germany's Männern raus gingen, hieß das nicht, dass seine eigenen Leute auch den Graben verlasen mussten. Aber um den Mann zurückzuhalten war es bereits too late, er war bereits verschwunden. Mit zusammengepressten Lippen schaute Arthur wieder durch das Scherenfernrohr, um zu sehen, was weiterhin geschah. Ludwig erwartete jeden Moment einen lauten Knall gefolgt von einem lauten Schrei, wie es jeder hier kannte. Nichts geschah. Verwundert runzelte er die Stirn. Das war ja kaum zu glauben, dass England oder Frankreich noch nicht dass Feuer eröffnet hatten. Andererseits konnte das natürlich auch eine Finte sein, um ihn herauf zu locken. Ludwig schaute sich um, dann entdeckte er an der Grabenwand vor ihm, direkt neben einem Weihnachtsbäumchen, ein Scherenfernrohr. Er schob sich an seinen Männern vorbei und beugte sich vor die Linse. Weil er erst nichts sah, schwenkte Ludwig den Blick nach links. Auch hier sah er nichts. Nervös schwenkte er nach rechts. Wieder war außer Schnee, Erde, Granattrichtern und Stacheldraht nichts zu sehen. Als er weiter das Niemandsland absuchte, entdeckte er endlich seinen Soldaten. Aber er war nicht alleine. Ein weiterer Soldat, der Uniform nach wahrscheinlich einer von Englands Männern, näherte sich von der anderen Seite des Niemandslandes her. Ludwig beobachtete, wie die beiden langsam und vorsichtig auf einander zugingen. Da bemerkte er eine weitere Bewegung, die von rechts kam. Beim genaueren Hinsehen erkannte Ludwig, dass sich dort noch jemand näherte. Der Richtung nach zu schätzen wahrscheinlich ein Franzose. Arthur runzelte ungläubig die Stirn, während er mit zitternden Hände das Scherenfernrohr umfasste. This had to be a dream, oder? So etwas konnte doch unmöglich geschehen. Die drei Soldaten standen da doch jetzt nicht einfach mitten zwischen den Granattrichtern friedlich beieinander! Da geriet alles um ihn herum in Bewegung. Überrascht schaute der Engländer sich um. Alle seine Männer begannen, sich um die Sturmleitern zu drängen um aus dem Graben heraus zu klettern. "Wait, was habt ihr alle vor? It's impossible! Das ist...", rief er stockend, doch niemand hörte ihm mehr zu. "Hey, England, worauf wartest du noch?", hörte Arthur dann eine ihm wohlbekannte Stimme von oben herab fragen. Er schaute auf und sah Allister, der bereits oben am Grabenrand stand. "Na los, come on", forderte der Schotte ihn auf, kniete sich hin und reichte Arthur die Hand herunter. Francis blinzelte mehrmals überrascht, als er die vielen menschlichen Gestalten sah, die sich aus den Gräben allemands erhoben und auf sie zu gingen. Aus Interesse drehte er sich um und sog überrascht die kalte Nachtluft ein. Auch aus Angleterres und seinem Graben flossen langsam immer mehr Menschen auf das Niemandsland. Ludwig ging auf die drei Soldaten zu, die dort mitten im Niemandsland standen. Um ihn herum liefen zahlreiche seiner Männer. Sicherlich war der Graben inzwischen vollkommen unbesetzt. Er fühlte sich nach wie vor nicht ganz wohl bei der Sache. Nicht, dass er länger glaubte, dass das Ganze eine Falle war. Inzwischen war auch ihm bewusst, dass nur alle Weihnachten friedvoll miteinander verbringen wollten. Vielmehr war es das Ungewohnte an der ganzen Sache, dass in ihm Irritation wie auch freudige Anspannung auslöste. Ein Jahr lang hatte man sich nun