Drei Ansichten von Psychopath (einer Klassenfahrt) ================================================================================ Kapitel 1: 1a ------------- Die schlimmste Art und Weise, wie eine Klassenfahrt wohl losgehen konnte, war mit dem Bus zu fahren. Wir saßen fast vier Stunden in der Hitze bevor wir einen Halt machten, um einmal frische Luft zu schnappen und etwas zu essen. Diese Pause war meiner Meinung nach allerdings viel zu kurz. Und schon ging die Fahrt weiter. Immer noch hatte der Busfahrer darauf verzichtet, die Klimaanlage einzuschalten, auch wenn sich die Hälfte meiner Klasse wirklich lauthals beklagte. Unser Ziel erreichten wir in der Abenddämmerung und jeder, der ausstieg, streckte sich erst einmal und atmete die frische Luft ein. Unser Ziel war ein Camp, in dem unsere Klassengemeinschaft gestärkt werden sollte. Die Idee, mit einer komplett neu aufgestellten Schulklasse schon mal eine Klassenfahrt zu machen, schien mir nicht die beste zu sein. Andere setzten sich albernerweise in einen Kreis und erzählten unnötige Dinge über sich selbst und der Rest durfte dann heimlich über sie denken, was er wollte. Ich war froh, dass mein bester Freund seit Kindheitstagen wieder in derselben Klasse war wie ich und hielt mich immer in seiner Nähe auf. So offen wie er, war ich nämlich nicht. Die meisten Menschen hatte ich wohl nebenbei kennengelernt, während Reiner sich mit ihnen unterhielt und mich im Laufe dieser Unterhaltung diesen Menschen vorstellte. Auch jetzt stand ich wieder neben Reiner und wartete darauf, dass entweder er oder einer der beiden Lehrer sagten, was wir jetzt tun sollten. Nachdem alle Taschen und Koffer auf die Beteiligten verteilt wurden, kam einer unserer Lehrer mit einem Kasten in der Hand zu jedem Einzelnen von uns und ließ uns eine Nummer ziehen, die dann entscheiden würde, in welcher Hütte wir schlafen sollten. Zufall also. Reiner zog die 2, ich die 4. Sofort wurde mir unwohl. Ich würde mit mir völlig fremden Personen in einer Hütte schlafen müssen. Da es nur vier davon gab, mussten etwa sechs Menschen in einer Hütte übernachten. Das wären für mich fünf Fremde. Wie sollte ich das überleben? Ich stand schon unmittelbar vorm Schweißausbruch und starrte besorgt meine Schuhe an, als Reiner mir auf die Schulter klopfte und einen Zettel mit der Zahl 4 empor hielt. „Ich habe getauscht. Wie könnte ich dich allein lassen?“, sagte er grinsend. Mir fiel ein gewaltiger Brocken vom Herzen. Zum Glück würde er wieder in meiner Nähe bleiben. Wie erwartet standen in unserer Hütte drei Stockbetten. Unerwartet war, dass einer unserer Lehrer mit hineinkam und uns auf die Betten verteilte. Wie sollte dieses Jahr bloß weitergehen, wenn nicht einmal etwas so Banales von den Schülern entschieden werden konnte? Sowohl Reiner als auch ich sollten auf einem der oberen Betten schlafen. „Darf ich Einwände erheben?“, fragte Reiner an den Lehrer gewandt. „Ich wiege bestimmt doppelt so viel wie der Kerl unter mir. Wenn das Bett zusammenbricht ist der arme Junge Matsch. Außerdem ist unser Riese Bertholdt hier ein Mensch, der nicht ruhig schläft. Wenn er bei einer seiner seltsamen Verrenkungsaktionen aus dem Hochbett fällt, könnte die Schule dafür zur Verantwortung gezogen werden. Oder täusche ich mich? Ich halte es für besser, wenn wir uns unser Bett selbst aussuchen.“ Die anderen nickten oder stimmten ihm anderweitig zu. Unser zu kurz geratener Lehrer antwortete mit bösem Blick: „Ist mir egal. Ich sollte euch auf die Betten verteilen, das habe ich gemacht. Ich kann euch zu nichts zwingen.“ Er verließ die Hütte und wir sprachen untereinander ab, wer welches Bett bekommen sollte. Am Ende waren alle mehr oder weniger zufrieden. Mehr oder weniger, da ich fast die gesamte Länge meines Bettes einnahm, wenn ich mich ausstreckte. Beim Bettbeziehen fragte ich Reiner, der das untere Bett neben meinem bezog: „Was meintest du eigentlich mit Verrenkungsaktionen?“ „Ich habe dir doch schon häufig erzählt, dass du im Schlaf nicht ruhig bist, sondern man dich immer in den seltsamsten Positionen findet.“ „Aber das mache ich doch nicht immer noch?“ „Doch. Aber du störst ja niemanden dabei, also mach dir keine Gedanken darüber.“ „Wie fällt dir das überhaupt auf?“ „Als Kinder haben wir uns häufig ein Bett geteilt und dabei habe ich ab und zu eines von dir auf die Nase gekriegt im Schlaf. Oder du hast mich vom Bett geschoben oder lagst halb auf mir drauf. Mittlerweile bin ich schon so sehr daran gewöhnt, dass ich wach werde, wenn ich die kleinste Bewegung neben mir höre oder fühle. Du hast mich schon ewig nicht mehr erwischt.“ „Das wird daran liegen, dass wir seit Ewigkeiten nicht mehr in ein Bett hineinpassen.“ „Wir würden passen. Theoretisch zumindest. Auf jeden Fall kann es gut sein, dass du mich in dieser engen Hütte im Schlaf erwischst, wenn du den Arm ausstreckst. Die Betten stehen ja beinahe nebeneinander.