The Son von Fay_Fee (Der etwas andere Nebenjob) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- „Meine Damen und Herren, der Flug CH1309 nach Tokyo, Japan ist nun bereit. Wir bitten die Passagiere der Economyclass, mit Sitzplätzen in den hinteren Reihen zuerst an Bord zu kommen. Bitte halten sie ihre Bordkarten und Ihre Ausweise bereit. Ladies and Gentleman...“ Immer noch sichtlich müde, stand Ryu auf, nahm seinen karierten Rucksack und seine Jacke und schlenderte hinter den anderen Passagieren her zum Boarding Schalter. Die Stewardess überprüfte seinen Pass und seine Bordkarte. Dann riss sie den markierten Teil mit den Sitzplatzinformationen ab und gab ihm diesen, zusammen mit dem Pass zurück. „Einen angenehmen Flug wünsche ich Ihnen. Der nächste, bitte.“ Gähnend lief Ryu den langen, kalten Weg zum Flugzeug entlang. Vor ihm standen bereits einige Gäste, die bereits genervt darauf warteten ins Flugzeug zu steigen. Er reckte den Hals um zu sehen, was vor ihm los war. In der Tür versuchten zwei Stewardessen ruhig einen Fluggast zu beruhigen. „Wie ich so was hasse!“, grummelte jemand hinter ihm. Ein Mann mittleren Alters, groß im schicken Anzug, sein Blackberry noch in der Hand, schaute wütend in die wartende Menge. Ryu zuckte mit den Schultern. „Solche Leute gibt es doch immer, da kann man leider nichts machen.“ Endlich ging es weiter. Als Ryu vorne stand zeigte er der Stewardess den Rest seiner Bordkarte. „Reihe 31, Platz C. Hinten durch, auf der linken Seite. Sie sitzen am Fenster. Einen angenehmen Flug wünsche ich noch, Sir.“ An seinem Platz angekommen, packte er seine Jacke ordentlich nach oben ins Gepäckfach und setzte sich. Mit seinen 1,90m hatte er kaum Freiraum an den Beinen. Seine Knie drückten gegen den hochgeklappten Tisch am Rücken des Sitzes vor ihm. Er merkte, wie sich neben ihm jemand in den Sitz fallen ließ. „War klar, dass Rogers, der alte Geizhals, nur Holzklasse gebucht hat!“ Es war der Herr mit dem Blackberry, der zuvor hinter ihm gestanden hatte. Aufgeregt beschwerte er sich am Telefon bei jemandem. Ryu hörte sich etwa fünf Minuten lang an, wie der Mann am Telefon sich lauthals über Rogers und Taylor und zig andere Leute aus seiner Firma beschwerte, als er entschied, sich seinen MP3 Player in die Ohren zu stecken und Musik zu hören. Nach einiger Zeit tippte ihm jemand auf die Schulter. Als er sich umdrehte, schauten die Stewardess von Eingang und der Mann mit dem Blackberry ihm an. „Verzeihung Sir, aber während des Starts müssen alle elektronischen Geräte ausgeschaltet werden. Und bitte schnallen sie sich an, wir fliegen in kürze los.“ Genervt packte Ryu den Player in seine Hosentasche. Auch der Mann mit dem Blackberry tippte etwas schroff auf den Tasten herum. Als das Display aufhörte zu leuchten schob er es ebenfalls in seine Hosentasche. Dann drehte er sich zu Ryu um. „Ziemlich nervig, aber was soll man machen.“ Ryu zuckte mit den Schultern. Dann wurde es etwas lauter im Flugzeug. Der Pilot hatte die Düsen angemacht. Während das Flugzeug Rückwärts von seiner derzeitigen Parkposition rollte, machten die Stewardessen ihre üblichen Ansagen. Es war 2.30Uhr am Morgen. Sie würden fast vierzehn Stunden fliegen und in Tokyo um 6.00 Uhr Morgens ankommen. Gut, dass er seit fast vierundzwanzig Stunden wach war. „Ich hasse fliegen und Sie?“ Ryu drehte sich zu seinem Nachbarn. „Wenn ich mehr Platz hätte, wäre es angenehmer.“ Der Mann mit dem Blackberry nickte und lächelte zustimmend. Dann reichte er ihm die Hand. „Peter Foster.“ Ryu nahm sie und schüttelte sie zur Begrüßung. „Ryu Yuan.“ Peter Foster, der Mann mit dem Blackberry und dem Armani Anzug, musterte ihn. „Sie kommen aus Japan?“ Ryu schüttelte den Kopf. „Nicht direkt. Meine Mutter stammt zwar aus Osaka, lebt aber seit über dreißig Jahren mit ihrer Familie in Chicago. Ich bin hier geboren und aufgewachsen“ „Ah, verstehe. Und ihr Vater ist Amerikaner?“ „Nur mütterlicherseits. Mein Großvater kam aus China.“ Mr. Foster lachte. „Das ist ja mal ein bunter Mix!“ Das Flugzeug beschleunigte auf dem Rollfeld und hob nach einigen Sekunden ab. Ein letztes Mal für lange Zeit schaute Ryu auf die Lichter von Chicago hinab. Die große Stadt, die er besser kannte als seinen Kleiderschrank. Die Sporthallen, die Bars, seine alte High School und das College, auf das er fast drei Jahre ging. Und natürlich das kleine Haus seiner Eltern. Er hatte noch nicht einmal den Chicagoer Luftraum verlassen, da vermisste er schon seine Eltern, seine Großeltern und sogar seine nervige, schwer pubertierende, Schwester Yumi. Er dachte an seine Freunde und seine Kollegen vom Judo. Er ließ alles was er kannte und liebte hinter sich. Und das nur für ein Stipendium. Schließlich wurden die Lichter immer kleiner und dann verschwand sein geliebtes Chicago unter einem dichten Schleier aus Wolken in der Dunkelheit. „Was machen sie in Tokyo? Urlaub?“, fragte Mr. Foster ihn. „Nein, ich habe ein Stipendium erhalten.“ „Oh, tatsächlich? In welchem Bereich denn?“ „Engineering for Systems Innovation.“ „Mit anderen Worten Maschinenbau für Fortgeschrittene?“ Ryu nickte. „Wow, nicht schlecht. Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Erfolg!“ Als das Flugzeug seine endgültige Flughöhe erreicht hatte, schnallte Ryu sich ab und versuchte es sich auf dem winzig kleinen Platz so gemütlich wie möglich zu machen. Zwei Stewardessen kamen mit einem kleinen Servierwagen den Gang entlang. Ryu schaute, was für Angebote zu finden waren. Mr. Foster hatte etwas ganz anderes anvisiert. Auffällig unauffällig schaute er einer der jungen Damen auf den kurzen Rock. Als er bemerkte, dass Ryu ihn dabei erwischt hatte, lehnte er sich ganz cool zu ihm rüber. „Die wären doch sicher auch was für Sie. Jung, hübsch. Und Über die Saftschubsen dieser Airline hört man ja so einige pikante Geschichten.“ Ryu grinste. „Ich hab es nicht so mit Stewardessen.“ Mr. Foster schaute ihn herausfordernd an. „Mit anderen vielleicht nicht, aber diese hier sind schon ziemlich heiß.“ Genauso herausfordernd schaute Ryu zurück. „Um ehrlich zu sein, ich hab es überhaupt nicht mit Frauen.“ Wie immer in solchen Momenten, beobachtete Ryu, wie im Gesicht seines Gegenüber die Peinlichkeit zum Vorschein kam. Damit, dass er auf Männer stand, konnten nicht alle Amerikaner umgehen. Vor allem bei Männern kam das nicht immer gut an. Nach zwei ernüchternden Mahlzeiten, drei Tassen Kaffee, einer Tablette gegen Rückenschmerzen und einer sehr langen Nacht landete das Flugzeug endlich in Tokyo. Mr. Foster hatte den ganzen Flug nicht mehr mit ihm gesprochen. Wohl auch, weil er von seinem ganz persönlichen Zwischenstopp mit einer der Stewardessen auf der Toilette ziemlich geschafft war. Ryu hatte Glück, sein Koffer kam sehr früh auf das Laufband. In der Ankunfthalle schaute er sich um. Sie war riesig. Und obwohl es 6.00 Uhr morgens war, standen überall Leute in Businesskleidung und warteten mit Namensschildern auf die Ankommenden. Er hielt selbst Ausschau nach jemandem, der ihn abholen sollte. Nachdem er einige Minuten lang zwischen den Kaffeebuden umherirrte sah er schließlich seinen Namen auf einem Pappschild. Ein junger Mann mit Brille und zerzauster Frisur stand in der Nähe des Ausgangs. Neben ihm ein junges Mädchen. Ihrem Aussehen nach zu Urteilen war sie Amerikanerin. Er ging auf die Beiden zu. „Yuan, Ryu?“, fragte der junge Mann in gelangweiltem Ton. „Ja, das bin ich.“ Er öffnete seine Tasche und holte einen dicken Ordner heraus, den er ihm schroff in die Hand drückte. „Willkommen in Tokyo, hier sind ein paar Informationen über die Stadt und die Universität. Haltet euch an die Regeln, passt euch den Leuten an und handelt euch keine Schwierigkeiten ein. Ansonsten viel Spaß hier in Japan und so weiter, ihr kennt ja diese Standard-Begrüßungen.“ Ryu empfand diese kalte Begrüßung als ziemlich unfreundlich und irgendwie auch enttäuschend. Das Mädchen aber schien trotz alledem ganz aufgeregt zu sein. „Okidoki! Ich werde mein Bestes geben um eine würdige Japanerin zu werden. Oh man, das wird ein Spaß!“ Ryu verdrehte die Augen. Sie fuhren mit dem Wagen ihres Abholers durch Tokyo. Beeindruckt musterte Ryu die Wolkenkratzer um sich herum. Die vielen Lichter und bunten Menschen, die so früh schon Unterwegs waren, beeindruckten ihn sehr. Chicago war zwar eine große Stadt, aber gegen Tokyo wirkte sie wie ein Dorf. Nach fast einer Stunde fahrt kamen sie an der Uni an. Ihr Fahrer drückte ihnen eine weitere Mappe und je einen Schlüssel in die Hand. „Da vorne links geht es zum Wohnheim der Mädchen, dort hinten rechts zum Wohnheim der Jungs. Für Fragen wendet euch an irgend wen anders, ich geh jetzt pennen.“ Es war halb zehn am Morgen. Ryu hatte inzwischen sein winzig kleines Zimmer bezogen und seine Sachen in den kleinen Schrank gequetscht. Das Bett schien japanische Standartgröße zu haben. Seine Füße ragte ein ganzes Stück über das Ende hinaus. Er hatte sich vom Heimaufseher, der um einiges freundlicher war als der Student, der sie abgeholt hatte, dass Passwort für das freie W-LAN geholt. Nun saß er in seinem Bett und schaltete sein Skype ein. Er wählte seine Schwester an, die gerade Online war. Nach ein paar Sekunden flimmerte ihr Gesicht vor ihm auf. Sie lag im Jogginganzug in ihrem Bett und pustete sich die frisch lackierten Fingernägel trocken. „Sag mal, du faules Stück, warum bist du nicht in der Schule?“ „Dir auch einen schönen Guten Tag! Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du elende Pestbeule tausende von Meilen von hier weg bist!“ Ryu schmunzelte. „Komisch, ich kann mich erinnern, dass du ziemlich geheult hast, als ich heute Morgen zur Tür raus bin. Also nochmal: Warum bist du nicht in der Schule?“ Er konnte hören, wie die Tür zum Zimmer seiner Schwester aufging. „Ist das Ryu?“ Seine Mutter tauchte vor dem Bildschirm auf. „Ryu, mein Schatz, na endlich! Wir waren schon ganz krank vor Sorge! Bist du gut angekommen? Wo bist du gerade?“ Seine Mutter war zwar stets über besorgt, aber dennoch liebte er sie von ganzem Herzen. „Alles in Ordnung, Mum. Der Flug war anstrengend, aber Ereignislos. Ich bin jetzt im Wohnheim. Hier ist es... klein.“ Er drehte den Bildschirm so, dass seine Mutter und seine Schwester das traurige Elend mit dem kleinen Bett selbst bestaunen konnten. Aus den Lautsprechern konnte er sie beide lachen hören. „Tja, mein lieber Junge, da musst du wohl durch. Ich muss jetzt los, in die Apotheke, deine Schwester hat schlimme Magenschmerzen. Melde dich bald wieder. Ich wünsche dir viel Spaß in Tokyo!“ Noch bevor Ryu seiner Mutter erklären konnte, dass seine Schwester lediglich an einem schweren Fall von Schulfaulheit litt, war der Bildschirm wieder schwarz und seine Schwester offline. Er beschloss den Tag nicht auf dem kleinen Zimmer zu verbringen, sondern sich den Campus etwas näher anzuschauen. Es war Mittwoch, sein Studiengang startete am Montag. Auf dem Campus wimmelte es aber bereits von Studenten. Er war es gewohnt immer der Exot unter seinen Mitschülern oder Kommilitonen zu sein, aber hier war er bloß einer unter vielen. Er war sich noch nicht sicher, ob ihm das gefiel oder nicht. Obwohl es bereits Anfang Oktober war, war es noch sehr warm. Ryu entschied sich, unter einem Baum im Campus Park eine Pause von seinem Rundgang zu machen. Er wusste bereits, wo seine Vorlesungen stattfanden, wo sich die Kantine befand und dass er sich einen Job suchen musste, um sich kleine Extras zu leisten, denn absolut alles in Tokyo war teuer. Er konnte sich zumindest nicht entsinnen, wann er das letzte Mal einen Schokoriegel für umgerechnet elf Dollar gesehen hatte. Gelangweilt las er nun in dem Informationsheft über Japan. Vieles wusste er bereits von seiner Mutter. Die berühmte japanische Höflichkeit, von der der Student vom Flughafen wohl noch nie etwas gehört hatte, die eigenwilligen Speisen und die Sache mit den Verbeugungen. Japanische Küche kannte er ebenfalls von zuhause. Er überflog den Teil mit den Speisen und Gebräuchen und landete im Kapitel über die Gefahren, die in Tokyo auf ihn lauern könnten. Sitte und Anstand hatten sich in den letzten dreißig Jahren wohl kaum verändert, jedoch die aktuelle Lage und die modernen Verführungen waren nicht mehr dieselben. In dem Heft standen vor allem Tipps für die Mädchen. Dass sie sich am besten nicht alleine herumtreiben sollen und solche Sachen. Es stand auch eine Menge Zeug über illegales Glücksspiel in Straßenecken und häufige Razzien in zwielichtigen Bars. Vor Gangs wurde ebenfalls gewarnt. Aber Ryu hatte keine Angst vor Schlägertypen. Als kleiner Junge ist er mal von einer Gang überfallen worden, danach hatte sein Vater ihn zum Judo angemeldet. Diesem Hobby ging er seitdem nach und hatte auch schon einige Turniere gewonnen. Im Laufe der Jahre waren auch einige Stunden Karate und Taekwondo hinzugekommen. Er stieß auch auf ein Kapitel über die Yakuza, die japanische Mafia. Ryu klappte die Mappe zu und lehnte sich gemütlich an den Baumstamm um ein kleines Nickerchen zu machen. Ein plötzlicher Tumult weckte ihn nach einiger Zeit wieder auf. Etwas von ihm entfernt standen drei großgewachsene Männer und schrien durcheinander. Es klang, als würden sie jemanden bedrohen. Ryu glaubte schon an einen dieser Gang-Rivalitäten, doch dann erblickte er, wem die Provokationen galten. Den drei Kerlen gegenüber stand lediglich ein junger Mann, wohl noch ein Frischling dieser Uni. Er war etwas kleiner als die Anderen, mit zotteligen ausgeblichenen, orangefarbenen Haaren und von eher dünner Statur. Ryu schaute sich um, ob jemand dem Jungen zu Hilfe kam. Doch alle Anderen, die dieses Schauspiel mitbekamen, wendeten sich ab und suchten das Weite. „Oh Shit, gleich gibt es Ärger!“ hörte er zwei Jungs sagen, die an ihm vorbei liefen. Aber Ryu wollte nicht wegrennen. Schon früher hatte er sich gegen Schultyrannen und und Mobbing eingesetzt. Seine Jahrelangen Kampfsport-Training gab ihm das nötige Selbstbewusstsein dafür. Ohne zu zögern stand er auf und ging geradewegs auf den 'Ärger' zu. „Hey, gibt’s hier ein Problem?“ Überrascht schauten die drei Raudis ihn an. „Was willst n' du? Verzieh dich, sonst kommst du auch noch dran!“ Einer der drei kam auf ihn zu. Er war in etwa so groß wie Ryu, doch sehr viel muskulöser. Es hatte nicht viel gefehlt und man hätte ihn mit einem Kleiderschrank verwechseln können, dachte Ryu sich. Doch davon ließ er sich nicht abschrecken. Ihm fiel auf, dass alle drei dasselbe Tattoo am Hals trugen. Eine graue und eine grüne Schlange, die sich ineinander verknoteten und gegenseitig auffraßen. Ein seltsames Symbol, fand Ryu. „Hast du Tomaten auf den Ohren? Verpfeif dich gefälligst!“ Als Ryu immer noch keine Anstalten machte das Feld zu räumen, knackte der Typ vor ihm bedrohlich mit den Knöcheln. „Gut, ich hab dich ja gewarnt. Wer nicht hören will, muss fühlen!“ Der Kerl schwang seine gewaltige Faust genau auf Ryu's Gesicht zu. Doch der wich Blitzschnell aus, packte den Schrank am Arm und warf ihn gekonnt über die Schulter. Winselnd und keuchend lag der Schrank auf dem Boden. „Und, wie fühlt es sich an?“ fragte Ryu den am Boden liegenden Angreifer. Doch dieser brachte außer einem gequälten Stöhnen nicht mehr viel hervor. „Na warte, du Missgeburt!“ Nun stürzten sich die beiden Anderen, nicht weniger kräftigen Kerle, auf ihn. Ryu duckte sich nach unten weg und trat dem ersten die Füße weg, sodass er ebenfalls zu Boden ging. Dann machte er, mithilfe seiner Arme, ein schwungvolle Drehung und ließ den letzten der Drei die Sohle seiner Schuhe schmecken. Unter dem Applaus einiger schaulustiger Studenten stand er wieder auf und beschaute sich die geschlagenen Schläger. „So, das wäre erledigt. Alles in Ordnung mit...“ Doch als er sich umdrehte, war der Schmächtling verschwunden. Tagelang hielt Ryu Ausschau nach dem jungen Studenten, doch er war nirgends zu finden. Er fragte einige andere Studenten auf dem Campus nach ihm, doch keiner konnte ihm weiterhelfen. Er hätte sich wenigstens bedanken können, wenn er ihm schon nicht half der misstrauischen Campus-Polizei die Situation aufzuklären. Hätte Ryu nicht glücklicherweise ein Paar Augenzeugen gehabt, die seine Version der Geschichte bestätigten, wäre er vermutlich noch an seinem ersten Tag von der Uni geflogen. Es war Montag, sein erster Tag an der Uni. Angestrengt schleppte er seinen Rucksack, gefüllt mit vermutlich sämtlichen literarischen Werken die diese Uni zu bieten hatte über das Gelände zu dem Baum, den er als seinen neuen Lieblingsplatz auserkoren hatte. Auf dem Weg dorthin kam er an den Parkplätzen vorbei. Das erste Mal, seit er hier war, war dieser prall gefüllt mit Autos aller Preisklassen, Motorrädern und einer beträchtlichen, fast schon Klischeehaften, Anzahl von schrottreifen Fahrrädern. Ein Gefährt zog seine Aufmerksamkeit besonders auf sich. Etwas weiter von ihm entfernt stand eine Riesengroße, schwarze Limousine mit rot getönten Scheiben. Ryu erwischte sich selbst dabei, wie er das Luxusgefährt einige Minuten lang anstarrte. Plötzlich ging die Fahrertür auf. Ein elegant gekleideter Herr mit Sonnenbrille und Schirmmütze stieg aus und ging nach hinten um die Tür zu öffnen. Ryu staunte nicht schlecht als er sah, dass niemand anderes als der junge Student, den er die Woche zuvor den Arsch gerettet hatte, seelenruhig auf die Edelkarosse zuging. „Hey“ Du da! Warte mal!“ Ryu rannte auf den jungen Mann zu, den tonnenschweren Rucksack geschultert. Keuchend kam er vor dem überrascht drein blickendem Fahrer und seinem, offenbar, leicht genervten Passagier an. „Hey, erinnerst.. du dich... noch an mich?“ Keine Antwort. „Um dein Gedächtnis... aufzufrischen: ich hab dir am... Mittwoch aus der Patsche geholfen. Du hättest wenigstens 'Danke' sagen können!... Puh! Meine Fresse, das fühlt sich an wie 50kg Marschgepäck.“ Die Tür auf der anderen Seite der Limousine ging auf. Ein groß gewachsener, älterer Herr stieg aus. Er trug einen grauen Anzug, passend zu seinem grauen Haar, ein rotes Hemd und ein Goldkettchen mit einem Phönixanhänger. Er stand nun direkt vor Ryu und musterte ihn von oben bis unten. Dann lächelte er. „So, das ist also der junge Mann, der dich vor den Koyamas gerettet hat, Hiro?“ Der Student nickte stumm. „Wie lautet dein Name?“ fragte er höflich. Ryu wurde zunehmend nervöser. „Mein Name... also der lautet... Ryu Yuan.“ Warum war er denn so furchtbar eingeschüchtert? Gut, die Limousine, der Chauffeur und der sündhaft teure Anzug hätten der Grund dafür sein können. Waren sie aber nicht. Es war die erhabene Ausstrahlung des Mannes, die Ryu immer kleiner werden ließ. „Steig ein, Ryu. Ich lade dich zum Essen ein.“ Ryu war sprachlos. „Zum Essen einladen? Aber wieso?“ Der Mann blickte etwas streng zu dem jungen Mann Namens Hiro hinüber. „Nun, mein Sohn hat es ja offenbar verpasst dir für seine Rettung zu danken. Ich finde, wir sollten das nachholen. Außerdem...“, er lächelte Ryu wieder an „gibt es da eine Kleinigkeit, die ich gerne mit dir besprechen würde. Also, wenn ich bitten darf?“ Es hörte sich mehr wie ein Befehl als eine Einladung an. Und weil Ryu urplötzlich der Gedanke kam, erschossen zu werden, wenn er die Einladung ausschlug, stieg er ein. Vorher reichte der Herr ihm noch die Hand. „Osamu Kunieda.“ Die Limousine, die sogar eine Minibar hatte, war ein Witz gegen das Anwesen, auf dessen Hof sie auffuhr. Nach etwa einer halben Stunde fahrt bogen sie durch ein Tor, das mitten im Herzen eines der nobelsten Stadtteile lag. Bis sie am Haupteingang waren, verstrichen abermals einige Minuten. Die Auffahrt, wenn man sie denn wirklich so nennen konnte, war ein riesiger, wunderschöner japanischer Park. Kirschblütenbäume, Pagoden und sogar ein künstlicher See mit einem Bach und einer Brücke war zu sehen. Ryu konnte kaum glauben, dass all das zu einem Privatanwesen gehören sollte. Und auch der Eingangsbereich des Anwesens war Atemberaubend. Ryu fand sich in einer großen Halle wieder. Polierte, helle Holzböden, Japanische Kunst und ein Springbrunnen raubten ihm fast den Atmen. „Gefällt dir unser bescheidenes Heim, Ryu?“ Bescheiden? Ryu dachte an das Haus seiner Eltern. Das hätte nicht weniger als dreimal in die Eingangshalle gepasst. Ein Mann mit einem Anzug und einer Schürze kam auf sie zu. „Das Essen ist serviert, Herr Kunieda. In welchem Salon wünschen sie zu speisen?“ Bei Ryu Zuhause gab es nur zwei Möglichkeiten zu 'Speisen': Die Küche und das Esszimmer. „Im grünen Salon. Wir haben heute einen Gast, mit dem ich noch großes Vorhabe.“ Ryu spürte, wie er immer blasser wurde. Der grüne Salon war nicht weniger beeindruckend als die Auffahrt und der Eingang. Er war ebenfalls mit polierten Holzmöbeln versehen, allerdings waren diese schwarz. Und überall waren Skulpturen aus Jade. Herr Kunieda lächelte Ryu abermals an. „Ich finde, dieses Ambiente passt zu dir.“ Verlegen strich er sich durch sein zotteliges, schwarzes Haar. Das Einzige an Ryu, was nicht Asiatisch war, was er von seiner amerikanischen Großmutter geerbt hatte, waren seine grünen Augen, die so gar nicht zum Rest seines Erscheinungsbildes passten, wie er fand. Das Essen wurde von einem wahren Meisterkoch zubereitet. Am liebsten hätte Ryu auf Besteck verzichtet und sich alles auf einmal in den Mund gestopft. Herr Kunieda fragte ihn während sie aßen aus. Über seine Familie, sein Studium und seine Hobbys. Vor allem seine Erfahrungen im Bereich des Kampfsportes hatten sein Interesse geweckt. Nach dem Nachtisch, den besten Erdbeerkuchen, den Ryu je gegessen hatte, verließen plötzlich sämtliche Angestellte, die zuvor noch um sie herum gewuselt hatten, den Saal. Nur Ryu, Herr Kunieda und sein Sohn Hiro, der die ganze Zeit keinen Laut von sich gegeben hatte, waren im Raum. „Ich möchte dir ein Angebot machen, Ryu.“ Ryu war gespannt, hörte aber weiter zu. „Wie du gesehen hast, hat unsere kleine Familie viel Geld. Und wie du bereits letzte Woche am eigenen Leibe erfahren durftest, ist das bei weitem nicht ganz ungefährlich.“ „Nun, ja, viel Geld lockt viele Neider an.“ Lächelnd nickte Herr Kunieda. „Du hast es erfasst. Nun, mein Sohn weigert sich, mit entsprechendem Personenschutz zur Universität zu gehen. Was ich durchaus nachvollziehen kann. Es fällt sicher schwer, sich aufs Lernen zu konzentrieren, wenn hinter einem die ganze Zeit ein schwerer Typ mit Anzug und Sonnenbrille über die Schulter schaut.“ Ryu ahnte in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickeln würde. „Sie meinen, es wäre unauffälliger, wenn ihn ein Student begleiten würde?“ Herr Kunieda nickte. „Genau das meine ich. Also, hier mein Anliegen: Ich möchte dich als Personenschutz für meinen Sohn engagieren. Mit entsprechendem Verdienst, natürlich.“ Ryu dachte über dieses Angebot mit gemischten Gefühlen nach, Auf der einen Seite brauchte er dringend einen Job. Die Hälfte seiner bisherigen Ersparnisse für dieses Semester waren bereits für die Bücher drauf gegangen. Aber, als Bodyguard? „Ich habe ehrlich gesagt keine Erfahrungen in diesem Gebiet.“ Herr Kunieda grinste. „Doch, seit letztem Mittwoch. Also, was sagst du?“ Ryu wollte eigentlich ausschlagen, doch in Anbetracht seiner derzeitigen finanziellen Situation war das Angebot zu verlockend. Nach kurzem Überlegen knickte er schließlich ein. „Gut, ich mach es!“ Herr Kunieda klatschte in die Hände. „Hervorragend! Toshi, bereiten Sie alles für den Umzug vor!“ Verwirrt schaute Ryu Herr Kunieda an. „Ehm... Umzug?“ „Oh ja, du ziehst ab sofort in die Wohnräume meines Sohnes mit ein. Also, Toshi, dann legen wir mal los!“ Ryu fühlte sich überrumpelt. Und so ganz hatte er die Situation noch nicht begriffen. AM Morgen war er noch ein ausgebrannter Student aus Chicago. Jetzt war er der Personenschützer für den Sohn eines... Was war Herr Kunieda von Beruf? Und vor wem genau, sollte er seinen Sohn Schützen. „Sagen sie, vor wem genau soll ich ihn eigentlich beschützen? Vor Gangs wie am Mittwoch?“ Herr Kunieda fuhr sich durch sein graues Haar. „Nun, sagen wir mal, ich führe ein sehr erfolgreiches... Familienunternehmen. Und du musst Hiro beschützen vor... anderen... Familienunternehmen.“ Der Schlag traf Ryu mit voller Wucht. Familienunternehmen. Jetzt wusste er auch, wo er den Namen Kunieda schon einmal gelesen hatte. Ryu hatte soeben zugestimmt, der Bodyguard vom Nachwuchs des derzeit mächtigsten Yakuza-Clans in ganz Japan zu werden. „Ach du heilige Scheiße...“ Kapitel 1: CHAPTER ONE ---------------------- CHAPTER ONE Noch immer leicht verstört, ging Ryu Wortlos hinter Hiro her. Ein Yakuza. Sein erster Job in Japan und das ausgerechnet bei einem angehenden Yakuza. Oder war Hiro bereits ein Yakuza? Vielleicht war er somit nun selber einer? Ryu fühlte sich nicht gut. Er war verunsichert und auch ein wenig verängstigt. Nervös wandte er sich an Hiro. „Sag mal... Wo gehen wir eigentlich hin?“ Keine Antwort. Ryu viel auf, dass er Hiro noch kein einziges Wort hatte sagen hören. War er immer so schweigsam? Er entschloss sich, besser nichts weiter zu sagen. Eine ganze Weile folgte Ryu Hiro schweigend. Sie gingen zwei Stockwerke in die Tiefe. Dort folgten sie einem langen Gang, bis sie zu einer roten Eisentür kamen. Wortlos zog Hiro einen Schlüssel aus seiner Tasche. Oder zumindest glaubte Ryu, es sei ein Schlüssel. Es war eine Art langer, silberner Metallstab mit vielen rechteckigen Markierungen darauf. Er schob ihn in eine kleine Öffnung und löste einen kurzen, klickenden Mechanismus aus. Neben der Tür klappte plötzlich eine Art Bildschirm auf, auf dem drei Kreise aufleuchteten. Hiro legte seinen Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger auf die Kreise, bis der Bildschirm sein Farbe von rot zu blau wechselte. Die Kreise verschwanden und ein Zahlenfeld erschien. Hiro tippte eine Zahlenfolge ein und der Bildschirm wurde grün. Erst, als der Bildschirm wieder einklappte, klickte es abermals und die rote Eisentür öffnete sich einen Spalt breit. Hiro sah Ryu an und winkte ihn mit einer Kopfbewegung hinein. Als die Tür sich hinter ihnen wieder schloss drehte Ryu sich noch einmal um. „Was ist denn das für ein abgefahrenes System? So was hab ich ja noch nie gesehen!