redlichste Mühe gegeben, sich gegenseitig tot zu schießen und jetzt wollte man sich mitten auf dem Schlachtfeld die Hände schütteln. Leichter Schneefall setzte ein. Ludwig richtete seinen Blick fest nach vorne. Atemwölkchen umwabberten seinen Mund. Die weißen Schneeflocken tanzten im Dunkel der klaren Winternacht im hellen Schein des Mondes umher, während die Männer, dicht eingepackt in ihre Mäntel, über die nackte Erde aufeinander zu gingen. Ludwig tat einen großen Schritt über die Leiche eines der zahllosen Gefallenen, die noch herumlagen, hinweg. Ob es einer seiner Soldaten oder Englands oder Frankreichs war, hatte er nicht erkennen können. Der Mann hatte auf dem Bauch gelegen, bereits halb im Dreck versunken und nun auch noch von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Jetzt hatte er die drei Ersten, die ihre Gräben verlassen hatten, erreicht. Nun erkannte er auch den Franzosen. Es war niemand anderes als Frankreich selbst. Trotz des Drecks und Schnees in Gesicht und blonden Haaren erkannt Ludwig ihn sofort. Sie schauten sich schweigend an. Auch England entdeckte Ludwig. Auch er war mit seinen Männern mitgegangen und blieb nun ihm gegenüber schweigend stehen. Dann schritten sie langsam aufeinander zu und breiteten ihre Arme aus. "Kameraden!", rief Ludwig. "Comrades!", rief Arthur. "Camarades!", rief Francis. Sie schüttelten einander abwechselnd die Hände. Francis grinste breit und auch Ludwigs und Arthurs Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Da standen sie nun schon scheinbar ewig zusammen, die Soldaten, die eigentlich verfeindet sein sollten, und redeten und lachten miteinander, als ob man beste Freunde wäre. Eifrig wurde getauscht um begehrte Objekte zu erhalten. Ein Deutscher tauschte seine Pickelhaube gegen eine Schachtel englischer Zigaretten ein. Ein Franzose sein Képi für einen deutschen Koppel. "Well, es tut mir ja terrible Leid, aber das kam jetzt alles so surprising, that I couldn't get you any presents", sagte Arthur zu Ludwig und Francis. Die drei hatten sich Stühle bringen lassen und saßen beisammen und unterhielten sich, während sie ihre Männer beobachteten. "N'est pas un problème, Angleterre", erwiderte Francis grinsend "ich habe auch nichts und hätte dir oder Allemagne sowieso nichts geschenkt!" "Das hätte ich von einem froggie like you auch nicht anders erwartet", frotzelte Arthur. Ludwig öffnete erst seinen Mund, als ob er etwas sagen wollte, ließ es dann aber doch. Francis hatte es trotzdem bemerkt. "Qu'est-ce que c'est ?", fragte der blonde Franzose den Deutschen neugierig. Daraufhin sagte Ludwig dann doch: "Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, ob das etwas Angemessenes ist, aber ich habe vielleicht doch etwas für euch." Damit erhob sich Ludwig von seinem Stuhl, wandte sich um und winkte einen Leutnant heran. "Sie und zwei weitere Männer gehen jetzt zur Verpflegungsstelle. Holen Sie dort auf meinen Befehl zwei der großen Fässer mit der weißen Beschriftung und bringen Sie sie hierher. Und zwar so schnell wie möglich, abtreten!", erklärte er dem Mann. Der Leutnant salutierte zu einem kurzen "Jawohl, Herr Deutschland!", bedeutete zwei weiteren Soldaten mitzukommen und ging. Ludwig setzte sich wieder auf seinen hölzernen Stuhl. "Was genau shall be brought?", fragte Arthur sofort, während er