“ Vom Bett über mir sagte plötzlich eine weibliche Stimme: „Oh ich hab' nichts dagegen, wenn ihr die Betten zusammenschiebt. Dann könnt ihr monströsen Turteltauben bequem kuscheln und habt quasi ein Doppelbett und ich kann zu Christa ins Bett. Solltet ihr dann irgendetwas machen, bei dem das ganze Bett sonst gewackelt hätte, dann müsst ihr das nur auf dieser Seite tun, denn mich werdet ihr damit nicht wecken. Schließlich liege ich dann nicht mehr hier. Aber tut mir einen Gefallen und seid leise dabei.“ Auf dem oberen Bett entgegnete die kleine Christa irgendetwas, was anschließend wieder von dem verrückten Mädchen über mir beantwortet wurde. So ging es eine Weile weiter, bis es an der Tür klopfte und ein Mitschüler mit Sommersprossen und einer auffällig freundlichen Stimme uns zum Essen holte. Kapitel 2: 1b ------------- Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir gleich in unserer ersten Woche mit der neu zusammengestellten Schulklasse eine Klassenfahrt machen würden, doch fand ich diese Idee wirklich interessant und irgendwie aufregend. Bei der Zusammenstellung der Klasse wurde offenbar darauf geachtet, dass mindestens zwei Leute sich aus einem vorherigen Jahrgang kannten und mochten, weil sofort jeder jemanden hatte, neben dem er im Bus sitzen und sich unterhalten konnte. Mein sehr guter Freund und heimlicher Schwarm war seit der vierten Klasse mein Nachbar. Wir sind immer zusammen zur Schule gegangen, waren immer in derselben Schulklasse und dieses Jahr hatte ich wieder das Glück, mich an seiner Anwesenheit zu erfreuen. Die Busfahrt kam mir nicht lang vor, als schon eine Pause eingelegt wurde und wir bei strahlendem Sonnenschein ein kleines Picknick veranstalteten. Ich hätte liebend gern alle neuen Klassenkameraden kennengelernt, aber dafür war nicht genug Zeit. Im Bus hatte ich mich die ganze Zeit mit meinem Sitznachbarn Jean unterhalten und versuchte besonders interessant und liebenswert zu sein. Bisher hatte er nicht gerade Zeichen in die Richtung gezeigt, dass er auch auf Jungs stand. Ich hoffte, dass die Pubertät mir da ein wenig half. Deswegen war ich auch in der Pause so nett und lustig wie es mir möglich war. Allerdings nur zu Jean und den Leuten, die in meiner unmittelbaren Umgebung standen. Jean schien viel Interesse an einem mir fremden, aber wirklich hübschen und ruhigen Mädchen zu haben, das etwas abseits bei zwei Jungen saß, die ich ebenfalls nicht kannte. Wir kamen abends in dem Camp an, in dem wir eine Woche bleiben sollten. Wie die Sonne zwischen den Bäumen unterging, war atemberaubend. Ich wies Jean auf diese Entdeckung hin, der winkte bloß ab und wollte dem hübschen Mädchen dabei helfen, ihre Tasche aus dem Bus zu hieven. Gerade in dem Moment zog sie selbst mit einer Kraft, die ich ihr nicht zugetraut hatte, an der Tasche, die sich irgendwo verhakt hatte, und traf Jean direkt im Gesicht. Sie entschuldigte sich höflich, schien es aber nicht wirklich ernst zu meinen und ging dann zu ihren Freunden, von denen einer keine Luft mehr vor Lachen bekam. Ich lief sofort zu Jean und hielt ihm ein Taschentuch hin, in der Erwartung, dass die Wucht des Aufpralls bestimmt seine Nase zum bluten oder zumindest seine Lippe erwischt hatte. Doch es schien ihm gut zu gehen. Ich freute mich, dass ihm nichts Ernsthaftes widerfahren war, war jedoch gleichzeitig enttäuscht, dass ich nicht mit Zuvorkommenheit glänzen konnte. Faszinierend fand ich auch die Verteilung der Schüler auf die verschiedenen Hütten. So wurde dem Zufall und Glück überlassen, wen man eine Woche gern haben oder ertragen musste. Jean zog vor mir ein Los, auf dem eine 1 geschrieben stand. Mein Los zeigte (glücklicherweise) auch eine 1. Mein Glück hatte mich wieder nicht im Stich gelassen. Einige der Schüler tauschten miteinander, was das Losziehen zwar unnötig machte, aber immerhin tauschte Jean nicht. Die Hütte war wirklich niedlich. Klein und bequem. Ein Lehrer kam herein, warf einen Blick in das Zimmer und schlug vor, die Betten alle zusammenzuschieben, sodass man abends leise Spiele spielen konnte, wie „Wahrheit oder Pflicht“ oder – wie er es nannte – „andere dumme Spielchen“. Er verteilte, wer wo schlafen sollte und bat uns, die anderen Schüler um Punkt 20:00 Uhr zum Abendessen zu rufen, da wir die Nr. 1 waren und somit eine gewisse Verantwortung tragen sollten. Die Idee, die Betten zusammenzuschieben wurde einstimmig angenommen. Jean und ich hatten jeweils das obere Bett und als wir diese nebeneinander gestellt hatten, sah es aus wie ein großes Doppelbett. Ich war verwundert, dass Jean sich auf diese Aktion einließ, denn er war eigentlich ein Mensch, der nicht sofort zu nah an andere heran wollte. Offenbar half es aber seiner Entscheidung sehr, dass das hübsche Mädchen mit dem schwarzen Haar auf dem dritten Bett oben schlafen sollte, was ihr offensichtlich nicht gefiel, denn sie versuchte, ein anderes Mädchen zu überzeugen, mit ihr zu tauschen, damit sie bei ihren Freunden unten schlafen konnte. Aber die Blondine zeigte kein Interesse und bezog stumm ihr Bett. Als Jean deprimiert fürs erste aufgab, sich dem Mädchen, das Mikasa hieß, zu nähern, unterhielt er sich wieder mit mir. Erneut versuchte ich besonders liebenswert und interessant zu erscheinen. Die Hoffnung stirbt zuletzt! Um Punk 20:00 