Das Lied im Automaten von pandine ================================================================================ Kapitel 31: Teile der Vergangenheit ----------------------------------- Sie zählte nicht, wie viele Stunden in dem Weiß vergingen, in dem sie gefangen war. Alyne schritt irgendwohin, unermüdlich versuchte sie, das Ende dieser Ewigkeit zu ergründen. Ihr Plan war simpel, wenn man das einen Plan nennen konnte. Sie würde einfach weiter in diese Richtung gehen, in der Hoffnung, irgendwo auf irgendwen oder wenigstens irgendetwas zu treffen. Der Faden ihrer Geduld spannte sich mit jedem Schritt ein wenig weiter, den sie in dieser Endlosigkeit tun musste. Doch er riss nie. Egal, wie lange sie dort entlang ging, der Faden blieb und blieb. Lag es daran, dass vielleicht nur wenige Sekunden tatsächlich vergangen waren? War es, weil sie jedes Zeitgefühl verlor? Sie ging und ging, ohne auch nur irgendetwas als die Stille wahrzunehmen, dieses Gefühl des Bewegens, welches unwirklich schien. Obwohl sie sich sicher war, dass sie einen Schritt nach dem anderen tat, so ließ sich das in der Monotonie nur schwer nachvollziehen. Es war ihr, als wäre sie in dieser Ewigkeit gefangen, doch sie merkte nichts davon. Unermüdlich bildete sie sich ein, zu gehen, auch wenn sie vielleicht nur auf der Stelle lief. Ebenso wie sie selbst steckten ihre Gedanken fest, in einem ewigen Kreis, den sie nicht durchdringen konnte. Oder wollte. Erst, als sie in der Ferne, in der weiten, weiten Ferne einen Punkt sah, kaum vielmehr als der Hauch von anderer Farbe, wachte sie aus ihrem Schlaf auf. Sie wusste nicht, worin ihr das Gefühl vermittelt wurde, dass dieser Punkt weit entfernt war – er hätte ja auch einfach nur winzig klein vor ihrer Nase sein können – doch sie lief los. Ihre weit ausholenden Laufschritte wurden von dem Gefühl gehoben, dass die Jahre, Monate, Tage, Minuten, Sekunden vorher nicht umsonst gewesen waren. Und tatsächlich. Der Punkt, welcher vorher seine Aufmerksamkeit durch seine Andersartigkeit erhalten hatte, wurde größer und wuchs mit jedem Schritt, den sie nun wirklich wahrnehmen konnte. Sie lief, lief. Es war ihr, als wäre sie noch nie über eine Fläche so geflogen wie über diese reinweiße, die nicht einmal ein Schatten zu beschmutzen wagte. Der Punkt in der Ferne nahm mehr und mehr Gestalt an. Er wurde ein wenig länglich, bekam mehr Farben. Sie sah leuchtendes Rot oben, eher dunklere Farben unten. Das Oval bekam mehr Form, es wirkte wie ein humanoides Wesen. Alyne merkte nicht, wie die Umgebung sich um sie herum veränderte, während sie dem Weiß entkam. Für Außenstehende musste es wohl so aussehen, als würde sie der Eintönigkeit dieser grellen Farbe entfliehen und sich in warme Grüntöne flüchten. Sie lief wieder auf festem Grund, doch das einzige, was ihr Blick wahrnahm, war die Gestalt vor sich, die sie nun wiedererkannte. War das nicht sie selbst? Sie erkannte die wilden Locken, welche unkontrollierbar um den Kopf schwirrten, welcher wie ihr Gesicht aussah. Sie versuchte, ihren schnellen Lauf abzubremsen, denn sie befürchtete, dass sie haltlos gegen dieses Abbild ihrer Selbst rennen würde, doch da war nichts zum Abbremsen. Sie spürte erneut keinen Boden unter den Füßen, doch dieses Mal hatte es einen anderen Grund. Sie schwebte. Sie schwebte über dem Boden, welcher grün und braun war. Sie schwebte über den Wald hinweg, bis sie schließlich auch über sich selbst hinweg flog. Egal, wie sehr sie versuchte, sich der Gestalt, die ihr so sehr ähnelte, zu nähern, es klappte nicht. Als würde sie auf eine unsichtbare Barriere stoßen, die sie davon abhielt, ihr Ziel zu erreichen. Dann war die Szene auch vorbei, die sie erst zuletzt mit schmerzenden Herz wiedererkannt hatte. Es war eine ihrer schmerzlichsten Erinnerungen gewesen, die sie besaß. Tief in ihrem Innern verborgen kamen die Gefühle von damals wieder auf, zart und doch schneidend wie Dolche, die sich tief