sich zu ihm herüber beugte "Warte es ab, England", antwortete der Deutsche nur. Ohne eine zufriedenstellende Antwort erhalten zu haben, setzte sich Arthur, irgendetwas Unverständliches brummelnd, wieder gerade auf. Schweigen breitete sich zwischen den dreien aus. Auf einmal sprang Francis auf und rief laut in alle Richtungen mit weit ausgebreiteten Armen: "Hé, hier herrscht ja noch gar keine Festtagsstimmung! Allons, musique, musique!" Die Soldaten, die um die drei herumstanden, wandten sich ihnen erst etwas überrascht zu, doch dann ertönten überall Rufe, dass man doch die Instrumente bringen solle. Allister war der Erste der anfing zu spielen. Bei dem durchdringenden Klang seines schottischen Dudelsacks zuckten Ludwig und Francis kurz zusammen. Gleichzeitig zuckten Arthurs Mundwinkel nach oben. Ein deutscher Soldat fing an, Akkordeon zu spielen, gleich darauf folgte ein Franzose mit seiner Trompete. Es war keine festlich-feierliche Melodie, die gespielt wurde, sondern eine festlich-fröhliche, wie zu einem Volkstanz. Und tatsächlich sahen Ludwig, Arthur und Francis erstaunt, wie sich einige Soldaten mit den Ellenbogen einhakten und anfingen tanzend im Kreis zu hüpfen. "Magnifique, magnifique!", rief Francis lachend, während er mit den Händen zum Takt klatschte. Auch Ludwig und Arthur fielen mit ein. Schließlich standen sie sogar von ihren Stühlen auf. "Verzeihung, Herr Deutschland, melde gehorsamst, wir haben dass Fass gebracht!", wurden die drei plötzlich unterbrochen. Als sie sich umdrehten erkannten sie den Leutnant, den Ludwig vorhin weggeschickt hatte. Wie befohlen, hatten er und zwei weitere deutsche Soldaten zwei große Fässer herangerollt. Auf ein Handzeichen Ludwigs hin richteten sie sie wieder auf. "Es ist zwar nichts besonderes", begann Ludwig zögerlich und legte seine rechte Hand auf eines der Fässer "aber so schnell ist mir nichts anderes eingefallen, was ich euch zu diesem festlichen Anlass überreichen könnte. Das hier bestes deutsches Bier aus meinem persönlichen Vorrat." Francis und Arthur schauten die Fässer erst überrascht an, dann fingen beide an zu grinsen und brachen in lautes Lachen aus. "Für eine spontane Idee vraiment belle", sagte Francis. Und Arthur ergänzte: "Wonderful, wie von dir zu erwarten, Germany." Sie orderten einige ihrer Männer, ihr jeweiliges Fass zu ihnen herüber zu rollen. "Ich fürchte nur", meinte Francis weiterhin und zuckte mit den Schultern, "dass ich leider wirklich kein passendes Geschenk für euch habe." Doch dann fiel ihm doch etwas ein. Er wandte sich um, winkte einen seiner Männer zu sich und gab ihm leise Anweisungen. Als der Mann ging, drehte er sich wieder zu Arthur und Ludwig um. "What are you scheming ?" fragte Arthur neugierig. "Un peu de patience", erwiderte Francis nur "warum überlegst du dir selbst eigentlich nicht auch etwas?" "Heavens, das musst du mir nicht dreimal sagen!", rief der Brite daraufhin laut aus und beorderte nun ebenfalls einen seiner Männer, etwas zu holen. Ludwig, Francis und Arthur blieben stehen und warteten unter dem dunklen Sternenhimmel. Der französische Soldat war als erstes wieder zurück. In den Händen hatte er eine kleine Holzkiste, die er Francis reichte. Dieser wandte sich zu Ludwig und Arthur, die sich bereits gespannt ein wenig vorgebeugt hatten. Als Francis dann den