Uhr verließen wir alle unsere Hütte und klopften bei den anderen an und sagten ihnen, es wäre Zeit zum Essen. Kapitel 3: 1c ------------- Lehrer zu sein und mit einer komplett neu zusammengestellten Schulklasse eine Klassenfahrt zu machen, war die Idee meiner besseren Hälfte. Und ich musste mit, weil: „Wie könnte ich ohne dich auch nur irgendwo hinfahren? *chu*“ Seine Pläne und wahnsinnigen Ideen waren immer seltsam und unsinnig. Am Ende war es jedoch immer der scheinbar einzig richtige Weg. Wenn es nach mir gegangen wäre, wären wir auch mit der Bahn gefahren und den restlichen Weg mit einem Bus. Stattdessen fuhren wir stundenlang in einem stinkenden Bus mit lauten Gören, bei denen es zum Glück ausreichte, wenn man sie ermahnte, sie sollten dies und jenes lassen. Die Pause war zu lang und der Wind ließ schnell vergessen, dass die Sonne uns eigentlich wärmen sollte. Ich sehnte mich danach, an unser Ziel zu gelangen. Und vor den Gören konnte ich nicht einmal ansatzweise richtig mit meiner besseren Hälfte reden. Denn diese lief umher und versuchte zu motivieren, zu begeistern und zu trösten. Ich sah meine Aufgabe eher darin, dafür zu sorgen, dass niemand einen unerlaubten Abflug machte. Was nicht passierte, sodass ich mir das Gähnen nur schwer verkneifen konnte. Nichts ist schlimmer als ein offensichtlich müder oder gelangweilter Lehrer. Unsere Fahrt endete endlich; meine Arbeit aber nicht. Es wurden Lose gezogen, die getauscht wurden, weil die Bälger sich nicht dem Zufall unterwerfen wollten. In den einzelnen Hütten die Betten zu verteilen, war meiner Meinung nach überflüssig, sodass ich diese Aufgabe nicht ernst nahm, sie aber erledigte und mich dann in das Zimmer verkroch, das – laut Information des Eigentümers – meines sein sollte. Dieses Zimmer hielt eine Überraschung für mich bereit: ein Einzelbett. Theoretisch sollten Lehrer nicht die Nacht in demselben Zimmer verbinden, besonders wenn die Schulklasse voller pubertärer Kinder ist, die nachts nichts besseres zu tun haben, als dumme Spielchen zu spielen, bei denen jeder jeden küssen oder umarmen muss. Solche Spiele waren mir glücklicherweise immer erspart geblieben. Solche Spielchen mussten aber überwacht werden. Ich würde mitten in der Nacht aufstehen und in jede Hütte schauen und überprüfen müssen, ob die Brut schläft oder unerlaubt wach ist. Ich konnte mir schöneres vorstellen. Ganz abgesehen von den nicht erlaubten Ausflügen bei Nacht. Personen zu erwischen, die im Dunkeln umher schleichen, weil sie es lustig oder spannend finden, erfordert mehr Anstrengung, als ich aufzubringen bereit war. Erst einmal sah ich davon ab, mein Bett zu beziehen. Schließlich sollte meine bessere Hälfte mir sagen, was es mit diesem Einzelbett auf sich hatte und ob ich dort wirklich schlafen musste. Ich stellte mich vor mein Zimmer, das nur durch einen langen Flur von der Küche und dem Speisesaals getrennt war. Vermutlich um heimliche Fressattacken überwachen zu können. Ich wartete nicht lange, da konnte ich schon sehen, wie Erwin den Flur entlang ging. Als er mich sah, winkte er mir lächelnd zu. Meine Antwort darauf: „Soll ich wirklich hier schlafen?“ „Stimmt etwas nicht mit dem Zimmer?“ „Sieh selbst.“ Bei mir angekommen, streckte er den Kopf ins Zimmer, sah sich um und wandte sich dann an mich: „Es ist doch sauber.“ „Ich sagte nicht, es sei dreckig. Sieh genau hin. Mir ist sofort aufgefallen, dass dort etwas nicht stimmt.“ Er sah noch einmal nach und ich konnte sein Gehirn schon fast denken hören. „Ich komm nicht drauf. Erzähle es mir.“ Ich zeigte auf das Bett. „Das ist mein Problem.“ „Milben?“ „NEIN! Igitt. Jetzt ist es mehr als unmöglich, hier zu schlafen.“ „Hier gibt es kein Ungeziefer. Ich habe extra verlangt, dass die Matratze komplett neu sein muss und habe sie sogar aus eigener Tasche bezahlt. Dasselbe gilt für Decke und Kissen.“ Er schien mein Problem nicht zu verstehen, was mich beleidigte. Wenn er keinen Wert darauf legte, sich ein Zimmer mit mir zu teilen, dann sollte es eben so sein. Stumm ging ich in das Zimmer und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Leider hatte sie kein Schloss, sodass er sie einfach wieder öffnete. „Sag mir, was nicht stimmt.“ „Wo schläfst du?“ „Nebenan. Ebenfalls mit neuer Matratze, neuem Kopfkissen und neuer Decke. Ich hätte niemals gedacht, dass dieser Sauberkeitsfimmel abfärben würde. Wieso?“ „Hast du auch ein Einzelbett?“ „Für Lehrer gibt es nur Einzelbetten. Es darf keine Romantik unter Aufsichtspersonen geben.“ „Geh deinen Kram auspacken und die Teufelsbrut beim Essen beaufsichtigen und ihnen alles erklären. Bis ich hier alles so sauber habe, dass ich es hier aushalte, dauert es eine Weile.