“ Wieder kein Wort. Als Ryu jedoch bemerkte, in was für Räumlichkeiten er sich befand, verschlug es ihm selbst die Sprache. Er befand sich in einer Art Wohnung. Oder, wohl eher, einem riesigen Loft. Es glich einem gewaltigen, offenen Wohnzimmer. Der Boden war ein perfekt polierter dunkler Holzfußboden. Rechts war ein großes, gemütlich aussehendes Sofa vor dem größten Flatscreen aufgebaut, den Ryu je gesehen hatte. Davor standen etliche Spielkonsolen, von den Klassikern bis hin zu einigen von denen Ryu meinte, sie wären noch gar nicht auf dem Markt. In der Mitte des Raumes war ein großer, rechteckiger Esstisch, an dem locker acht bis zehn Leute Platz fanden. Dahinter befand sich eine offene Kochnische. Rechts war eine sehr lange Liegewiese, bedeckt mit Kissen und Decken. Sie war vor einer kahlen Wand. Ryu wunderte sich, warum dort kein Bild hing. Eine Theke mit Bar gab es auch. Und das war nur die untere Etage. Eine Treppe führte in die Etage darüber, die offen war. Man hätte vom Geländer aus die gesamte untere Etage, bis auf die Kochnische, im Blick behalten können, von allen Seiten. Ryu zog seine Schuhe aus und schlüpfte in die Gästepantoffeln. Er beschaute sich das Loft ganz genau. Die Liegewiese, die Bar, die Theke, den weißen Tiger, die Kochnische, den... den weißen Tiger? „Oh. My. Fucking. God!“ Ryu wagte es nicht, sich zu bewegen. Da saß tatsächlich neben der Liegewiese, ganz gechillt, ein großer, weißer Tiger und starrte ihn an. „Bitte sag mir, dass der Vegetarier ist!“ Er konnte Hiro grinsen sehen. „Keine Angst, Leia ist zahm. Luca ist da schon gefährlicher.“ Ryu nahm nicht so richtig wahr, dass Hiro soeben die ersten Worte mit ihm gewechselt hatte. Ihn beschäftigte viel mehr, was noch gefährlicher sein konnte als ein Gottverdammter weißer Tiger? Dann hörte er hinter sich ein wütendes Knurren. „Dreh dich jetzt bloß nicht um.“, warnte Hiro ihn. „Und was soll ich tun?“ Er zuckte mit den Schultern. „Beten?“ „WTF?“ Hiro lachte laut auf. „Na los, Luca, sei brav! An den wirst du dich jetzt gewöhnen müssen. Na mach schon, ab in die Ecke!“ Als Ryu hörte, wie das Knurren verstummte, drehte er sich langsam um. Ein großer, dunkelbrauner Dobermann saß in seinem Körbchen neben der Liegewiese und fletschte die Zähne. „Was ist denn das für ein Höllenhund?“ Hiro setzte sich gemütlich auf das Sofa. „Ich hab ihn vor sechs Jahren, als er noch ein Welpe war, alleine in einer Gasse gefunden und aufgepäppelt. Seitdem weicht er mir nicht mehr von der Seite. Nicht einmal mein Vater kommt an ihn heran.“ Ryu zeigte auf die andere Seite der Liegewiese. „Und... der Tiger?“ „Leia ist handzahm. Die würde keiner Fliege was zuleide tun!“ Ungläubig schaute Ryu zu dem großen Tiger. Dieser lag, völlig verpennt, auf einem großen Kissen und gähnte. Die Zähne, die dabei zum Vorschein kamen, regten bei Ryu Fantasien an, die allesamt blutig endeten. „Mach es dir hier irgendwo gemütlich.“ Vorsichtig durchquerte Ryu den Raum und setzte sich neben Hiro auf die Couch. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Ryu musterte Hiro aus den Augenwinkeln. Er war gut einen Kopf kleiner als er. Er wirkte noch schmächtiger, als er ihn in Erinnerung hatte. Sein Haar war aber genauso zottelig. „Also, Hiro... Erzähl mal was über dich.“ Hiro hatte inzwischen eine seiner Konsolen eingeschaltet und raste mit einem virtuellen Rennwagen eine kurvige Strecke entlang. „Hiro, achtzehn, 6. November, Skorpion, ledig, unschuldig.“ Ryu war sich nicht sicher, was er mit dieser knappen Information anfangen sollte. Und was genau er mit 'unschuldig' meinte. „Okay. Ryu, zwanzig, 28. Mai, Zwilling, Single, nicht interessiert.“ Hiro sah ihn skeptisch an. Das Spiel, dachte Ryu, konnte er auch spielen. „Was um alles in der Welt meinst du denn mit 'nicht interessiert'?“ Er zuckte mit den Schultern. „Das, was es heißt.“ Hiro war eindeutig nicht sein Typ. Er mochte Männer, die älter waren als er. Größer. Die halt alles in allem irgendwie dominanter wirkten. Hiro war das genaue Gegenteil. „Du bist wieder dran. Hobbys?“ Hiro ignorierte ihn. „Wenn ich dich beschützen soll, dann muss ich auch ein bisschen was von dir wissen.“ Hiro sah ihn, leicht verächtlich, von der Seite an. „Du warst nur die Notlösung.“ Notlösung? „Wie, Notlösung? Was soll das denn heißen?“ Hiro seufzte genervt. „Vater wollte mir, nach dem Vorfall von Mittwoch, unbedingt Personenschutz an die Seite stellen. Ich will aber nicht über den Campus rennen und dabei so einen Terminator-Verschnitt im Schlepptau haben. Also hab ich ihm von deiner Aktion berichtet. Eins führte zum nächsten und so kamen wir dann auf die Idee. Wir waren allerdings darauf vorbereitet gewesen, dich erst mal auf dem Gelände zu suchen. Dass du uns dann direkt am ersten Tag in die Arme läufst war Zufall.“ Ryu atmete tief durch. „Okay... das ist ja... interessant zu wissen.“ Notlösung. Das Wort hatte er schon einmal gehört. Von der letzten weiblichen Beziehung, die er hatte. Danach hatte sich das Thema 'Frauen' endgültig für ihn erledigt. „Das ändert jetzt aber nichts an der Situation. Ich soll dich beschützen, also muss ich was über dich wissen.“ Hiro grinste ihn herablassend an. „So einfach geht das nicht. Die Infos musst du dir schon verdienen.“ Ryu dachte nach. Dann viel sein Blick zufällig auf den Bildschirm und er erkannte, was Hiro da eigentlich spielte. „Gut, wenn das so ist, dann hätte ich eine Idee.“ Hiro schaute nicht von seinem Spiel weg. „Und die wäre?“ „Das Spiel, was du da zockst... Rein zufällig bin ich darin ungeschlagener Meister in meinem Viertel.“ „Und was willst du mir damit sagen?“ Er grinste. „Wir fahren gegeneinander. Je eine Runde, Und immer, wenn ich dich besiegt habe, bekomme ich eine Info von dir.“ Ryu sah Hiro an, wie er über diesen Vorschlag nachdachte. „Und wenn ich gewinne, dann darf ich fragen?“ Ryu nickte. „Gut, einverstanden!“ Hiro war ein härterer Gegner, als Ryu gedacht hatte. Er konnte dennoch einige Informationen aus ihm herausbekommen. So erfuhr er Beispielsweise, dass Hiro es liebte zu kochen, noch nie ausserhalb Japans war, lieber auf die Verfilmungen wartete, als das Buch zu lesen und sich gerne in der Innenstadt aufhielt, wenn sein Vater es zuließ. Umgekehrt wusste Hiro nun aber auch, dass Ryu ein Morgenmuffel war, Sport und Fast Food liebte, vier Sprachen beherrschte und, na ja, eben auf Männer stand. Überraschenderweise schien Hiro diese Info sehr locker zu vernehmen. Wohl, weil Ryu bereits im Vorfeld klar gemacht hatte, dass er kein Interesse an ihm hatte. Sie befanden sich gerade in einem hitzigen Kopf-an-Kopf Rennen. Es sah so aus, als ob Hiro mit seinem getunten Audi die Nase vorn hatte. Doch Ryu schnitt ihm gekonnt den Weg ab mit seinem Toyota und war knapp eine Sekunde schneller im Ziel. „Ich bin wieder dran!“ Hiro murmelte genervt etwas vor sich her. „Jetzt sei kein schlechter Verlierer!“ Eine Info, die er bekam, auch ohne zu fragen. „So, ich würde gerne wissen, was genau du eigentlich studierst.“ Die Frage beschäftigte ihn schon die ganze Zeit. Was studiert der Sohn eines mächtigen Yakuza? Vielleicht irgendwas mit Politik? Oder eher etwas Wirtschaftliches? „Kriminologie.“ Ryu nickte langsam. „Kriminologie. Klar. Wieso nicht. Das braucht man ja auch... so als Yakuza.“ Ihm wurde jetzt erst bewusst, was er da eigentlich sagte. Plötzlich klingelte es. Hiro stand auf und ging zu einem Lautsprecher an die Wand. „Ja?“ „Sir, die Habseligkeiten ihres neuen Leibwächters sind da.“ So schnell? „Stellen sie sie ab, er wird sich schon selbst irgendwie einrichten.“ Zehn Minuten später stand Ryus Koffer im Raum. Hiro schaute ihn zweifelnd an. „Wie, das ist alles? Nur das Ding da?“ Ryu zuckte mit den Schultern. „Mehr hab ich halt nicht.“ Hiro schüttelte ungläubig mit dem Kopf, beließ es aber dabei. Er deutete die Treppe hinauf. „Das dritte Zimmer rechts. Mit der grünen Tür. Es ist schon spät, ich koch mal was.“ Während Hiro sich in die Küche begab, schleppte Ryu seinen schweren Koffer die Treppe hinauf. In der grünen Tür steckte bereits ein Schlüssel. Er drehte ihn herum und betrat das Zimmer. Es war ein großer Raum, mit einem großen Schreibtisch, einem noch größeren Schrank und einem noch viel größerem Bett. Ein gewaltiges Bett. Hiro ließ seinen Koffer fallen und schmiss sich auf die Matratze. „Ein Wasserbett, ich brech zusammen!“ Nach zwanzig Minuten hatte er seine Klamotten in den Schrank geräumt und seine Bücher in das Regal über dem Schreibtisch. Die Fotos seiner Familie und Freunde, die alle noch in einem Umschlag waren, würde er später irgendwo platzieren. Ihm viel auf, dass neben seinem Bett die gleiche, seltsame Wand war wie unten im Hauptraum. Plötzlich leuchtete in seinem Zimmer ein rotes Licht auf. Dreimal. Dann hörte es wieder auf. Besorgt ging er wieder nach unten. Hiro stand am Herd und briet irgendetwas in einer Pfanne. Es roch köstlich. „In meinem Zimmer hat es eben rot geleuchtet. Bedeutet das was?“ Hiro werkelte seelenruhig am Herd weiter. „Das wirst du schon noch erfahren.“ Hiro holte zwei Teller aus dem Schrank. Dann servierte er Hühnchen, Reis und Gemüse. Den Tisch hatte er bereits gedeckt. „Setz dich“ wies er Ryu an und setzte sich ebenfalls. Das Essen schmeckte köstlich. „Du kochst gut. Das ist hervorragend!“ Hiro errötete etwas. Ryu grinste, überrascht, dass der kleine, reiche, arrogante Bengel auch eine süße Seite hatte. Er hatte fast aufgegessen, da hörte er plötzlich ein seltsames Geräusch. Ein Klopfen war irgendwo aus dem Loft zu hören. „Ist hier noch jemand?“ fragte er Hiro. Dieser zeigte kauend auf die seltsame, kahle Wand. „Ist da jemand hinter?“ „Nur Lenny.“ Ryu sah ihn an. „Wer ist Lenny? Ein Mitarbeiter?“ Hiro grinste furchteinflößend. „So was in der Richtung.“ Das klopfen hörte auf. „Du hast morgen auch frei, oder?“ fragte Hiro. „Wie? Ach so, ja. Ich muss immer nur Montags, Mittwochs und Donnerstags zu Vorlesungen.“ Hiro lächelte. „Genau wie ich.“ Ryu schaute sich, nach einer Uhr suchend, um. „Wie spät ist es jetzt eigentlich?“, fragte er gähnend. Hiro schaute auf die Rolex an seinem Handgelenk. „Halb elf.“ „Halb elf schon? Dann geh ich pennen.“ Ryu stand auf und stellte seinen Teller in die bereits geöffnete Spülmaschine. „Das erste mal, dass ich nicht selber spülen muss.“ sagte er leicht grinsend. Hiro räumte seinen Teller ebenfalls weg. „Hast du für morgen schon was geplant?“ fragte er Ryu. „Nein, wieso?“ Hiro zuckte, leicht schüchtern, mit den Schultern. „Wenn du willst, dann zeige ich dir ein bisschen was von Tokyo. Viel zu lernen hast du nach dem ersten Tag bestimmt eh noch nicht.“ Ryu strahlte. „Gerne! Ich freue mich schon seit Monaten drauf, endlich mal Tokyo Live zu erleben!“ Hiro legte sich auf die Couch. „Gut, morgen um halb zehn geht’s los.“ Sein Wecker klingelte um viertel nach Acht. Mit noch geschlossenen Augen haute er unsanft auf den Knopf, der den nervtötenden Alarm beendete. Sein Zimmer kam ihm ungewöhnlich hell vor. In den Loft gab es, da es sich zwei Etagen unter dem Erdgeschoss befand, keine Fenster. Ohne Lampen war es in dem ganzen Loft Stockfinster. Hatte er im Schlaf irgendwie eine Lampe aufgemacht? Langsam öffnete er die Augen... und wünschte sich, er hätte das gelassen. Direkt vor seinen Augen sah er ein weit aufgerissenes Maul auf sich zukommen. Große, spitze Zähne reiten sich darin. Mit einem lauten Aufschrei sprang er Rückwärts aus dem Bett. Dort, wo vorher noch die seltsame Wand war, war nun eine Glasscheibe. Dahinter war nur Wasser... und ein... „HIRO!!!“ Nur mit seinem Schlafanzughose bekleidet stürmte er aus dem Zimmer hinaus hinunter in den Wohnbereich. Hiro saß gemütlich am Tisch und frühstückte Seelenruhig. „Was schreist du denn so rum?“ Schwer atmend und schweißgebadet stand Ryu vor ihm. „Was... bei allen Göttern... ist... DAS!?“ Hiro schaute in die Richtung, in die Ryu deutete. Im Wohnbereich war die seltsame Wand ebenfalls verschwunden und brachte ein, offenbar, riesiges Aquarium zum Vorschein. Darin zog allerdings nur ein einziger Fisch seine Kreise. „Ach, das ist Lenny.“ Seelenruhig tippte er wieder auf seinem iPad herum. „...Lenny? Das da ist... Lenny?“ Ryu traute seinen Augen immer noch nicht, obwohl er 'Lenny' keine Sekunde aus den Augen ließ. „Ja. Unser effektivster Mitarbeiter.“ Ryu wich einen Schritt zurück. „Das ist ein Hai.“ Hiro grinste ihn an. „Ein weißer Hai, um genau zu sein. Wir haben ihn seit er ganz klein war.“ Ryu war fassungslos. „Was frisst... Lenny denn so?“ „Heute ist Dienstag, oder?“ Ryu nickte. „Dienstags bekommt er meistens Rind... oder Anwälte.“ Ryu hielt es das erst für einen makaberen Scherz. Doch dann dachte er an das Klopfen, welches er am Vorabend noch gehört hatte. Er schaute sich Lenny an, der noch immer mit weit aufgerissenem Maul durch das riesige Becken schwamm. Zwischen seinen Zähnen, wie Ryu erschreckend feststellte, hing eine silberne Armbanduhr. „Und ich dachte, der Tiger wäre das schlimmste...“ „Immer, wenn Lenny was zu Futtern bekommt, leuchtet das rote Licht auf. Dann haben wir fünf Minuten Zeit um die Wand runter zu lassen.“ Ryu nickte langsam. „Jetzt Zieh dich erst mal an und iss was!“ Nachdem Ryu geduscht und angezogen war, bekam er keinen Bissen von seinem Frühstück hinunter. Immer, wenn er es versuchen wollte, klatsche das weiße Monstrum mit seiner Flosse gegen die Scheibe. Hiro meinte, er würde das nur tun, bis er sich an Ryus Anblick gewöhnt hätte. Dann würde er auch begreifen, dass er kein Futter war. Um Punkt halb zehn, Hiro war sehr auf Pünktlichkeit bedacht, fuhren sie in das Zentrum der Stadt. Ryu war beeindruckt und vergaß für einen Augenblick die tierische Kuriositätensammlung seines Schützlings. Tokyo war gewaltig! Die riesigen, bunt beleuchteten Gebäude ließen sogar den Times Square in New York verblassen, den Ryu noch das Jahr zuvor besucht hatte. Hiro zeigte ihm einige Sehenswürdigkeiten, seine persönlichen Lieblingsorte und ging mit ihm Mittags in ein Sushi Restaurant. Allerdings brauchte er einen Moment, um sich zum Essen durchzuringen. Bei dem Anblick der Köche, die Seelenruhig den Fisch auseinander nahmen, kam ihm die unangenehme Vorstellung, wie Hiros spezieller 'Fisch' wohl die Köche auseinander nehmen würde. Hiro futterte in aller Seelenruhe ein Lachsröllchen nach dem anderen. „Schmeckt's dir nicht? Das ist einer der besten Läden in Tokyo.“ Ryu schüttelte mit dem Kopf. „Nein, es ist echt super. Es ist nur...“ Er sprach sehr leise weiter. „Warum zum Teufel haltet ihr euch einen... einen Lenny?“ Er wollte nicht, dass irgendwer hörte, wie er von einem weißen Hai als Haustier sprach. Die Leute würden ihn noch für verrückt erklären. Hiro sprach seelenruhig weiter. „Er gehört meinem Vater. Ich durfte ihm nur den Namen geben.“ „Und da hast du dich für Lenny entschieden?“ Er zuckte mit den Schultern. „War das Erste, was mir einfiel.“ „Das Erste, was MIR heute Morgen in den Sinn kam war 'Holy Shit'!“ Hiro schaute ihn zweifelnd an. „Ich glaube nicht, dass das ein guter Name wäre.“ „Passender als Lenny.“ Nach dem Essen zog Hiro Ryu in ein gewaltiges Einkaufszentrum. „Willst du shoppen, oder was?“ Hiro beschaute Ryu abfällig von oben bis unten. „Nein, aber du! So kann ich mich nicht mit dir blicken lassen.“ Ryu beschaute sein Spiegelbild in einem der Schaufenster. Er trug eine alte Jeans, ein Shirt und seine rote Sportjacke von der High School. „Wir haben halt nicht viel Kohle.“ „Los komm... Wir machen jetzt ein Umstyling.“ Und was für eins! Am Ende des Tages erkannte Ryu sich selbst nicht wieder. Eingekleidet in die modernsten, und teuersten, Designerklamotten stand er in seinem Zimmer im Loft und beschaute sich im Spiegel. Auf dem Bett lagen jede Menge Tüten mit Markennamen. Seine Haare waren nun etwas kürzer und ziemlich modern geschnitten. Aber er gefiel sich. „Yumi wird vor Neid erblassen!“ Hiro hatte die meisten Sachen ausgesucht. Er schien da irgendwie ein Händchen für zu haben. Und er sah aus, als ob ihm das alles höllisch viel Spaß machte. Ryu stellte sich vor, wie Hiro im Shoppingwahn durch die schillernden Straßen von New York irrte. Er sortierte die neuen Sachen in seinem Kleiderschrank ein. Das Meiste davon war schwarz oder dunkelblau, was Ryu sehr zusprach. Während er noch mit seinen Sachen beschäftigt war, breitete sich ein köstlicher Duft im Loft aus. Hiro war wohl wieder am kochen. Schnell verstaute er noch den Rest im Schrank und eilte die Treppe hinunter. „Sag mal, du kochst aber jetzt nicht immer wegen mir, oder?“ Hiro schüttelte den Kopf. „Nein, ich koche dann, wenn ich Lust drauf hab. Auf dich wird keine Rücksicht genommen. Weder bei der Zeit, noch bei der Auswahl.“ Ryu spürte, wie sein Magen allmählich zu knurren begann. Ihre Sushi-Pause war ja auch schon ziemlich lange her. „Wenn du magst, ein bisschen kochen kann ich auch, ich könnte also...“ Blitzschnell griff Hiro nach dem größten Küchenmesser aus dem Messerblock und drehte sich, mit dem Messer auf Ryu zeigend, um. „Wenn du meinem Herd auch nur einen Meter zu Nahe kommst, ich schwöre dir, dann endest du als Fischfutter!“ Das war eindeutig. Ryu wich ein Stück zurück, die Hände schützend nach oben gehalten. „Okay, okay! Es war nur ein Vorschlag, musst du ja nicht annehmen.“ Hiro steckte das Messer wieder weg und wandte sich wieder dem Herd zu. Ryu setzte sich auf die Liegewiese und schaute ihm bei seiner eifrigen Tätigkeit zu. Hiro war ein sehr merkwürdiger Kerl. Er wirkte auf Ryu wie jemand, der so gut wie nie Angst zeigte und immer eine gewisse Haltung bewahrte. Ryu war sich sicher, dass ihm dieses Verhalten in seiner Kindheit antrainiert wurde. Er beobachtete seinen Schützling noch eine ganze Weile. Er trug nur eine helle Jeans und ein hellblaues Hemd. Ryu wunderte sich jedes Mal aufs Neue, wie zerbrechlich Hiro wirkte. Sein Anblick regte bei Ryu tatsächlich seinen Beschützerinstinkt an. Er war vollkommen in Gedanken versunken, als er neben sich einen heißen Atem spürte. Als seinem zur Seite drehte, bemerkte er, dass Leia, der weiße Tiger, nun direkt neben ihm saß. Ängstlich wich Ryu zurück. „Liebes Kätzchen... braves Kätzchen... hoffentlich sattes Kätzchen...“ Hiro lachte auf. „Die will nicht fressen, sondern schmusen. Kraul sie mal hinter den Ohren.“ Leia senkte den Kopf vor Ryu. „Wie? E-einfach an die Ohren fassen?“ „Klar, dann bist du ganz schnell ihr bester Freund.“ Ryu hatte nicht das Gefühl, dass er eine große Wahl hatte. Also hob er vorsichtig seine Hand und begann damit, dem Tiger die Ohren zu kraulen. Dieser schloss die Augen und ließ seinen Kopf genussvoll auf die Kissen sinken. Ryu wurde etwas mutiger und kraulte fester. Und während er da saß, den Tiger kraulte und Lenny dabei zusah wie er wohl versuchte, ein Loch im Glas zu finden um Ryu mitsamt seiner neuen Klamotten zu verputzen, dachte er so bei sich: 'Ich werde schon irgendwie das Beste daraus machen.' Kapitel 2: CHAPTER TWO ---------------------- CHAPTER TWO Die Tage vergingen, ohne, dass etwas Aufregendes passierte. Die meiste Zeit verbrachten Ryu und Hiro in dem riesigen Loft. Yumi staunte nicht schlecht, als er die den Laptop drehte um ihr seine neue Unterkunft zu zeigen. Allerdings tat er dies, als 'Lenny' hinter der Wand verschwunden war und achtete darauf, dass Leia ebenfalls nicht durchs Bild tigerte. Er konnte seiner staunenden Familie schlecht sagen, dass er nun der Bodyguard einem Mafia-Nachkömmlings war und suchte tagelang nach einer plausiblen Ausrede. Hiro kam schließlich auf die Idee eine Gruppierung zu erfinden, in denen Mittellose Stipendiaten bei reichen Unternehmerkindern kostenlos wohnten und ihnen im Gegenzug Nachhilfe gaben. Mit dieser Erklärung gaben sich schließlich alle zufrieden. Der Oktober ging langsam zur Neige. Ryu saß auf seinem auserkorenen Lieblingsplatz und las eine frühere Arbeit einer seiner Dozenten. Die große Liegewiese war gemütlicher als jede Couch, auf die er in seinem Leben gesessen hatte. Und Tigerdame Leia störte ihn ganz und gar nicht mehr. Im Gegenteil, er schmuste inzwischen jeden Tag mit ihr. Und es hatte den angenehmen Effekt, dass der Höllenhund ihm nicht zu nahe kam. Immer, wenn er dies versuchte, knurrte Leia tief und bedrohlich. Lenny hatte wohl auch eingesehen, dass Ryu nicht zu seiner Mahlzeit werden würde und hatte nach einigen Tagen aufgehört an die Scheibe zu klatschen. „Verdammt! Dieser dämliche Vollidiot, was muss der da auch im Weg stehen?“ Ryu schaute von seinem Bericht auf. „Reg dich ab, ist doch nur ein Spiel.“ Hiro saß kerzengerade auf der Couch und manövrierte einen übertrieben überladenen Soldaten durch ein unrealistisches, fernöstliches Kriegsszenario. „Kann der mal aufhören mich ständig mit Granaten zu beschießen?“ Ryu schüttelte genervt den Kopf. Dann klappte er seinen Laptop zu. „Bei dem Krach kann ich mich nun wirklich nicht konzentrieren.“ Er stand auf und ging zum Kühlschrank. Nach einer langen, hitzigen Diskussion mit Hiro hatte er sich zumindest die Erlaubnis erkämpft, sich am Kühlschrank zu bedienen. Nach drei Tagen und sechs Wutausbrüchen durfte Ryu dann nur noch an die Sachen gehen, an denen kein grüner Punkt klebte. Und das war nur das Wasser. Als kleine Racheaktion ging Ryu erst einmal einkaufen. Neben allerlei ungesunder Lebensmittel besorgte er sich auch jede Menge Klebestreifen mit roten Punkten. Wenn man nun den Kühlschrank öffnete, sah es so aus, als würden sich zwei tropische Krankheiten eine Schlacht um die Lebensmittel liefern. Ryu griff sich eine Flasche Cola und setzte sich neben Hiro auf die Couch. Trotz kleinerer Reibereien hatten die Beiden sich inzwischen ziemlich gut angefreundet. Abwechselnd schaute er Hiro und den Soldaten an, der schon ziemlich abgefuckt aussah. Ryu deutete auf eine Holzkiste, die an einer über zerschossenen Mauer stand. „Ich glaub, da findest du ein Medipack.“ Hiro beachtete ihn gar nicht. Er rannte an der Kiste vorbei und prügelte mit einem Stab auf einige andere Soldaten ein. „Ehm... gehörten die nicht zu dir?“ „Ich hab keine Zeit solche Loser mit mir rumzuschleppen!“ Ryu sah, etwas beunruhigt zu, wie Hiro seine einstigen Kameraden massakrierte. „Ich glaube, es wäre gnädiger, wenn du sie wenigstens erschießen würdest.“ „Hast du sie noch alle? Munition ist zu teuer und zu selten dafür!“ Nach einigen Minuten kam Hiro wieder an der Kiste an. „Na endlich, ein verdammtes Medipack!“ Nach einer halben Stunde, die Ryu nun schon damit verbrachte, Hiro beim langsamen sterben zuzusehen, klingelte das Telefon. Als Hiro sich nach dem dritten klingeln immer noch nicht bewegte, stand Ryu auf und ging ran. „Hier die Kommandozentrale 'Todesloft'. General Hiro befindet sich derzeitig im Einsatz, Leutnant Ryu am Apparat?“ Am anderen Ende konnte er das ansteckende Lachen von Miss Nori hören, der Sekretärin von Hiros Vater. „Lieber Himmel, hängt er wieder vor der Konsole? Sie sollten ihn öfter vor die Tür treten.“ Ryu musste grinsen. „Was gibt es denn?“ Ryu mochte Miss Nori, denn sie war immer für einen Spaß zu haben. „Der Präsident lässt ausrichten, dass heute Abend, Punkt 8-00 die Anwesenheit des Generals bei einer Besprechung im roten Salon von großer Wichtigkeit sei. Sie sind natürlich ebenfalls erwünscht, Leutnant. Und ziehen sie sich einigermaßen Standesgemäß an. Leutnant Nori ende.“ Dann legte sie, mit einem kichern, auf. „Hey, General! Heute Abend um acht sollen wir zum Essen im roten Salon erscheinen. Und du sollst dich dafür nett Anziehen“ „Ja ja, kapiert. Essen, Acht, feiner Zwirn. Ist angekommen, Over!“ Ryu überlegte, welchen Anlass es wohl dafür gab. Seit seiner Einstellung hatte er Hiros Vater nur einmal kurz gesehen. Kein Wunder, in dem riesigen Anwesen. Geduscht und umgezogen watschelte Ryu gemütlich seinem Schützling hinterher. „Weißt du, worum es gehen könnte?“ Hiro ließ seufzend den Kopf hängen. „Ich fürchte, ja.“ Ryu überlegte kurz, was er sagen sollte. Dann klopfte er Hiro optimistisch auf die Schulter. „Kopf hoch, so schlimm wird es schon nicht werden.“ „Du hast ja keine Ahnung...“ Ryu betrat nach Hiro den roten Salon. Er war etwas kleiner als der, in dem er sein 'Vorstellungsgespräch' hatte. Herr Kunieda saß bereits am Ende des Tisches zu seiner linken saßen eine fein gekleidete Dame mittleren Alters und ein etwas älterer Herr, ganz in grau gekleidet, passend zu seinem Haar. Als er die Beiden sah, stand Herr Kunieda auf. „Pünktlich auf die Minute? Das sieht dir gar nicht ähnlich.“ „Dir auch einen guten Abend, Vater.“ Schlecht gelaunt ließ Hiro sich zur rechten seines Vaters auf den Sitz fallen. „Das haben wir wohl dir zu verdanken, Ryu? Setz dich doch. Das Essen kommt gleich.“ „Vielen Dank für die Einladung, Herr Kunieda.“ Er begrüßte noch die beiden Gäste und setzte sich neben Ryu. „Was für ein reizender junger Mann.“ schwärmte die Dame. Dann schaute mit gerümpfter Nase zu Hiro hinüber. „Wenn ich da an andere denke...“ In diesem Moment kamen mehrere Bedienstete herein und servierten als erste Vorspeise einen Salat. „Hiro, in zwei Wochen ist dein Geburtstag. Es wird Zeit, die Details zu besprechen. Dafür habe ich Frau Ochi und Herrn Wagami hergebeten. Frau Ochi wird sich, wie immer, um die Organisation der Feierlichkeiten kümmern und Herr Wagami um die Gästeliste.“ Hiro stocherte genervt in seinem Essen herum. „Vater, ich möchte wirklich keine Feier haben. Das sage ich dir schon seit Jahren.“ Ryu meldete sich, leicht protestierend zu Wort. „Wie, keine Feier? Ist doch super! Gute Musik, coole Leute und jede Menge zu trinken. Wenn ich so ein Haus hätte würde ich jede Menge fette Par... tys...“ Vier verständnislose Paar Augen schauten ihn an. „Wenn man zur unteren Gesellschaft gehört, wie ich. Aber du solltest mit Stil und der passenden Etikette feiern. Der Salat ist übrigens... ausgezeichnet.“ Beschämt schob Ryu sich eine Portion in den Mund. Frau Ochi schob sich pikiert die Brille zurecht. „In der Tat.“ Herr Kunieda wandte sich Herrn Wagami zu, der bislang noch kein Wort gesagt hatte. „Wie sieht die Gästeliste aus?“ Herr Wagami holte ein kleines Notizbuch hervor. „Sehr gut, wir haben von allen relevanten Gästen eine Zusage bekommen. Das wären die Familien Tsuji, Kugo, Ishida und Sakai, sowie die Aikawas, die Sawadas und natürlich die Koyamas.“ Ryu wurde hellhörig. Während Herr Kunieda und mit den beiden Partyplanern die Gästeliste genauer unter die Lupe nahm, flüsterte er Hiro zu. „Koyama? Sind das nicht die, die dich auf dem Campus fertig machen wollten?“ Hiro nickte. „Warum lädt dein Vater die ein?“ Hiro flüsterte zurück. „Weil sie nach uns die mächtigste Familie sind. Sie nicht zu unseren Anlässen einzuladen wäre in etwa so, wie ihnen eine offene Kriegserklärung zukommen zu lassen.“ Ryu verschluckte sich fast. „Bitte sag mir nicht euer Haus ist dann voll mit...“ „Yakuza? Jepp.“ antwortete er trocken. Als zweite Vorspeise gab es eine Suppe. Ryu brachte keinen Ton hervor. Die Vorstellung in einem Raum voller mordender, machthungriger, mächtiger Mafiosi zu sein ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen. „Ryu, besitzt du einen Anzug?“ Her Kunieda lächelte ihn an. „Ich? Einen Anzug? Ja, aber den hab ich in Chicago gelassen. Ich hatte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, den hier so schnell zu brauchen.