und tiefer bohrten. Der erste Tag in der Elfenschule, die erste Stunde in Magie. Nein, das stimmte nicht. Sie holte, dem schwindenden Wald hinterhersehend, Tränen in den Augen habend, tief Luft und korrigierte sich. Eine Wahrheit, die sie damals nicht begreifen konnte, schlimmer noch als den Hohn ihrer Mitschüler. Der Tag, an dem ihr Vater starb. Sie wusste noch genau die geringschätzigen Blicke aller Elfen im Dorf, die auf die trauernde Familie gerichtet waren. Ihren Zorn, den sie dabei verspürt hatte. Und die leeren Augen ihrer Mutter. Und niemand, der für sie da war. Natürlich, sie war kein kleines Mädcheng gewesen, aber sie war auch noch lange nicht erwachsen. Im Grunde wusste sie selbst nicht, mit welchen Maßstäben sie sich messen sollte. Mensch oder Elf? Sie atmete tief durch, als die Szene der Vergangenheit wieder der Vergangenheit angehörte. Dies war nur wenige Tage gewesen, bevor ihr Abenteuer mit Feliff angefangen hatte. Seit da an war viel passierte, erinnerte sie sich wieder zurück. Und dies schien ein Teil davon zu sein. Nun nicht mehr laufend widmete sie sich wieder ihrer Flugrichtung, um die Tränen, die hervorkamen wollten, nicht herauszulassen. Dies gehörte der Vergangenheit an, sie musste sich auf etwas Anderes konzentrieren. Genau, da war doch noch etwas gewesen. Sie musste schleunigst einen Weg herausfinden, um Feliff wieder helfen zu können. Sie mussten doch noch einen Kampf bestreiten, oder? Im Grunde wusste sie selbst nicht mehr, worin dieser ganze Kampf eigentlich bestehen sollte. Sie standen sich gegenüber, anonym versank man in der Masse. Es war kein Mann-gegen-Mann, es war kein fairer Kampf. Sie wollte ihre Gegner sehen können – nicht nur ummetzeln. In ihr kamen wieder Würgereize hoch, als sie an den „Kampf“ dachte, den sie bestritten hatte. Und an all das Blut, das sie gesehen hatte – soweit sie die Flüssigkeiten identifizieren konnte. Wer war nun eigentlich wirklich „gut“? Es war eine Frage, die sie sich zwischen der mechanischen Bewegungen gefragt hatte, die sie durch den Kampf geleitet hatten. Auch die Wesen des Lichts schienen diesen unendlichen Blutdurst getragen zu haben, den die Monster des Schattens gepflegt hatten. Lange Zeit flog sie, von solchen Fragen gequält, mit schrecklichen Bildern belästigt, durch die weitere Endlosigkeit des Weiß. Sie genoß die Schwerelosigkeit ihres Körpers nicht, auch wenn sie es sonst sicher getan hätte. Doch nun war alles anders. Sie seufzte nicht, nur ein grimmiger, nachdenklicher Ausdruck machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie blickte nicht zurück, zu dem Ort, der ihr einen Anhaltspunkt in der Endlosigkeit gegeben hatte. Sie wusste immer noch nicht, wo sie sich befand, doch es schien ihr manchmal wie der Tod vorzukommen. Wenn noch weitere Sequenzen ihrer Vergangenheit kommen sollten, würde sie ein kleines Problem haben. Es war noch zu früh, um zu sterben. In ihr machte sich Panik breit. War das wirklich das Ende? Doch dann umschmeichelte sie sanfte, gefüllte Stille. Sie hörte zwar nichts, doch da war dennoch ein Summen, welches in ihren Ohren vibrierte. Sie schloss für einen Moment die Augen, um den Tönen zu lauschen, die sie fühlte. Sie hielt in ihrer Bewegung inne, um zur Ruhe zu kommen. Die Panik, welche sie eben erfüllt hatte, war wieder verschwunden. Dies war noch nicht das Ende, nein, das war es nicht. Sie öffnete ihre Augen wieder, vollen Mutes, um dem Weiß wieder zu trotzen. Doch das, was sie sah, war kein Weiß mehr. Sie schwebte über etwas. Ein Sandboden, welcher sich ins Unendliche erstreckte. Grelles Licht gepaart mit alles verschluckender Dunkelheit, im lauen Wind tanzend. Alyne starrte diese Szene, welche sich vor ihr bot, verwirrt an. Wer waren diese beiden Frauen, die miteinander tanzten? Es schwante ihr, wen sie da so ausgelassen zusammen sah, denn obgleich die beiden Frauen sich ähnelten wie Zwillinge unterschied sie etwas voneinander: Hell und