“ Er schien ein wenig beleidigt zu sein, als er ging. Im Normalfall hätte ich wohl ein schlechtes Gewissen bekommen. In diesem Moment schien es mir nicht notwendig, immerhin hatte er es verbockt, uns ein Doppelbett zu organisieren. Das Zimmer war sauberer als ich dachte, sodass ich beim Abendessen doch dabei sein konnte. Vorzugsweise hätte ich mich an denselben Tisch wie Erwin gesetzt. Jedoch saß er bereits und dort war kein Platz mehr frei. Ich setzte mich an einen anderen Tisch und konnte die Schüler verstummen hören, als ich mich näherte. Obwohl sie sich vermutlich nicht kannten und sehr verschieden waren, waren sie sich wohl einig, dass sie mit mir am Tisch das große Los gezogen hatten. Das Essen verlief ruhig. Das Gekochte selbst war ungenießbar. Die Vorbildfunktion hat sich in diesem Punkt als Fluch herausgestellt. Etwas Ekelhaftes mit einer Miene zu essen, als würde es ganz normal schmecken, war schwieriger als gedacht. Trotzdem meisterte ich diese Herausforderung, schickte drei Leute in die Küche zum Abwasch und den Rest ins Bett. Die Unglückspilze mit Abwaschdienst beschwerten sich nicht, ihr Gesicht sprach jedoch Bände. Als sie fertig waren, wurden sie von Erwin mit einem freundlichen Lächeln ins Bett geschickt. Dann waren wir allein in dem Speisesaal. Kapitel 4: 2a ------------- Beim wirklich scheußlichen Essen, setzte sich zu allem Überfluss auch noch der böse drein blickende Lehrer an unseren Tisch, sodass jede Unterhaltung ausblieb und wir stumm den Fraß in uns hinein schaufelten. Und als ob ich nicht genug Pech für diesen Tag hatte, wurde ich zum Abwaschen verdonnert, stieß mir in der Küche an einem Regal den Kopf und warf dabei Töpfe um, von denen mir mindestens zwei auf die Füße fielen. Jetzt musste ich also nicht nur abwaschen, sondern auch noch aufräumen. Die Zeit dort verbrachte ich mit völlig Fremden und keinerlei Gesprächen. Unglaublich erleichtert war ich, als der nette Lehrer uns anlächelte und uns eine gute Nacht wünschte. In meiner Hütte hatte Reiner tatsächlich die Betten nebeneinander gestellt. Als er mich sah, zeigte er stolz darauf und erzählte: „Wir sind ja nur zu fünft in dieser Hütte, also kannst du quer auf zwei unteren Betten schlafen, weil sich unser netter Hüttenkamerad Connie darauf eingelassen hat, bei den Mädels oben zu schlafen. Auf Befehl von Ymir wird Christa übrigens ganz außen, also über mir, schlafen. Angeblich, damit Connie nicht auf Ideen kommt. Jetzt hast du genug Platz zum Schlafen oder?“ Mal wieder war es erstaunlich, wie schnell Reiner sich mit den Leuten arrangiert hatte, mit denen er zwangsläufig zu tun haben würde. Und mal wieder fühlte ich mich ein bisschen schlecht und allein gelassen, weil er sich schlagartig mit allen verstand. Connie schien ganz besonders begeistert von ihm zu sein, denn er redete und fragte ununterbrochen. Das ging eine ganze Weile so, wobei sie auf den unteren Betten saßen. Ich kauerte mich auch unten hin und fragte mich, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte. In das Gespräch konnte ich mich nicht einmischen. So aufregend waren die Dinge schließlich nicht, die ich erzählen könnte. Auch die Mädchen unterhielten sich miteinander. Ich glaubte nicht, dass Reiner mich wahrnahm. Das nahm ich ihm aber auch nicht übel. Er würde niemals Spaß mit anderen haben, wenn er mich immer integrieren würde. Manchmal war mir nämlich aufgefallen, dass er erstaunlich häufig das Wort an mich richtete und meine Zustimmung und Meinung verlangte. Mir war das nicht gerade angenehm, enttäuschen wollte ich seine Bemühungen aber auch nicht. So versuchte ich immer den Diskussionen und Unterhaltungen aus dem Weg zu gehen, indem ich mich so unsichtbar machte, wie ich es bei meiner Größe eben konnte. Nach wenigen Minuten vernahm ich Reiners Stimme: „Aber das erzählt dir Bertholdt am besten, weil ich den Moment damit verbracht habe, mich totzulachen und er alles ganz genau gesehen hat. Wenn er es dir erzählt, wirst du eine genaue Vorstellung davon haben, wie die Situation damals war. Hey, Berti! Erzähl Connie mal, wie das damals in der Grundschule war. Meine Erinnerung ist getrübt durch die Tränen, die ich damals gelacht habe.“ Connie und Reiner sahen mich erwartungsvoll an. Sollte ich das wirklich erzählen oder sollte ich mir eine lahme Ausrede einfallen lassen und kurz die Hütte verlassen? Die Entscheidung fiel mir schwer und ich brauchte eindeutig zu lange. Connies Blick wurde immer fragender, bis er schließlich Reiner ansah und dann wieder mich. Da meldete sich Reiner wieder zu Wort: „Hey wo ist eigentlich deine Armbanduhr? Hast du sie im Speisesaal beim Abwasch abgenommen und dort liegen lassen? Hol sie lieber, solange der Saal noch offen ist und es nicht zu spät ist. Die Geschichte kannst du danach ja immer noch erzählen.