Holzdeckel abnahm, kamen darunter dunkelgrüne, sorgfältig in Stroh gebettete, Weinflaschen zum Vorschein. Francis nahm vorsichtig mit beiden Händen eine davon heraus und gab sie Arthur, eine zweite überreichte er Ludwig. "Das ist bester vin de Bordeaux, auch aus meinem persönlichen Vorrat. Nicht so billiger Fusel, wie ihn die einfachen Mannschaften trinken", erläuterte er den beiden. Ludwig strich seicht mit seinem behandschuhten Daumen über das Etikett. Arthur hatte seine Flasche zum Betrachten hochgehoben. In diesem Moment erschien auch wieder Arthurs Mann, der zwei große, runde Blechdosen bei sich trug. Arthur ließ die französische Weinflasche wieder sinken und schritt auf ihn zu. Er nahm die beiden Dose entgegen und hielt jeweils eine Ludwig und Francis hin. Sie nahmen sie entgegen und öffneten neugierig den Deckel. Es kam eine braune, feste Masse zum Vorschein. Francis verzog das Gesicht. "Hast du mal wieder selbst gekocht, Angleterre? Und jetzt versuchst du uns das Zeug als Weihnachtsgeschenk anzudrehen?", fragte er leicht ungehalten. "Warte mal einen Moment, ich glaube, ich weiß, was das ist". Murmelte Ludwig, zog sich einen Handschuh aus, steckte den Zeigefinger hinein und probierte den Inhalt der Dose. "Gar nicht mal so schlecht. Das ist doch dieser Weihnachtspudding, richtig?", fragte er Arthur. "Very good", bestätigte dieser "das ist in der Tat mein famous plumpudding." Auch Francis probierte nun vorsichtig Arthurs Plumpudding. "C'est vrai, gar nicht übel. Zumindest für die cuisine d'Angleterre", meinte er. Besagter war dem Franzosen zwar einen stechenden Blick zu, beließ es aber dabei. "Also dann, Prost!", sagte Ludwig Gilbert legte den Telefonhörer auf. Das sollte wohl ein schlechter Scherz sein. Das durfte einfach nicht wahr sein. Erst recht, sein Bruder Deutschland. Der Preuße stand sofort vom Tisch auf, schnappte sich im Vorbeigehen seinen Mantel. Er musste sich unbedingt selbst ein Bild machen. Nicht schon schlimm genug, dass laut der Verbindungsstelle kaum jemand auf seinem Posten zu sein schien, diese Aussage über engere Kontakte, ja, Verbrüderung mit dem Feind, waren unglaublich. "Fahrer, bringen sie mich auf der Stelle zur Front!", rief Gilbert, kaum dass er aus der Tür des Hauptquartiers getreten war. Kapitel 5: Lasst uns singen (3) ------------------------------- Ludwig, Arthur und Francis und ihre Männer hatten sich nach dem ersten Zusammentreffen in der letzten Nacht erneut am Vormittag auf dem Niemandsland getroffen. Es ließ sich einfach nicht verhindern. Wieder wurde geredet, getauscht und musiziert. Ludwig aber war still in Gedanken versunken. Wie es wohl seinem älteren Bruder Preußen ging? Der hatte sich ja, als Russland früher als gedacht eingefallen war, ihm sofort gegenüber gestellt. Er hatte Russland zwar rasch zurückgeworfen, aber die Bedrohung durch die zweite Front war damit noch nicht gebannt. Jetzt sollte sein Bruder eigentlich an der von hier soweit entfernten Ostfront sein. "Hey, Germany, what is it? Weswegen bläst du Trübsal?", wurde Ludwig plötzlich von Arthur angesprochen. "Weißt du", antwortete er daraufhin "es ist wegen meinem älteren Bruder Preußen. Ich habe schon lange nichts mehr von ihm gehört." Arthur nickte verstehend. Er hatte schließlich auch viele, die ihm nahe standen. Scotland, Alice und sogar