“ „Gut, dann wird Hiro morgen einen mit dir kaufen.“ Ryu schaute ihn verwirrt an. „Ehm, Herr Kunieda, morgen ist Sonntag.“ Alle am Tisch, und auch die Bediensteten, fingen an zu kichern. „Mit Geld ist alles möglich“ sagte Frau Ochi in arroganter Tonlage. „Ach übrigens, Hiro, Misaki wird auch da sein.“ Ryu konnte sich nicht daran erinnern, wann Hiro jemals zuvor so genervt dreinschaute. „Hiro, bitte, sie ist ein sehr hübsches, nettes Mädchen.“ „Sie ist ein hinterhältiges, verlogenes und vollkommen verwöhntes Miststück. Erst himmelt sie dich an und schwärmt, wie toll du bist und sobald du dich umdrehst hast du ein ganzes Messerset im Rücken.“ Ryu blickte fragend zwischen Hiro und seinem Vater hin und her. Herr Kunieda schien dies zu bemerken. „Misaki ist die Tochter von Masaru Koyama, dem Oberhaupt des Koyama-Clans. Sein Sohn Masao, musst du wissen, starb vor einigen Jahren bei einem Autounfall. Dadurch ist Misaki an erste Stelle gerutscht. Koyama wünscht sich, dass Hiro und Misaki eine Bindung eingehen und sich unsere Häuser verbinden.“ „Was ganz sicher niemals passieren wird!“ protestierte Hiro aufs Schärfste. Herr Kunieda räusperte sich. „Das steht außer Frage, Hiro. Trotzdem, wir sollten es ihm etwas... schonender beibringen. Zu unser aller Sicherheit willen.“ Ryu war von den beiden Vorspeisen schon so satt, dass er den Hauptgang, ein wirklich gutes Steak mit Gemüse und Kartoffeln, fast nicht aufessen konnte. Auch das Eis zum Dessert stellte eine ungeahnte Herausforderung dar. Herr Kunieda stand auf und verabschiedete sich von seinen beiden Gästen. Hiro verließ ohne ein weiteres Wort den Salon. Ryu wollte ihm hinterher, doch Herr Kunieda hielt ihn auf. „Ryu, warte doch bitte für einen Moment, ja?“ Erwartungsvoll schaute Ryu ihn an. „Kannst du schiessen?“ Er war überrascht. „Ehm, schiessen? Sie meinen mit einer Pistole?“ Herr Kunieda kratzte sich am Kopf. „Ich werte diese Reaktion mal als ein Nein. Das solltest du dringend nachholen. Melde dich morgen früh um acht unten am Empfang und frag nach Max. Alles weitere siehst du dann.“ Grinsend schüttelte Herr Kunieda ihm zum Abschied die Hand und verließ pfeifend den Raum. 'Schiessen? Oh nein... Der Typ will mich zu einen von den seinen machen...' Kreidebleich betrat Ryu das Loft. Hiro stand vor seinem DVD-Regal und beschaute sich die üppige Auswahl. „Hey. Wo warst du denn noch?“ „Dein Vater hat für morgen früh ein Schiess-Training für mich angeordnet...“ Hiro grinste. „Ich nehme mal an bei Max? Na dann, aber sei Vorsichtig: Max rastet schnell aus.“ Ryu setzte sich seufzend auf die Couch. „Willst du mit gucken?“ Hiro hielt eine DVD in der Hand. Die Bourne-Identität, einer von Ryus Lieblingsfilmen. „Klar, gerne.“ Hiro legte die DVD ein und setzte sich neben Ryu. Er hatte den Film schon lange nicht mehr gesehen und genoss es so richtig. Als sie bereits eine halbe Stunde lang gebannt zuschauten, wie Jason Bourne sich auf ziemlich gekonnte Art und Weise immer wieder aus den heikelsten Situationen rettete, sprach Hiro Ryu plötzlich an. „Kann ich dich mal was fragen?“ Hiro wirkte auf Ryu immer sehr selbstbewusst, oft sogar patzig. Ihn überraschte, wie schüchtern und zögerlich er in diesem Moment wirkte. „Klar, was ist denn?“ „Wissen deine Eltern, dass du... na ja... nicht auf Frauen stehst?“ „Ja, das wissen sie.“ „Wie haben sie darauf reagiert?“ Ryu überlegte kurz. „Meine Mutter hat es zwar überrascht, aber es war in Ordnung für sie. Für meinen Vater war es etwas schwieriger.“ Hiro drehte sich zu ihm um. „War er wütend?“ Ryu schüttelte mit dem Kopf. „Nein, ganz und gar nicht. Du musst wissen, meine Eltern, insbesondere mein Vater, setzen sich sehr für Menschenrechte ein. Mein Vater hält sogar regelmäßig Vorträge und startet Projekte an Schulen, in denen es um Toleranz gegenüber Minderheiten, andere Religionen und Sexualität geht. Aber, wie Väter nun mal sind, hat es ihn doch ein wenig am Stolz gepackt, dass sein einziger Sohn sich am anderen Ufer wohler fühlt. Aber nachdem er ein paar Tage darüber nachgedacht hat haben wir ein langes, extrem peinliches, Gespräch geführt und seitdem ist es für meine Eltern das normalste der Welt.“ „Und deine Schwester?“ Ryu seufzte. „Für Yumi war das eine Katastrophe. Als ich mich geoutet habe, war sie gerade vierzehn. Sie hat total rum geheult, weil sie angst hatte, dafür in der Schule gemobbt zu werden. Ein paar Sprüche hat sie zwar abbekommen, aber mit der Zeit hat sie sich daran gewöhnt und es akzeptiert.“ „Und deine Freunde?“ Ryu grinste. „Die haben alle gelacht und meinten nur, dass es ihnen schon lange klar war und sie Wetten drauf abgeschlossen hätten, wann ich es zugeben würde.“ „Also hast du fast nur positive Erfahrungen gemacht?“ Ryu seufzte. „Na ja... Den ein oder anderen Spruch hab ich dann schon zu hören bekommen. Vor allem in meinem Verein. Einige der Jungs wollten plötzlich nicht mehr mit mir in einer Kabine sein oder mit mir trainieren. Von wegen 'Körperkontakt' und so. Und in der Schule hab ich auch ziemlich was abbekommen. Das hat aber nicht lange angehalten.“ „Was hast du dagegen gemacht?“ „Eigentlich nicht viel. Ich habe nicht darauf reagiert und mein Leben weiter gelebt. Als sie merkten, dass es mir egal war, ließen sie mich in Ruhe. Beim Schulabschluss kamen sogar ein paar und haben sich entschuldigt.“ Hiro wirkte nachdenklich. „Warum fragst du überhaupt?“ Er zuckte mit den Schultern. „Nur so. Aus Neugier. Oder ist es dir unangenehm darüber zu reden?“ Grinsend sah Ryu ihn an. „Wenn es so wäre hätte ich nicht so offen mit dir darüber geredet.“ Hiro schaute verlegen weg. Er wirkte irgendwie eingeschüchtert und in sich gekehrt. Plötzlich fing Ryu an, sich Sorgen zu machen. War es ihm vielleicht doch unangenehm, wenn Ryu um ihn herum war? War ihm jetzt erst so richtig bewusst geworden, was das eigentlich bedeutete? „Wenn es dir unangenehm ist, dass ich ständig in deiner Nähe bin, dann kann ich auch wieder zurück ins...“ „Nein!“ Hiro sprang auf. Für einen Moment herrschte Stille zwischen den Beiden. Ryu konnte gar nicht sagen, wer von ihnen überraschter war. Dann lief Hiro dunkelrot an und stammelte vor sich hin. „Ich ehm... also... das ist nicht so gemeint wie du denkst, dass es gemeint sein könnte... also was du denkst... was nicht ist.“ Ryu versuchte, die Situation zu retten. Er deutete schnell auf den Fernseher. „Ich glaub gleich kommt die Stelle mit dieser komischen Hütte.“ Doch das klappte nicht so ganz, wie Ryu sich das vorgestellt hatte. Hiro rannte die Treppe hinauf in sein Zimmer und knalle die Tür zu. Zurück blieb ein ziemlich verwirrter Ryu, der keine Ahnung hatte, was genau da gerade passiert war und wie sich das auf die kommende Zeit auswirken würde. Das Lenny ausgerechnet in diesem Moment wieder gegen die Scheibe klatschte, stimmte ihn nicht gerade positiv. Um sieben klingelte sein Wecker, aber Ryu blieb noch einige Minuten liegen. Er dachte an das Geschehene vom Vorabend. Und wie Hiro ihm jetzt wohl begegnen würde. Ob er wohl schon unten saß und frühstückte? Ryu zog sich an und ging vorsichtig nach unten. Kein Hiro zu sehen. Er war wohl mit Luca draußen, denn von dem Höllenhund fehlte ebenfalls jede Spur. Ryu aß schnell eine Kleinigkeit und begab sich dann zur Empfangshalle. Wie gewohnt saß Miss Nori bereits an ihren Tresen. „Guten Morgen, Ryu. Haben Sie gut geschlafen?“ Ryu streckte sich. „Na ja, es geht so.“ Miss Nori war, selbst für eine Japanerin, sehr klein, selbst mit den hohen Schuhen. Ihre Haare waren kurz geschnitten und sie trug stets Blusen und Röcke in den verschiedensten Kombinationen. „Ich soll mich bei Max melden, wer auch immer das ist.“ Hinter ihm vernahm er eine Stimme. „Das wäre dann wohl ich.“ Ryu drehte sich um und war überrascht. Er hatte geglaubt, Max wäre ein älterer, strenger Mann. Ein Ex-Soldat oder so. Aber tatsächlich entpuppte Max sich als eine junge Frau mit wirren, rotbraunen Locken. „Du musst Ryu sein.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Max Dearing, freut mich. Schön, mal wieder jemanden aus dem eigenen Land zu treffen.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Ach, sie kommen aus den USA?“ „Das mit dem 'Sie' kannst du ruhig sein lassen. Ich komme aus Amarillo, Texas. Und du kommst aus... Chicago, oder?“ Ryu nickte. „Ich hab mal eine Tour durchs Land gemacht und war vier Tage in Chicago. Eine tolle Stadt!“ Ryu grinste. „Ja, bei uns ist immer was los.“ Ryu mochte Max. Sie war offenherzig und echte Frohnatur. Sie wandte sich an Miss Nori. „Alles klar, dann nehm' ich diesen Burschen hier mal mit.“ Er konnte sich noch so gerade verabschieden, da zog Max ihn schon zur Treppe. Es ging eine Etage hinunter und dann über mehrere Gänge. „Wie alt bist du gleich, Ryu?“ „Zwanzig.“ „Zwanzig, huh? Noch nicht zu jung für mich!“ Sie zwinkerte ihm zu. Bevor Ryu etwas dazu sagen konnte, blieb Max bereits stehen. „Da sind wir schon.“ Auch für diese Tür brauchte man zwei Codes. Als sie sich öffnete, blieb Ryu die Luft im Hals stecken. Er befand sich in einem Schusswaffen-Übungsraum, wie man ihn aus zig amerikanischen Filmen kannte. Der Raum war aufgeteilt in Acht Nischen. In jeder dieser Nischen befand sich ein Kopfhörer und eine Schutzbrille. Weiter hinten im Raum gab es allerlei Arten von Zielscheiben. Die klassischen Runden, die Aussahen wie eine Dartscheibe, Eckige mit Punkten auf die man Zielen konnte und, was Ryu wohl am Gruseligsten fand, eine, die Aussah wie ein Mensch, ebenfalls mit Punkten, auf die man zielen konnte. Er hörte einen Pfiff. „Hey, hier rüber!“ Max stand an einer großen Wand, die übersät war mit allerlei Schusswaffen. Ryu traute seinen Augen kaum. Er kam zwar aus den USA und er wusste auch um die vielen Klischees die sich um die USA und ihre Waffen drehten, aber er hatte selbst noch nie eine Pistole in der Hand gehalten. „Mal sehen. Ah! Die da!“ Bevor Ryu irgendwas sagen konnte, hatte Max ihm schon eine geladene Waffe in die Hand gedrückt. Ryu traute sich kaum, sich zu bewegen. Max kicherte, wie ein Schulmädchen. „Die ist gesichert, da kann noch gar nichts passieren. Stell dich mal in Box drei.“ Leicht zitternd trat Ryu in die Nische. Dann trat Max an ihn heran. „Ich zeig dir gleich erst einmal wie man richtig zielt. Aber zuerst einmal will ich sehen, wie du dich so machst. Zieh die Schützer und die Brille auf.“ Ryu tat wie ihm geheißen, wenn auch zögerlich. Dann fummelte an der Waffe herum. „So, jetzt ist sie entsichert. Na dann, schiess mal. Und pass auf wegen dem Rückstoß!“ Ryu atmete tief durch. Er dachte an das erste Mal, als sein Judo-Trainer ihn gebeten hatte, ihn mit voller Wucht zu treten. Das fühlte sich in etwa genauso an. So ruhig wie möglich richtete Ryu die Waffe auf die runde Zielscheibe, und drückte ab. Mit einem lauten Knall flog die Kugel aus dem Lauf. Der Rückstoß war etwas heftiger, als Ryu vermutete. Er torkelte ein Stück zurück. Seine Ohren piepten von dem Knall, trotz der Ohrschützer. Hinter sich konnte er Applaus von Max vernehmen. „Wow! Super Schuss!“ Ryu schaute nach. Auf dem Ring ausserhalb des Zentrums war ein kleines Loch zu sehen. „Ich bin beeindruckt. Die Meisten treffen beim ersten Versuch nicht einmal die Zielscheibe.“ Max zog ihr Handy raus und schoss ein Foto. „Als Beweis.“ Ryu war sich nicht sicher, ob er stolz auf sich sein sollte, oder erschrocken. Es fühlte sich merkwürdig an. Irgendwie falsch. Und er schwor sich, wenn möglich, niemals, wenn irgendwie möglich, so ein Ding auf einen Menschen zu richten. Max zeigte ihm noch ein paar Tricks und Kniffe. Dabei kam sie ihm allerdings so nah, dass Ryu sich schon regelrecht bedrängt fühlte. Und diese ganze Lobhudelei. Er wurde das Gefühl nicht los, dass die zehn Jahre ältere Max heftig mit ihm flirtete. „Sag mal Ryu, hast du ein Mädchen in Chicago?“ Er räusperte sich. „Nein, kein Mädchen in Chicago.“ Sie trat einen Schritt näher. „Und in Japan?“ Er ging ein wenig zur Seite. „Nein, auch nicht in Japan.“ Max fuhr sich verführerisch durch die Haare. „Wie wäre es, wenn wir uns mal ausserhalb des Schiess-Trainings treffen würden?“ Ryu seufzte. „Ehrlich gesagt, Max, du bist toll und so, aber so gar nicht mein Typ.“ Als er sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte, wünschte er, er hätte es ihr nicht in einem Raum voller geladener Schusswaffen gesagt. Ihr lächeln verschwand und ihre Augen funkelten ihn zornig an. „Nicht dein Typ? Was ist dein Problem? Mein Alter? Mein Aussehen? Oder willst du eine von diesen typischen, amerikanischen Barbiepuppen?“ Ryu hob abwehrend die Hände. „Nein, nein! Das ist es nicht. Es ist viel mehr... Ich stehe gar nicht auf Frauen, sondern auf Männer.“ Augenblicklich schien Max zu erstarren. Ungläubig starrte sie ihn an. Dann wich sie zurück. „Das ist falsch.“ sagte sie knapp. Ryu hatte ein ungutes Gefühl. Max kam aus Texas. Er wusste, wie die Leute dort dachten. „Wieso soll es falsch sein?“ „Es steht so in der Bibel!“ Genervt verschränkte er die Arme. Diesen Satz hatte er schon so oft gehört. „Welche Stelle?“ „Levitikus.“ „Die Stelle ist umstritten.“ Ryu sprach sie auf ein Detail an, welches ihm schon vorher aufgefallen war. „Wo ist dein Ring?“ Entrüstet sah sie ihn an. „Welcher Ring?“ Er deutete auf ihre rechte Hand. „Dein Ehering. Du hast einen weißen Abdruck.“ Sie rümpfte die Nase. „Ich bin geschieden.“ Ryu baute sich vor ihr auf. „Lukas, Kapitel Sechzehn, Vers Achtzehn: 'Wer sich scheidet von seiner Frau und heiratet eine andere, der bricht die Ehe, und wer die von ihrem Mann Geschiedene heiratet, der bricht auch die Ehe.'“ „Und wenn schon?“ „Und deine Kleidung?“ Sie schaute an sich hinunter. Sie trug eine Jeans und eine Seidenbluse. „Was soll damit sein?“ „Dritte Buch Mose, Levitikus, Kapitel Neunzehn, Vers Neunzehn: 'Tragt keine Kleidung, die aus zwei verschiedenen Garnen gewebt ist.'“ Max sah ihn bedrohlich an. „Und? Was soll der Scheiß?“ „Erzähl mir nicht, an welche Regeln ich mich halten soll, wenn du sie selber nicht einmal richtig kennst.“ Mit diesen Worten legte Ryu die Schutzbrille ab, sicherte die Waffe, wie Max es ihm gezeigt hatte und verließ wütend den Raum. Als er gegen halb elf das Loft betrat, hatte er gar nicht mehr den unangenehmen Vorfall vom Vorabend im Kopf. Hiro saß auf der Couch und schaute die Nachrichten, als Ryu, wutschnaubend, zur Tür reinkam und diese unsanft hinter sich zuknallte. Hiro sah ihn etwas erschrocken an. „Was ist denn mit dir los?“ Ryu latschte zum Kühlschrank, griff sich seine Cola und trank die ganze Flasche in einem Zug leer. „Was passiert ist?“, blaffte Hiro an. Er atmete mehrere Male tief durch ehe er sich endlich beruhigt hatte. Immer noch leicht genervt ließ er sich neben Hiro auf die Couch fallen. Er sagte einige Minuten lang gar nichts. Dann meldete Hiro sich schüchtern zu Wort. „Wenn es wegen gestern Abend war... Tut mir leid, das kam irgendwie blöd rüber, ich weiß.“ Ryu brauchte einen Moment um sich zu fangen. Dann schreckte er auf. „Oh, no! Nein, nicht wegen dir! Oh sorry, das tut mir leid! Ich habe mich über diese blöde Bibeltreue Texanerin geärgert. So ein blöden, unwissendes, dummes Weib!“ Hiro sah ihn traurig an. „Dann bist du nicht sauer auf mich?“ Ryu lächelte über seine eigene Dummheit und schämte sich. „Nein, alles cool. Wenn dir das mit gestern Abend, was auch immer da los war, so unangenehm ist, dann vergessen wir das einfach, ja? Tun wir so, als wäre das nie passiert. Deal?“ Er streckte ihm die Hand hin. Hiro ergriff sie. „Deal.“ Ryu fiel auf, dass er bislang nie direkten Kontakt zu Hiro hatte. Seine Hände waren weich und wirkten sehr zerbrechlich. Genau wie Hiro. Er sah ihn an. Hiro wirkte nicht wirklich erleichtert. Eher irgendwie... Ryu konnte es nicht einordnen. „Alles OK?“ Hiro zog schnell seine Hand wieder weg. „Ehm, ja. Alles bestens. Um halb eins kommt der Schneider und misst dich aus.“ Ryu bekam große Augen. „Wie, Schneider? Für was?“ Hiro ging die Treppe hinauf. „Für deinen Anzug.“ Er drehte sich nicht um, sondern ging langsam in sein Zimmer und schloss leise die Tür. Jetzt fiel Ryu ein, wie Hiro zuvor aussah. Enttäuscht. Kapitel 3: CHAPTER THREE ------------------------ CHAPTER THREE Der Tag der großen Feier rückte immer näher. Im Kunieda-Anwesen herrschte Hochbetrieb. Es wurde geputzt, dekoriert, Essen vorgekostet und unzählige andere Vorbereitungen getroffen. Ryu beobachtete das Treiben während dieser Zeit mit gemischten Gefühlen. So konnte er einfach nicht fassen, dass dieser ganze Terz wegen eines, seiner Meinung nach, einfachen Geburtstags veranstaltet wurde. Er dachte dabei an seinen eigenen neunzehnten Geburtstag. Sein Vater hatte im Garten ein BBQ für die Familie, Freunde und ein paar Nachbarn gemacht. Und auch ohne das ganze Drumherum, was Hiro an seinem Geburtstag erwarten würde, war es einer der tollsten Partys, die er je gefeiert hatte. Zwei Tage vor der Feier wagte Ryu einen Blick in den Festsaal, der auch als 'Halle der Götter' bezeichnet wurde. Der Saal überstieg sämtliche seiner Vorstellungen. Er erstreckte sich über drei offene Etagen. Das Erdgeschoss des Saales konnte sicher ohne Probleme 500 Gäste beherbergen. Auf den beiden Etagen jeweils noch einmal etwa 150. Er erinnerte sich an die Hochzeit seiner Cousine. Sie hatten damals große Probleme einen Saal für ihre knapp 300 Gäste aufzutreiben. Und Hiro hatte all diese Möglichkeiten nur fünf Minuten von seinem Schlafzimmer entfernt. Als er den edlen, weißen Marmorboden und die goldenen Säulen näher betrachtete, wurde ihm auch klar, woher dieser Saal seinen Namen hatte. Hiros Geburtstag viel auf einen Mittwoch. Ryu hatte lange nach einem passenden Geschenk gesucht, gab dann aber schließlich auf und fragte Hiro einfach gerade heraus. Was sollte er bloß jemandem schenken, der bereits alles, wirklich ALLES besaß? Hiros Antwort viel kurz und trocken aus: nichts. Das passte Ryu so gar nicht, denn er hätte es als unhöflich empfunden, ihm nicht wenigstens eine kleine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Schließlich entschied er sich für die altbewährte Last-Minute-Idee. Er brannte Hiro eine CD mit seinen Lieblingssongs aus den USA. Da er sich nicht entscheiden konnte, wurde es ein Doppelalbum mit einem bunten Mix aus Hiphop, R'n'B, Soul und Pop. Das Album bekam den unkreativen Titel 'Hiro Goes To Hollywood', was den Empfänger aber nicht störte. Tatsächlich schien Hiro sich, trotz all seinen teuren Luxusgeschenken, über die CD am Meisten zu freuen. Und immerhin waren darunter Designerklamotten, teure Uhren und ein Smartphone, so technisch ausgeklügelt, wie Ryu es auf dem freien Markt noch nie gesehen hatte. Die Feier fand statt am Abend des zehnten November und sollte pünktlich um sieben beginnen. Ryu stand bereits in seinem neuen Umzug und frisch frisiert im Wohnbereich des Lofts, welchen er 'Lounge' getauft hatte, und begutachtete sich in der Spiegelung von Lennys Becken. Er trug einen schwarzen Anzug, darunter ein ebenfalls schwarzes Hemd und italienische Schuhe. Alles vom Feinsten. Luca saß in der Ecke und knurrte ihn böse an. Dieses Mal aber noch mehr als sonst. Ryu glaubte, es lag an seinem neuen Parfum. Er schaute auf die Uhr in der Küche. In zehn Minuten würde die Feier beginnen, die Gäste waren sicher schon fast alle eingetroffen und Hiro war immer noch nicht aus seinem Zimmer gekommen. Ryu fürchtete, dass er die Konsequenzen tragen würde, wenn Hiro zu spät käme. Doch dann kam er schließlich doch hinunter. Sein Anzug war dunkelblau und das Hemd dazu hellblau. Sein Haar hatte er irgendwie gebändigt und zu einem eleganten Scheitel frisiert. An seinem Handgelenk trug er eine goldene Rolex, eines seiner Geschenke. „Nicht schlecht, du siehst gut aus. Nur...“ Hiro zog herausfordernd eine Augenbraue hoch. „Nur was?“ Ryu grinste. „Diese Frisur... nicht schlecht aber... gewöhnungsbedürftig.“ Hiro grinste auch. „Im Gegensatz zu dir hab ich mir wenigstens Mühe gegeben, du Struwwelpeter!“ „Im Gegensatz zu dir muss ich auch nicht seriös wirken.“ Hiro schnaubte. „Okay, der Punkt geht an dich...“ Das Telefon klingelte. Ryu ging, inzwischen aus Gewohnheit dran. „Hier Bond, James Bond“, sagte er so mysteriös wie er konnte. Am anderen Ende konnte er hören, wie Miss Nori in den Hörer prustete. „Hören Sie mal, Ryu, so was können Sie doch nicht machen, wenn ich schon meinen ersten Champagner schlürfe!“ „Klar kann ich. Wir machen uns jetzt auf den Weg. Oder besser gesagt...“ Er senkte die Stimme. „Ich nähere mich nun mit dem Zielobjekt.“ Miss Nori kicherte noch mehr. „Wir sollten gleich unbedingt zusammen einen heben! Lassen Sie mich raten: geschüttelt und nicht gerührt?“ Ryu versuchte sich ein Lachen zu verkneifen. „Und vergessen sie um Himmels willen das Schirmchen nicht!“ Unter lautem Gelächter legte Miss Nori auf. Hiro sah ihn Kopfschüttelnd und schmunzelnd an. „Falls du dir das mit den Männern irgendwann mal anders überlegen solltest, dann heirate bitte Miss Nori. Einfach, weil ich sehen will, was dabei wohl für Kinder bei rum kommen.“ Laut lachend machten sich die Beiden auf den Weg zu Hiros Party. Ryu war erleichtert, dass Hiro an diesem Tag so locker wirkte. An den voran gegangenen Tagen befand er sich ständig irgendwo zwischen absolut genervt und unendlich nervös. Er war auch froh, dass Hiro sich, nach dem peinlichen Abend, wieder etwas gefangen hatte und die Beiden ihren bisherigen Umgang fortführten, wie er war. Allerdings spürte Ryu eine Veränderung, was seine Sichtweise auf Hiro betraf. Er hatte einen ganz anderen Einfluss auf ihn, als in der anfänglichen Zeit. Wo er ihm zu Beginn am liebsten die verwöhnten Ohren lang gezogen hätte, machte sich jetzt ein immer stärker werdender Drang ihn zu Schützen breit. Und das beinhaltete nicht nur, dass Ryu nicht von seiner Seite wich um eventuell bei Gefahr einzugreifen. Er hatte das Gefühl, ihn vor der ganzen Welt und dem Bösen, das in ihr lauerte, zu schützen. Seine zarten Hände halten und ihm unaufhörlich zuflüstern, dass er vor nichts angst haben musste, solange Ryu bei ihm war. Hiro wurde zudem immer offener. Ein paar Tage zuvor, als Hiro mal wieder wie einer Phase der Nervosität empfand, wollte Ryu ihn ablenken, indem er mit ihm eine Komödie schaute. Es ging um eine verworrene Liebesgeschichte, die zu einem unrealistischen und viel zu albernem Happy End führte. Hiro hatte ihm gestanden, dass er zwar schon einige Mädchen geküsst hatte, aber noch nie in einer richtigen Beziehung war. Sichtlich beschämt gab er ebenfalls zu, dass er auch kein Interesse an einer Beziehung hatte... oder an Sex. Ryu glaubte, es lag daran, dass er noch so unerfahren war. Ihm schwirrte allerdings noch ein anderer Verdacht im Kopf herum. Tief durchatmend standen sie, pünktlich auf die Sekunde, vor dem Nebeneingang des Festsaals. Hiro schloss seine Augen und atmete mehrmals tief durch. Ryu legte ihm die Hand auf die Schulter. „Wird schon schief gehen!“ Hiro sah ihn böse an. „Das hilft nicht wirklich. „Ehm... dann vielleicht... Hals- und Beinbruch?“ „Willst du mir Mut machen oder zu einem Nervenzusammenbruch führen?“ „Du wirst schon nicht den Kopf verlieren?“ „Halt einfach die Schnauze!“ Einer der Bediensteten näherte sich räuspernd. „Kann es losgehen?“ Hiro nickte, wenn auch nur zögerlich. Die Tür öffnete sich und Hiro trat herein. Ryu folgte ihm unauffällig einige Sekunden später. Alle Augen waren auf Hiro gerichtet. Und das waren verdammt viele. Während Hiro eine kurze Begrüßungsrede hielt, verschaffte sich Ryu einen ersten, flüchtigen Überblick über die Partygesellschaft. Im Saal waren Leute aller Altersklassen, sogar einige Kinder waren hier und da zu sehen. Und alle waren sie piekfein angezogen. Atemberaubende Kleider, elegante Anzüge, aufwendige Frisuren und teurer Schmuck. Für Ryu bestand kein Zweifel: diese Leute hatten allesamt verdammt viel Geld. Als Hiro seine Begrüßung beendet hatte, erklang Beifall und einige Glückwünsche wurden durch den Raum gerufen. Dann ging die Party los. Sofort nach seiner Rede kamen einige Gäste auf ihn zu, verbeugten sich oder schüttelten einfach seine Hand, beglückwünschten ihn und überreichten kleine Geschenke und Umschläge. Ryu fragte sich, ob die persönlichen Gratulanten wohl alle zu den Kuniedas gehörten oder zu den verfeindeten Clans. Er begutachtete die Leute, die sich um ihn herum standen, behielt Hiro dabei immer ein wenig im Blick. Plötzlich tippte jemand Ryu auf die Schulter. Als er sich umdrehte, erblickte er ein wirklich hübsches, junges Mädchen mit blond gefärbtem Haar und einem sehr knappen, blauen Kleid. „Und wer bist du?“ fragte sie Ryu mit zuckersüßer Stimme. „Ladys first.“ gab er mit einem charmanten Lächeln zurück. Sie kicherte. „Mein Name ist Misaki Koyama. Eigentlich solltest du mich kennen.“ Ryu missfiel der arrogante Ton, den sie plötzlich anschlug. „Ja, den Namen habe ich schon mal gehört.“ gab er trocken zurück. Misaki Koyama? Das Mädchen, dessen Vater hoffte, Hiro würde eine Bindung mit ihr eingehen? Er hoffte, dass er sie mit seiner Antwort nicht allzu sehr gegen sich aufgebracht hatte. Ihrem verbitterten Gesichtsausdruck nach zu urteilen war es dafür jedoch bereits zu spät. „Jeder hier kennt mich!“ gab sie bissig zurück. Ryu versuchte, die Situation so gut es ging zu retten und ließ seinen berühmten Charme spielen. Er verbeugte sich und sah Misaki Koyama tief in die Augen. „Es tut mir wirklich Leid, Miss Misaki, ich bin erst seit kurzem in diesem Geschäft. Selbstverständlich weiß ich, wer ihr seid. Nur war ich nicht darauf vorbereitet, einer so schönen, jungen Frau gegenüber zu stehen.“ Nach dieser Sülzbombe gab er ihr noch einen seichten Handkuss. Augenblicklich verwandelte sich ihre verbitterte Miene in ein strahlendes Lächeln. Ryu hatte wohl genau den richtigen Punkt erwischt. Sie kicherte gekünstelt. „Schon gut. Ausnahmsweise verzeihe ich dir. Ich wollte eigentlich dem Geburtstagskind gratulieren, aber... ich denke, das kann auch noch warten.“ Ryu wurde zusehends mulmiger zumute. „Ich weiß deinen Namen noch nicht.“ Er wünschte sich, er hätte vor dieser Party einige Dinge mit Hiro besprochen. War es klug, der Tochter des Erzfeindes einfach so seinen Namen zu nennen? Er glaubte nicht. „Hey, Mr. Bond!“ Dem Himmel sei Dank erschien genau in diesem Moment Miss Nori auf der Bildfläche. „Oh, Verzeihung!“ Sie machte eine kurze Verbeugung vor Misaki. „Guten Abend, Miss Koyama. Sie sehen toll aus!“ Miss Nori reichte ihm ein Glas mit etwas zu trinken... und einem Schirmchen drin. „Geschüttelt, nicht gerührt.“ Sie zwinkerte ihm zu und verschwand wieder. Entrüstet sah Misaki ihr hinterher. „So eine Frechheit!