“ Als ich zustimmte, mich für den Hinweis bedankte und die Hütte verließ, fühlte ich mich elend. Nicht einmal zu einer einfachen Entscheidung war ich in der Lage. Eine Armbanduhr besaß ich zwar, nur hatte ich sie auf halber Fahrt abgenommen und sie in meine Hosentasche gesteckt, weil sie stehengeblieben war. Da ich mich darüber beklagte hatte, wusste Reiner das auch. Ich ging langsam Richtung Speisesaal. Wo sollte ich auch sonst hingehen. Wenn jetzt jemand aus dem Fenster schauen würde, der mit mir in derselben Hütte schlief und ich würde irgendwo anders hingehen, dann würde Reiners und meine Lüge auffliegen. Der Weg war nicht lang, denn unsere Hütte war dem Speisesaal am nächsten und ich befürchtete, dass man mich von dort aus noch sehen würde, wenn ich vor dem Gebäude stehen bleiben würde und mich eine Weile hinsetzte. Mir blieb demnach nichts anderes übrig, als hineinzugehen. Als erstes durchquerte ich die Eingangstür und befand mich in einem Flur, der auf der linken Seite um eine Ecke bog. Direkt vor mir befand sich die Tür zum Speisesaal. Da ich dort aber nichts zu tun hatte und ich mir sicher war, dass mich ein Lehrer dort sofort sehen würde, beschloss ich, herauszufinden, welche Räume sonst noch an diesen Flur grenzten. Eine ganze Weile waren dort nur Fenster nach draußen und die nackte Wand, des Speisesaals. Am Ende dieses Flurs sah ich vier Türen. Zwei auf der einen, zwei auf der anderen Seite. Ich überlegte eine Weile, ob ich einfach hineingehen sollte, als mir glühendheiß einfiel, dass die Lehrer auch irgendwo schliefen. Auszuschließen war vor allem, dass sie in einer Hütte schliefen. Viel wahrscheinlicher war es, dass zwei dieser Zimmer von den Lehrern bewohnt wurden. So schnell und leise wie möglich ging ich zurück zur Ecke, sah einmal kurz zurück und hätte schwören können, dass dort eine Tür geöffnet und dann wieder geschlossen wurde. Hoffentlich hatte mich keiner gesehen! Schnell öffnete ich die Eingangstür, lief dabei in jemanden hinein und fiel auf den harten Boden. „Bitte lass es kein Lehrer sein!“, dachte ich und versuchte zu erkennen, wen ich umgerannt hatte. Kapitel 5: 2b ------------- Das Abendessen war ungenießbar. Jeder dachte so. Auch der Lehrer, der sich an unseren Tisch gesetzt hatte und sein bestes tat, so zu tun, als wäre das Essen essbar. Besonders gut gelang ihm das aber nicht. Er redete mit uns und so konnte ich ziemlich schnell feststellen, dass er ein wirklich netter Lehrer war. Es wurden ein paar „Freiwillige“ zum Abwasch ausgewählt, zu denen weder Jean noch ich zum Glück gehörten. So konnten wir einfach zurück in unsere Hütte gehen und dort die Zeit vertreiben, bis wir schlafen gingen, was höchstwahrscheinlich nicht lange dauern würde, da die Busreise uns eine Menge Energie gekostet hatte. Wir wollten es uns gerade auf unseren Betten bequem machen und ich hatte mich bereits auf meines begeben, als ich bemerkte, dass Jeans Aufmerksamkeit mal wieder nicht auf mich, sondern auf Mikasa gerichtet war, die einen ihrer Freunde nach etwas fragte. Offenbar konnte dieser ihr nicht helfen, also mischte sich Jean ein und bot ihr seine Hilfe an. Wie er mit ihr redete und was er erzählte, kam mir sehr bekannt vor, denn genauso sprach ich wohl auch, wenn ich versuchte, Jean für mich zu gewinnen. Er umwarb sie. Meine Chancen wurden verschwindend gering und meine Laune sank in den Keller. Ich rollte mich unter meiner Decke zusammen und versuchte, schnell einzuschlafen. Es gelang mir nicht. Meine Enttäuschung war zu groß. Nach einer Weile hörte ich, wie Jean auf sein Bett kletterte. Dann tickte er mich an: „Hey Marco! Bist du wach?“ „Jetzt schon.“, log ich, was gar nicht meine Art war. „Weißt du, wo die Duschen hier sind? In der Hütte sind ja keine. Aber Mikasa will gerne wissen, wo die sich befinden und ich würde ihr da wirklich gerne eine Auskunft geben. Dann kann ich vielleicht bei ihr punkten!“ Den letzten Satz flüsterte er mir aufgeregt und freudig zu. Mir wurde das Herz schwer und mein Magen verkrampfte sich. „Keine Ahnung.“, presste ich hervor und zog die Decke über meine Ohren. „Ehrlich? Du bist doch immer so aufmerksam. Hast du nichts gesehen, was nach Duschraum aussah? Ein Klo und Waschbecken gibt es ja hier, aber Duschen? Komm schon, Kumpel! Du musst mir doch helfen zu punkten.“ Das war zu viel des Guten. Ich schlug die Decke zurück, fauchte Jean entgegen, er solle gefälligst die Augen auch mal auf andere Dinge richten, als auf unbekannte Mädchen und die verdammten Duschen selbst suchen. Dabei sprang ich vom Bett und verließ die Hütte mit der Hoffnung, dass die kalte Nachtluft mich beruhigen und mir einen klaren Kopf verleihen würde. Ich ging einfach irgendwo hin. Das Camp stand auf einer Waldlichtung, auf der ich auch einen kleinen See erkennen konnte. Einen wirklich kleinen See, denn innerhalb von zehn Minuten, war ich zweimal drumherum gelaufen. Schnaufend blieb ich stehen und warf Steinchen in den See, weil das Gehen mich nicht beruhigte. Doch auch Steinchen werfen war nicht wirksam, also bewegte ich mich wieder. Dieses Mal in Richtung Speisesaal. Um dorthin zu gelangen, musste ich erst an unserer Hütte vorbei. Dort wurde die Tür gerade in dem Moment geöffnet, als ich in der Nähe war. Schnell machte ich einen Satz zur Seite und drückte mich an die äußere Wand. Um nicht zufällig gesehen zu werden, sah ich davon ab, herauszufinden, wer die Tür öffnete und wieso. Ich hörte, wie sie wieder geschlossen wurde und wagte es dann, vorsichtig nachzusehen, ob jemand draußen stand oder nicht. Niemand zu sehen. Vorsichtig schlich ich an dieser Hütte vorbei und wurde bei den anderen schneller. Dort sollten mich die Bewohner einfach nicht sehen und eventuell verpfeifen. Ob nächtliche Spaziergänge erlaubt waren, wurde uns bisher nicht mitgeteilt. Eine Erlaubnis dazu war