dieser vorlaute America. Auch wenn er letzteres eher ungern zugab. "Don't worry", versicherte Arthur, "so wie ich deinen Bruder kenne, geht es dem alten Saupreußen sicher gut. Weed does not perish, oder wie sagt ihr Deutschen immer?" Ludwig musste unwillkürlich grinsen. England hatte Recht. Sein älterer Bruder war ja geradezu unverwüstlich. Das hatte ja auch die Geschichte schon gezeigt, dass Preußen sich nicht so leicht unterkriegen ließ. Russland würde schon etwas zu tun haben. "Also, kommst du jetzt?", fragte Arthur erneut " dieser Idiot France meint, er wolle unbedingt mit uns tanzen und just won't give up." Ludwig verzog schlagartig sein Gesicht wieder. Trotzdem ging er mit Arthur mit. Wer weiß, wann sie sich das nächste Mal so friedlich treffen konnten. Ludwig glaubte nicht, dass diese Waffenruhe lange anhalten würde. Wenn erst die Vorgesetzten davon erfuhren, was sicher nicht lange auf sich warten lassen würde, würde das Ganze schnell vorbei sein. Und misstrauische Stimmen gab es auch unter seinen Männern. Aber er wollte den Frieden und die Freude so lange wie möglich genießen. Gilbert Beilschmidt stieg sofort rasch aus dem Wagen aus und rauschte an seinem Fahrer vorbei, der ihm die Tür aufhielt. Sein Adjutant hatte Mühe, Schritt zu halten. "Preußen, glauben sie wirklich, dass sie sich selbst vergewissern müssen?", frage der Mann zwischen den Atemstößen. Gilbert zog im Laufen den Schirm seiner Offiziersmütze tiefer ins Gesicht und schlug den Pelzkragen seines Generalsmantel hoch. "Ja", antwortete er, ohne stehen zu bleiben "das ist nötig." Schnell näherten sich die beiden dem ersten Kommandostand. Verwundert bemerkte Gilbert, dass sie niemand in Empfang nahm. Es war auch sonst weit und breit niemand zu sehen. Er bückte sich beim Heruntersteigen in den in die Erde gegrabenen Bunker. Er schaute sich um. Auch hier war anscheinend keiner. "Verzeihen Sie, kann ich ihnen helfen?", wurde der Silberhaarige plötzlich von der Seite angesprochen. Überrascht drehte er sich um. In einer Ecke stand ein Holztisch, darauf eine flackernde Petroleumlampe und eine schwarzgraue Schreibmaschine. Hinter dem Tisch saß ein einziger Offizier. "Quoi? Das war alles? Ihr seid echte Waschlappen!", rief Francis lachend. "Oh, I'm deeply sorry, aber in Wintermantel, Stiefeln und auf hartgefrorener Erde lässt es sich nunmal nur beschwerlich tanzen", erwidert Arthur spitz. "Hach, na gut, dann eben quelque chose different", resignierte Francis. Er winkte einen seiner Männer zu sich und ließ sich eine Weinflasche geben. "Et bon, santé!", sagte er grinsend. Ludwig wollte auch gerade sein Glas erheben, als er von hinten angesprochen wurde: "Verzeihen Sie, Herr Deutschland, ich muss Meldung machen!" Ludwig drehte sich überrascht zu dem Unteroffizier um. "Ihr Bruder Preußen ist soeben eingetroffen. Er wünscht Sie zu sprechen", fuhr dieser fort. Ludwig riss seine hellblauen Augen auf. Sein Bruder Preußen war hier? Mein Gott, das war das letzte, was er jetzt erwartet hätte. Himmel, und er hatte noch nicht einmal einen ordentlichen Empfang vorbereitet! Aber warum hatte er sich denn nicht angemeldet? "What? Ol' Prussia ist hier?", fragte auch Arthur, der die Neuigkeit ebenfalls mitbekommen hatte. "La Prusse? Der hat gerade noch gefehlt", meinte Francis mit verzogenem Gesicht. "Na los, ruft