“ Glücklicherweise hatte Hiro die Situation mitbekommen und rettete Ryu aus seiner Lage. „Misaki, schön dich zu sehen.“ Sein Mund lächelte zwar, aber aus seiner Stimme vernahm Ryu tiefste Verachtung. „Hiro! Alles Gute Nachträglich, mein Lieber.“ Sie küsste ihn rechts und links auf die Wange. „Meine treueste Studienhilfe hast du ja offenbar bereits kennen gelernt. Misaki, das ist Ryu Yuan.“ „Studienhilfe, so so.“ Sie umkreiste ihn wie ein Löwe seine Beute. „Was macht dich denn zu so einem guten Nachhilfelehrer?“ Hiro schaute zu, offenbar abwartend, welche Antwort Ryu geben würde. Er versuchte cool zu bleiben. „Private Informationen gebe ich nicht so einfach raus.“ Misaki lächelte ihn verführerisch an. „Gutaussehend, verschwiegen und auch noch Intelligent. Kann man dich abwerben, Ryu?“ „Nein, kann man nicht.“ Misaki schien verwirrt, von Hiros Einmischung, die nicht nur sehr schnell kam, sondern auch sehr ruppig. „Mit Geld kann man alles kaufen, Hiro. Solltest du das nicht am Besten wissen?“ „Das weiß ich genauso gut, wie du wissen solltest, dass ein falsches Lächeln und ein tiefes Dekolleté nicht bei jedem funktionieren.“ Ryu glaubte für einen kurzen Moment, zwischen ihren Blicken kleine Blitze aufleuchten zu sehen. Eine Glocke war zu hören. Die Gespräche um sie herum verstummten. Alle Blicke richteten sich nun auf die große Bühne, die mitten im Saal aufgebaut war. Hiros Vater, wie immer äußerst schick gekleidet, betrat sie mit einem Mikrofon in der Hand. „Sehr verehrte Gäste, vielen Dank, dass sie so zahlreich erschienen sind, um mit uns gemeinsam den neunzehnten Geburtstag meines Sohnes zu feiern!“ Ein Applaus erfüllte die Halle. „Leider ist Hiro irgendwo in ihren Reihen verloren gegangen, deswegen werde wohl ich kurz einspringen müssen.“ Eine Chor falschen Lachens ertönte kurz. „Was ich eigentlich nur sagen wollte: das Buffet ist eröffnet.“ Und wie es eröffnet war. Das Buffet war nicht nur groß, es war gigantisch. Ryu wandte sich an Hiro. „Hast du Hunger? Bitte sag ja! Ich darf erst essen, wenn du auch isst.“ Das war eine der ganz wenigen Regeln, die Ryu am Anfang seines Jobs mitbekommen hatte: Auf Partys darf er erst essen, wenn Hiro dies auch tut. Und er musste genau beobachten, wen alle mit Hiros Essen in Berührung kam. Ein leicht genervtes Räuspern war zu vernehmen. „Da die Herren mich anscheinend vergessen haben, werde ich mich ein wenig an die frische Luft begeben.“ Ohne sich noch einmal umzudrehen stöckelte sie in Richtung der Terrasse. Hiro kicherte. „Von wegen 'frische Luft'. Die geht jetzt eine rauchen, um ihren Hunger zu unterdrücken.“ „Warum sollte sie das tun?“ „Diätwahn. Von mir aus können wir uns was holen.“ Ryu brauchte nicht zweimal zu überlegen, um das Angebot anzunehmen. Die Beiden schlängelten sich, möglichst unauffällig, damit Hiro nicht von Gratulanten aufgehalten wurde, durch die Menge. Dann endlich stand Ryu vor dem ersehnten Essen. Es gab alles, was man sich hätte vorstellen können: Salate, Suppen, Fisch, Fleisch, Gemüse, Obst, zahllose Beilagen und Unmengen an Desserts. Unter anderem eine dreistöckige Geburtstagstorte. Ryu nahm sich, zur Sicherheit, genau dasselbe wie Hiro. Das stellte kein Problem dar, denn es gab nichts, was Ryu nicht mochte. Außer Marzipan. Hiro nahm sich eine Tomatensuppe, etwas Salat mit Garnelen, Hähnchen, Reis und Currysauce. Ryu war mit dieser Auswahl mehr als zufrieden. Sie setzten sich zu Herrn Kunieda an den kleinen Familientisch, der ebenfalls ordentlich reinhaute. „Und Ryu, wie gefällt dir die Party?“ Ryu aß schnell die Garnele auf und trank einen Schluck von Miss Noris Drink, der sich als Cola Light entpuppte. „Großartig! Das Essen ist der Wahnsinn. Und dieser Saal ist der Hammer. Vielen Dank, dass ich einfach mitmischen darf!“ Dabei viel sein Blick auf Herrn Kuniedas Leibwachen, die alle mit Ohrstöpseln in den Ecken standen und auffällig unauffällig die Leute beobachteten. Herr Kunieda beugte sich vor und flüsterte ihm zu. „Genau das wollte Hiro. Jeder erwartet, dass Hiro von einem schweren Mann im Anzug begleitet wird. Wenn sie denken, er sei unbewacht, werden sie unvorsichtig und leichtsinnig. So hast du leichtes Spiel. DU musst nur unauffällig sein, bekommst du das hin?“ Ihm schlotterten zwar ein wenig die Knie, aber er nickte. „Guter Junge. Ach übrigens, hier deine Gehaltsabrechnung für den ersten Monat, ich hab ganz vergessen dir die zu geben. Das Geld ist bereits auf deinem Konto.“ Herr Kunieda reichte ihm einen Umschlag, der nicht zugeklebt war. Als Ryu diesen öffnete und die Zahl sah, die ganz unten abgebildet war, rechnete er, wie immer, In seine gewohnte Währung um, das mit den Yen bekam er nicht noch nicht so ganz auf die Kette. Als ihm klar wurde, welche Zahl dabei heraus kam, erstickte er fast an einem Stück Hühnchen. Fünftausend Dollar. Fassungslos starrte er Hiros Vater an. „Ist das Ihr ernst?“ quiekte er Atemlos. Herr Kunieda sah ihn fragend an. „Zu wenig?“ Ryu hob abwehrend die Hände. „Nein, Nein! Das ist... ich meine... Ich bin...“ Er zuckte mit den Schultern. „Das ist ganz normal.“ Ryu konnte es noch immer nicht glauben. Fünftausend Dollar. Und das jeden Monat. So viel Geld hatte er noch nie auf einen Schlag bekommen. Es war wie Weihnachten, Ostern, Thanksgiving, der vierte Juli, Chinesisches Neujahr und sein Geburtstag zusammen. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie Dankbar ich bin!“ Unauffällig stecke Ryu den Umschlag in eine Innentasche seines Jacketts. Ryu und Hiro holten sich beide ein Stück von der Geburtstagstorte, die Hiro erst unter Beifall, offensichtlich peinlich berührt, anschneiden musste. Es war eine Schokoladentorte mit Sahne und einer Schicht Marmelade in der Mitte. Ryu wünschte sich, er hätte das Essen vorher weggelassen, denn die Torte war so mächtig, dass er glaubte bald zu platzen. Als alle Gäste satt und das Buffet fast leergeräumt war, begann eine Band zu spielen. Sie spielten eine Mischung aus Jazz und Swing und ein junges Ehepaar sangen dazu Hits von Frank Sinatra und anderen Größen der damaligen Zeit. Ryu hatte schon immer eine Schwäche. Hiro wurde während des ganzen Abends immer wieder in Gespräche mit älteren Herren und dessen Söhne verwickelt. Es ging um Wirtschaft und Politik und wie man sie verändern könnte. Ryu war fest davon überzeugt, dass einige dieser Herren mit Sicherheit in der ein oder anderen Politischen oder Wirtschaftlichen Entscheidung ihre Finger, und ihr Geld, im Spiel hatten. Er selbst beteiligte sich nicht an diesen Gesprächen, sondern hörte nur aufmerksam zu. Er war erstaunt, wie viele Gesichter er wiedererkannte, die er seit seinem Aufenthalt in Japan aus dem Fernsehen oder den Nachrichten kannte. Ein Paar Politiker und Geschäftsmänner, damit hatte er bereits gerechnet. Aber auch Leute aus Film und Fernsehen waren vertreten. Sogar ein berühmter Nachrichtensprecher tummelte sich in der Menge. Ihm wurde jetzt erst klar, wie tief die Yakuza in der Entwicklung Japans mitmischten. Er wusste nicht, ob er das beeindruckend, oder beängstigend finden sollte. Während er den Gesprächen lauschte, tippte er die ganze zeit mit dem Fuß zur Musik. Er konnte sich kaum ruhig auf der Stelle halte. Seine Blicke schweiften immer häufiger zu den Paaren, die sich auf der Tanzfläche ausgelassen dem Rhythmus hingaben. Er hatte es Hiro nie erzählt, aber er war selber ein leidenschaftlicher Tänzer. Irgendwie lag ihm Swing, Salsa und Co einfach im Blut. Irgendwer tippte ihm plötzlich auf die Schulter. Als er sich umdrehte, stand eine Frau mittleren Alters vor ihm. Sie hatte ihr langes Haar zu einem strengen Knoten gewickelt und trug ein dunkelrotes Kleid mit einer Pelzstola. Aber ihr Blick war warm und freundlich. „Ich nehme an, Sie sind Ryu? Ich habe schon viel von ihnen gehört.“ Ryu wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte. Da tauchte Herr Kunieda aus der Menge auf. „Ah, du warst mal wieder schneller als ich. Ryu, darf ich Vorstellen? Das ist Hiros Liebreizende Tante und meine jüngere Schwester Moriko.“ Ryu machte sofort eine tiefe Verbeugung. „Verzeihung, das habe ich nicht gewusst. Ich war gerade kurz irritiert. Ryu Yuan, es freut mich, Sie kennen zu lernen.“ Hiros Tante lachte auf. Das erste Mal an diesem Abend, dass er ein ehrliches Lachen hörte, das von Herzen zu kommen schien. „Das macht doch nichts, mein Junge. Lassen Sie sich mal etwas genauer anschauen.“ Die Art, wie sie ihn umkreiste und dabei musterte, machte ihn etwas nervös. „Ein hübscher, junger Mann.“ Sie zwanzig Jahre zu jung.“ Herr Kunieda schüttelte mit dem Kopf. „Meine Liebe Schwester ist mit einem offenen Herzen und einem losen Mundwerk geboren.“ Sie grinste frech. Ryu konnte nicht anders, als ebenfalls zu grinsen. „Gefällt Ihnen die Feier, Frau...“ Ryu wusste Ihren Nachnamen gar nicht. „Nennen sie mich einfach Moriko. Das macht fast jeder.“ In diesem Moment stieß Hiro zu ihnen. Mit einem breiten Lächeln schloss er seine Tante in die Arme. „Moriko! Schön, dass du kommen konntest! Wie geht es dir?“ Sie stupste ihn mit dem Ellenbogen an. „Na hör mal, ich habe doch wohl Zeit, meinem einzigen Neffen zum Geburtstag zu Gratulieren.“ Sofort waren Hiro und seine Tante in ein lebhaftes Gespräch verwickelt. Ryu machte es richtig Spaß dabei zuzusehen, wie sehr Hiro aufblühte. So herzhaft hatte er ihn nie zuvor Lachen gesehen. Unbemerkt hatten es Hiro und auch seine Familie geschafft, sich einen Platz in seinem Herzen zu ergattern. Herr Kunieda lehnte sich zu ihm hinüber. „Moriko sich Hiros Erziehung gewidmet, nachdem seine Mutter abgehauen ist.“ „Seine Mutter ist abgehauen?“ Die Frage kam schneller, als ihm lieb war. Schließlich sprach er nicht mit irgendwem, sondern mit Hiros Vater. „Oh, es tut mir leid! Ich wollte nicht zu forsch wirken.“ Herr Kunieda schaute ihn besorgt an. „Hat Hiro dir etwas anderes erzählt?“ Schnell schüttelte er den Kopf. „Nein, wir haben nicht ein einziges Mal über sie gesprochen.“ „Hast du nicht gefragt?“ „Nein. Ich habe schon oft festgestellt, dass es vielen in so einer Situation unangenehm ist, darüber zu reden. Ich wollte warten, bis er selbst auf mich zukommt.“ In Wahrheit brannte Ryu diese Frage aber schon lange auf der Zunge. Sicher, er fragte auch aus Höflichkeit nicht. Aber vor allem auch aus Angst. Bislang glaubte er, Hiros Mutter sei verstorben. Besser gesagt sie 'schläft bei den Fischen... oder dem Fisch.' „Als Kazumi ging war Hiro vier Jahre alt. Moriko hat alles getan um sie zu ersetzen, aber sein Herz war gebrochen.“ Und seines? Ryu war erstaunt, wie trocken Herr Kunieda darüber sprach. Vielleicht war es für ihn einfacher gewesen es zu akzeptieren. Wer weiß, was zwischen ihnen vorgefallen war. „Tanzt du eine Runde mit mir, Ryu? Einen flotten Swing?“ Frau Moriko hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen. „Wie, was? Tanzen? Na ja, also...“ Er schaute zu Herrn Kunieda. Dieser deutete lächelnd auf die anderen Securitys, die am Rand standen. „Liebend gerne, Frau Moriko.“ Er verbeugte sich und hielt ihr, ganz die alte Schule, den Ellenbogen hin. Sie hakte sich kichernd unter und ließ sich von ihm auf die Tanzfläche führen. Passenderweise spielte die Band nun ein sehr fröhliches, schwungvolles Lied. Er packte sie bei der Hand und an der Hüfte und begann sofort sie gekonnt über die Tanzfläche zu wirbeln. Frau Moriko erwies sich als gute Tanzpartnerin und sie hatten viel Spaß auf der Fläche. Einige andere Paare blieben stehen, schauten zu und klatschend bewundernd Beifall. Bis plötzlich der Strom ausfiel. Aufgeregtes, fast panisches Gerede, erfüllte den Raum. Herr Kunieda versuchte seine Gäste zu beruhigen, doch es half nichts. Frau Moriko zog Ryu an sich heran. „Schnell, du musst zu Hiro!“ Ryu hatte ihn, trotz der wilden Tanzeinlage, nicht aus den Augen gelassen. Er bahnte sich einen Weg durch die Leute, bis er ihn schließlich fand. „Hiro?“ „Ja, ich bin hier.“ Er fasste ihn am Oberarm und stellte sich Instinktiv dicht vor ihn. „Alles okay?“ „Ja, alles... hhhmpfff!!“ Ryu konnte nichts sehen. Im Saal war es dunkel und er hatte sich noch nicht an das Mondlicht gewöhnt, dass durch die Fenster schien. Er spürte nur, wie Hiro von ihm weggerissen wurde. Im selben Moment packte ihn jemand bei der Schulter und versuchte, ihn zu Boden zu drücken. Gekonnt duckte Ryu sich nach unten und trat der Person die Beine unter den Füßen weg. Mit einem dumpfen Schlag landete er auf dem Boden. Er musste dabei einen Kellner oder so mit umgerissen haben. Es waren jede Menge Gläser zu hören, die am Boden zerschellten. Nun brach Chaos aus. Ryu wurde von allen Seiten angerempelt und geschubst. Es war eine außer Kontrolle geratene Party voller Yakuza. Eine Frage der Zeit, bis die ersten Schüsse fallen würde. Orientierungslos blickte Ryu umher. Als er schon beinahe die Hoffnung aufgegeben hatte sah er, wie zwei Gestalten sich über die Terrasse davonschleichen wollten. Ryu zögerte keine Sekunde und rannte los. Unterwegs rempelte er zahlreiche Gäste um, aber das war ihm egal. In ihm wuchs die Angst. Hätte er doch bloß besser aufgepasst! Er rannte auf die Terrasse und sah gerade noch, wie die Gestalten im Garten verschwanden. Ryu spurtete hinterher. Hinter der nächsten Ecke fand er sie. Es waren zwei große Männer einer von ihnen warf Hiro, der offenbar betäubt war, vor seine Füße. Der Andere hielt ihm eine Pistole an den Kopf. Er konnte den Mann mit der Waffe reden hören. „So, hier ist Endstation, du kleiner Mistbengel! Jetzt kann dir nicht mal mehr dein Vater helfen!“ Als Ryu sah, wie er die Waffe hob, um Hiro zu erschießen, tat er das Einzige, was ihm einfiel: er zog einen seiner Schuhe von den Füßen und warf ihn mit voller Wucht dem Schützen entgegen. Er traf die Hand des Schützen, die die Pistole hielt. Diese flog ihm in hohem Bogen aus der Hand. Sichtlich verwirrt blickte der Schütze hektisch umher. Und auch sein Komplize schien verwirrt. Ryu nutzte die Gunst der Stunde und spurtete auf die Männer zu. Den großen, der Hiro getragen hatte, erledigte er mit zwei sehr schnellen Faustschlägen auf die Schläfe. Dann drehte er sich blitzschnell um und trat dem Schützen, der nach der Waffe am Boden suchte, gegen die Kniescheibe. Er konnte spüren, wie unter der Kraft seines Tritts die Kniescheibe des Mannes heraussprang. Schreiend kauerte er auf dem Boden. Der Andere, den Ryu zuvor mit seinen Fäusten außer Gefecht gesetzt hatte, rappelte sich auf und schwankte auf ihn zu. Doch er Kam gar nicht erst bis zu ihm. In diesem Moment tauchten die Männer von Herrn Kuniedas Security auf und überrumpelten die Männer. Herr Kunieda folgte ihnen. „Hiro!“ Er kniete sich neben Ryu auf den Boden. „Hiro, kannst du mich hören?“ Hiro stöhnte auf und blinzelte mit den Augen. Erleichtert atmeten Herr Kunieda und Ryu auf. „Alles in Ordnung? Hast du Schmerzen?“ Hiro sah sich verwirrt um. „Was... was ist... passiert?“ Ryu half ihm, sich aufzurappeln. Einer der Securitys reichte ihm eine Flasche Wasser. „Gut gemacht, Ryu. Das war Haarscharf.“ Er blickte zu seinen Männern. „Und?“ Einer von ihnen antwortete knapp. „Ishida-Clan.“ Herr Kunieda machte eine Kopfbewegung und die Männer schleiften die Angreifer weg. „Ryu, bei dir auch alles gut?“ Er nickte knapp. „Gut. Ich möchte, dass du Hiro sofort zurück ins Loft bringst. Einer der Männer wird euch auf dem unauffälligsten Weg dorthin begleiten.“ „Und die Party?“ „Ich denk mir was aus, das kennen die eh alle schon.“ So schnell es ging, schleifte Ryu Hiro, der langsam wieder zur Besinnung kam, über das dunkle Gelände. Der Mann von der Security kannte zum Glück einen kurzen Weg an den Partygästen vorbei. Auf dem Weg dorthin erzählte er Hiro, was passiert war. Vor der Tür ließ der Mann die Beiden alleine. Ryu gab den Code ein und ließ seine Finger scannen, die mittlerweile im System waren. Als sie das Loft betraten, wurde Ryu von einem unfreundlichen Knurren begrüßt. „Jetzt nicht, du blöder Köter!“ Er schien es sehr bestimmt gesagt zu haben, denn Luca legte sich mit eingezogenem Schwanz auf den Boden. Ryu bugsierte Hiro auf die Liegewiese. Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn und zog sein Jackett aus. Hiro war wieder bei Sinnen, nur etwas verwirrt. „Kannst du mir Wasser holen?“ sprach er mit heiserer Stimme. „Natürlich.“ Ryu ging zum Kühlschrank und holte eine Flasche. Dann nahm er noch ein Glas aus dem Regal. Er schenkte ihm etwas ein und reichte es ihm. Dann trank er selbst einen großen Schluck. Er seufzte tief. „Das war ja mal was.“ „Es tut mir so leid.“ sprach Hiro. Ryu verstand nicht ganz. „Wie meinst du das? Was tut dir leid?“ Hiro starrte wie gelähmt auf sein Glas. „Wenn ich nur... etwas stärker wäre... dann...“ Ryu sah ihn an. „Dann was?“ „Dann... hättest du dich nicht... ich meine... du müsstest dich nicht in solche... Gefahren begeben.“ Er zitterte am ganzen Körper. Ryu nahm ihm das Glas aus der Hand und stellte es zusammen mit der Flasche zu Boden. Dann setzte er sich vor Hiro. Ryu umfasste sein Gesicht mit seinem Händen. „Sieh mich an.“ Zögerlich blickte Hiro auf und sah ihn mit seinen dunkelbraunen Augen an. Hiro wirkte zerbrechlicher als je zuvor. Er strich ihm, ohne dass er es bemerkte, durch die Haare und sprach ganz sanft um ihn zu beruhigen. „Es ist mein Job, dich zu beschützen. Sonst wäre ich doch gar nicht hier.“ Hiros Blick schien seine Augen zu fixieren. Als würde er in ihnen etwas suchen. Ryu spürte, wie sein Atem plötzlich schwerer wurde und sein Herz lauter schlug. Hiros Stimme zitterte noch ein wenig. „Ich weiß nicht genau wieso, aber... ich fühle mich jetzt besser.“ Ryu legte seinen Arm um Hiro. „Ich glaube, ich weiß wieso.“ Ryu wusste nicht, wie ihm geschah. Aus einem starken, inneren Drang heraus, zog er Hiro an sich heran und küsste ihn sanft. Und zu seiner Verwunderung ließ Hiro ihn. Er stieß ihn nicht von sich weg, versuchte nicht, es zu beenden. Ryu spürte, wie sein Atem ruhiger wurde. Langsam löste Ryu seine Lippen von ihm. Er sah ihm in die Augen und wartete auf eine Reaktion. Schlagartig lief Hiro dunkelrot an. Doch er wich nicht zurück. Er versteckte sein Gesicht, indem er sich an Ryus Brust drückte. Ryu streichelte wieder durch sein Haar. Dann begann Hiro leise zu reden, aber nicht mehr zittrig. Es klang fester und bestimmter. „Ryu... Ich weiß nicht, was im Moment mit mir passiert. Alles in mir spielt verrückt. Seit du da bist hat sich was verändert. Ich kann es nicht zuordnen, ich weiß nur, dass...“ Er hörte mitten im Satz auf. Ryu sprach sanft weiter. „Dass was?“ „... Bitte, bleib bei mir. Wenigstens heute.“ Ryu lächelte. „Gerne.“ Dann legte er sich auf die Liegewiese und zog Hiro sanft zu sich. Dieser lehnte sich wieder an seine Brust. Ryu griff nach einer der Stoffdecken, die überall herumlagen, und deckte sie beide zu. Er gab Hiro noch einen sanften Kuss auf die Stirn. Es dauerte nur wenige Augenblicke, da schlief Hiro sanft in seinen Armen ein. Kapitel 4: CHAPTER FOUR ----------------------- CHAPTER FOUR Ryu spürte ein leichtes Atmen an seinem Ohr, doch er hielt seine Augen geschlossen. Es befand sich in einem Zustand zwischen hellwach und fast im Koma. Er brauchte eine Weile um sich zu sammeln. Das Atmen an seinem Ohr wurde heißer. Dann spürte er, dass er alleine war. Hiro musste bereits aufgestanden sein, ohne, dass Ryu davon wach wurde. An sein Ohr drang ein tiefes Knurren. Langsam etwas beunruhigt öffnete Ryu die Augen und blickte in die schwarzen Augen von Hiros offenbar sehr wütendem Dobermann. Schlagartig war Ryu hellwach. Luca fletschte die Zähne. „Liebes Hundchen!“ Ryu stand langsam auf. Luca legte bedrohlich die Ohren an. „Braves Hundchen!“ Ryu machte einen Schritt nach hinten. „Du willst mir doch eigentlich gar nichts... AAAHH!!!“ Luca hatte mit einem gewaltigen Sprung einen Angriff auf Ryu gestartet. Dieser machte einen Satz zur Seite. Luca hetzte hinter ihm her. Ryu sprang auf das Sofa, den Höllenhund immer hinter sich. Luca versuchte, über den Wohnzimmertisch abzukürzen und riss alles, was sich darauf befand hinunter. Ryu hastete die Treppe hinauf in sein Zimmer. Dort knallte er Luca, ganz knapp, seine Zimmertür vor der Nase zu und schloss ab. Schwer atmend ließ er sich auf sein Bett fallen. Minutenlang hörte er zu, wie Luca einen Höllenlärm veranstaltete. Wie lange konnte so ein Hund denn mit so einer Power bellen? Nach schier endloser Zeit hörte Ryu, wie sich in der Lounge die Tür öffnete. Im selben Moment verstummte der Hund. „RYU?“ Ryu sprang erleichtert von seinem Bett auf und verließ, das Zimmer. „Hiro! Gott sei Dank!“ Hiro stand in der Lounge und begutachtete fassungslos das Chaos. Luca hatte sich offenbar nach Ryus Flucht noch weiter in der Lounge ausgetobt. Sämtliche Küchenstühle waren zu Boden gerissen, einige der Kissen auf der Liegewiese zerfetzt. Der Boden war übersät mit Federn und Wolle. „Was zum Teufel ist denn hier passiert?“ Ryu zeigte wütend auf Luca. „Der Höllenhund hat versucht mich bei lebendigem Leibe zu zerfleischen!“ Hiro schaute zu seinem treuen Haustier. Der lag in seinem Körbchen und schaute drein, wie ein Welpe, den kein Wässerchen trügen konnte. „Hast du ihn gereizt?“ „Wa- Wie... Nein! Ich hab tief und fest geschlafen. Ich bin wach geworden, weil er mir wütend ins Ohr geknurrt hat.“ Hiro begutachtete abwechselnd seinen Bodyguard und seinen Hund. Dann deutete er auf Luca. „Ich bitte dich, schau ihn dir an. Mein Wuschel würde doch nie jemandem was tun.“ Vollkommen unschuldig trottete Luca an die Seite seines Herrchens und ließ sich den Kopf kraulen. „Was glaubst du denn, wer das gewesen sein soll?“ Hiro deutete auf den, wie immer, dösenden Tiger. „Im Gegensatz zu einem Hund ist ein Tiger ein wildes Tier.“ Zweifelnd sah Ryu dabei zu, wie Leia sich gemächlich von rechts nach links drehte. Dann sah er wieder Hiro an. „Ernsthaft?“ Hiro zuckte mit den Schultern. Ryu streckte sich. „Wie geht’s dir heute?“ Ryu wunderte sich, warum Hiro so gelassen war. Ignorierte er, was am Vorabend passiert war? Hiro fasste sich an den Kopf. „Beim Schädel brummt total. Hab ich eine drüber bekommen?“ Ryu war sichtlich irritiert. „Weißt du nicht mehr, was passiert ist?“ Hiro schaute nachdenklich an die Decke. „Ich kann mich daran erinnern, dass im Saal das Licht ausging und mir dann irgendwer einen Lappen vors Gesicht gehalten hat. Das nächste was ich weiß, ist wie... Warum genau bin ich heute morgen an dich angekuschelt aufgewacht?“ Ryu war ziemlich perplex. „Das... weißt du nicht mehr?“ Arglos schüttelte Hiro den Kopf. „Was soll ich denn wissen? Mein Vater hat mir nur eben erzählt, dass du diese Typen gestern ordentlich vermöbelt hast. Er meinte, der Gedächtnisverlust kommt von dem Zeug, was sie mir gegeben haben.“ Ryu war sprachlos. Was sollte er daraufhin sagen? Sollte er ihm einfach die Wahrheit erzählen? Wie würde Hiro reagieren? „Also, warum haben wir da so... innig auf der Liegewiese gelegen?“ Hiro schien das sehr locker zu nehmen... für Ryus Geschmack etwas zu locker. Er beschloss, dass es für den Moment das Beste war, es nicht zu erwähnen und den Dingen fürs Erste ihren Lauf zu lassen. „Du warst gestern zwischendurch wach. Ich hab dich hier ins Loft gebracht und erst mal auf die Liegeweise verfrachtet. Da bist du dann eingepennt. Und weil ich angst hatte, dass unbemerkt Folgeschäden auftreten hab ich beschlossen, bei dir zu bleiben.“ Hiro musterte Ryu streng. Sein Schulterzucken deutete Ryu als Zeichen, dass Hiro die Geschichte einfach so hinnahm. Dann ging er auf Ryu zu und zupfte an seinem schmutzigen Hemd. „Ich würde sagen, das ist hinüber. Und du solltest duschen, du siehst furchtbar aus!“ Ryu schaute an sich hinunter. Seine Kleidung war von dem kleinen Kampf im Garten und der Verfolgungsjagd mit dem Höllenhund ziemlich mitgenommen. Er brauchte wirklich dringend eine heiße Dusche. Auf halben Weg in sein Zimmer blieb er stehen. „Sag mal Hiro... Was wird eigentlich aus den Typen von gestern?“ Hiro, der schon mal anfing, Luca's Chaos zu beseitigen, war kurz irritiert. „Welche meinst du? Die Angreifer?“ Ryu nickte. Hiro öffnete den Mund für eine Antwort, doch die kam schon, ohne, dass er etwas sagen musste. In dieser Sekunde leuchtete das Loft in dem nur allzu bekannten roten Licht auf. Während Ryu sich die Haare mit seinem neuen, sündhaft teurem, Shampoo ein schäumte, dachte er darüber nach, wie er das Geschehene vom Vorabend für sich definieren sollte. Hatte Hiro sich ihm gegenüber bloß geöffnet, weil er in einer Art Rausch war? Oder hatte dieses Zeug so sehr seine Sinne benebelt, dass er gar nicht mehr Herr über sein handeln war? Oder war er sich vielleicht doch bewusst über das, was passiert war und mimte nur den Ahnungslosen? Wenn dem so wäre, würde Ryu ihn glatt zu einem Filmcasting schicken. Auf einmal wurde ihm etwas bewusst. Er hatte so angestrengt über Hiro nachgedacht, dass er seine eigenen Gefühle völlig in den Hintergrund geschoben hatte. Wie fühlte er für Hiro? Was war sein Schützling für ihn? Hatte er inzwischen doch Interesse entwickelt? Je mehr er darüber nachdachte, desto verunsicherter wurde er. Frisch geduscht und angezogen kehrte Ryu in die Lounge zurück. Sein knurrender Magen erinnerte ihn daran, dass er nicht gefrühstückt hatte. Und dabei war es schon fast Mittag. „Hey Hiro, willst du auch was essen?“ Misstrauisch schaute Hiro, der gerade die zerfetzten Kissen in einen Müllbeutel packte, auf. „Was genau willst du denn machen?“ Abwehrend hob Ryu die Hände. „Nur eine Schüssel Müsli, du Küchen-Paranoid!“ Eine der wenigen Dinge, die Ryu dafür aber umso mehr nervte, war der ewige Streit um die Küche. Er hasste es wie die Pest, dass er sich jedes Mal rechtfertigen musste, wenn er auch nur in die Nähe der Kochnische kam. Ungeduldig wartete er darauf, dass Hiro ihm sein OK gab. Zur Strafe ließ er Hiro die Kissen ganz alleine aufsammeln. Als ihm dann aber die Menge der Federn bewusst wurde, erbarmte er sich und half nach seinem Frühstück die Bude wieder auf Vordermann zu bringen. Luca hatte ein ziemlich ordentliches Chaos hinterlassen. Als endlich wieder alles glänzte, ließen sich die beiden Putzteufel erschöpft auf das Sofa fallen. „Was ist eigentlich aus der Party gestern geworden?“ Hiro schob sich ein Stück Schokolade in den Mund. „Die haben ohne mich gefeiert.“ Ryu schaute ihn mit großen Augen an. „Wie, ohne dich? Aber es war doch deine Feier?“ Er zuckte mit den Schultern. „Das passiert öfter mal. Ich war letztes Jahr auf einer Feier, da wurde plötzlich die Frau des Gastgebers erschossen. Sie wurde weggetragen und der Gastgeber hat einfach mit der nächstbesten Trulla getanzt. Besagte Trulla ist jetzt übrigens angehende Ex-Frau Nummer vier.