Dunkel. Alyne fragte sich, vor wie vielen Jahren diese Szene wohl spielte. Vermutlich mehr als Millionen. War die Welt am Anfang also eine reine Wüste mit nichts, nur mit... Licht und Schatten? Sie beobachtete die tanzenden Frauen noch eine Weile. Obwohl sie meinte, sanfte Musik zu hören, drang doch kein Ton zu ihr. Ob es das damals überhaupt gegeben hatte? Sie wusste es nicht. Auf einmal packte sie ein brennendes Interesse an der Vergangenheit, die sie zuvor nicht einmal im Ansatz behelligt hatte. Was war vor Tausenden, Millionen von Jahren passiert? Wie sah die Welt damals aus? Was hat die Gesellschaft zu dem gemacht, was sie heute war? Ein kleiner Stich zuckte durch ihr Herz, welches so oft gebrochen und geflickt wurde. Eine Frage, die sie sich nie erklären konnte. Warum hänselte man sie, weil sie nicht das konnte, was die Mehrheit konnte? Niemand hatte sie je für ihr Geschick mit dem Schwert gelobt, nie jemand hatte sie für die schöne Farbe ihrer Haare je beachtet. Es waren so kindische Gründe, die sie, ein Kind, trotz der vielen Jahrzehnte, immer wieder zerbrochen haben. Und die Hände, die sie sorgsam zusammengeflickt hatten, waren nun verschwunden. Sie atmete ruhig, schluckte den Kloß, welcher sich in ihrem Hals gebildet hatte, herunter und widmete sich der nächsten Szene, die sich vor ihren Augen auftat. Es sah ähnlich aus wie zuvor, doch waren die beiden Frauen nun von mehreren Personen begleitet. Sie saßen auf groben Steinen und es schien Alyne, als hätte der Glanz der beiden, welcher sie schon blendend umstrahlt hatte, etwas nachgelassen. Sie lachten, wenn auch die dunklere der beiden Schwestern etwas schüchterner wirkte, während das Feuer in ihrer Mitte fröhlich prasselte. Sie spürte die Anwesenheit von Magie überall. Es schien, als würde die hellere Schwester mit jedem Ton, den sie von sich gab, ein wenig mehr Magie in die Welt setzen, auch wenn die Halbelfe immer noch nichts hören konnte. Die Runde schien auch eher mit Gesten sich zu unterhalten, denn es wurde – für heutige Verhältnisse unziemlich – ziemlich viel herumgefuchtelt. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung, die Alyne mit einem Lächeln beobachtete. Die Personen um die beiden Schwestern herum wirkten geschlechtslos, wenn auch manchmal in die ein oder in die andere Richtung tendierten. Auch fand sie nun, dass auch die beiden Schwestern eigentlich nie gleich aussahen. Sie änderten ständig kleine Merkmale, es wirkte dann so, als würden sie irgendwelche Zuckungen haben. Die Halbelfe schmunzelte über diese Bemerkung, als sich die Szene wieder wandelte. Oder besser gesagt, sie beschleunigte sich. Im Zeitraffer sah sie eine Spanne, die vermutlich eine millionen Jahre beinhielt. Aus der Wüste wuchsen Pflanzen, die Personengruppe wurde größer, bekam Zuwachs. Sie sah spitze Ohren, runde Ohren. Leuchtende Haarpracht, seidig glänzend dunkle. Es war eine bunte Familie. Und immer waren die beiden Frauen, die am Anfang allein gewesen waren, mit dabei. Sie standen im Laufe der Zeit meistens eher am Rand, halfen jedoch so gut es ihnen gelang. Es wurde nur langsam sichtlich, doch das, was sie anfangs ausmachte, wurde schwächer. Ihr Glanz wurde heller und dunkler. Faure Morins Dunkelheit, die sie umwaberte wie ein ewiger Umhang, schien immer blasser zu werden, auch wenn man es wohl erst sehen konnte, wenn man diese Millionen Jahre betrachtete. Doch auch bei ihrem Gegensatz konnte man die Abnahme des Glanzes beobachten – wenn man die Zeitspanne als Ganzes sah. Die einzelnen Generationen – die längsten Leben der Elfen dauerten Tausend Jahre an – würden diesen Unterschied nicht bemerkten. Alyne selbst nahm ihn nur nebensächlich war, interessierte sie doch vielmehr die Pflanzen und all das Leben, welches während dieser vielen, vielen Jahre gewachsen war. Bunt blühende Blumen säumten die ehemals leere Wüste, Wiesen bedeckten einen Großteil des Sandes und Bäume spendeten Schatten. Sie