aber alles andere als logisch. Demnach versuchte ich so unauffällig wie möglich zum Speisesaal zu gelangen, der völlig dunkel und leer sein dürfte. Dort könnte ich still und in Ruhe darüber nachdenken, was ich am besten tun sollte und wie ich meinen Wutausbruch erklären konnte, falls ich es musste. Aber Jean würde es wohl nicht wissen wollen. Jetzt hatte er schließlich einen Schwarm und nur Augen für sie. Ich dürfte für ihn wohl nichts anderes, als ein Kumpel sein. Dieses Wort hatte er schließlich gebraucht und damit völlig klar gemacht, dass ich niemals etwas anderes sein könnte. Ich seufzte und konzentrierte mich auf alle negativen Gedanken – denn positive gab es einfach nicht –, als ich die Eingangstür zum Speisesaal erreichte, sie gerade öffnen wollte, diese aber urplötzlich aufgerissen wurde und jemand in mich hinein rannte. Ich taumelte, konnte mein Gleichgewicht aber nicht halten und stürzte, Kapitel 6: 2c ------------- Da wir die Gören ins Bett geschickt hatten, würde mein Arbeitstag jetzt hoffentlich aufhören. Wir schlossen die Küche ab, damit keine Teenager mit Fresssucht oder Bulimie unseren Ausflug versauten, knipsten das Licht im Speisesaal aus und gingen den elendig langen Flur entlang auf unsere Zimmer zu. Auf unsere getrennten Zimmer. Auf unsere getrennten Betten. Erwin schwärmte von der braven Schulklasse und wie hübsch die alle waren. Ich schwieg und versuchte mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal allein in einem Bett geschlafen hatte. Meine Zimmertür war die erste, sodass ich dort stehen blieb. Meine bessere Hälfte blieb ebenfalls stehen. „Ist es jetzt so wie bei einem Date, dass du mich nach Hause bringst, mir vor der Tür einen Kuss auf die Wange gibst und dich dann nach Hause verkriechst?“, fragte ich und sah ihn herausfordernd an. „Nein, ich komm noch mit herein. Es ist nicht einmal 21:00 Uhr. Aber ich kann nur kurz bleiben, weil ich meinen Plan für morgen noch einmal durchgehen und überprüfen muss.“ In dem Zimmer standen bloß ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch und ein Stuhl. Viel zu tun hatte ich auch nicht, da Erwin sich um die Bespaßung der Gören kümmern wollte. Wenn er nicht alle Fäden in der Hand hielt, geriet er in einen Zustand der Unzufriedenheit, den ich einfach vermeiden wollte, weil er mir unangenehm war. Meine Jacke zog ich aus und legte sie auf die Stuhllehne. Endlich konnte ich entspannen! „Dein Besuch bei mir ist überflüssig. Ich bleib nicht lange hier.“, sagte ich, als mir etwas siedendheiß einfiel. „Wieso nicht?“ „Ich habe Stunden in einem Bus verbracht. Ich rieche nach Bus. Ich stinke. Das ist eklig. Ich muss duschen.“ „Wenn du meinst. Ich warne dich schon mal vor: Die Dusche ist bloß ein Abfluss im Boden des Badezimmers und ein Duschkopf, der darüber angebracht ist. Außerdem gibt es dort einen Duschvorhang. Duschvorhänge sind gruselig. Wenn man nicht aufpasst, kleben sie plötzlich an einem. Bei fremden Vorhängen ist das noch unheimlicher. An deiner Stelle, würde ich den nicht anfassen. Aber das musst du sowieso nicht. Wir sparen Wasser und hätten bei geschlossenem Vorhang sowieso keinen Platz, wenn wir beide gleich gleichzeitig hineingehen. Ich hole meine Sachen; wir sehen uns dort.“ Meine Zustimmung zu der geplanten Aktion war wohl nicht notwendig, auch wenn ich sie gern erteilt hätte. Fürs Duschen hatte ich extra seltsame Latschen gekauft, um den Fußpilz und andere Krankheiten zu vermeiden. Nach dem Duschen wollte ich sie dort stehen lassen, hatte aber weder Socken noch andere Schuhe mit hineingenommen. Barfuß wollte ich auf keinen Fall losrennen. So bat ich Erwin, mich in mein Zimmer zu tragen, was er sofort ohne zu Nörgeln tat. Auf dem kurzen Weg begaffte ich, wie wahnsinnig hübsch er war, wenn er mal nicht gestriegelt aussah. Ich kam gar nicht mehr aus dem Schwärmen heraus und vergaß fast, dass er mir ein Einzelzimmer besorgt hatte, bis er mühsam die Zimmertür öffnete und dann ebenso mühsam wieder schloss und mich anschließend auf meinem Bett absetzte. „Ich gehe dann mal meiner Arbeit nach und anschließend ins Bett. Gute Nacht, mein Herz.“, sagte er und gab mir etwa zehn kurze Küsschen auf den Mund. Dann war ich allein. Ich legte mich hin und versuchte ewig, einzuschlafen. Es gelang nicht. Es war kalt und unangenehm. Ich fischte mein Paar Hausschuhe aus meinem Koffer, öffnete die Tür und sah in den dunklen Flur. Dort lief gerade jemand offenbar auf Zehenspitzen um die Ecke, doch ich wollte mich damit nicht auseinandersetzen, da es höchstwahrscheinlich nur ein Schüler war, also schloss ich meine Tür schnell wieder und wartete eine Minute ruhig. Ich hörte eine Tür mit gewaltigem Knall zufallen und dachte, jetzt wäre der Schüler endlich verschwunden. Dann öffnete ich meine Tür wieder, sah niemanden und ging dann ohne anzuklopfen in Erwins Zimmer. Er sah mich erst erstaunt an und lächelte dann. „Ich will nicht alleine schlafen.