“ Ryu machte große Augen. „What? Ihr Yakuza seid ein seltsames Völkchen.“ Dann kam Ryu eine Idee. „Sag mal, wo wir schon beim Thema Yakuza und Partner sind... Würde die Tatsache, dass ich auf Männer stehe, irgendwelche Schwierigkeiten machen?“ Hiro sah ihn fragend an. „Wie meinst du das?“ Ryu überlegte, wie er es formulieren sollte. „Also, es wird ja nun leider bei weitem nicht in jeder Gesellschaft einfach akzeptiert, dass es Männer gibt die auf Männer stehen. Oder Frauen auf Frauen. Oder, was heißt Gesellschaft... nicht alle Menschen können diesen Gedanken akzeptieren, warum auch immer. Wie ist das bei den Yakuza? Was hätte einen da zu erwarten?“ Ryu beobachtete, wie Hiro sich offenbar schwer mit der Frage auseinander setze. Es dauerte auch einige Minuten, bis er Ryu eine Antwort gab. „Tja, das weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Also, meinen Vater stört es nicht. Ich glaube, dass denen das ziemlich egal ist. Hauptsache, die Geschäfte laufen. Allerdings kann man den Leuten auch nur vor den Kopf schauen.“ Ryu war nicht sicher, ob diese Antwort ihn zufrieden stellte. Allerdings widersprach es einer seiner Theorien, dass Hiro Angst davor hatte, sich zu outen, weil er sonst verstoßen, oder schlimmeres, würde. „Was machen wir jetzt noch?“ fragte Hiro gähnend und sich streckend. „Du könntest zur Abwechslung mal lernen.“ Hiro schüttelte sich. „Bah, nein Danke! Ich hasse lernen!“ Doch Ryu kannte kein erbarmen und fragte ihn die Lernkarten ab, die er zusammen mit Hiro erarbeitet hatte. Wie sich herausstellte hatte Hiro einiges an Nachholbedarf. „Du hast aber schon noch aufm' Plan, dass bald die ersten Prüfungen sind?“ Streng sah er seinen Schützling an. „Übertreib' mal nicht, SO schlecht war ich nicht.“ Ryu machte große Augen. „Soll das ein Scherz sein? Der einzige Kurs, den du bestehen wirst, vielleicht, ist Chemie.“ Hiro grinste. „Chemie ist wie kochen, ganz leicht.“ Bei diesem Stichwort fiel Ryu seine Lieblingsserie ein. „Du solltest dir mal 'Breaking Bad' ansehen. Da geht es auch um Chemie... und Kochen.“ Nach etwa einer halben Stunde gab Ryu schließlich auf. Hiro hatte keine Lust zum lernen und damit basta. Genervt stellte er die Lernkarten zur Seite und beobachtete den kleinen Trotzkopf dabei, wie er vor seiner schier endlosen Sammlung von Videospielen stand und sich mal wieder nicht für eines entscheiden konnte. Ryu saß still da und begutachtete ihn, diesmal jedoch mit ganz anderen Augen. Seine Empfindungen für ihn hatten sich, wie er nun feststellen musste, geändert. Was er zu Beginn noch als schwächlich abgestempelt hatte, deutete er nun als Schutzbedürftig. Als er das erste Mal neben Hiro auf dem Sofa saß, hätte er ihm am liebsten eine reingehauen. Nun wollte er nichts weiter als ihn in die Arme schließen. Und auch seine Arroganz fühlte sich nun anders an. In Ryus Augen war sie nichts weiter als ein Schutzschild, um seine liebe, zarte Seite zu verbergen. Plötzlich bekam er angst. Was würde geschehen, wenn Hiro irgendwann erfahren würde, dass sie sich den Abend zuvor geküsst hatten? Wäre er geschockt? Oder würde er sogar daran zerbrechen? Ryu dachte über sich selber nach. War er gut für Hiro? Als Bodyguard, ja. Aber als... mehr? Viel mehr als nur ein Freund? Ryu war es immer gewesen, der den zarteren Part in einer Beziehung einnahm. Bei Hiro wäre es ganz sicher nicht so. War er bereit, so eine Rolle einzugehen? Wenn es denn je dazu käme? „Sag mal, kannst du mal aufhören mich so dumm anzuglotzen? Das irritiert ja total!“ Unsanft wurde Ryu aus seinen Gedanken gerissen. „Wie? Was?“ Hiro kämpfte sich mit einem schwer bewaffneten Magier durch ein düsteres, von Monstern befallenes, Dorf. „Was ist denn heute los mit dir? Du bist schon die ganze Zeit voll seltsam.“ Ryu stand kommentarlos auf und latschte zu der Liegewiese. Dort ließ er sich neben Leia auf die Kissen fallen und kraulte sie hinter den Ohren. Er hielt es einfach nicht in Hiros Nähe aus. Er schnaufte. Wie sollte das nur weitergehen? Er spürte, wie sich jemand neben ihn setzte. „Hab ich was falsches gesagt?“ Als Ryu aufschaute, sah er, wie am Abend zuvor, in Hiros dunkelbraune Augen. Sie wirkten traurig. Ryu spürte, wie sein Herz schneller schlug. Dann seufzte er. „Nein, alles gut.“ Bevor er irgendetwas tun konnte, was er später vielleicht bereuen würde, ließ er sich in die Kissen fallen. Einige Minuten vergingen, ohne, dass einer der Beiden ein Wort verlor. Hiro saß noch immer neben ihm. Ryu hatte seine Augen geschlossen, öffnete sie nicht. Er fragte sich, ob Hiro ihn ansah oder ob seine Aufmerksamkeit, flüchtig wie sie nun mal war, schon etwas anderem folgte. Dann aber fing Hiro ganze leise und zögerlich an zu reden. „Ich hab gestern... was ziemlich seltsames geträumt.“ „Und was?“ Ryu öffnete wieder die Augen, blieb aber auf den Kissen liegen. „Wehe du lachst mich aus!“ Lächelnd verschränkte Ryu die Arme hinter seinem Kopf. „Wirke ich auf dich wie jemand, der sich über Leute lustig macht, weil sie mir etwas anvertrauen?“ Hiro schüttelte mit dem Kopf. „Genau. Also, was hast du geträumt?“ Nach außen versuchte er cool zu wirken, aber innerlich zersprang er fast vor Ungeduld. Er sah zu, wie Hiro die Augen schloss und sich offenbar sammeln musste. „Ich hab geträumt, dass wir gestern Nacht hier auf der Liegewiese saßen. Irgendwas haben wir geredet. Ich war panisch und hysterisch.“ Ryu glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Angespannt setzte er sich auf. „Und irgendwie... Ich weiß auch nicht... Du hast … Und ich hab dann einfach...“ Ryu war selbst überrascht, dass er Hiros Hand ergriff. Er sah ihm tief in die Augen. „Ich habe?“ Er merkte selbst, dass er nich fragend, sondern auffordernd klang. Hiros Augen weiteten sich. Sein Atem wurde schneller. „Es war kein Traum, oder?“ fragte er vorsichtig. Ryu antwortete nicht. Doch das war Antwort genug. „Hiro...“ „Nein!“ Er zog seine Hand weg und sprang auf. „Warte doch, bitte.“ „Lass mich in Ruhe!“ Hiro rannte die Treppe hinauf. Ryu wollte ihm hinterher, doch spürte er, dass es in diesem Moment nicht viel nutzen würde. „Ich will doch nur...“ „Geh einfach!“ Dann knallte Hiro die Tür zu seinem Zimmer hinter sich zu. Rechts, Links, Tritt, wieder Rechts, dann zwei Tritte. Es war bereits halb zwei Morgens. Ryu war, wie zu erwarten, allein in dem großen Fitnessraum und malträtierte seit gut zwei Stunden den Sandsack. Er hatte lange im Loft gesessen und nachgedacht. Was sollte er tun? Wie ging es weiter? Würde Hiro ihn sogar rausschmeißen? Nach schier endloser Zeit beschloss Ryu, seiner Angst, seinem Frust und überhaupt seinen Gefühlen erst einmal Luft zu machen. Und Sport war für ihn schon immer ein gutes Ventil. Als er seinen ersten, richtigen Liebeskummer hatte, gewann er ein wichtiges Turnier haushoch. Als sein Onkel, der für ihn wie ein bester Freund war, bei einem Unfall ums Leben kam, schlug er mehrere Löcher in seine Zimmerwand. Es tat ihm gut, seinen Frust auf diese Art und Weise auszulassen. Er merkte, wie er wieder klarer im Kopf wurde und sich langsam wieder beruhigte. Nach einer weiteren halben Stunde beschloss er, dass der Sandsack nun genug gelitten hatte. Er trank einen Schluck Wasser, hängte sich sein Handtuch um die Schulter und begab sich wieder auf den Weg zurück ins Loft. Auf halbem Weg blieb er stehen. Die Türen auf dem langen Flur waren, soweit er sich erinnern konnte, immer geschlossen. Doch dieses mal nicht. Eine von ihnen war einen Spalt weit geöffnet. In dem dunklen Raum konnte er Herrn Kunieda erkennen, der nur dastand und zu Boden schaute. Ryu überlegte kurz, was er nun machen sollte. Dann fasste er sich ein Herz und klopfte an die Tür. Herr Kunieda schreckte auf und drehte sich um. „Ryu? Noch wach zu dieser Stunde?“ „Das könnte ich sie auch fragen.“ Herr Kunieda lächelte. „Stimmt.“ Dann drehte er sich wieder um. „Weißt du, wo du dich hier befindest?“ Ryu blickte sich um, konnte aber in der Dunkelheit nicht viel ausmachen. Nur ein grauer, kalter Streifen, etwa fünf Meter breit, war zu sehen. Herr Kunieda stand an seiner Kante. Der Raum musste riesig sein, denn er konnte den Hall seiner Schritte vernehmen. Es war kalt und roch seltsam. Aber nicht unangenehm. Ryu erinnerte dieser Geruch irgendwie an seine Kindheit, aber er wusste ihn nicht einzuordnen. „Nein, Sir, ich kenne diesen Ort nicht.“ „Komm näher.“ Zögernd ging Ryu auf ihn zu. Je näher er Herrn Kunieda kam, desto deutlicher war ein Rauschen zu vernehmen. „Wir nennen diesen Raum 'Port of Remorse'“. Ryu stand nun neben ihm. „Hafen der Reue?“ Salzwasser. Er kannte diesen Geruch von den Strandurlauben mit seiner Familie. Herr Kunieda sah ihn nicht an, schaute nur nach unten. Ryu folgte seinem Blick. Vor ihm konnte er Wasser vernehmen. Ein gewaltiger, dunkler Schatten war darin zu erkennen. Erschrocken wich Ryu einen Schritt zurück. „Verstehst du jetzt, wieso wir diesen Raum so nennen?“ Ryu nickte. „Egal, wie loyal jemand gegenüber seiner Taten ist. Spätestens bei seinem Anblick, bereut jeder seine Sünden.“ „Das können Sie laut sagen.“ Herr Kunieda blieb regungslos an der Kante stehen. „Haben sie keine Angst?“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Nein. Und um ehrlich zu sein wundert es mich, dass er mich noch nicht geholt hat.“ „Wie meinen Sie das?“ „Ich tue ihm unrecht an. Einen weißen Hai in Gefangenschaft zu halten ist falsch. Einen Tiger kann man bändigen. Ihn nicht.“ Er deutete mit dem Kopf auf das dunkle Wasser. „Eines Tages wird er seine Chance ergreifen. Und ich werde es ihm nicht einmal verübeln.“ Herr Kunieda entfernte sich vom Wasser. „So ähnlich ist es auch mit Hiro.“ „Ehm... Mit Hiro, Sir?“ Er lachte. Es klang unheimlich. „Er und der Große sind gar nicht so verschieden. Sie sind beide faszinierend anzusehen. Und man sollte sie beide nicht einsperren. Ich habe es dennoch getan.“ Ryu rührte sich nicht von der Stelle. Ihm war schon lange aufgefallen, dass Hiro nur Zeit mit seinem Vater verbrachte, wenn er unbedingt musste. „Mein Sohn hasst mich, genauso wie er.“ „Wieso?“ Ryu wusste, dass Beschönigungen hier nicht von Nöten waren. Es schien ihm wie ein offenes Geheimnis, dass Hiro eine schwere Beziehung zu seinem Vater hatte. Und obwohl er wusste, dass es nicht nur unhöflich sondern vermutlich auch gefährlich war zu fragen, hatte er keine Angst. „Seine Mutter.“ Er drehte sich zu Ryu um. „Er gibt mir die Schuld daran, dass sie gegangen ist.“ Ryu überlegte, wie er nun reagieren sollte. Schweigen? Kommentieren? Nein. Er hatte nämlich schon einen konkreten Verdacht. Herr Kunieda war zwar gefasst, seine Augen aber sprachen Bände. „Sie wissen gar nicht, weswegen sie ging, oder?“ Er sah Ryu erst mit großen Augen an. Dann lächelte er wieder. „Du bist offenbar geübt darin, Menschen zu beobachten und einzuschätzen. Das ist eine kostbare Gabe. Erhalte sie dir.“ Ohne ein weiteres Wort verließ Herr Kunieda den Hafen. Als Ryu wieder das Loft betrat, bemerkte er, dass die Wand wieder hochgefahren war. Geradezu majestätisch zog Lenny seine Kreise im Wasser. Er kam ungewöhnlich nah an die Scheibe heran. Vermutlich, weil Hiro auf der Liegewiese saß und ihn beim schwimmen beobachtete. Er schien gar nicht zu bemerkt zu haben, dass er nicht mehr alleine war. Seine Augen wirkten müde, sein Blick war traurig. Warum sah er nur so traurig aus? „Hast du mich jetzt nicht lange genug angestarrt?“ Irritiert sah Ryu ihn an. „Ich kann mich auch neben dich setzen und den Fisch anstarren, wenn dir das lieber ist.“ Als Hiro nicht reagierte, setzte Ryu sich einfach, mit etwas Sicherheitsabstand, neben ihn. Eine Weile lang beobachteten sie, wie Lenny durch die extra angepflanzten Korallen seine Bahnen zog. „Dein Vater hat mir vorhin den 'Port of Remorse' gezeigt.“ Keine Reaktion. „Als ich gemerkt hab, dass ich Lenny quasi tödlich ausgeliefert war, hab ich fast einen Herzanfall bekommen.“ Immer noch nichts. Aber trotzdem... es fasziniert mich, ihn anzusehen. Ich hasse und liebe diesen Fisch.“ „Und mich?“ Ryu sah Hiro an, wusste aber nicht so recht, was er meinte. „Hasst du mich? Oder...“ „Nein. Nein, ich hasse dich nicht.“ Hiro wirkte zögerlich, aber bestimmt. „Und was dann?“ Ryu fuhr sich durch sein Haar und sah ihn an. „Ich weiß es nicht. Ich würde es dir gerne sagen, aber ich weiß es wirklich nicht.“ „Und warum machst du dann so was?“ „So was?“ „Na... du weißt schon... mich... nun ja...“ „Dich küssen?“ Hiro lief bei diesen Worten dunkelrot an. „Aus einem Impuls heraus. Ich hatte das schwere Bedürfnis und habe es einfach getan. Und... wie soll ich sagen... Es fühlte sich richtig an. Spätestes, als ich gemerkt habe, dass du es einfach zugelassen hast.“ Ryu beobachtete in Hiros Gesicht, was er bei sich selbst auch vor einigen Jahren im Spiegel beobachten konnte: die Angst vor der Erkenntnis. „Es wäre jetzt leichter für dich, wenn ich ein Mädchen wäre, oder?“ Hiro sagte kein Wort. Er blickte nur zu Boden und zuckte mit den Schultern. „Ich habe... schon länger an mir... beobachten können, dass ich... mich eher zu, na ja, Männern... hingezogen fühle.“ Ryu konnte nicht anders, als zu grinsen. „Hey! Was soll das jetzt?“ „Nichts, es ist nur... Mir war es quasi schon von Anfang an klar. Es gibt da so einige Indizien.“ Hiro schaute ihn schwer beleidigt an. „Ah, verstehe, lass mich raten: weil ich gerne koche und mich für Klamotten interessiere und weil ich so zierlich bin...“ „Nun, ich gebe zu, das war schon alles irgendwie auffällig, aber noch lange kein eindeutiger Hinweis.“ „Und, was hat mich verraten?“ Ryu deutete zum Sofa. „Deine DVD-Sammlung.“ Hiro starre ihn mit großen Augen an. „Meine DVD's? Was ist damit?“ Dann begann Ryu aufzuzählen. „Das fängt schon mit 'Titanic' an. Dann 'Der Teufel trägt Prada'. Und... du besitzt die Deluxe-Edition von der 'Twilight-Saga'. Die mit der Glitzer-Box.“ Hiro, immer noch gerötet, kratzte sich beschämt am Kopf. „Die Verkäuferin im Laden hatte auch schon ziemlich verdutzt geschaut, als ich ihr sagte, dass die Twilight Box keine Geschenk für meine Freundin ist.“ Nun lagen beide vor Lachen fast am Boden. Ryu war erleichtert, dass dieses Gespräch einen viel positiveren Verlauf nahm, als er befürchtete. „Und jetzt?“ fragte Ryu ihn unverblümt. „Was meinst du?“ „Wie geht es weiter?“ Hiro zuckte mit den Schultern. Dann sah er Ryu an. „Was ist?“ Ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung schnellte Hiro nach vorne und küsste Ryu. Erst war er völlig perplex. Doch dann schloss er die Augen und erwiderte den Kuss. Und wieder fühlte es sich richtig an. Hiros Lippen waren so zart, wie er es von noch keinem Mann kannte. Sanft streichelte er über sein Gesicht. Dann beendete Hiro den Kuss wieder. Hiro sah ihm in die Augen. „Du hast recht, es... es fühlt sich richtig an.“ Ryu lächelte. „Das beantwortet aber noch nicht meine Frage.“ „Was würdest du denn vorschlagen?“ Ryu konnte nicht anders, als Hiro durch die Haare zu wuscheln. „Hey!“ „Ich würde sagen, wir lassen der Sache einfach Raum und schauen, was noch so passiert.“ Hiro dachte kurz nach, dann nickte er. „Gut. Wollen wir uns eine DVD anschauen?“ „Aber nicht Twilight!“ Kapitel 5: CHAPTER FIVE ----------------------- CHAPTER FIVE Genervt stand sie auf dem Balkon ihres Appartements, rauchte eine Zigarette und schaute gelangweilt auf die Menschen, achtzehn Stockwerke unter ihr, hinab. Sie war ermüdet von der Eintönigkeit um sie herum. Immer dieselben abgestumpften Partys mit immer den gleichen Gesichtern aus deren Mündern immer wieder die altbekannten Leiern kamen. Nicht einmal ihr Nachtleben schaffte es, sie aus dem tristen Dasein zu befreien. Und ihre Zukunft sah noch düsterer aus. Sollte sie doch allen ernstes an diesen Jungen verramscht werden. Doch sowohl ihr Vater als auch ihre Stiefmutter bestanden darauf und waren hellauf begeistert. Hatten sie denn keine Augen im Kopf? Der Typ war um einiges kleiner als sie und auch noch fast drei Jahre jünger! Bei dem Gedanken steckte sie sich eine zweite Zigarette an. Die Sonne tauchte hinter den zahllosen Hochhäusern der City auf. „Misaki? Bist du etwa schon wach?“ Entnervt verdrehte sie die Augen. Ach ja, sie hatte sich dieses angehende Model mitgenommen. Wie hieß der Knabe gleich? „Komm wieder ins Bett, Baby. Is' doch sicher kalt da draußen.“ Misaki schaute an sich herab. Sie trug lediglich ihren violetten Morgenmantel aus reiner Seide. An den Füßen trug sie nichts. „Nein danke. Aber wenn du willst, dann kannst du ruhig gehen.“ Das Model starrte sie mit großen Augen an. „Wie? Du schmeißt mich einfach raus?“ Ungläubig schüttelte er mit dem Kopf und begutachtete, wie Misaki sich ihr blondes Haar zu einem Zopf flocht. „Wenn du es so nennen willst, bitte. Ich würde mich jetzt gerne in Ruhe fertig machen.“ „Bietest du mir nicht mal an, wenigstens zu frühstücken?“ Desinteressiert zuckte sie mit den Schultern. „Ich hab' eh nichts im Kühlschrank. Also, wo die Tür ist weißt du noch?“ Beleidigt zog das Model sich seine Hose und sein Hemd über und schlüpfte in die offenbar extrem teuren Armani-Schuhe. „Blödes Miststück“ murmelte er noch und verließ mit einem lauten Türknall das Appartement. Misaki starrte weiter Gedankenverloren die umliegenden Hochhäuser mit ihren schicken Wohnungen und Appartements an. Sie kannte viele der Bewohner. Und noch besser kannte sie ihre schmutzigen Geheimnisse. Im Gebäude direkt gegenüber lebte beispielsweise ihre beste Freundin Naomi, die mit reichen Männern schlief um sich ihre stetig wachsende Kokainsucht zu finanzieren. Zwei Etagen unter ihr hauste Daiki Aikawa, dritter und jüngster Sohn des Aikawa-Clans. Er konnte seinen beiden Brüdern, die den Streit um die Aikawa Nachfolge unter sich ausmachten, nicht einmal ansatzweise das Wasser reichen und vergnügte sich sein Leben lang auf kosten seines Vaters auf Partys mit Frauen und viel Alkohol. Doch die Menschen um sie herum, die sie teilweise bereits ihr ganzes Leben kannte, einen nach dem Anderen beim Versagen zu beobachten verschaffte ihr schon lange nicht mehr das Gefühl, besonders zu sein. Sie war immer Vaters kleines Mädchen gewesen, das brav mit den Wimpern klimpert und nett lächelt. Sie sehnte sich nach einer Herausforderung, einem Kick. Aber woher sollte sie diesen bekommen? Was eignete sich dafür? Oder, besser noch, wer? Was für ein Mensch war in der Lage ihr wieder das Gefühl zu geben, nicht nur 'besser' zu sein, sondern 'die Beste'? Sie schnippte ihren Zigarettenstummel vom Balkon und begab sich in ihr Wohnzimmer. Es war in seichten Blautönen gehalten und strotzte nur so von teuren Designer-Möbeln. Sie machte es sich auf ihrem Sofa bequem und öffnete ihren Laptop. Nachdem sie das Passwort eingab öffnete sich der Bildschirm auf der Seite, die sie zuletzt besucht hatte. Ein Foto war zu sehen mit einigen Informationen darunter. Misaki scrollte zu der Stelle hinunter, an der sie stehen geblieben war und las weiter. „Mehrere sportliche Auszeichnungen, soziales Engagement... bla bla bla... Stipendium...“ Nachdem sie entschieden hatte, genug Informationen zu haben, scrollte sie zu dem Bild zurück und strich mit einem Finger über den Bildschirm. „Tja, mein Süßer, wird wohl Zeit, mich mal wieder an der Uni blicken zu lassen.“ „Das ist WAS?“ Entsetzt starrte Ryu auf das hinunter, was vor ihm stand. „Du wirst schon nicht sterben.“ Hiro schien langsam ungeduldig zu werden. „Auf keinen Fall, ohne mich! Das kannst du schön alleine machen.“ Was war bloß mit Hiro los, dass er manchmal so kaltblütig sein konnte? „Wenn er herausfindet, dass du quasi am Tod einer der seinen verantwortlich bist, wird er dich bei nächstbester Gelegenheit töten!“ Angespannt beobachtete Ryu, wie Hiro die Augen verdrehte. „Ryu, ich verlange hier doch gar nichts unmenschliches von dir.“ „Nein, aber etwas un...fischiges!“ „Es ist doch nur ein Haifisch-Steak!“ „PSSSSSST!!!“ Ryu drehte seinen Kopf vorsichtig, sodass er Lenny im Blickfeld hatte. Dieser schwamm, seit Hiro den Herd angemacht hatte, auffällig oft, ganz dicht an der Scheibe vorbei. „Ich wette, er weiß schon was du getan hast.“ „Sind alle Amerikaner so Hysterisch?“ „Dafür wirst du in der Hölle schmoren.“ „Ich werde ganz sicher nicht in der Hölle schmoren.“ „In der Pfanne des Haifisch-Teufels!“ „Ich geb's auf. Dann iss halt nur den verdammten Salat, du undankbarer Banause!“ Seit Hiros Geständnis waren einige Wochen vergangen. Das Verhältnis zwischen Ryu und ihm hatte sich kaum verändert. Zwar flossen jetzt immer mal wieder kleine romantische Elemente in ihren Alltag, aber an sich war alles beim Alten geblieben. Noch immer fetzten sie sich wegen der Nutzerrechte des Kühlschranks uns nach wie vor verzweifelte Ryu an Hiros nicht vorhandenem Antrieb für sein Studium zu lernen. Dabei standen die ersten Prüfungen an. Ryu verbrachte jede freie Minute über seinen Büchern. Er konnte es sich nicht erlauben durch die Prüfungen zu rasseln, denn sonst würde er sein Stipendium verlieren... und somit auch Hiro. Dieser aber hatte nichts besseres zu tun, als Ryu beim Büffeln zu beobachten und sich alle zehn Minuten darüber zu beklagen, dass er keine Zeit mehr für ihn hatte. „Gehst du morgen zur Uni?“ fragte Hiro ihn, während er, wie Ryu glaubte, Lennys Onkel verspeiste. „Natürlich. Wir haben Wiederholungen, da gehen wir nochmal den Stoff durch.“ Hiro verdrehte die Augen. „Du bist ein richtiger Streber.“ „Und du ein richtig faules Stück!“ Ganz für sich allein saß Ryu in der Mensa der Uni und las in aller Seelenruhe seine Notizen durch. Die Mensa war voll von Studenten, die alle nervös und übermüdet waren. Er saß an einem Tisch in der Nähe des Ausgangs und beobachtete ab und an das hektische Treiben seiner Kommilitonen. Gerade brütete er über höchst komplizierten Algebra-Formeln, als er bemerkte, wie sich jemand zu ihm setzte. Als er aufsah, klimperten ihn ein paar stark geschminkte Augen mit, sogar für ihn offensichtlichen, falschen Wimpern an. „Miss Misaki“ sagte er überrascht. „Ich wusste gar nicht, dass Sie auch hier studieren.“ Sie täuschte ein schüchternes Kichern vor. „Ich lerne auch die meiste Zeit zuhause. Wie geht es dir, Ryu? Nervös, wegen der Prüfungen?“ Während sie sprach lehnte sie sich ein Stück weit nach vorne, sodass ihre langen Haare in den tiefen Ausschnitt fielen. Offenbar rechnete sie damit, dass sie Ryu damit erst recht nervös machen würde. Doch er zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Nein, eigentlich nicht. Bin gut vorbereitet.“ „Oh... wie schön.“ Leicht pikiert setzte sie sich wieder aufrecht hin. „Und was studieren sie?“ „Irgendwas mit Wirtschaft.“ Ryu zog die Augenbrauen hoch. „Ehm... was meinen Sie denn mit 'Irgendwas'?“ Da ihr erster Angriff nicht zündete, versuchte sie nun die nächste Strategie und streckte sich gespielt gelangweilt nach hinten, die Brust natürlich weit hinaus gestreckt. „Mein Vater spendet dieser Uni so viel Geld, da reicht es, das mein Name irgendwo eingetragen ist, damit ich bestehe.“ Ryu schaute sich um. Offenbar war er der einzige Mann in der Mensa, der Misaki nicht schon bei ihrem bloßen Erscheinen verfallen war. „Es geht da so ein Gerücht um, Ryu.“ Neugierig sah er sie an. „Man sagt, auf der Feier wärst du derjenige gewesen, der Hiro das Leben gerettet hat. Ist da was dran?“ Jetzt begann sein Gehirn angestrengt nach einer plausiblen Ausrede zu suchen. Misaki durfte ja nicht erfahren, dass er Hiros Bodyguard war... und sogar mehr als das. „Ehm, nein, das ist nicht richtig. Wir haben draußen nach ihm gesucht und ich habe ihn lediglich als Erster entdeckt. Den Rest hat die Security erledigt.“ „Ah, okay. Hätte mich auch gewundert, wenn ein einfacher Stipendiat zwei von denen hätte erledigen können.“ Ryu wurde hellhörig. „Woher wissen Sie denn, dass ich Stipendiat bin?“ „Lass und rausgehen, Ryu!“ Damit packte sie ihn am Arm und zerrte ihn nach draußen. Ryu schaffte es so gerade noch, sich seine Notizen zu schnappen. Misaki schleifte den verdutzten Ryu durch den Park der Uni. Dabei klammerte sie sich so fest an seinen Arm, dass er befürchtete, dieser würde jeden Moment absterben. „Ich weiß immer noch nicht, woher sie wissen, dass ich...“ „Ich möchte nach wie vor, dass du meine Studienhilfe wirst.“ Ryu war etwas verdutzt. „Ihre... Studienhilfe?“ Sie klimperte ihn an. „Ja genau. Also, was du jetzt auch machst. Nur, dass du halt nicht mehr bei Hiro wohnst und ihm hilfst sondern bei mir. Ich habe ein wunderschönes Appartement mitten in der Stadt!“ Ryu kam sich ziemlich verarscht vor. „Ihr Angebot schmeichelt mich ja, aber... Bei allem Respekt... Wie soll ich jemandem eine Hilfe beim Lernen, sein, wenn der bloße Name auf dem Papier schon einen erfolgreichen Abschluss garantiert?“ Er bemerkte, wie er Misakis Nerven strapazierte. „Wir brauchen ja auch nicht zu lernen. Außer vielleicht... Anatomie.“ Sie ließ ihre Hand sanft über sein Gesicht gleiten. Ryu jedoch wich einen Schritt zurück. „Wie gesagt, ich danke Ihnen für das Angebot, aber nein. An so einem Abkommen habe ich in keinster Weise Interesse.“ Ihre Gesichtszüge wechselten Augenblicklich von lieblich süß zu verbittert. „Dein Pech.“ Damit stiefelte sie in Richtung der Parkplätze. Als sie schon einige Meter entfernt war, drehte sie sich aber nochmals um. „Übrigens: Mein Vater sitzt in dem Ausschuss, der über die Stipendiaten entscheidet. An deiner Stelle würde ich es mir nochmal überlegen!“ Sie drehte sich wieder um und verließ ohne ein weiteres Wort das Gelände. Ryu blieb wie versteinert zurück. „Ach du scheiße!“ Es war bereits später Nachmittag, als Ryu ins Loft zurückkehrte. Hiro stand in der Kochnische und werkelte an einer Tomaten-Paprika-Kreation herum. Er schien sofort zu merken, dass etwas nicht stimmte, als er Ryus blasses Gesicht sah. „Alles in Ordnung?“ Ryu pfefferte seine Schuhe in die Ecke und ließ sich über die Lehne auf das Sofa fallen. Leicht verweifelt verschränkte er die Arme vor seinem Gesicht. „Ich hasse diese Frau!“ Hiro setzte sich neben ihn. „Wen meinst du?“ „Diese furchtbar falsche Blondine!“ „Geht das auch einen Ticken genauer?“ „Misaki Koyama.“ In Hiros Stimme war nun Misstrauen zu hören. „Misaki? Was wollte die den?“ Ryu fuhr sich mit den Händen durch seine Haare. „Was sie schon auf der Party wollte: mich 'abwerben'.“ Er hörte, wie Hiro tief durchatmete. „Nun, das ist zwar...ärgerlich, aber... Ich versteh nicht ganz, wieso du jetzt so verzweifelt bist.“ „Ihr Vater ist im Ausschuss für Stipendiaten!“ Ryu richtete sich auf und sah Hiro direkt ins Gesicht. Wie würde er reagieren? Wütend? Geschockt? Doch dann, völlig überraschend, fing Hiro lauthals an zu lachen. Ryu verstand nun gar nichts mehr. „Hey Hiro, das ist nicht witzig! Ich könnte wegen ihr von der Uni fliegen!