sah kleine Tiere über den Boden huschen. Die ersten Ansätze von Zivilisation wurden erkennbar. Gruppen rotteten sich zusammen. Die Halbelfe verlor jegliches Zeitgefühl, während die Jahre schwanden. Ihre Augen klebten förmlich an den Händen der Personen, welche den heutigen Elfen und Menschen nicht unähnlich sahen, auch wenn sie irgendwie anders wirkten. Sie konnte sich nicht erklären, was es genau war, doch irgendetwas war da anders. Vielleicht Feinheiten, die im Gesamtbild einen vollkommen anderen Eindruck vermittelten, als Menschen und Elfen es sonst taten. Während diesen langen Generationen war es auch egal, ob man Mensch oder Elf war, denn es hatte sich nicht herausgearbeitet. Es war egal, denn es war sowieso kaum „jemand Anderes“ da, dem man sich sonst zuwenden könnte. Harmonie herrschte in diesen Zeiten, doch auch dies sollte nicht so beschaulich bleiben. Es war etwa gegen Ende des ersten Zeitraffers, auch wenn Alyne immer noch nicht wusste, wo genau sie sich befanden. Es ähnelte alles der heutigen Welt sehr, und die beiden Frauen, die am Anfang allein gewesen waren, hatten sich wieder ein wenig zurückgezogen. Sie lebten nicht mehr mit den Personen zusammen, wie sie es früher getan hatten, doch sie schienen nicht weniger glücklich zu sein. Die Welt – oder der Ausschnitt der Welt, den Alyne sehen konnte – ergrünte und blühte. Sie ahnte noch nicht, welche Zwiste sie noch erwarten würde, unschuldig wie ein kleines Kind wiegte sie sich in den Armen des Universums. Alyne beobachtete noch viele Jahre dieses Zusammenlebens, manchmal hörte sie sogar verzerrte Stimmen. Den größten Teil ihrer Reise blieb es jedoch ruhig, nur eine sanfte Musik begleitete sie all die Jahre lang. Die Gruppen organisierten sich, bildeten gesellschaftliche Strukturen. Man rief Elfen sowie Menschen zu Königen aus, die über das Reich regierten sollten, welches von irdischen und übernatürlichen Händen geschaffen wurde. Noch herrschte Frieden, doch dann war Krieg. Die Halbelfe bekam den Übergang gar nicht mit, ebenso wenig wie den Kampf, der so schnell vorbei war wie ein Wimpernschlag. Die Verwüstung jedoch blieb länger. Sie wollte wegschauen, um dem Leid entgehen zu können, doch sie schaffte es nicht. Und in all dem Chaos konnte sie zwei vertraute Gestalten nicht entdecken, einfach nicht entdecken. Nach diesem ersten Rückschlag kehrte wieder Ruhe ein, jedoch war auch diese zerbrechlich. Es sollten viele Kriege folgten, viele, die wie der erste waren. Kurz, plötzlich und zerstörerisch, aber nicht nachhaltig zerstörend. Erst viel später, ihrer Zeit nahe, sollte der Krieg sein, der den Samen säte und den Grundstein für die heutige Gesellschaft legen sollte. Doch nun erst einmal zu dem damaligen Bild, welches Alyne sah. Denn das, was sie nun wahrnahm, ließ sie ins Stocken geraten. Sie beobachtete, wie eine Welt zerfiel. Zwei Wesen, gleich an Stärke und Macht, flogen über die Welt und zerstörten die Landschaft, welche seit Jahrtausenden von Jahren bestand, wie mit einem Fingerschnippen. Sie sah alles unter Trümmern verschwinden, die sie nicht einmal sehen konnte. Dennoch brannte sich dieses Bild in ihr Gedächtnis ein, so stark, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte. Es überschrieb beinahe all ihre momentanen Empfindungen, all ihre Erinnerungen. Und nach diesem Sog war wieder Leere, Nichts. Alynes Verstand war wie leergesogen, nein, er war vollkommen leer. Weder wissend, wo sie war, noch, was sie hier tat, beobachtete sie den Neuanfang einer weiteren Welt. Sie merkte nur am Rande, dass die Dunkelheit und die Helligkeit wieder zugenommen haben. Sie wusste letzten Endes nicht mehr, was nun vor ihren Augen geschah. Sie nahm nur noch Fragmente wahr, während sich in ihrem Unterbewusstsein ein Bild zusammenfügte. Ein klares, deutliches Bild, welches sie erschaudern ließ und die Wahrheit hinter den Dingen offenbarte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)