“, knurrte ich und blieb in der Tür stehen. Er packte seine Unterlagen weg und bot mir an, in seinem Bett zu schlafen. Es war zwar eng, aber viel wärmer und bequemer, als allein zu sein. Kapitel 7: 3a ------------- Bei meinem Versuch, die Person zu erkennen, die mir gegenüber auf dem Boden saß und die ich versehentlich gerammt hatte, schlug die Eingangstür des Gebäudes mit einem Knall zu und traf mich dabei am Hinterkopf. Ich rieb die schmerzende Stelle und mir schossen die Tränen in die Augen, was es nicht gerade leichter machte, zu erkennen, wen ich umgerannt hatte. Der blonde Lehrer war es offenbar nicht, denn ich konnte dunkles Haar erkennen und der unsympathische Lehrer war es wohl auch nicht, weil ich eine Stimme vernehmen konnte, die eindeutig zu nett klang. Es war kein Lehrer! Gott sei Dank! „Hab ich dir wehgetan? Ich wollte das nicht. Tut mir leid.“, sagte ich und half dem Jungen wieder auf die Beine. Mein Kopf pochte, meine Tränen waren jedoch verschwunden, sodass ich klar in ein Gesicht mit Sommersprossen schauen konnte. Da der Himmel wolkenlos war, spendete der Mond genug Licht, um sein Gesicht genau zu erkennen und ich merkte, dass das der Junge war, der uns zum Essen abgeholt hatte. Jedoch strahlte sein Gesicht etwas Anderes aus, als vorher. Beim ersten Blick erschien er mir wie ein Sonnenscheinchen, das man nicht verärgern konnte oder wollte. Jetzt schien er mir gekränkt oder verletzt und ich befürchtete, dass er so schaute, weil ich ihn zu Fall gebracht hatte. Ich entschuldigte mich mehrmals leise, auch wenn das Zufallen der Tür vermutlich von allen gehört worden war. „Du brauchst dich nicht so häufig zu entschuldigen.“, sagte er und schenkte mir ein aufbauendes Lächeln, hinter dem ich aber Trauer oder ähnliches erkennen konnte. Ich würde ihn nicht darauf ansprechen, schließlich kannte ich ihn nicht und was auch immer ihn beschäftigte, ging mich nichts an. „Ist der Speisesaal verschlossen?“, fragte er dann. Ich schüttelte den Kopf, riet ihm aber, nicht hineinzugehen, da ich meinte, eine Tür wäre dort geöffnet worden. „Aha. Dann schlafen die Lehrer wohl dort, um heimliche Naschereien zu überwachen. Du siehst nicht gerade glücklich aus. Geht es dir nicht gut? Soll ich einen Lehrer wecken und dafür sorgen, dass du einen Tee bekommst? Oder heiße Milch? Tut dir etwas weh?“ Ich schüttelte unaufhörlich mit dem Kopf und flüsterte dann leise: „Ich habe nicht die körperliche Art von Schmerzen.“ Er sah so unglaublich vertrauenerweckend aus, dass diese Worte einfach so herausgeplatzt waren. Ich bereute sie sofort und wurde nervös. Was wäre, wenn er mich jetzt auslachen würde? Was wäre, wenn er jetzt so täte, als würde er mich mögen und dann mit seinen Freunden über mich lachen?! „Komm. Wir setzten uns irgendwo hin und du sagst mir, was passiert ist. Vielleicht kann ich dir ja helfen.“, sagte er und schenkte mir ein Lächeln. Wir setzten uns auf der Seite des Speisesaals ins Gras, wo nicht der Flur verlief. Diesen Platz konnte man von den Hütten aus nicht sehen. Ich erzählte ihm, wie unzufrieden ich mit meiner eigenen Person war, und dass ich so gerne keine Belastung mehr für Reiner wäre. Als ich alles erzählt hatte, fühlte ich mich nicht besser, sondern noch schlechter, weil mir durch das Aussprechen klar wurde, was für eine Belastung ich eigentlich für Reiner war. Ich zog meine Knie näher heran und umschlang sie noch enger mit meinen Armen. Der Junge hatte die ganze Zeit schweigend zugehört und sah sehr mitgenommen aus. Er hob den Arm und wuschelte mir dann lächelnd durchs Haar. „Mach dir keine Sorgen. Für mich klingt es so, als wäre Reiner sehr, sehr glücklich, dass du bei ihm bist. Wahrscheinlich hat er einen Beschützerinstinkt oder so etwas aufgebaut. Du siehst zwar kräftig aus wegen der Größe, aber er weiß vermutlich am besten, wie verletzlich du bist und wie viele Gedanken dir im Kopf umher schwirren. Ich denke, er will dich überall integrieren, damit du merkst, dass die Menschen, mit denen Reiner sich versteht, auch dich gern haben und du keine Angst zu haben brauchst, dass sie dich langweilig oder seltsam finden. Wenn ich dir also einen Ratschlag erteilen darf, dann geh einfach zurück, als wäre nichts Besonderes gewesen und bleib wie du bist. Ich weiß, dass wir beide uns nicht wirklich kennen und ich Reiner überhaupt nicht kenne, aber mir scheint wirklich, dass ihr toll miteinander auskommt und er ist garantiert überhaupt nicht von dir genervt.“ Ich sah ihn die ganze Zeit mit offenem Mund an und mir schossen die Tränen in die Augen. Er war so unendlich lieb zu mir. Ich bedankte mich bei ihm für die freundlichen Worte und er sagte: „Keine Ursache... Ah! Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt! Wo sind bloß meine Manieren geblieben? Ich bin Marco.“ Ich wollte mich auch vorstellen, jedoch hörte ich Schritte, die offenbar auf uns zu kamen und auch Marco schien sie zu hören, denn seine Augen wurden ganz groß und er legte den Zeigefinger auf die Lippen. Die Schritte kamen immer näher und näher. Marco und ich schauten gespannt in dieselbe Richtung und warteten ab, ob wir jetzt Ärger kriegen würden. Doch das Gesicht, das im nächsten Moment auftauchte, war nicht das eines Lehrers. „Da bist du ja!