die Offiziere zusammen und stellt eine Ehrenformation auf!", rief Ludwig hastig. "Das wird wohl kaum nötig sein, West, Bruderherz! Keseseses!", ertönte Gilberts Stimmem begleitet von seinem einprägsamen Lachen. Ludwig riss den Kopf herum. Tatsächlich kam dort mit schnellen, festen Schritten und einem breiten, fast schon überheblichen Grinsen im Gesicht sein Bruder angestapft. "Bruder, das ist wirklich äußerst überraschend. Warum hast du dich nicht vorher angemeldet?", fragte Ludwig, während er mit ausgestreckter Hand auf Gilbert zu lief. "Nun", antwortete dieser "ich wollte dich eben einfach mal überraschen. Ist ja schließlich schon eine ganze Weile her, dass wir uns da letzte Mal gesehen haben. Aber schön zu wissen, dass sich mein kleiner Bruder bisher gut geschlagen hat." Ludwig und Gilbert schüttelten sich die Hände und umarmten sich herzlich. "Sag, hast du auch Post von Monika und Maria bekommen?", fragte Ludwig. "Natürlich. Und ich bin auch fest entschlossen, diesen Krieg so schnell wie möglich zu Ende zu bringen, um zu ihnen nach Hause zurückkehren zu können", antwortete Gilbert selbstsicher. "Natürlich. Und ich werde mein Möglichstes dazu beitragen", erwiderte Ludwig steif. Francis beugte sich zu Arthur hinüber und flüsterte ihm in Ohr, dass sei mal wieder typisch für die deutschen Brüder. "Allerdings, West", hob Gilbert plötzlich seine Stimme "glaube ich kaum, dass du das erreichen wirst, in dem du mit unseren Feinden einen friedlichen Plausch mitten auf dem Schlachtfeld hälst." Mit den letzten Worten hatte er Arthur und Francis fixiert und schien sie mit seinen leuchtend roten Augen regelrecht zu durchbohren. "Außerdem" fuhr der Preuße fort und fing an, mit kräftigem, großem Schritt die deutschen Soldaten abzulaufen "gilt das für euch alle hier. Es herrscht Krieg! Ihr hattet gestern Abend euren Spaß, aber das war auch schon zuviel! Marsch, zurück in die Gräben und das Gewehr in Anschlag!" Gilbert war immer lauter geworden und hatte immer heftiger gestikuliert. Jetzt baute er sich breitbeinig vor den deutschen Soldaten auf, mit der rechten Hand vor sich auf die Schützengräben hinter ihnen zeigend. Niemand rührte sich. Alle standen nur schweigend da und schauten ihn an. "Bruder, ich fürchte, unsere Männer sind nicht gewillt, jetzt wieder die Kämpfe aufzunehmen. Genauso wenig, wie die Männer von England und Frankreich", warf Ludwig ein. Gilbert kaute angespannt auf seiner Unterlippe. "Was ist los? Seid ihr etwa schwerhörig? Ich, Preußen, habe euch soeben befohlen, zurück auf eure Stellungen zu gehen! Also los, macht schon!", wiederholte er. Noch immer machte niemand auch nur im Entfernstesten Anstalten, dem Befehl nachzukommen. Gilbert fing an, leicht zu zittern. "Das ist unmöglich! Ihr seid Soldaten! Ich bin Soldat! Wir alle sind Soldaten! Wir sollten gegen unsere Feinde kämpfen, nicht mit ihnen singen, mein Gott!", rief Gilbert, zunehmend die Fassung verlierend. Mit wild herumfuchtelnden Armen ging er auf die einzelnen Männer zu. "Das ist Meuterei! Verrat! Ihr kommt allesamt vor's Standgericht! An die Wand! Das hier ist Krieg und kein Kindergarten!", rief er ihnen nacheinander laut ins Gesicht, seine weit aufgerissenen, roten Augen fuhren hektisch zwischen den Soldaten hin und her. "Wissen Sie was, Preußen", erhob nun doch einer seine Stimme, mit