“ Er war ziemlich beleidigt, als Hiro ihn weiterhin auslachte. Genervt stand er auf um wollte sich in sein Zimmer zurückziehen. „He, warte Ryu! So war das nicht gemeint!“ „Ich mache mir hier grade echt Sorgen und du hast nichts besseres zu tun, als mich auszulachen.“ „Weil es absolut unnötig ist, dass du dir Sorgen machst. Misakis Vater interessiert sich einen Dreck für sie. Es ist ihm scheißegal, ob sie ihn um so was bittet oder nicht. Er lässt nur Kohle rüberwachsen und das war es dann auch schon.“ „Du meinst... ich hab hier jetzt ganz umsonst Panik geschoben?“ Hiro nickte ihm grinsend zu. „Sie wollte dich nur verunsichern.“ Erleichtert setzte Ryu sich auf die Treppe. Hiro setzte sich neben ihn und strich ihm vorsichtig durch sein tiefschwarzes Haar. Ryu musste lächeln. Bislang hatte Hiro sich immer sehr zurück gehalten wenn es darum ging, Ryu auf mehr als freundschaftlicher Basis näher zu kommen. Er schloss die Augen und genoss es richtig, wie Hiro ihn mit den Fingerspitzen kraulte. „Ich mag deine Haare“ flüsterte Hiro, wenn auch sehr schüchtern. „Dabei sollten schwarze Haare für dich doch keine Seltenheit sein? Ich meine, du lebst schließlich in Japan.“ „Ja schon, aber irgendwie sind deine so... anders schwarz.“ Ryu grinste. Dann fiel ihm wieder etwas ein. „Sag mal, bist du eigentlich Eifersüchtig?“ Er fand es richtig süß, wie Hiro plötzlich dunkelrot anlief. „Ehm, Eifersüchtig? Ich?... Also... Na ja...“ „Als ich eben Misaki erwähnte hat dir das gar nicht gefallen. Hast du etwa angst, ich würde...“ Ryu machte absichtlich eine kurze Pause und amüsierte sich innerlich über Hiros verdatterten Gesichtsausdruck. „... dir deine Zukünftige wegschnappen?“ Ryu war überrascht, was Hiro bei der folgenden Verfolgungsjagd für Ausdauer an den Tag legte. Erst als Ryu sich auf der Hälfte der Treppe über das Geländer schwang und in der Kochnische landete, gab Hiro schließlich, schwer atmend, auf. Stattdessen widmete er sich wieder seiner Auflaufform, in der er bereits mehrere Schichten Gemüse gestapelt hatte. Im Kühlschrank fand Ryu eine große Schüssel mit Schokoladenpudding darin. Er nahm sich vor, in Zukunft mehr Trainingseinheiten an den Tag zu legen. Wenn Hiro nämlich weiter so kochte, würde er bald durch das Loft rollen. Wie immer schmeckte es hervorragend. „Du hättest Koch werden sollen. Am Herd bist du nämlich um einiges fleißiger als über deinen Büchern.“ Er amüsierte sich darüber, dass Hiro sich nicht entscheiden konnte, ob er beleidigt oder geschmeichelt sein sollte. „Was machen wir heute Abend?“ fragte Hiro ihn, um vom Thema abzulenken. „Wie könnten uns einen Film ansehen“. Hiro nickte. „Okay, cool. Kannst dir schon mal was aussuchen und einlegen.“ Ryu sah ihn durchdringend an. „Weißt du, ich hab auch einen Fernseher und einen DVD-Player in meinem Zimmer.“ Hiro fiel beinahe die Auflaufform aus den Händen. „Wie... wie meinst du das?“ Immer wenn Ryu glaubte, noch röter konnte Hiro nicht werden, wurde er eines besseren belehrt. Er genoss die gemeinsame Zeit mit Hiro und er verstand, dass er ein wenig Zeit brauchte. Aber so langsam wollte Ryu doch etwas mehr, als nur ab und an diese kleinen, flüchtigen Augenblicke. Und er wollte endlich mal mit Hiro zusammen sein, ohne dass gleich der Höllenhund knurrte, sobald er sich Hiro auch nur einen Zentimeter zu viel näherte. „Ich meine, dass wir uns den Film auch ohne... ich meine oben bei mir anschauen können.“ „OHNE?“ Genervt verdrehte Ryu die Augen. Dann deutete er mit dem Kopf auf Luca, der mit gespitzten Lauschern auf seinem Platz saß. „Stört er dich so sehr?“ „Ich kann nicht einmal meinen Arm um dich legen, ohne Angst zu haben, dass er mich zerfleischt.“ Hiro wirkte sichtlich nervös. Doch trotzdem wollte Ryu es unbedingt durchsetzen. „Ich verspreche dir, ich werde nichts tun, was du nicht willst.“ Hiro wurde zusehends nervöser. „Ich hatte nicht geplant, das zu tun, was du gerade denkst.“ Hatte er wohl. Aber da er fürchtete, Hiro würde wieder einen Schritt zurück gehen, schloss er diese Möglichkeit, wenn auch innerlich etwas enttäuscht, aus. „Und... was gucken wir dann?“ „Wonach auch immer dir ist. Aber kein Twilight!“ Hiro lächelte, wenn auch nervös. „Na gut. Ich räume nur schnell die Küche auf und dann schau ich mal, ja?“ „Okay. Klopf einfach.“ Ryu schüttelte die Kissen auf und drehte den Fernseher so, dass man ihn vom Bett aus sehen konnte. Dann zog er sich seine Jogginghose und ein dünnes, weißes Shirt an. Er schaute auf die Uhr. Es war bereits eine halbe Stunde vergangen. Normalerweise brauchte Hiro keine Viertelstunde um die Küche aufzuräumen und sich seinen Pyjama anzuziehen. Ryu ließ ihm aber die Zeit, wurde aber so langsam selbst nervös. Wenn sich die Chance ergeben würde, würde er es tatsächlich tun? Beim Essen war er sich seiner Sache noch so unglaublich sicher. Aber jetzt? Er atmete erleichtert auf, als es doch endlich an der Tür klopfte. „Komm rein.“ Vorsichtig öffnete Hiro die Tür, kam herein und schloss sie wieder. „Hey.“ Ryu fand es irgendwie richtig süß, wie Hiro vor ihm stand. Er trug seine blaue Pyjamahose und einen langärmligen, blauen Pulli dazu. Ryu tat so, als wäre die Situation nichts besonderes, um es Hiro etwas leichter zu machen. Er ging zum Fernseher und schaltete ihn und den DVD-Player ein. „Hast du was gefunden?“ „Nur, wenn du Herr der Ringe magst, Ansonsten muss ich noch mal runter.“ Ryu hatte schon geahnt, dass Hiro einen langen Film aussuchen würde. Zu seinem Glück war es genau der Richtige. „Ich liebe die Trilogie! Ich hab sie sicher schon zehn mal gesehen.“ „Auch die ungeschnittene?“ Ryu strahlte. „Nein! Los, gib her!“ Aufgeregt nahm er die dicke Box entgegen und musterte sie. „Awesome!“ Dann legte er die erste CD ein. „Mach es dir schon mal gemütlich.“ Aufgeregt wählte er sich durch das Menü. „Wo startet man denn hier den Hauptfilm? Bei den vielen Extras kommt ja kein Mensch... aha!“ Endlich drückte Ryu auf Play. Als er sich umdrehte, sah er Hiro, der sich lediglich nervös auf die Bettkante gesetzt hatte. Ryu schüttelte mit dem Kopf. „Du kannst dich auch hinlegen, dafür sind Betten gemacht.“ Etwas zittrig nahm Hiro seine Beine nacheinander hoch und legte sich auf die Matratze, ganz am Rand des Bettes natürlich. Ryu ging am Bett vorbei, in Richtung der Tür. „Was hast du vor?“ Ryu grinste „Kino-Feeling!“ Dann dimmte er langsam das Licht, bis es im Raum dunkel wurde. Die einzigen beiden Lichtquellen waren nun der Fernseher und Lenny's Giga-Aquarium, welches jedoch schon abgedunkelt war. Galadriel erzählte bereits von den Anfängen des Ringes, als Ryu sich gechillt neben Hiro aufs Bett warf. Dieser rutschte daraufhin noch ein Stück weiter von ihm weg. „Pass auf, dass du nicht gleich von der Kante rutscht.“ Nervös lachte Hiro kurz auf und rutschte wieder, sehr langsam, ein Stück weiter in die Mitte. Ryu überlegte, was er tun konnte, damit Hiro sich etwas wohler fühlte und lockerer wurde, denn er kam sich immer mehr wie ein Schuft vor. Er griff also nach der Tüte Chips und hielt sie Hiro hin, wie er es sonst auch immer an ihren Filmabenden tat. „Auch?“ Hiro streckte seinen Arm aus und bekam gerade so eine Hand voll Knabbereien zu fassen. „Das würde besser klappen, wenn du etwas näher kommen würdest.“ Hiro zog seine Beine an. „Ehm, nein, das geht schon.“ Ryu verdrehte genervt die Augen. „Warum bist du denn so nervös? Wenn wir unten sind stört es dich auch nicht, wenn ich neben dir sitze.“ „Unten ist ja auch was anderes!“ „Wieso?“ „Na... weil... also... du weißt was ich meine.“ „Nein, weiß ich nicht.“ „Tu nicht so!“ „Was stört dich?“ „Das hier ist ein Bett!“ Ryu musste sich schwer anstrengen, um nicht zu lachen. „Ja. Und unten ist ein Sofa. In der Küche ist ein Tisch und bei Lenny sind Korallen. Was genau ist der Punkt?“ Ryu musste ein Stück näher kommen, da Hiro nervös in seine Knie nuschelte. „... Na im Bett passieren... so Sachen.“ Ryu zog schmunzelnd die Augenbrauen hoch. „Im Bett passieren Sachen?“ Ganz kurz blickte Hiro ihm in die Augen, dann sah er wieder runter. „Ja.“ Ryu brach sich beinahe die Rippen, so sehr strengte es ihn an nicht zu lachen. Hiro's Naivität war einfach zu süß. Am liebsten hätte er ihn zugedeckt und in die Arme geschlossen. „Hiro, diese „Sachen“ könnten, wenn ich wollte, genauso auf dem Sofa passieren. Oder der Liegewiese. Oder dem Küchentisch.“ Hiro sah ihn mit großen Augen an. „Irgendwie hab ich das Gefühl, ich hab mich grad' voll zum Deppen gemacht.“ Lächeln rutschte Ryu in die Mitte des Bettes und zog Hiro an sich heran. Er streifte seine Wange mit der Nase und gab ihm einen Kuss. „Alles in Ordnung. Und jetzt genieß einfach den Film, ich werde schon nicht über dich herfallen.“ Je länger der Film andauerte, desto entspannter wurde Hiro. Was vermutlich auch daran lag, dass Ryu vollkommen begeistert und teilweise sogar schwer abgelenkt von den vielen Extra-Szenen war, die er nie zuvor gesehen hatte. Dennoch verlor er sein Ziel nicht aus den Augen, Hiro noch etwas näher zu kommen. Etwa seit dem Zeitpunkt, als die Gemeinschaft des Ringes die Höhlen von Moria betrat, hatte Ryu seinen Arm um Hiros Schultern gelegt und zog ihn bei jeder, möglichst unauffälligen, Gelegenheit, ein Stück näher an sich heran. Kurz nachdem Gandalf den Balrok nicht an sich vorbei ließ, ließ Hiro seinen Kopf auf Ryus Brust sinken. Ryu genoss es, ihm durch sein Haar zu kraulen. Hiro war schon seit einiger Zeit auffallend still. „Pennst du schon?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich genieße.“ So sehr er es auch versuchte, so ganz konnte Ryu sich einfach nicht zurück halten. Langsam wanderte er mit seinen Fingern ein Stück abwärts und streichelte Hiro den Nacken. Seine Haut war weich und warm. Genussvoll neigte Hiro noch weiter seinen Kopf, damit Ryu ihn weiter kraulen konnte. Sanft hob er Hiros Kopf an und küsste ihn. Einiege Minuten lang küsste er ihn ganz sanft, dann immer leidenschaftlicher. Er spürte, wie Hiro kurz zusammen zuckte, als er ihn zum ersten Mal mit Zunge küsste, doch Hiro gewöhnte sich schnell daran und schien es richtig zu genießen. Der Film war schon längst vorbei und es wiederholte sich immer wieder die Melodie des Auswahl-Menüs, als Ryu noch einen Schritt weiter ging. Kapitel 6: CHAPTER SIX ---------------------- Ungeduldig stand Ryu an dem kleinen runden Tisch und trommelte genervt mit den Fingern auf der Oberfläche. Wie lange konnte es denn dauern einen einfachen Cappuccino zu machen? Der Laden war ja nicht einmal voll. Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach Sieben am Morgen. Er war bereits seit fünf Stunden unterwegs. In seinem Gedanken spielte er den vorangegangen Abend und dessen desaströses Ende immer wieder ab. Was war da nur passiert? Zum hundertsten Mal schaute er auf sein Handy. Keine Nachricht. Er seufzte enttäuscht und steckte das Handy wieder in die Jackentasche. Er sah kurz auf, als die schlechtgelaunte Mitarbeiterin ihm sein Getränk vor die Nase hielt. „Danke“ murmelte er genervt und verließ den Laden. Wo sollte er nun hin? Ins Loft konnte er wohl kaum. Satans Schoßhund würde ihm die Beine bis hoch zur Hüfte zerfleischen. Er setzte sich auf eine Parkbank und zog den Kragen seiner Jacke etwas höher. Die kalte Dezemberluft wehte ihm um die Ohren. Der Winter kam ihm viel kälter vor als der, den er aus Chicago gewöhnt war. Zum ersten Mal seit er in Japan angekommen war, spürte er starkes Heimweh. Wie gerne würde er mit jetzt mit seinen Freunden Summer, Brooke und Emmett in seinem Stammlokal sitzen, einen guten Kaffee trinken und dazu einen von Mrs. Briston's Hausgemachten Cupcakes essen. „Scheiß Stipendium“ murmelte er und warf seinen Pappbecher in die nahegelegene Mülltonne. Er stand auf und ging durch den frostigen Park. Ab und an kamen abgehetzte Geschäftsmänner oder Mütter mit Ihren Kindern an ihm vorbei. Viel los war aber nicht. Bei dem Wetter bevorzugten es die Meisten wohl mit der überfüllten U-Bahn zu fahren. Während er an den kahlen Bäumen vorbeilief spielte er den vorangegangenen Abend immer und immer wieder vor seinem inneren Auge ab. Er hatte Hiro noch versprochen, nicht so weit zu gehen, hatte es aber dennoch versucht. Die darauffolgende Ohrfeige schmerzte ihn noch immer, sowohl im kalten Dezemberwind als auch innerlich. Er kam sich nicht nur dumm, sondern sau dämlich vor. Wie sollte er Hiro bloß jemals wieder unter die Augen treten? Hoffnung blühte in ihm auf, als er spürte wie sein Handy, welches er die ganze Zeit fest umklammerte, vibrierte. Leider war es nur sein Mobilfunkanbieter, der ihm mal wieder mitteilte, welche Vorteile ein Premium-Paket ihm bieten würde, wenn er noch vor Weihnachten den entsprechenden Vertrag abschloss. Ryu starrte in den grauen Morgenhimmel. Er beobachtete, wie die ersten weißen Flocken herabfielen. Er seufzte traurig. Schon lange hatte er sich nicht mehr so mies gefühlt. Er dachte an die vergangenen Jahre daheim. Immer wenn der erste Schnee fiel wurde im Stadtpark die Eisbahn aufgebaut und er und seine Freunde waren stets die Ersten die mit ihrem Schlittschuhen bereit standen. Wieder vibrierte sein Handy. Ryu schmunzelte, als er die Nachricht las. Seine Freundin Brooke hatte ein Foto aus ihrer gemeinsamen Kindheit abfotografiert, auf dem sie beide Arm in Arm, breit grinsend und stolz wie die Weltmeister neben dem hässlichsten Schneemann aller Zeiten standen. 'Erster Schnee hier und du bist nicht da... Frosty und ich vermissen dich!!!!!! Ich denk an dich und lauf für dich eine Ehrenrunde mit! Meld dich mal wieder, ich mach mir Sorgen!!!!' Sehnsüchtig lächelte Ryu während er sich immer und immer wieder ihre Worte durchlas. Beim ersten Anblick des Bildes fing er fast an zu weinen, verkniff es sich aber. Er schmunzelte wieder, als er das Bild genauer begutachtete. Auf dem Foto waren sie sieben Jahre alt gewesen. Sein Vater hatte es geschossen als sie den kleinen Vorgarten mit ihrem hässlichen Kunstwerk verschandelt hatten. Der Schneemann trug seine geliebte Ninja Turtles Mütze und Brooke hatte mal wieder ihre wilden braunen Locken zerzaust in alle Himmelrichtungen abstehen. Und sie waren dreckig, wie auch immer sie das beim spielen mit Schnee geschafft hatten. Am besten gefiel Ryu aber an dem Foto, dass man ganz deutlich sehen konnte, dass ihnen zu der Zeit an der genau gleichen Stelle ein Zahn fehlte. Traurig tippte er die einzigen Worte zu denen er gerade im Stande war. 'Ich vermisse dich auch Bee!' Es war nun halb zehn und Ryu hing der Magen in den Kniekehlen. Am nächstbesten Automaten holte er sich etwas Geld. Ziellos irrte er umher, einfach nur auf der Suche nach etwas halbwegs essbarem. Er wollte kein Sushi oder Reis. Er wollte einfach mal wieder ein typisch amerikanisches Frühstück. Mit Speck und Rührei. Nachdem er an zig typisch japanischen Restaurants, die eh um diese Zeit noch geschlossen waren, vorbeigelaufen war, latschte er in eine schmale Gasse. Ganz am Ende dieser Gasse lag ein kleiner Laden, der bereits geöffnet hatte. „Daiki's Dream“ stand in flackernder Neonschrift darüber. Hoffnungsvoll trat Ryu durch die Tür. Der Laden wirkte auf den ersten blick etwas ranzig, aber er hatte einen gewissen Charme, dem Ryu sofort verfiel. Es war ein 50er Jahre Cafe. An den hellblau gestrichenen Wänden hingen unzählige Bilder, Uhren und alte Blechschilder aus dieser Zeit. In der Ecke stand eine Jukebox, die alte Songs spielte. Die uralte Theke in der Mitte der Bar war bunt gestrichen und mit PinUp Graffitis aufgemöbelt. Auf dem Tresen stand eine Glasvitrine mit bunten Cupcakes. Und es roch herrlich nach Kaffee. Als Ryu die Tür wieder hinter sich schloss bimmelte die Türglocke. Aus der Küche, die sich hinter der Theke verbarg waren eilige Schritte zu hören. Ein junges Mädchen betrat den Raum. Ryu konnte sich ein lächeln nicht verkneifen, als er sie ansah. Ihr Haar War Rot gefärbt und zu einer Amy Winehouse-Gedächtnisfrisur hochgesprayt. Sie trug ein weißes Kleid mit schwarzen Punkten und dazu eine rote Schürze. Sie war stark geschminkt und hatte mehrere Piercings im Gesicht, unter anderem über der Lippe, in der Nase und sogar in den Wangen. Und sie war über und über mit Tattoos versehen. Strahlend stand sie vor ihm. „Willkommen in Daiki's Dream! Möchtest du nur einen Kaffee oder soll ich dir die Speisekarte bringen?“ „Kommt drauf an, was deine Karte zu bieten hat.“ „Es ist noch Frühstückszeit, ich mach dir gerne ein Paar Pancakes oder ein Omelette mit Käse oder...“ „Alles!“ rief Ryu plötzlich. Es entstand eine kurze, peinliche Stille zwischen Ihnen. „Ehm... alles?“ Ryu spürte wie er rot wurde. „Also, ehm... ja, hehehe... Weißt du, ich hab schon lange kein richtiges, amerikanisches Frühstück mehr bekommen, und...“ „Warst du schon mal da?“ Das Mächen war plötzlich ganz aufgeregt. „Wo? In Amerika?“ Sie nickte hastig. „Ja, ich in dort geboren. Ich lebe erst seit kurzem hier und...“ „Setz dich und warte, ich brauch nur zehn Minuten!“ Eine halbe Stunde später saß Ryu pappen-satt auf seinem Stuhl zurückgelehnt und genehmigte sich die zweite Tasse Kaffee. Das Mädchen hatte ihm ein Omelett mit Speck gemacht, dazu einen French-Toast und Pancakes mit echt importiertem Kanadischen Ahornsirup. „Meine Güte, noch ein Bissen und ich platze. Das war phantastisch!“ Das Mädchen strahlte übers ganze Gesicht. „Danke, ich hab auch lange geübt, bis ich es so hinbekommen habe. Also erzähl mal, ehhh...“ Er grinste und streckte ihr die Hand hin. „Ich bin Ryu.“ Sie lächelte zurück und schüttelte freundschaftlich seine Hand. „Freut mich, Ryu. Ich heiße Makoto, aber nenn mich ruhig Teddy!“ Sie zwinkerte ihm zu. „Teddy?“ Sie seufzte. „Ich hab wirklich keine Ahnung mehr, wann mein Bruder mir den Spitznamen verpasst hat.“ Klang so, als ob sie diese Erklärung schon oft abgegeben hatte. „Was soll ich denn erzählen?“ „Na von drüben!“ Sie deutete auf eine Große Karte an der Wand. Es war eine Abbildung aller 50 Staaten der USA. An einiges Stellen waren Pinnnadeln angebracht worden, an denen kleine Zettel hingen. „Ach so, ich soll von Amerika erzählen.“ Sie nickte eifrig. „Tja, keine Ahnung, was willst du denn wissen?“ „Woher kommst du?“ „Aus Chicago.“ Ryu musste feststellen, dass sie etwas enttäuscht dreinblickte. Er konnte sich auch erklären, wieso. „Ich weiß, Chicago ist eher was für Liebhaber von Jazz und Soul. Ich schätze mal, dass dein Herz eher für Sex, Drugs and Rock n' Roll schlägt?“ Beschämt kratze sie sich hinterm Ohr. „Ist das so offensichtlich?“ Er grinste. „Chicago ist trotzdem 'ne ziemlich coole Stadt!“ Und so begannen sie sich zu Unterhalten. Über die Amerikaner, die Kultur, die Musik und sein Stipendium. Teddy deutete auf die Karte an der Wand und erklärte, sie habe alle Orte, die sie auf jeden Fall mal besuchen will, gekennzeichnet. „Da haben wir Mount Rushmore, den Grand Canyon, das Empire State-Building, das Hollywood-Zeichen und natürlich, ganz wichtig!- die Ranch von Elvis Presley!“ Ryu wurde zum ersten Mal bewusst, wie schlecht er sein eigenes Land kannte, denn er hatte nicht einmal halb so viele Orte besucht, wie Stecknadeln an der Karte waren. „Jetzt erzähl mal, Cowboy. Warum treibst du dich so früh am morgen in den kalten Gassen Tokyo's rum? Solltest du nicht irgendwo in einer Bibliothek sitzen und lernen? Oder, alternativ, bei irgendeinem Mädchen im Bett liegen und deinen Rausch ausschlafen?“ Sein Herz durchfuhr ein Stich. Für einen Moment war er so von seinen Erinnerungen und seine Sehnsucht übermannt, dass er das hier und jetzt und seine derzeitige Lage vollkommen vergessen hatte. „Ehm, also... das ist so...“ „Hast du Schwierigkeiten?“ Sie machte ein besorgtes Gesicht. „Nein, das heißt ja, also... nicht direkt... oder doch... ach, fuck! Ich hab keine Ahnung!“ Sehnsüchtig blickte erneut auf die Karte. „Ich will einfach nur nach Hause!“ „Oh weh, Liebeskummer?“ Er sagte kein Wort, aber sein Blick musste Bände sprechen. Teddy griff unter den Tresen, holte eine Flasche Gin und zwei Gläser raus. „So früh am morgen schon?“ „Es gibt drei Dinge, die sich einen Scheißdreck um die Zeit scheren: die Liebe, der Tod und der Kummer. Und der resultiert immer aus einem der beiden erst genannten. Also -“ Sie kippte etwas von der klaren Flüssigkeit in die Gläser „- Cheers! Auf den Kummer!“ Ryu trank sein Glas in einem Zug leer. Er musste nach Luft schnappen. Das Gebräu war verflucht stark. „Frusch getrennt?“ „Keine Ahnung.“ „Was ist passiert? Ist sie dir fremd gegangen?“ „Nein, nein!“ „Also bist du fremd gegangen?“ „Nein kein Fremdgehen.“ „Hat sie dich rausgeschmissen?“ „Er.“ „Er? Oh. Na gut, dann er.“ Sie kippte noch mal nach. „Runter damit!“ Ryu schmeckte das Zeug zwar nicht, aber irgendwie beruhigte es ihn. Teddy trank ihr Gläser auch in einem Zug weg, wobei sie es offenbar gewöhnt war. „Du brauchst nicht extra wegen mir zu trinken.“ Sie goss wieder nach. „Nein, nicht wegen dir, Es tut einfach mal gut, mit wem anders den Kummer zu vergessen.“ Ryu sah sie an. „Was ist passiert?“ Teddy trank nun schon ihr drittes Glas und deutete mit dem Daumen über die Schulter. Über der Theke hin ein Foto. Darauf zu sehen war ein junges Mädchen, etwa vierzehn fünfzehn, und ein Mann neben ihr, der schon um die zwanzig zu sein schien. Beide trugen eine rote Schürze und im Hintergrund war der Laden zu sehen. „Wer ist das?“ „Das sind mein Bruder Daiki und ich. Damals war ich gerade fünfzehn und er vierundzwanzig. An dem Tag hat er das Diner eröffnet, das ist jetzt beinahe 10 Jahre her. Er wollte unseren innigsten Wunsch erfüllen: genug Geld und Erfahrung sammeln, dass wir eines Tages in die USA abhauen können! Wir waren Vollwaisen und Mittellos, wir brauchten ein Ziel.“ Ryu betrachtete das Bild. Ohne die gefärbten Haare, Tattoos und Piercings war Teddy gar nicht wieder zu erkennen. Ihr Bruder Daiki strahlte stolz und zeigte auf das Diner im Hintergrund. „Was ist passiert?“ fragte Ryu vorsichtig. „Eines Morgens kam ich zum Diner. Daiki war die ganze Nacht nicht heimgekommen. Ich glaubte, er habe sich mal wieder mit den Gästen einen hinter die Binde gekippft und auf der Couch im Abstellraum geschlafen. Als ich ankam sah ich, dass die Tür aufgebrochen war. Ich hab schon das Schlimmste befürchtet, bevor ich den Laden betreten hatte. Und dort lag er.“ Sie deutete auf eine Ecke in der Nähe der Tür. Dort stand ein Blumenstrauß in einer schwarzen Vase auf einem kleinen Tisch. „Man hatte ihn erschossen. Kaltblütig, von hinten in den Kopf!“ Sie trank ihr viertes Glas. Unter der dicken Schicht Make Up konnte Ryu sehen, wie sich ihre Wangen rot färbten. Tränen schossen ihr in die Augen. Bevor sie noch weiter trinken konnte, nahm Ryu ihr vorsichtig das Glas und die Flasche aus der Hand und stellte sie auf einen der Barhocker, sodass sie nicht herankam. Dann nahm er ihre Hände. „Das tut mir leid für dich, Teddy.“ Sie schluchzte. „Oh man, total bescheuert! Das ist jetzt schon sieben Jahre her.“ „Hat man den Täter gefasst?“ Mit erschrecken stellte Ryu fest, wie sich ihr Blick von traurig in hasserfüllt geändert hatte. „Nein, hat man nicht. Obwohl jeder weiß, wer es getan hat, hat die Polizei absolut nichts unternommen!“ Ryu schüttelte verständnislos den Kopf. „Man weiß, wer es war und hat trotzdem nicht gehandelt? Warum denn? Wer war es denn?“ Wütend wischte sie sich die Tränen weg. „Weil die japanische Polizei feige und korrupt ist! Es waren die verdammte Yakuza!“ Ryu spürte, wie sein Herz zu rasen begann. „Die Yakuza? Bist du dir sicher?“ „Todsicher“ Als ich Daiki fand, hatte man ihm das Zeichen des Tigers auf seinen Handrücken gebrannt!“ Ryu dachte angestrengt nach. „Das Zeichen des Tigers?“ „Ja, der weiße Tiger. Das Symbol der Koyamas!“ Koyama! Sofort blitzen vor Ryus Augen Bilder der schönen Misaki auf. „Warum haben sie das getan?“ Teddy lächelte. Es war ein sarkastisches Lächeln, voller Verständnislosigkeit und Verzweiflung. „Wie gesagt, wie waren Waisenkinder. Unsere Eltern waren früh gestorben, bei einem Autounfall. Wie hatten nicht viel Geld. Um das Diner zu eröffnen wandte sich Daiki in seiner Geldnot an die Koyamas. Er konnte es aber nicht rechtzeitig zurückzahlen. Und dafür haben sie ihn... bestraft.“ Sie schluckte. Ryu wurde schlecht. Es war das erste Mal, dass ihm so richtig bewusst wurde, auf was er sich eingelassen hatte. Er dachte an die Zeit, die er vollkommen dumm und unbeholfen in dem warmen und sicheren Loft saß, abgeschirmt von der Realität. Er war bei den Yakuza! Das waren keine Leute, die einfach nur Geld über die Tische schoben und sich gegenseitig an die Gurgel gingen. Er erinnerte sich an das Infoblatt. Die Yakuza waren Mörder, Erpresser, Drogendealer, Zuhälter. Menschen, nein, Monster, die ihre Macht ausnutzten und auf andere herabsahen, wie auf Ratten in einem Käfig. Und dann schoss es in ihm hoch: was, wenn Hiros Vater es erfuhr? Ryu kannte das Haus, die Zugangscodes. Er wusste von Lenny und vor allem wusste er genau um das wichtigste des Kunieda-Clans: den Erben. „Was ist los? Du bist auf einmal so blass!“ Plötzlich flog die Tür auf. Einige Männer in Anzügen traten ein uns stellten sich abwechseln links und rechts auf. Als letztes betrat ein klein geratener, rundlicher Mann den Raum. Er trug einen Weißen Anzug und eine grüne Krawatte. Obwohl die Sonne nicht durch die dicken Wolkenmassen schien, trug er eine sehr dunkle Sonnenbrille. „Verzeihung, wenn wir so einfach hereinplatzen, junges Fräulein, aber wir sind auf der Suche nach jemandem.“ Mit entsetzen stellte Ryu fest, dass einer der Männer am Hals ein Symbol tätowiert hatte: einen Tiger. Der kleine Mann drehte sich zu Ryu. „Ryu Yuan, Sie werden höflichst gebeten mich zum Wagen zu begleiten.“ Er hörte, wie Teddy lautstark protestieren wollte, doch er deutete ihr zu Schweigen. Die Männer trugen Maschinengewehre mit sich zuckten auffällig, als Teddy zu sprechen beginnen wollte. Ryu hatte nicht das Gefühl, dass diese Männer lange zögerten, bis sie um sich schossen. „Unter 'Höflichkeit' verstehe ich ein bisschen was Anderes.“ Die Männer grummelten wütend, doch der Mann hielt sie zurück. Dreckig grinsend begann er zu sprechen. „Junger Mann, Ihnen wird geraten uns ohne Widerstand zu begleiten, ansonsten -“ Er schnippte mit dem Finger. Augenblicklich erhoben die Männer ihre Gewehre und zielten auf Ryu und Teddy „- könnte es sein, dass das hier irgendwer bitter bereut.“ Voller Hass blickte Ryu zwischen den Gewehren und dem Mann hin und her. Hinter sich konnte er Teddy zittern hören. Er brauchte nicht lange, um einen Entschluss zu fassen. „Einverstanden. Wenn Sie versprechen, dass Sie die Frau und den Laden unbeschädigt lassen, komme ich ohne Wiederworte und ohne Fragen zu stellen mit. Abgemacht?