den Händen in den Manteltaschen "ihre Vorstellungen über Soldaten, verzeihen Sie mir, können uns heute mal sonstwo. Wir haben erstmal genug. Außerdem könnten Sie sich auch mal ein wenig ausruhen. Nehmen Sie sich da mal ein Beispiel an ihrem Bruder." Gilbert schnappte hörbar nach Luft. So eine Unverschäntheit war ihm bisher selten begegnet. Er war schließlich Preußen, mein Gott! Plötzlich spürte er, wie ihm eine Hand auf die Schulte gelegt wurde. "Komm schon, Bruder, lasst uns alle wenigstens diese Tage Frieden halten", sagte Ludwig. Gilbert knirschte mit den Zähnen. Dann seufzte er tief. "Also schön. Ihr habt ja Recht", gab er zu. "Magnifique, magnifique", rief Francis laut und ging mit offenen Armen auf Gilbert zu. Dieser verzog daraufhin das Gesicht. "Alles was recht ist, Franzmann, aber auf eine Umarmung von dir kann ich gut verzichten." "Mais, prusse, mon meilleur ennemi, mein boche, heute ist doch ein besonderer Tag, non?", entgegenete Francis, ignorierte Gilberts Widerstand und umarmte ihn kräftig. Gilberts Gesichtsausdruck wechselte erst von Überraschung zu Ekel, dann zu Wut, aber schließlich grinste er und fing prustend an zu lachen. "Ach, was soll's, ist ja nur für heute, alter Frosch", meinte der Preuße und erwiderte die Umarmung. Nun war die Starre, die Gilberst anfängliches, strammes Auftreten erzeugt hatte, aufgelöst. Deutsche, Briten und Franzosen hatten eine Art Musikgruppe zusammengestellt und spielten Trompete, Dudelsack und Akkordeon gemeinsam. Gilbert hatte sich ebenfalls einen Stuhl bringen lassen, um sich mit Ludwig, Arthur und Francis zusammen zu setzen. Plötzlich fingen die Musiker an, ein bestimmtes Stück zu spielen, dass alle aufhorchen ließ. Gilbert summte erst leise mit, dann stand er auf und fing er mit der Wiederholung an, laut zu singen: "Stille Nacht, heilige Nacht! Einsam wacht..." "...nur das traute heilige Paar!...", fiel Ludwig in den Gesang seines Bruders mit ein. "Holy infant so tender and mild!...!, begann auch Arthur mitzusingen. "C'est l'amour infini; C'est l'amour infini!...", stieg Francis mit dem Refrain ein, sodass nun alle vier im Stehen weiter sangen. Mit den Strophen begannen auch immer mehr Soldaten das Weihnachstlied zu singen, sodass der Gesang immer mehr anschwoll. Als sie mit dem ganzen Lied fertig waren, lächelten sich Gilbert, Ludwig, Arthur und Frqncis trotz der winterlichen Kälte warm an. "Hey, guys, hat jemand Lust auf eine Runde soccer?", fragte Arthur in die Runde und präsentierte einen etwas abgenutzten, lederbraunen Fußball. - Ende/The End/Le Fin - Der 1914 begonnene Krieg sollte insgesamt vier weitere lange Jahre dauern und Millionen von Opfern fordern. Er gilt als der erste industrialisierte und damit moderne Krieg der Menschheitsgeschichte. Epilog: -------- Ludwig schaute auf den Zeiger seiner Uhr. Unaufhaltsam setzte er unter Begleitungs des regelmäßigen Tickens des Uhrwerks seinen Weg fort. Ludwigs Augen zogen Schritt für Schritt mit, Sekunde für Sekune. Als gäbe es nichts anderes auf der Welt, als diesen Uhrzeiger. Zeiteinteilung und Pünktlichkeit waren doch etwas Schönes, oder etwa nicht? Ludwig kaute auf der Unterlippe. Warum blieb er Zeiger nicht stehen? Doch selbst wenn er stehen bliebe, die Zeit würde davon ja doch nicht angehalten werden. Da war es. Der Zeiger stand genau auf der Zwölf. Die Stunde war voll. "Aaachtung! Feuer!", rief Ludwig laut. Mit einem Schlag gingen die Artilleriekanonen los und ließen mit markerschütterndem Donner einen nicht minder krachenden Feuerregen auf das gerade noch so friedliche und stille Niemandsland zwischen den Gräben nieder. Neujahr war vorüber. Arthur hatte so lange gewartet, wie nur möglich. Doch es ließ sich nicht weiter hinauszögern. Er hatte bereits die Befehle weitergeben lassen. Die Munitionsvorräte waren aufgestockt, Stellungen waren noch rasch ausgebessert worden, solange noch keiner das Feuer wieder aufgenommen hatte. Doch noch hatte er nicht den entscheidenden Befehl gegeben. Noch hatte er ihn nicht geben wollen. Er wollte es eigentlich immer noch nicht. Aber es war nicht zu verhindern. Sie hatten long enough gewartet. Ewig konnte es so nicht weiter gehen. Arthur hob seine Hand. War es ein ferner Traum gewesen, obwohl noch bis gestern so ruhig gewesen war? Er senkte seine Hand. Der Kanonendonner brach los. Schnee und Erde wurden in hohe Bögen in die Luft geschleudert. Der Krieg musste weiter gehen. Francis beobachtete das Niemandsland durch das Scherenfernrohr. Es lag ruhig da. Keine feiernden Soldaten waren mehr darauf zu sehen. Nur Granattrichter und aufgewühlte Erde. Die Soldaten standen wieder alle in ihren Gräben, drückten sich gegen die Wand oder kauerten sich in Erdlöcher, um besser vor Kugeln und Granaten geschützt zu sein. Doch noch hallte kein Schuss, pfiff keine Granate. Es war wie bis gestern und doch ganz anders. Wie kam es, dass sie nun wieder hier waren, als wäre nichts gewesen? Tief in sich kannte Francis die Antwort. Niemand von ihnen, weder Angleterre, Allemagne, noch Russie, geschweige denn er selbst, konnte sich dagegen stemmen. Jedesmal mussten sie mit ansehen, wie die litten, für die sie eigentlich da sein sollten. Dabei hatten sie ein paar so friedliche Tage gemeinsam verbracht. Francis nickte dem Mann neben ihm zu. Das Artilleriefeuer fegte wie aus dem Nichts über die Landschaft aus Granattrichtern hinweg. Es würde anhalten, bis einer vollständig am Boden war. Gilbert saß in seinem Büro im Hauptquartier der Obersten Heeresleitung. Er hatte auf seinem großen Stuhl Platz genommen und betrachtete leicht in sich zusammengesunken die Weinflasche und das Schälchen vor ihm auf dem Tisch. Darunter lagen Karten und Berichte. Aber Gilbert sah nur die Flasche und das Schälchen. Da klopfte es. Er richtete sich schlagartig auf. "Herein!", rief Gilbert mit fester Stimme. Ein Offizier kam herein. Er grüßte und trat an seinen Tisch heran. "Melde gehorsamst, die Kampfhandlungen haben wieder begonnen", meldete er. Gilbert nickte. Der Offizier salutierte erneut und verließ das Zimmer. Der Preuße rief nach seinem Diener. Dieser kam herein und er wies ihn an, die Flasche undas immer noch gefüllte Schälchen weg zu räumen. Kaum war der Diener wieder draußen, nahm Gilbert die Karten und die Berichte wieder zur Hand. Sie hatten viel zu lange geruht. Andererseits hatten der Wein und der Pudding zu früh abgeräumt werden müssen. Da fiel Gilbert ein Blatt auf, dass in dem ganzen Material eigentlich nichts verloren hatte. Er hatte es sich vor ein paar Tagen bringen lassen. Wann würde das Lied wohl wieder gesungen werden können? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)