“ Er streckte dem Mann seine Hand entgegen. Er grinste dreckig. „Einverstanden.“ Dann gab er ihm seine kleine, verschwitzte Hand und deutete ihm zur Tür. Als sie zur Tür hinaus waren, schnippte er noch einmal und die Männer verließen, ohne irgendeinen Schaden anzurichten, das Diner. Ryu wurde zu einer weißen Limousine geführt. Er wollte gerade einsteigen, als der kleine Mann plötzlich rief: „Ach, ich dummer Tölpel, beinahe hätte ich es vergessen!“ Ryu spürte einen festen Schlag auf seinem Hinterkopf. Alles um ihn herum wurde schwarz. Kapitel 7: CHAPTER SEVEN ------------------------ CHAPTER SEVEN „Wach auf!“ Kälte. Ryu hustet. Etwas lief an seinem Körper herunter. Blinzelnd öffnete er die Augen. Vor ihm standen zwei Männer und lachten. Einer hielt einen Eimer in der Hand. „Na? Gefällt dir wohl nich', so ne' kalte Dusche?“ Ryu hustete. Er hatte furchtbare Kopfschmerzen. Ihm war eiskalt. „Wo... wo bin ich?“ Dreckig grinsten die Männer ihn an. „In der Hölle!“ Dann spürte er einen tritt in den Magen. Er hätte sich vor Schmerzen gekrümmt, doch er konnte nicht. Seine Hände waren an Ketten über seinem Kopf zusammengebunden. Angestrengt versuchte er seine Gedanken zu sammeln. Was war passiert? Er erinnerte sich, dass er an einer Theke saß. Das Diner! Er hatte mit Teddy dort gesessen und über die USA gesprochen. Die Bilder kamen durch Stückweise in sein Gedächtnis zurück. Er erinnerte sich noch an Maschinengewehre und an einen Mann im weißen Anzug. Immer wieder blitze ein Symbol vor seinen Augen auf. Irgendein Tier. „Was is' los mit dir, he?“ Ein Wolf? „Der will wohl noch einen!“ Oder ein Bär? „Ignoriert der Penner mich?“ War es ein Löwe? „Na warte!“ Von seinen eigenen Schmerzen aus den Gedanken gerissen, stemmte Ryu wieder seine Arme in die Ketten. Der zweite Tritt war wesentlich schlimmer als der vorige. Er hörte die Stimmen der Männer nur wie durch einen Nebelschleier. „Komm, wir gehen.“ Als er aufsah hatten sie ihm bereits den Rücken zugedreht. Einer von ihnen trug eine Lederjacke. Auf seinem Rücken prangte der riesengroße Kopf eines Tigers. Ryu riss die Augen auf, sein Atem ging schwer. Sein Herz schlug lauter als das Rasseln der Ketten. „Koyama...“ Er erinnerte sich wieder. Die Koyamas hatten ihn in Teddys Diner aufgesucht und niedergeschlagen. Er schaute sich um. Um ihn herum war ein großes, leeres Nichts. Nur ein... Raum? Oder eine große Halle? Er schaute nach oben. Dort war auch nur Schwärze. Er konnte nicht sehen, wo die Ketten, an denen er gefesselt war, endeten. Die Einzige Lichtquelle war eine schwache Baulampe am Boden. Er versuchte sich aufzurichten, aber seine Beine waren an den Knöcheln am Boden befestigt. Er kniete auf Beton. Er musste schon länger in dieser Position verharren, denn seine Beine schmerzten fürchterlich. Er hatte keine Schuhe oder Socken mehr an. Auch die seine Jacke, seinen Pullover und sein Shirt hatte man entfernt. Er trug nichts ausser seiner schwarzen Jeans. Und es war bitterkalt. Er war vollkommen durchnässt von der kalten Dusche, die ihm einer dieser Typen verpasst hatte. Was wollten sie nur von ihm? Warum hielten ihn die Koyamas fest? Angestrengt versuchte er nachzudenken, aber seine starken Kopfschmerzen erleichterten dies nicht unbedingt. Er dachte an seine Begegnung mit Misaki Koyama in der Uni und an die Abfuhr, die er ihr erteilt hatte. Aber konnte sie so rachsüchtig sein? Hiro hätte ihr das sicher zugetraut. Hiro... Traurig dachte er an die letzten Worte, die er mit ihm gewechselt hatte... „Du hast es versprochen! Ich hab dir vertraut! Geh weg! Verschwinde! Lass dich hier nie wieder blicken!“ Für einen kurzen Moment war von all seinen Schmerzen der, den er nun im Herzen verspürte, am größten. Er würde nicht nach ihm suchen. Niemand würde nach ihm suchen. Und die Koyamas würden ihn, warum auch immer sie ihn festhielten, nicht einfach wieder gehen lassen. Der Mann hatte recht, dachte Ryu bei sich. „Ich bin in der Hölle. Und hier werde ich sterben.“ Er wusste nicht, ob er erst Stunden hier war oder vielleicht schon Tage. Die Stille, die Einsamkeit, die Schmerzen und die Kälte hatten ihn jedes Zeitgefühl vergessen lassen. Von den vielen Gedanken, die sich in seinem Kopf inzwischen gesammelt hatten, wurde er beinahe Wahnsinnig. Er hörte ein metallisches Klingen. Dann ein rostiges quietschen. Erschöpft blickte er auf. Ein einzelner Mann betrat seinen schwarzen Höllenschlund, wie Ryu diesen Ort getauft hatte. Er war groß, trug einen dunkelblauen Anzug und eine schwarze Krawatte. Sein volles Haar war ergraut. Er kam auf Ryu zu und blieb vor ihm stehen. „Gefällt die unser Gästezimmer, Junge?“ Ryu antwortete nicht. Der Mann ging um ihm herum. „Ich muss zugeben, ich kann sie irgendwie verstehen. Als ich etwa in deinem Alter war, war ich auch sehr sportlich. Die Mädchen sind mir in Scharen hinterhergelaufen.“ Was quatschte der Alte da? Was sollte das? „Du bist dir sicher im klaren darüber, dass ich hellhörig geworden bin, als meine Tochter mir erzählte, sie hätte von der Studienhilfe des Kunieda-Bengels einen Korb bekommen. Weißt du, was die erste Frage war, die ich mir stellte?“ Ryu antwortete wieder nicht. „Du redest nicht viel, das gefällt mir.“ Konnte das sein? Das Oberhaupt des Koyama-Clans höchstpersönlich? Der Mann redete weiter. „Ich hab mich gefragt: warum um alles in der Welt sollte Hiro Kunieda eine 'Studienhilfe' brauchen? Sein Vater würde ihn ohne zu zögern durch die gesamte Studienzeit durch finanzieren. Er müsste nicht einmal zu den Prüfungen. Nach vier Jahren müsste er lediglich in die Uni spazieren und sich sein Diplom abholen.“ Er stand wieder vor Ryu. „Ich weiß, dass er schon ewig nicht mehr in der Uni war. Und ich weiß ebenso, dass er, wenn er da war, nur gelangweilt in der Ecke saß und dir beim lernen zugeschaut hat.“ Er ging an Ryu vorbei und entfernte sich von ihm, Nach einem langen Moment der Stille kam er wieder, blieb aber hinter Ryu stehen. „Sag mir, Bursche. Wer bist du wirklich?“ Ryu schluckte, „Ich bin Ryu Yuan. Stipendiat an der Uni von Tokyo.“ Plötzlich verspürte er einen ruckartigen Schmerz, begleitet von einem peitschenden Geräusch. Sein Rücken schmerzte fürchterlich. Der Mann jedoch blieb gelassen. „Bambus ist eine der traditionsreichsten Pflanzen Asiens, sehr vielseitig einsetzbar.“ „Was soll das werden?“ brachte Ryu hervor. „Ich will die Wahrheit, sonst nichts.“ „Das ist die Wahrheit!“ Ryu durchfuhr ein kalter Schauer, als er seinen eigenen Worten lauschte und klar heraushörte, wie verzweifelt er klang. „Ich drücke es deutlicher aus: ich will die GANZE Wahrheit!“ Noch ein Schlag. Der Schmerz fuhr ihm durch den ganzen Körper. „Ich bin nur die Studienhilfe!“ Der dritte Schlag. Ihm wurde schlecht. Seine Finger krallten sich fest in die Ketten. Er spürte, wie ihm das Blut den Rücken hinunter lief. Schwer atmend schaute er zu Boden. Innerlich flehte er zu dem Gott, an den er eigentlich nicht glaubte. Er flehte, es möge aufhören. Der Mann umkreiste ihn und stand nun wieder vor ihm. Er hielt ihm einen Stab unters Kinn und zwang ihn unsanft nach oben zu sehen. Der Mann schaute ihn mit seine kleinen, schwarzen Augen belustigt an. Auf dem langen, dünnen Bambusstab klebte Blut. „Ich glaube dir nicht. Weißt du, was meine Theorie ist?“ Ryu war nicht im Stande sich zu rühren oder gar zu Antworten. „Ich denke, du bist sein Leibwächter.“ Ryu konzentrierte sich darauf, ja nicht seine Miene zu verändern oder gar verräterisch zu zucken. „Liege ich da richtig?“ „Nein.“ Sagte Ryu in bestimmten Ton. Der Mann holte aus und schlug ihm den Stab mit voller härte ins Gesicht. Es fühlte sich an, als hätte sich sein Fleisch von den Knochen getrennt. Nie zuvor hatte Ryu solche Schmerzen empfunden. „Die Wahrheit!“ „Wollen Sie wirklich die Wahrheit hören oder einfach so lange auf mich einprügeln, bis ich Ihnen erzähle, was Sie hören wollen?“ Der Mann hob bereits den Stab für den nächsten Schlag, doch dann hielt er inne. „Du hast recht, das bringt nichts. Ich werde es schon irgendwie herausbekommen.“ Er wischte den Stab mit einem Taschentuch ab und stellte ihn wieder hinter Ryu an die Wand. „Ich bin ein geduldiger Mann, Ryu Yuan.Ich kann warten. Früher oder später bekomme ich sowieso raus, wo es ist.“ Es? „Ich werde warten.“ Dann Schritt der Mann zur Tür. Bevor er hinaus trat bückte er sich und hob etwas vom Boden auf. Etwas langes, dünnes. „Gute Nacht.“ Plötzlich wurde es dunkel. Koyama hatte den Stecker der Baulampe gezogen. Ryu war umgeben von der Dunkelheit. Kein einziger Lichtstrahl war zu sehen. Seine einzige Gesellschaft waren der Schmerz und die Kälte. Es war wie ein wahr gewordener Alptraum. Etwas lief seine Wangen hinunter. Ryu konnte nicht einordnen, ob es Tränen waren oder Blut. Wo war er nur hinein geraten? Was hatte er verbrochen, dass die Welt ihn so sehr strafte? Die wildesten Gedanken und Bilder drangen durch seinen Kopf. Er dachte an seine Familie in Chicago. Waren sie in Sicherheit? Oder reichte der Arm der japanischen Mafia bis zu ihnen? Sein Herz raste. Er dachte an seinen stolzen Vater und seine geliebte Mutter. Was würden sie tun wenn sie wüssten, in welcher Situation er war? Dass er sich einfach aus einer Laune heraus gleich am ersten Tag einer Verbrecherorganisation angeschlossen hatte. Wie dumm er war. Was hatte er denn erwartet? Das war kein Abenteuer wie aus einem Buch. Kein Märchen, vom Tellerwäscher zum Helden und Beschützer. Und es war ganz sicher auch keine Liebesgeschichte zweier Seelen aus unterschiedlichen Welten. Es war nichts weiter als ein Desaster. Er schrak auf, als er merkte, dass er schon eine ganze Weile vor sich her lachte. So sehr zerrte es an seinen Nerven, dass er kurz davor war seinen Verstand zu verlieren. Wie lange war er jetzt dort? Er hatte schrecklichen Durst. Seine Kehle klebte jedes Mal, wenn er schluckte. Sein Magen knurrte wie verrückt. Er versuchte irgendwie bei klarem Verstand zu bleiben, indem er versuchte mit den wenigen Informationen die er hatte, sich seine missliche Lage zu erklären. Die Koyamas hatten ihn verschleppt. Wie hatten sie ihn gefunden? Vermutlich über sein Handy. Was wollten Sie von ihm? Es? Was meinte Koyama mit 'Es'? Vor Ryus Augen blitze das Gesicht von Pennywise auf. Schon als kleiner Junge hatte er Angst gehabt, als er den gruseligen Clown im Fernsehen gesehen hatte. Jetzt in der Dunkelheit, gefesselt und wehrlos, war er nun wirklich das letzte, was er vor Augen haben wollte. Er versuchte angestrengt seine Gedanken wieder in die richtige Richtung zu lenken und sich nicht von seinen Hirngespinsten ablenken zu lassen. Also was könnte Koyma gemeint haben. Und warum sollte ausgerechnet Ryu es wissen? Koyama hatte richtig erkannt, dass Ryu Hiros Bodyguard war. Aber mehr auch nicht. Oder war er damit sogar genau der, den er brauchte? Was wusste Koyama? Was wusste Ryu nicht? Und wusste Hiro... „Hiro...“ Immer wieder erwischte Ryu sich dabei, wie er seinen Namen flüsterte, während er an ihn dachte. Seltsam, dachte er. Wäre Hiro nicht gewesen würde er sich jetzt nicht in dieser Lage befinden. Nicht, weil er ihn rausgeworfen hatte. Nicht, weil Ryu und er Gefühle füreinander entwickelt hatten. Nur weil er damals zufällig an diesem Baum saß und Hiro vor diesen Schlägertypen, ohne Zweifel Yakuza, gerettet hatte und ihn damit erst auf sich aufmerksam machte. Nur wegen Hiro war er nun an diesem Ort. Und nur Gott wusste, hätten Sie ihn nicht an diesem Tag gefangen, sie hätten auf eine andere Gelegenheit gewartet. Da war Ryu sicher. Und trotzdem. Er war Hiro nicht böse. Er stellte sich sein unschuldiges Gesicht vor. In ihm zog sich alles zusammen. Er hatte Panik. Die Angst um Hiro war jetzt das Einzige, was ihm Kraft gab, bei klarem Verstand zu bleiben. Das Einzige, was er klar als Realität definieren konnte, was ihn im hier und jetzt hielt. Wieder quietschte die Tür. Ein schwaches Licht war zu sehen. Dann ein grelles Licht. Ryu kniff die Augen zu, die Baulampe blendete ihn. Er hörte Schritte näher kommen, diesmal mehrere. Dann vernahm er wieder die Stimme von Koyama. „Guten Morgen, Herr Stipendiat. Bekommen wir heute ein Referat von dir? Oder muss ich den Schuljungen wieder züchtigen?“ „Was wollen Sie von mir?“ Ryu versuchte seine ganze Kraft aufzubringen, um bei klarem Verstand zu bleiben. „Ich will wissen wo ES ist.“ Die Männer um ihn herum, drei an der Zahl, begannen zu lachen. „Also, Junge. Die Zeit der Spielchen ist vorbei. Du hast dich lange genug dumm gestellt und ich war sehr geduldig mit dir. Jetzt sag mir: wo ist ES?“ „ICH HAB KEINE AHNUNG WOVON SIE REDEN!“ Die folgende Stille war bedrohlicher, als jedes Wort das hätte gesprochen werden können. „Sei nicht so dumm, Junge. Im Grunde will ich dir gar nicht wehtun. Sieh Mal, ich biete dir ein Geschäft an. Du sagst mir, wo ich ES finde und im Gegenzug schenke ich dir die Freiheit und lasse dich sogar für mich arbeiten. Ich bezahle gut.“ „Ich will kein Geld. Ich will Antworten! Was wollen Sie von mir? Was suchen Sie? Und was soll ES sein?“ Er öffnete die Augen. Langsam gewöhnte er sich wieder an das Licht. Er erschrak, als er merkte, dass Koyama vor ihm kniete. Seine schwarzen Augen waren kalt wie Stein und das Grinsen auf seinen schmalen Lippen war so Boshaft, dass es Ryu beinahe den Atem verschlug. „Du weißt es nicht?“ Ryu versuchte nicht seinem Blick auszuweichen. Standhaft sah er ihm in die Augen. Er würde nicht derjenige sein, der seinen Willen bricht. Koyama wurde unruhig. Seine Augen huschten über Ryus Gesicht. Ungeduld lag in seinem Blick. Dann Wut. „Entweder bist du der großartigste Lügner der Welt oder einfach nur ein unglückseliger Narr. Ich würde auf letzteres Tippen. Aber so oder so. Du hast ganze zwei Tage und Nächte hier ausgeharrt. Kein Essen, kein Trinken und mit Sicherheit -“ Er packte Ryu an den Schultern und schüttelte ihn so fest, dass seine Knie, sein Rücken und der Rest seines Körpers nach den Qualen der vergangenen Tage schmerzte. „-hast du Qualen durchlitten. Und dennoch kniest du hier vor mir und erwähnst in keiner Silbe was ich wissen will. Jeder Andere wäre bereits nach wenigen Stunden eingeknickt. Du aber nicht. Von dir werde ich es also nicht erfahren. Dann nützt du mir auch nichts mehr.“ Er stand auf und ging zur Tür. Die drei Männer, die er mitgebracht hatte, rührten sich jedoch nicht vom Fleck. „Ich brauche ihn nicht mehr. Erledigt ihn. Aber macht schnell.“ Dann ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich. Ihn erledigen. Ryu hörte diese Worte als wären sie weit, weit weg. Ihn erledigen. Ihm war, als würde sein Geist seinem Körper entweichen. Ihn erledigen. Er dachte an alle die er liebte. Ihn erledigen. Er versuchte, zu vergessen. Er spürte einen festen Schlag auf den Hinterkopf, dann wurde alles schwarz. War es das? Fühlte sich so der Tod an? Kalt und leer? Wenn ja, dann war er schon tot, als er an diesem Ort aufgewacht ist... und befand sich bereits in der Hölle. Es verging einige Zeit und nichts passierte. Oder war es doch eine Ewigkeit? Ryu nahm Geräusche um sich herum wahr, es war ein unerträgliches Durcheinander. Schreie und lautes knallen. Und er hörte eine Stimme. Ein vertrauter, wohliger laut. Und dann wurde es still. Kapitel 8: CHAPTER EIGHT ------------------------ Die Hölle war ekelhaft. Sie roch nach starkem Alkohol. Sie schmeckte bitter und brannte auf der Haut. Mal war sie heiß wie ein Feuer, mal so kalt wie ein Eisblock. Und sie versuchte Ryu zu verwirren. Sie pflanzte ihm seltsame Bilder in den Kopf, meistens grell und blendend. Und er hörte fürchterliche Geräusche. Viele Stimmen und furchtbar nervige, hohe Töne. Und dann war doch noch diese unerträgliche Qual, ihm immer mal wieder einige Momente, wohlige Momente, zu geben und dann zu entreißen. Beruhigende Klänge drangen an sein Ohr. Am unerträglichsten war es, wenn diese Momente einfach aufhörten, ihm qualvoll entrissen wurden. Nein, das nicht. Das würde nicht sein Ende sein. Seine Ewigkeit würde nicht so aussehen. Niemals! Ryu nahm all seine Kraft zusammen, sammelte seine ganze Energie... und öffnete die Augen. Er hatte sie weit aufgerissen, musste sie aber direkt wieder zukneifen. Er wurde von einem viel zu grellen Licht geblendet. Es war weiß und kalt. Um ihn herum konnte er ein Piepsen vernehmen. Seine Knochen taten ihm weh. Ihm war kalt und warm zugleich. Die ganze Umgebung und sein Körper sendeten ihm so viele Signale, dass ihm davon ganz Schwindelig wurde. Er atmete tief durch und öffnete wieder die Augen, diesmal langsam. Er gewöhnte sich an das grelle Licht und erkannte, dass er in einer Art Luxuswohnung war. Um ihn herum standen teure Möbel und an der Wand hing ein gewaltiger Flachbildfernseher. Er saß aber nicht etwa auch einer Couch, sondern lag in einem Bett... einem Krankenbett. Neben ihm standen Apparate, die offenbar seinen Herzschlag anzeigten und irgendwelche anderen Werte, die er nicht verstand. Er war mit Schläuchen mit ihnen verbunden, sein linker Arm hing an einem Tropf. Sein Körper schmerzte und er hatte schrecklichen Durst. Er war allein in diesem Raum. Es dauerte einige Minuten, bis er seine Gedanken gesammelt hatte. Vor seinem geistigen Auge blitzten immer wieder Bilder auf. Von einem dunklen Raum, seltsamen Männern, Blut und einem Stock. Er begann langsam sich zu Erinnern, was passiert war. In seinem Kopf drehte sich noch immer alles. Dann schrak er auf. Wo genau war er überhaupt? Und wie kam er dorthin? Im ersten Moment ergriff ihn der Fluchtreflex, er wollte schon abhauen. Dann aber beruhigte er sich wieder. Er war am leben. Und wo auch immer er sich befand, er wurde verarztet und gesund gepflegt. Er war also nicht in Gefahr. Nach gründlicher Überlegung beschloss er, es zu riskieren und den Knopf an seinem Bett zu drücken, um jemanden zu rufen. Es dauerte nicht einmal eine Minute, da standen zwei Krankenschwestern und ein Arzt in seinem Zimmer. „Sie sind ja wach!“ rief der Arzt ganz aufgeregt und trat an seine Seite. Ryu war irritiert von seiner Reaktion. „Ehm, ja.“ Er leuchtet mit einer kleinen Lampe in seine Augen. „Ist ihnen schlecht, schwindelig oder haben Sie Kopfschmerzen?“ „Warten Sie mal bitte mit Ihren Fragen, erst brauche ich einige Antworten: wo bin ich hier?“ Der Arzt nahm die Lampe wieder runter und deutete den beiden Schwestern, dass sie den Raum verlassen sollten. Als die Tür sich schloss nahm er seine Brille ab und sah Ryu durchdringend an. „Sie befinden sich hier im Asamoto Krankenhaus, Ryu. Mein Name ist Dr. Tanaka. Ich bin seit mehr als zwanzig Jahren der Leibarzt der Familie Kunieda.“ „Ku-...“ Ryu verstand die Welt nicht mehr. „Herr Kunieda hat mich angewiesen, alles erdenkliche zu tun, damit Sie überleben. Glauben Sie mir, das war Haarscharf, Sie haben einen verdammt fleißigen Schutzengel. Als Sie über den Berg waren hieß meine nächste Anweisung, dass es Ihnen an nichts mangeln soll, also haben wir Sie in unser VIP-Zimmer verlegt.“ „Aber... Das... Ich... VIP?... Kunieda?... Whaaaaat?“ „Ich habe keine Ahnung wer Sie wirklich sind und was Sie für die Kuniedas tun. Aber Sie scheinen verdammt gut darin zu sein.“ Dr. Tanaka klopfte ihm auf die Schulter und stand auf. Dann überprüfte er die Geräte und beschaute sich die Krankenakte. „Ihre Werte sind alle stabil, Sie brauchen aber dringend noch Ruhe. Ich schätze aber, Besuch wird Ihnen nicht schaden.“ Besuch? „Was für Besuch?“ Doch Dr. Tanaka räusperte sich nur und verließ den Raum. Einige Minuten vergingen, in denen Ryu verdattert in dem Krankenzimmer saß. Er wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Hatte es zuletzt nicht einen riesigen Krach gegeben? Wurde er nicht quasi rausgeschmissen? Und er wusste noch immer nicht, was passiert war. Leise klopfte es an der Tür. „Ja?“ Mit vorsichtigen Schritten und gesenktem Kopf betrat Hiro den Raum. Er schloss hinter sich die Tür und steckte dann seine Hände in die Hosentaschen. Er schaute nicht auf. Eine seltsame Stille lag einige Zeit in der Luft. Ryu war die ganze Situation unangenehm, also beschloss er den ersten Schritt zu wagen. „Hey.“ Hiro verkrampfte augenblicklich, antwortete nicht. Ryu glaubte, er wäre trotz allem noch immer sauer wegen des Abends. Er fasste seinen Mut zusammen. „Hiro wegen neulich Abend... es tut mir wahnsinnig leid. Ich weiß, dass ich zu weit gegangen bin und ich-“ Er kam nicht mehr dazu den Satz zu beenden. Hiro war plötzlich auf ihn losgelaufen und warf sich ihm um den Hals. Er schluchzte und weinte dicke Tränen in Ryus Krankenhemd. „Es tut mir so leid! Das ist alles meine Schuld! Ich hab Panik bekommen und hab scheiße reagiert! Ich wollte dich anrufen, ich hab mich aber so geschämt! Und dann...“ Ryu tat sich schwer damit Hiro zu verstehen, weil dieser in seine Kleidung nuschelte und dabei zitterte. Aber er konnte das Schuldgefühl in jeder Silbe hören, die Hiro von sich gab. Seine Brust schmerzte. Er glaubte, sein Herz würde zerspringen, so schlecht fühlte er sich gerade. So fest es seine Kraft zuließ schloss er die Arme um Hiro und streichelte ihm durchs Haar. „Alles ist gut, Hiro“, flüsterte er sanft. „Nein, ist es nicht! Koyama hat dir schreckliches angetan. Als wir dich aus dieser Lagerhalle geholt haben... Ich hab geglaubt du seist...“ In Hiro schien eine Erinnerung wach gerufen worden zu sein. Er zitterte am ganzen Körper. Auch Ryu wurde von einer Welle von Erinnerungen heimgesucht. Er war komplett überfordert von dem Strom der Emotionen, der soeben über ihn hereinbrach. Sein Herz raste so sehr, dass Hiro aufschaute. „Ryu?“ Es schmerzte, diesmal aber physisch. Sein ganzer Körper bebte. Seine Finger verkrampften sich so sehr in Hiro, dass sie wehtaten. Um ihn herum verschwamm wieder alles. Er konnte Hiro im Hintergrund rufen hören. „Doktor! Schnell! Irgendwas stimmt nicht!“ Er hörte Schritte. Dann fiel er wieder in die Dunkelheit. Fünf Tage war es her, seit er aufgewacht war und immer wieder überkamen ihn diese Anfälle. Immer, wenn er zu intensiv an das erlebte in der Lagerhalle dachte, schmerzte seine Brust so sehr, dass er das Bewusstsein verlor. Doktor Tanaka glaubte, es sei psychisch bedingt und riet ihm, sich abzulenken. „Sieben, du musst zwei ziehen.“ Mürrisch nahm Ryu zwei Karten vom Stapel. „Nochmal Sieben, sorry.“ „Sag mal, hast du die Stapelweise im Ärmel?“ Hiro war beinahe die ganze Zeit bei ihm im Krankenhaus und versuchte ihn zu beschäftigen. Das funktionierte auch weitgehend ganz gut. Doch so langsam gingen ihm die Ideen aus. Und sobald Hiro das Zimmer verließ und Ryu wieder alleine mit seinen Gedanken war, schossen ihm wieder die Bilder in den Kopf. „Bube, ich wünsch' mir Pik.“ „Ich hab kein Pik...“ „Dann zieh halt!“ Ryu bemerkte, wie rau sein Ton war, als Hiro ihn etwas verschreckt anschaute. „Sorry, ich wollt das nicht an dir auslassen.“ „Was ist denn los mit dir?“ Ryu legte die Karten aus der Hand und lehnte sich in die Kissen. Er schloss die Augen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Ich halt's hier einfach nicht mehr aus! Dieses Zimmer macht mich noch Irre! Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich zuletzt richtig geschlafen hab...“ Er war erst erstaunt, als Hiro sich plötzlich neben ihn legte und ihm umarmte. Dann aber begann er sich zu entspannen und kraulte ihm durch die Haare. Eine Weile lagen sie so da, sprachen kein Wort und genossen einfach den Moment. „Ich mag das“ sagte Hiro. „Das mit den Haaren?“ Er nickte. „Ich weiß, du schnurrst dann immer.“ Hiro setzte sich auf und seine Haselnuss-braunen Augen schauten ihn verdutzt an. „Wie, ich schnurre?“ Ryu konnte nicht anders und packte Hiro am Kragen, um ihn wieder zu sich runter zu ziehen. „Was soll denn das? Du erdrückst mich!“ „Du bist sooo süß, ich kann nicht anders!“ „Ich bin nicht süß!“ „Doch!“ „Nein!“ „Mein Schmusekätzchen!“ „Ryu!“ Ryu ließ ihn los. „Du bist ja ganz rot.“ Hiro senkte den Blick. „Und wenn schon.“ Lächelnd strich Ryu ihm die Strähnen aus dem Gesicht und schob sein Kinn nach oben. „Darf ich?“ Hiro zögerte, nickte dann aber entschlossen. Es war der erste Kuss seit dem Abend, an dem sie sich zerstritten hatten. Ryu war sehr zärtlich und darauf bedacht, Hiro nicht zu sehr zu überfallen. Doch Hiro entspannte sich schnell und erwiderte den Kuss. Für eine Weile schaltete Ryu einfach seinen Kopf ab und genoss diesen Moment. Er hatte lange darüber nachgedacht, wie es nun weiter gehen sollte. Er wusste, dass das alles nie passiert wäre, wenn er Hiro nicht getroffen hätte. Aber sein Wille Hiro zu beschützen, war nun da er wusste, welche Gefahren um sie herum lauerten, größer denn je. Ihn da zu sehen, wo er sich fast drei Tage lang befunden hatte, wollte Ryu mit allen Mitteln verhindern. Koste es, was es wolle. Es klopfte an die Tür. Als Ryu und Hiro hochschreckten, stand Herr Kunieda bereits in der Tür und räusperte sich. Sprachlos starrte Ryu ihn an. Er beobachtete, wie Herr Kuineda mit strengem Blick die Tür schloss und den Schlüssel umdrehte. Wortlos ging er durch das Zimmer und zog die Gardinen vor den Fenstern zu. Dann setzte er sich auf das Sofa gegenüber vom Krankenbett. Hiro hatte sich auf den Stuhl neben Ryu gesetzt, der noch immer mit einer Mischung aus Schock und Panik im Bett lag und keinen Ton herausbrachte. „Du hättest anklopfen können BEVOR du reinkommst, Vater.“ Er räusperte sich wieder. „Ja, die Lektion habe ich jetzt auch gelernt.“ Ryu war verwirrt. Herr Kunieda hatte ihn und seinen Sohn gerade inflagranti beim Küssen erwischt. Er blieb aber trotzdem ganz cool. Er sah Ryu wohl an, dass er nicht wusste was los war und klärte die Situation auf. „Hiro hat es mir bereits erzählt. Ich weiß, was zwischen euch beiden ist.“ Ryu spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Sein Magen zog sich zusammen. „Ich ehm... Herr Kunieda... das ist so... Hiro... bla.“ „Wie bitte?“ „Ryu, es ist alles gut. Ich hab es meinem Vater gesagt und er... Das erzähl ihm mal schön selbst!“ „What? Ich komm nicht mehr mit.“ „Vater?“ „Ich will zu Beginn erst etwas klarstellen: ich habe kein Problem mit dieser Sache, ganz im Gegenteil. Ich wirke vielleicht auf dich, als ob ich kein Interesse an meiner Familie hätte. Aber ich liebe und unterstütze meinen Sohn, egal wie und egal wobei.“ Ryu war die Situation wahnsinnig peinlich. Hiro aber auch, so rot wie er war. „Ich kenne meinen Sohn, besser als er vielleicht weiß. Wenn selbst du als Außenstehender es bemerkt hast, glaubst du nicht, es wäre mir nicht schon lange bewusst?“ Ryu sah zu Hiro, der beschämt zu Boden starrte. „Ich habe dich nicht ohne Grund engagiert.“ Nicht ohne Grund? „Wie meinen Sie das?“ Herr Kunieda fuhr sich durch die Haare. „An dem Tag, an dem du Hiro vor den Koyamas beschützt hast, habe ich sofort einen Bericht aus der Uni bekommen. Keine Stunde nach dem Vorfall hatte ich sämtliche deiner Daten. Deine Zeugnisse, Nachweise, Krankengeschichte, Sportliche Auszeichnungen und so weiter. Hiro kam schon des öfteren mit der Bitte auf mich zu, nicht mit dem üblichen Begleitschutz zur Uni zu müssen. Was ich durchaus nachvollziehen konnte.“ „Und als Sie mein Profil gesehen haben, kam Ihnen die Idee?“ „Nein, aber es war ein idealer Vorwand.“ „Ein idealer Vorwand?“ wiederholte Ryu langsam. Hiro sprach indes kein einziges Wort. Aus Angst vor seinem Vater? „Das, was wirklich mein Interesse geweckt hat, war der Bericht über deine bisherigen Beziehungen.“ „Halt, Moment! Zeugnisse und Krankenakte musste ich einschicken an die Uni. Aber woher haben Sie die Infos über mein Privatleben?“ „Facebook.“ Beschämt kratze Ryu sich am Kopf. „Oh.“ Herr Kunieda schlug seine Beine übereinander. Seine erhabene Ausstrahlung war wie immer ehrfurchtsvoll. „Aber was meinen Sie mit 'Vorwand'?“ „Ich wollte, dass Hiro Kontakt zu jemanden hat, der ihm vielleicht helfen kann, zu sich zu stehen. Bevor du kamst war er, musst du wissen, extrem zurückgezogen, hat mit kaum jemanden gesprochen. Ich glaubte, dass er Angst hatte. Als ich dein Profil las kam mir die Idee, dich unter dem Vorwand sein Bodyguard zu sein mit ihm bekannt zu machen.“ Ryu sah zu Hiro, der jetzt nicht mehr beschämt, sondern wütend aussah. „Du brauchst gar nicht so zu gucken, mein Plan ist ja aufgegangen. Du wirkst viel fröhlicher als früher. Und offener bist du auch.“ „Es war trotzdem hinterhältig.“ Herr Kunieda warf verzweifelt die Arme in die Luft. „Egal was ich mache, es ist immer das Falsche.“ „Herr Kunieda… Das heißt, Sie sind nicht… sauer oder so?“ Die Art, wie Herr Kunieda sich wieder durchs Haar strich und dabei seufzte, ließ Ryu einen kalten Schauer über den Rücken laufen. „Nun, ich muss gestehen...“ Er deutete abwechselnd mit dem Finger auf die beiden „...DAS war eigentlich nicht direkt geplant.“ Ryu schluckte. „Heißt das, ich werde...“ Abwehrend hob Herr Kunieda die Hände. „Nein, mein Junge, ich werde dich deswegen nicht rausschmeißen.“ „U-und ich werde auch nich…?“ „Nicht was?“ Fragend sah Herr Kunieda zu Hiro. Dieser verdrehte nur die Augen. „Nein, Ryu, du wirst auch kein Fischfutter.“ Erst jetzt atmete Ryu erleichtert auf. Herr Kunieda erhob sich. „Dr. Tanaka sagt, du kannst morgen das Krankenhaus verlassen, du sollst dich aber noch schonen und regelmäßig vorbeikommen.“ Ryu strahlte vor Erleichterung. „Werde ich machen.“ Herr Kunieda schloss die Tür auf und wollte gerade den Raum verlassen. „Herr Kunieda!“ Er hielt inne. „Ja?“ „Ich habe mich noch gar nicht dafür bedankt, dass Sie mich gerettet haben.“ Er lächelte. „Ryu, du musst dich nicht bedanken, das ist selbstverständlich. Schließlich gehörst du zur Familie.“ Dann verließ er den Raum und schloss die Tür hinter sich. Eine Weile schwiegen sich Ryu und Hiro an. Ryu musste erst verarbeiten, was gerade passiert war. Hatte Herr Kunieda tatsächlich gesagt, was Ryu gehört hatte? Sein Herz klopfte. „Oh Gott, war das peinlich!“ Hiro schlug die Hände vor sein Gesicht. „Er hätte mich echt warnen können, dass er so eine Ansprache plant, dann hätte ich dich darauf vorbereitet.“ „Familie.“ „Was?“ Ryu starrte auf seine Hände. „Er sagte, ich gehöre zur Familie.“ „Ryu?“ „Wie hat er das gemeint, Hiro? Welche Familie meinst er?“ Hiro sah ihn zweifelnd an. „Na, die Familie Kunieda.“ Ryu schüttelte den Kopf. „Deine normale Familie? Oder meinte er damit den ganzen Clan?“ Verunsichert schaute Hiro ihn an. „Ich ehm… ich weiß es nicht.“ Die letzte Nacht im Krankenhaus konnte Ryu kaum schlafen. Alle Gedanken in seinem Kopf wirbelten durcheinander. Wie weit war er gegangen? Gab es ein zurück für ihn? Was passiert, wenn er die Kuniedas irgendwann verlässt? Wenn sein Studium vorbei ist? Würde man ihn zwingen zu bleiben? Seine Gefühle für Hiro waren ernst, aber waren sie bedeutend genug, sein ganzes Leben zu opfern? Und seine Eltern? Er konnte es ihnen nicht ewig verheimlichen, sie waren ja schließlich nicht völlig verblödet. Brachte er sie in Gefahr? Zum aller ersten Mal war sich Ryu darüber im Klaren, in welche Situation er sich da so leichtfertig gebracht hatte. Herr Kunieda war kein seriöser Geschäftsmann. Er war ein Yakuza, ein verdammter Verbrecher. Ein Mann, der seine Gegner ohne zu zögern umbrachte. Er hielt sogar eine Bestie zum töten. Ryu wurde schlecht bei dem Gedanken. Sollte er bleiben? Durfte er gehen? Oder war es bereits zu spät für ihn? Am späten Nachmittag, nachdem Dr. Tanaka Ryu noch einmal durchgecheckt hatte, holte Hiro ihn ab. Während der ganzen Fahr sprach Ryu kein einziges Wort, wie schon zuvor im Krankenhaus. Schon oft war er mit Hiro in der Mercedes Limousine gefahren, noch nie hatte er sich dabei so falsch gefühlt. Er zweifelte an sich und an allem, wofür er immer eingestanden hatte. Gegen Abend kamen sie im Anwesen an, es war bereits dunkel. Die Kirschbäume im Garten waren komplett eingeschneit, der kleine See zugefroren. Als Ryu die Eingangshalle betrat, stürmte im eine überglückliche Miss Nori entgegen und sprang ihm in die Arme. „Ryu! Ich bin ja so dankbar, dass Sie wieder da sind!“ Sie ließ ihn wieder los und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „Miss Nori, ich...“ „Endlich hab ich wieder einen vernünftigen Gesprächspartner, wenn ich unten anrufe!“ Er wollte gerade etwas sagen, aber Miss Nori drehte sich um und verschwand schon wieder. „Entschuldigen Sie, Ryu, aber ich hab es ein bisschen eilig. Wir reden die Tage!“ Vor der Tür des Lofts angekommen, wollte Ryu den Code eingeben, doch Hiro hielt ihn ab. „Wir haben einen neuen Code.“ Dann tippte er eine unbekannte Zahlenfolge ein und die Tür öffnete sich. Ryu betrat das Loft mit gemischten Gefühlen. Er war noch immer verwirrt und unentschlossen. Doch als das Licht an ging und die Tür sich hinter ihm schloss, fühlte er sich plötzlich wieder sicher und geborgen. Das Loft war für ihn inzwischen wie ein zuhause geworden. Sein erster Blick galt, wie früher schon oft, der verpennten, alten Tigerdame. „Leia!“ Er ließ seine Tasche und seine Jacke fallen und warf sich beinahe schon auf sein geliebtes, weißes Kuschelmonster. Hiro stand zurückhaltend in der Ecke. „Ehm… Ryu?“ Er hörte auf die puscheligen Ohren zu kraulen und richtete sich auf. Eine Weile sahen sich die beiden einfach nur an. Ryu blickte in diese warmen, braunen Augen, die ihn trauriger ansahen als je zuvor. Ihm zersprang beinahe sein Herz als er verstand, dass Hiro wegen ihm so unglücklich war. Er hatte ihn den ganzen Tag kaum eines Blickes gewürdigt, geschweige denn ein Wort. Als er in seine Augen sah, vergaß er, warum. Er vergaß alles, was geschehen war und verdrängte die Gedanken in seinem Kopf. Ohne ein Wort zu sagen, lief er auf Hiro zu, umfasste seine Hüfte und küsste ihn. Hiro schien gar nicht zu wissen, wie ihn geschah. „Ryu...“ „Nicht reden!“ Ryu wollte und konnte nicht von ihm ablassen. Er war überglücklich, wieder mit Hiro vereint zu sein, im Loft. Er genoss den Geschmack seiner Lippen „Ryu warte...“ „Worauf?“ Hiro schien hin und hergerissen zwischen irgendwas. „Wir sind nicht...“ „Was?“ „Ooooooh!!!! Ihr seid soooo süß zusammen!“ Ryu löste sich sofort von Hiro, ließ ihn aber nicht los, sondern schloss ihn fester in seine Arme. „Oh sorry, ich wollte euch nicht unterbrechen!“ Ryu starrte ungläubig auf die Person, die oben am Geländer stand und ihn fröhlich angrinste. „Hey, American Dreamboy!“ „Was zum… Teddy?“ Strahlend kam sie die Treppe herunter gelaufen und fiel Ryu um den Hals. „Oh mein Gott, ich bin ja sowas von froh, dass es dir gut geht!“ „Was machst du hier?“ Er sah verwirrt zu Hiro. „Woher kennst ihr euch?“ Hiro räusperte sich. „Ich schlage vor, wir besprechen das bei einer Tasse Kaffee.“ Etwa eine Stunde später hatte Hiro erklärt, was es mit der neuen Mitbewohnerin, auf Zeit, auf sich hatte. „Verstehe, also haben die Koyamas, nachdem sie mich ausser Gefecht gesetzt hatten, dein Restaurant zerstört?“ „Und meine Wohnung. Es liegt alles in Trümmern.“ „Und Hiro hat dich gefunden, weil dein Restaurant der letzte Ort war, an dem mein Handy geortet wurde?“ Beide nickte. „Ach so war das. Und für wie lange bleibst du bei uns?“ „Bis es wieder aufgebaut ist. Vater bezahlt dafür.“ „Warum?“ „Er mag Teddy. Und ich sie irgendwie auch.“ „Oooh, du bist so süß, Hiro!“ Teddy gab ihrem Gastgeber einen dicken Kuss auf die Wange. Sein Gesicht färbte sich so rot wie ihr Lippenstift, der auf seiner nun auf seiner Haut klebte. „Sag mal, Teddy… stört es dich gar nicht, was Hiros Vater beruflich macht?“ Sie rührte den Löffel in ihrem Kaffee um. „Nein, komischerweise nicht. Ich weiß nicht, er ist irgendwie… so… anders. Kein richtiger Yakuza, sondern einfach… ein Geschäftsmann oder so.“ „Mein Vater hat erst geglaubt, Teddy sei ein Spion.“ Ryu runzelte skeptisch die Stirn. „Teddy? Ein Spion?“ „Ja, wegen meiner Tattoos!“ „Wegen der Tattoos?“ Ryu schaute fragend zu Hiro, den er manchmal dafür verfluchte, dass er ihn nicht besser aufklärte über diese Themen. Er hielt aber inne, als er sah, wie traurig und nachdenklich Hiro zu Boden schaute. „In Japan haben eigentlich ausschließlich die Yakuza Tattoos. Teddy ist eine absolute Ausnahme der Regel.“ „Verstehe. Aber, wenn du das doch weißt, Teddy, und die Yakuza doch eigentlich so sehr hasst, warum hast du es dann gemacht?“ „Ach weißt du, ich steh einfach total auf Tattoos, ich kann mir nicht helfen.“ „Und du bist hier gut aufgenommen worden?“ „Oh ja, nachdem Hiro die Situation erklärt hat, haben mich alle herzlich in Empfang genommen!“ „Ey, wo du es grad sagst… wo ist denn der Höllenhund?“ Teddy grinste. „Der liegt bei mir in meinem Bett.“ „Du lässt das Biest in dein Zimmer?“ „Wieso denn Biest? Luca ist doch Handzahm. So ein süßer Kerl, der kann doch keiner Fliege was.“ Beleidigt sah Hiro ihn an. „Komischerweise kommt sie gut mit ihm klar. Manchmal glaube ich du bist einfach gemein zu ihm!“ „What?!“ „Okay, Jungs, mit euren Streitereien will ich nichts zu tun haben! Ich geh jetzt ins Bett. Gute Nacht!“ Ryu ging nur wenige Minuten nach Teddy in sein Zimmer. Zwischen ihm und Hiro herrschte wieder so eine seltsame Stille. In seinem Zimmer war das Licht gedimmt, nur das Wasser spiegelte sich etwas auf der Wand. Ryu stand mit dem Rücken zur Scheibe, als ein vertrauter Schatten sein Zimmer kurz verdunkelte. Früher hatte es ihn immer beruhigt, wenn Lenny seine Kreise um ihn zog. Jetzt hatte er Angst, wagte sich kaum umzudrehen. Er zuckte zusammen, als er das so vertraute Geräusch einer klatschenden Flosse an seine Scheibe vernahm. Er zog sich gerade seine Jogginghose an, da klopfte es an der Tür. „Ja?“ Mit gesenktem Blick kam Hiro in sein Zimmer und schloss die Tür. „Alles in Ordnung?“ Hiro atmete nur tief durch. „Da gibt es etwas, was ich dir erzählen muss.“ Er schaute langsam auf. Als er Ryu erblickte, wie er nur in Jogginghose dastand, lief er rot an und atmete hastig. Dann schaute er wieder runter. Ryu setzte sich auf sein Bett. „Was ist los mit dir? Du warst vorhin plötzlich so still.“ „Das musst du gerade sagen, du hast fast den ganzen Tag nicht mit mir gesprochen!“ Wütend sah er ihn an. „Du hast recht. Es ist einfach… zu viel passiert und… Es tut mir leid, Hiro.“ Hiro seufzte. „Ok, Entschuldigung angenommen.“ „Komm her.“ Zögerlich setzte Hiro sich neben Ryu auf das Bett. „Was möchtest du mir denn erzählen. Hiro begann zu schluchzen, seine Lippen bebten. „Hey, es ist alles gut.“ „Nein, ist es nicht, es ist grauenvoll! Du wirst mich hassen. Mich, meinen Vater und alles, wofür ich stehe. Und du...“ Ryu dachte an das, was ihn die ganze Nacht beschäftigt hatte. So unsicher er sich auch in allem war, er wusste, dass Hiro nicht derjenige war, dem er dafür die Schuld geben konnte oder wollte. Vorsicht umschloss er Hiros Gesicht mit seinem Händen. „Egal, was du mir jetzt erzählst, ich werde dich nicht hassen, versprochen.“ Dann wischte er mit seinem Daumen eine Träne weg. Hiro nahm Ryus Hände von seinem Gesicht und rutschte ein Stück von ihm weg. „Ich hab dir viel mehr etwas zu zeigen als zu erzählen.“ Abwartend sah Hiro Ryu in die Augen. Er hatte zwar Angst, aber trotzdem nickte er ihm zu. Hiro atmete einmal tief durch. Dann stand er auf und zog sich seinen Pullover aus. Es war das erste Mal, dass Ryu ihn ohne Bekleidung sah. Sein Körper war zart und blass, wirkte auf Ryu sehr zerbrechlich. Wieder ein Schluchzen, wieder eine Träne, dann drehte er sich um. Ryu riss bei dem Anblick die Augen auf. So etwas hatte er noch nie gesehen. „Hiro, was…“ Auf seinem gesamten Rücken prangte ein riesiger, roter Phönix. Es war aber kein Tattoo, es war eine Narbe. „Was ist das ?“ Hiro ballte die Hände zu Fäusten, zitterte am ganzen Körper. „Das ist das Brandmal unseres Clans.“ „Das ist eine Brandnarbe?“ Ryu sprang auf. „Warum hast du so was?“ „Es ist das Symbol des Anführers. Es kennzeichnet mich für alle Zeiten als Nachfolger meines Vaters.“ Ryu traute seinen Augen kaum. Diese Brandnarbe war Feuerrot und schon vernarbt. „Wie lange hast du das schon?“ Hiro schluckte. „Ein paar Jahre.“ „Jahre? Aber du bist doch jetzt erst...“ „Bitte sprich es nicht aus, bitte nicht!“ Hiro schluchzte und verkrampfte sich. Ryu strich über seine Schulter, aber Hiro stieß ihn weg. „Was musst du jetzt nur von uns denken… das ist furchtbar und abstoßend.“ Ryu begann zu verstehen. „Deswegen hattest du so angst, dass ich dir zu nahe komme. Deswegen warst du auch so wütend, als ich dir so nahe kam an dem Abend.“ Hiro stand noch immer mit dem Rücken zu ihm. „Ich wollte es dir zeigen, bevor du es selbst entdeckst. Ich hab aber zu viel Angst gehabt, dass du mich dann abstoßend findest und...“ „Nein, Hiro. Ganz im Gegenteil.“ Ryu ging einen Schritt vor, stand nun direkt hinter Hiro, berührte ihn aber nicht. „Ich habe das Gefühl, ich verstehe dich jetzt besser.“ Sein Herz pochte, als Hiro nach seinen Händen tastete. „Bleibst du bei mir?“ Ryu wusste, dass es dumm war, Er wusste, dass sein Leben davon abhing. Aber trotzdem, nie zuvor war er sich einer Sache so Sicher gewesen wie in diesem Augenblick. „Ja, ich bleibe.“ Er ließ eine Hand los und strich Hiro vorsichtig über den Rücken. Er zuckte kurz zusammen. „Ich tu dir nicht weh.“ „Ich weiß.“ Ryu trat noch einen Schritt näher und küsste Hiro im Nacken. Dann ließ er seine andere Hand los und umarmte ihn. „Vertraust du mir?“ Hiro nickte. Ryu fasste ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich. Hiro ging auf die Zehenspitzen und küsste ihn, erst zögerlich, dann immer gefühlvoller. „Bleibst du heute Nacht bei mir?“ fragte Ryu. Hiro sah ihm fest in die Augen. „Ja.“ Kapitel 9: CHAPTER NINE ----------------------- Es war dunkel im Raum, als Ryu die Augen öffnete. Nur das Wasser spiegelte sich ein wenig auf den Wänden. Es musste mitten in der Nacht sein, denn das Licht im Aquarium war gedimmt. Ryu brauchte einen kurzen Moment um wach zu werden. Er hatte so tief und fest geschlafen wie seit Wochen nicht. Das lag allein daran, dass Hiro neben ihm lag. Er schlief noch, ganz friedlich, in Ryus Decke eingehüllt. Seine Haare hingen ihm zerzaust ins Gesicht, seine Wangen waren noch immer etwas gerötet. Lächelnd strich Ryu ihm ein paar Strähnen von der Stirn und gab ihm einen sanften Kuss. Sein Haar duftete, wie der Rest seines Körpers, nach Vanille. Vorsichtig hob er die Decke ein wenig an und rutschte noch ein Stück näher an Hiro heran. Er konnte seinen seichten Atem auf seiner Haut spüren, als er ihn in die Arme schloss. Die Bilder der vergangenen Stunden rauschten durch seinen Kopf, während er seine Hände in Hiros Haaren vergrub. Er spürte noch immer dieses wohlige Glücksgefühl, welches sich in ihm ausbreitete, als Hiro ihm erlaubte ihn auszuziehen. Das Kribbeln in den Fingern, als er ihn auf sein Bett legte und ihm über die zarte Haut streichelte. Die süße Hitze, die den Raum erfüllte, als er ihn am ganzen Körper küsste. In seinem Kopf hallte Hiros Seufzen und sein unschuldiges Stöhnen wieder, welches ihm fast den Verstand geraubt hatte. Nie zuvor hatte er etwas so genossen, wie diese Nacht mit ihm. Ryu schämte sich fast ein wenig dafür, dass es ihm solchen Spaß bereitet hatte, Hiro so an seine Grenzen zu locken. Sein Herz klopfte wild und laut. So laut, dass Hiro davon wach wurde. Irritiert blinzelte er mehrmals, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Verschlafen schaute er auf, blickte Ryu mit seinen unwiderstehlichen, unschuldigen Augen an. „Hey Kleiner.“ Ryu strich ihm lächelnd über die Wange. „Hab ich dich geweckt?“ Noch nicht ganz bei sich schüttelte er mit dem Kopf. Einige Sekunden lang schauten sie sich an. Plötzlich wurde Hiro scharlachrot. Er setzte sich auf und rutschte hastig von Ryu weg, hielt sich dabei beschämt die Decke vor den Körper. „Hiro?“ Er atmete hastig, starrte Ryu mit großen Augen an. Ryu ließ ihm einen Augenblick, um sich wieder etwas zu beruhigen. Sein Atem ging wieder langsamer, die Röte in seinem Gesicht blieb aber. „Es tut mir Leid Ryu… Ich war nur grad… Ich hab nur…“ Ryu setzte sich ebenfalls auf, nahm seine Hand, die ein wenig zitterte. „Alles ok mit dir?“ Er nickte. „Mir kam nur plötzlich in den Kopf, was wir...“ Er sah verwirrt aus, was in Ryu große Zweifel auslöste. War er zu egoistisch gewesen? Er hatte Hiro nicht einmal gefragt, ob er es überhaupt möchte, sondern hat einfach, irgendwie, angefangen. Hatte er unbewusst die Situation ausgenutzt und Hiro in einem wirklich schwachen Moment überfallen? „Hiro, ich wollte nicht, dass es so für dich wird. Ich weiß auch nicht, was da gestern in mich gefahren ist…. Doch, eigentlich schon, aber ich hätte dich vorher fragen sollen oder… ach dammit!“ „Was? Nein, nein!“ Hiro kam, mehr unbewusst, wieder ein kleines Stück näher. „Nein, so… so fühle ich mich gar nicht. Es ist nur… so neu und…“ Schüchtern verschränkte er die Arme in der Decke und schaute nach unten. „Ich weiß nicht, ob ich alles richtig gemacht hab.“ Da war er wieder. Einer dieser Momente, in denen Ryu ihn am liebsten geknuddelt hätte, wie ein dreijähriger seinen Plüschhasen. „Du bist so unfassbar süß, Hiro.“ Beleidigt schaute er auf. „Das ist nicht witzig, Ryu!“ Seufzend strich sich Ryu seine zerzausten Haare aus dem Gesicht. „Du hast recht, entschuldige.“ Einige Minuten saßen sie schweigend da. Die Situation verbesserte sich nicht, als der unheilvolle Schatten an ihnen vorbeizog. Ryu schaute unruhig zum Fenster. Er hatte Lenny nie betrachtet, wenn er nachts an der Scheibe vorbei schwamm. Sein Anblick ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren, mehr noch als in der Nacht, als er mit Herrn Kunieda direkt am Rand des Beckens stand. Seine kleinen Augen waren schwarz wie Kohle und kalt wie Eis. Sein riesiges Maul war nicht gänzlich geschlossen und so ragten seine messerscharfen Zähne tödlich heraus. Jetzt erst wurde Ryu bewusst, wie groß dieses Untier war. Er umfasste mit Sicherheit nicht weniger als fünf Meter, wenn nicht sogar mehr. Er rutschte nach hinten, bis er fast aus dem Bett fiel. „Ich glaube, er ist unglücklich.“ Ryu blickte Hiro an, der ebenfalls dem Urzeitmonster hinterher sah. In seinem Blick aber war keinerlei Furcht zu finden. Eher Traurigkeit. „Hat er hier denn nicht alles was er braucht?“ „Alles ausser seine Freiheit. Er wird hier festgehalten, wurde aufs töten trainiert, wobei das bei einem Hai nur bedingt eine Herausforderung darstellt. Und er ist einsam.“ Ryu zuckte mit den Schultern. „Das kann ich nicht beurteilen.“ „Ich schon.“ Hiros Blick wurde ernst. Er hatte Ryu nie zuvor so in die Augen geschaut. „Glaubst du mir ist es hier besser ergangen, Ryu?“ „Ich weiß nicht was du -“ „Glaubst du mir wurde Mitleid und Erbarmen geschenkt, weil ich zufällig der Sohn des großen Bosses bin? Der kleine Phönix?“ Tränen stiegen ihm in die Augen. Ryu wusste nicht was er sagen sollte. „Du liegst dort und fürchtest dich vor diesem verdammten Drecksfisch, dabei sitzt dir das größere Monster direkt gegenüber und du...“ In Hiros Augen spiegelte sich blanke Wut. „Du erkennst es nicht einmal.“ In seiner Brust tobte ein Kampf. Es war eine ungewöhnliche Mischung aus Angst und Traurigkeit, die in ihm brodelte. Angst, weil er nicht wusste, was dort vor ihm passiert. Und Traurigkeit… ebenfalls aus diesem Grund. Was wollte Hiro ihm mitteilen? Was hat er getan – oder eher – was hat er NICHT getan, das Hiro offenbar so verletzte. Er fing sich und blieb so ruhig, wie es die Situation von ihm verlangte. „Bitte sag mir, was mit dir los ist. Was habe ich getan oder… gesagt? Bitte, Kleiner.“ Hiro biss sich auf die Lippen. Er schloss die Augen und wischte sich die Tränen weg. „Ich hab sie umgebracht.“ Ryu war verwirrt. „Was meinst du?“ „Die Typen, die dich gefangen hielten… als wir den Lagerraum stürmten. Ich habe erst sie gesehen. Dann habe ich dich gesehen. Dann habe ich geschossen.“ Ryu konnte nicht begreifen, was Hiro ihm erzählte. „Du hast sie erschossen? Ich dachte, die Männer deines Vaters...“ „Ich hatte nur zwei mit dabei.“ In seinem Kopf hallten die Geräusche des Augenblickes wieder, an den er sich als letztes in dem Lagerraum erinnern konnte. In seiner Erinnerung war es ein riesiger Trubel gewesen, kein stilles Tötungskommando. „Warum… erzählst du mir das gerade jetzt?“ Ryu wunderte sich sehr über Hiros seltsamen Wandel, den er gerade vor seinen Augen vollzog. Das war nicht sein süßer, fröhlicher und unglaublich frecher Hiro, der da vor ihm saß. Das war ein gebrochenes Wesen mit kalten Augen, die eine definitiv eine Geschichte zu erzählen hatte, die mit Sicherheit Ryus Bild von ihm für immer verändern würde. Kalt starrte Hiro ihn an. In seinem Blick war keinerlei Emotion mehr zu sehen. Dann bückte er sich zur Seite und kramte unter Ryus Bett. „ Was suchst...“ Er brachte den Satz nicht mehr zu Ende. Hiro richtete bereits die geladene Waffe, die immer unter Ryus Bett lag, auf seinen Kopf. „Hiro...“ Starr vor Schreck wechselte Ryu den Blick immer wieder zwischen der Waffe und Hiro hin und her. „Wenn ich es so wollte… oder müsste… wärst du jetzt schon tot, Ryu.“ Diesen Ton hatte Ryu noch nie von Hiro gehört. Seine Stimme war so klar und kalt, dass man damit Glas hätte schneiden können. „Ich könnte jetzt abdrücken und würde nicht einmal mit den Augen zucken.“ Ryu brachte keinen Ton hervor. Er war wie gelähmt. In Hiros Gesicht breitete sich Zorn aus. „Ja, das habe ich erwartet… Du fürchtest mich. Du denkst auch, ich sei ein Monster. Ein weiterer Freak in diesem Zirkus der Absurditäten, den mein Vater geschaffen hat.“ Erschrocken starrte Ryu auf Hiros inzwischen zitternde Hand. „Ich bin kein süßer, kleiner Vollidiot, Ryu. Ich in eine verdammte Bombe, dessen Zünder mein Vater fest im Griff hat! Du solltest gehen und nicht mehr wiederkommen, Ryu. Renn! Renn so schnell und so weit du kannst! Du steckst schon viel zu tief mit drin. Meine bloße Nähe zu dir wird dich eines Tages...“ Hiro stockte mitten im Satz. Wieder stiegen ihm Tränen in die Augen. „Wie sollst du mich beschützen, wenn ich selbst die größte Gefahr darstelle?“ Hiro kniff die Augen zusammen. Die Tränen rannen aus seinen Augen. Vielleicht hätte er wirklich rennen sollen. Vermutlich wäre es klüger gewesen. Doch Ryu fällte seine Entscheidung im Bruchteil einer Sekunde. Er schnellte vor, schlug Hiro den Arm mit der Waffe zur Seite und hielt diesen fest. Mit den anderen Arm umschloss er Hiro und zog ihn fest an sich heran. „Nein.“ Seine Stimme war fest und deutlich. „Ich werde nicht gehen. Hörst du, Hiro?“ Er ließ vertrauenswürdig seine Hand mit der Waffe los, schob sein Kinn nach oben und zwang ihn ihm in die Augen zu sehen. „Ich lasse dich nicht allein.“ Einen ewigen Moment lang sprach keiner von ihnen ein Wort. Ryu beobachtete, wie Hiros Pupillen sich weiteten. Er hörte, wie sich sein Atem erschwerte. „Du weißt nicht, was du da sagst...“ „Aber ich weiß, was ich will.“ Liebevoll strich er mit der Hand über Hiros Gesicht. „Ich will, dass du glücklich bist. Und wenn der einzige Weg dahin über diesen Pfad führt, dann werde ich das in kauf nehmen.“ Er verlor Hiro nicht eine Sekunde aus den Augen. „Ich habe weder Angst vor deinem Vater, noch vor den Koyamas oder weiß der Teufel vor wem oder was.“ Sachte schob er sein Kinn ein Stück nach oben.“ „Ich liebe dich, Hiro. Und das ist alles, was für mich zählt.“ Er schloss die Augen und besiegelte das Gesagte mit einem sanften, aber forderndem Kuss. Er ließ ihn andauern bis er spürte, dass Hiro sich in seinen Armen entspannte. Dann löste er sich sanft. Verliebt und fest entschlossen schaute er in die leicht geröteten Augen seines Schützlings. „Ich hoffe du versuchst nicht, mich weiterhin vom Gehen zu überzeugen.“ Er musste ein wenig schmunzeln, als er überlegte, was er ihm als Alternative darbieten würde. „Oder ich reibe mich mit Steaksauce ein und schwimme eine Runde mit deinem übergroßen Silberfisch!“ Es erfreute ihn sehr, dass Hiro sich daraufhin ein kleines Lachen nicht verkneifen konnte. Dann griff Ryu nach seiner Waffe, sicherte sie wieder und legte sie zurück unters Bett. Hiro beobachtete ihn dabei, mit einem zutiefst beschämten Ausdruck in seinen Augen. Als Ryu dies bemerkte, nahm er sanft seine Hand. Er zog ihn an sich und kraulte ihm durch seine Haare, wie Hiro es so gerne mochte. „Wir werden es nie wieder erwähnen“. Nervös auf seinen Lippen kauend nickte er es hastig ab. „Danke“ brachte er gequält heraus. Ryu ließ sich, noch immer mit Hiro im Arm, rückwärts auf die Kissen sinken. Dann streckte er den Arm aus und zog die Decke wieder über sie beide. Sanft schmiegte Hiro sich an ihn. „Meintest du das ernst?“ Ryu war der schüchterne Unterton in seiner Stimme nicht entgangen. „Was meinst du?“ „Das… das du mich…“ Schmunzelnd beobachtete Ryu ihn, wie er nach Worten rang. „Ja, das habe ich ernst gemeint“ flüsterte er sanft. „Und ich hoffe sehr, dass du es bald erwiderst.“ Eine Weile sahen sich die Beiden nur an. Dann schüttelte Hiro langsam mit dem Kopf. „Nicht bald...“ Sanft nahm er seine Hand. „Ich denke, ich tue es jetzt schon.“ Ryu spürte, wie sein Herz raste. Aus einem plötzlichen Dran heraus zog er ihn an sich heran und gab ihm einen leidenschaftlichen, fordernden Kuss. Es raste noch mehr, als er spürte, wie Hiros Hände sanft über seinen Rücken streichelten. Dann löste er sich und sah Hiro mit hochroten Wangen an. Würdest du… das von vorhin… Würdest du das noch einmal machen?“ Lächelnd musterte Ryu ihn. „Sehr gerne.“ Dann drückte er ihn tiefer in die Kissen und lehnte sich über ihn. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)