“, sagte Reiner, stemmte die Hände in die Hüften und sah mich besorgt an. Dann richtete er sein Wort an Marco: „Hi, ich bin Reiner.“ „Marco. Freut mich sehr.“ Reiner setzte sich mir gegenüber ins Gras. „Hat ganz schön lange gedauert, deine Uhr zu holen.“ „Tut mir Leid, dass du wegen mir lügen musstest.“ „War ja nur 'ne Notlüge. Mach dir deswegen keinen Kopf. Hast du geweint?“ „Was?! Nein!“ „Aber da sind doch Tränen oder nicht?“ „Nein.“ „Du darfst mich nicht belügen. Was ist passiert? Ich denke nicht, dass Marco dich geärgert hat oder? Ich fürchte, ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich diesem freundlichen Gesicht etwas Böses sagen müsste.“ „Nein, ganz im Gegenteil.“ Reiner seufzte und sah dann Marco an: „Es wäre nett, wenn du uns entschuldigen würdest, aber ich würde Bertholdt gerne wieder mitnehmen. Und du solltest auch nicht auf dem kalten Boden sitzen. Was habt ihr euch gedacht, euch hier hinzusetzen? Ihr holt euch noch den Tod. War nett, dich kennengelernt zu haben, Marco. Bis morgen.“ Dann griff er mir unter einen Arm, hievte mich mit einem Ruck auf die Beine und zog mich hinter sich her. Ich winkte Marco zu, der beide Daumen in die Höhe streckte. Der Weg zu unserer Hütte war nicht weit, aber auf dem gesamten Weg, schimpfte Reiner mit mir. Er sagte, ich hätte nicht so lange wegbleiben dürfen, und dass seine Sorgen um mich ihn beinahe in den Wahnsinn getrieben hatten. Die einzige Antwort die ich darauf hatte, war: „Er hat mir durchs Haar gewuschelt.“ Reiner sah mich überrascht an und lachte. Kapitel 8: 3b + 3c ------------------ Ein Riese war aus dem Speisesaal gestürmt und saß jetzt ebenfalls auf dem Boden. Die Tür hatte ihn offenbar am Kopf erwischt, als sie mit einem gewaltigen Knall zufiel. Ich fragte, ob etwas passiert sei, doch schien er mich nicht verstanden zu haben. Ich ging davon aus, dass er mit den Kopfschmerzen und Tränen kämpfen musste, die ich eindeutig in seinen Augen erkennen konnte. Der Mond strahlte hell, sodass ich seine Augen gut sehen konnte und das Glitzern der Tränen darin erkannte. Er entschuldigte sich sehr häufig und so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Ich wollte ihn in den Speisesaal bringen, weil uns dort wohl niemand hören würde. Weil er gerade aus dem Gebäude kam, fragte ich ihn, ob der Speisesaal verschlossen war. Er riet davon ab, dort hineinzugehen, da dort die Schlafräume der Lehrer waren. Darauf hätte ich selbst kommen können; War ich aber leider nicht. Da er wirklich furchtbar unglücklich aussah, bot ich ihm an, einen Lehrer zu wecken. Er lehnte ab und vertraute mir an, er hätte keine körperlichen Schmerzen, was natürlich bedeutete, dass jemand ihm das Herz gebrochen hatte. Weil ich mich so ziemlich in derselben Situation befand und von meinen Eltern gut erzogen worden war, wollte ich ihn unbedingt unterstützen oder ihm helfen, sofern ich das konnte. Wir setzten uns ins Gras und lehnten uns an die Mauer des Speisesaals. Er erzählte mir von einem Reiner, den er wohl schon sehr lange kannte und mochte. Um die möglichst beste Antwort zu geben, saugte ich alle Informationen auf und hörte ganz genau zu. Nicht nur die Beziehung zu Reiner schien ein Problem zu sein, sondern auch seine eigene Person war ihm zuwider. Das machte mich furchtbar traurig und als er seine Erzählung beendet hatte, suchte ich eine Geste, mit der ich ihn am besten trösten konnte. Lächeln war immer gut und bei seiner Größe hielt ich es für unwahrscheinlich, dass sein Kopf besonders häufig berührt wurde. So entschloss ich mich, ihn zu patten und mein nettestes Lächeln aufzusetzen. Er sah ganz überrascht aus und sein Mund öffnete sich langsam erstaunt, als ich ihm meine Meinung und meine Ratschläge mitteilte. Als ihm dann die Tränen in die Augen schossen, war mir klar, dass ich Recht hatte und er ein sensibler Junge war und deshalb schrecklich litt. Peinlicherweise merkte ich erst, als er sich ganz häufig bedankte, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt hatte und holte dies nach. In dem Moment, in dem er den Mund öffnete, um mir seinen Namen zu verraten, hörten wir beide schwere Schritte. Ich legte den Zeigefinger auf meine Lippen und bedeutete ihm, er solle so leise wie möglich sein. Die Schritte kamen immer näher und dann tauchte ein kantiges Gesicht auf, das auf eine seltsame Weise sympathisch erschien. Er hatte wohl den großen Jungen gesucht, stellte sich mir vor und setzte sich dann zu uns. Die Unterhaltung, die die beiden führten, zeigte mir sofort, dass ich mich nicht geirrt hatte. Sie hatten eine sehr enge Beziehung und ich fand es ungeheuer niedlich, wie Reiner seinen Freund mit Fragen löcherte, die ihn besorgten. Kurze Zeit später kündigte Reiner an, er würde Bertholdt jetzt mitnehmen und riet mir, nicht mehr auf dem kalten Boden zu sitzen, was ich überaus zuvorkommend fand und ihm aufgrund seiner Statur nicht zugetraut hätte. Leider war auch ich nicht vollständig vorurteilsfrei. Als sie gingen winkte Bertholdt mir zu und er sah wesentlich glücklicher aus als vorher, was mich ebenfalls glücklicher machte. Ich saß noch etwa eine Minute alleine im Gras und entschloss mich, einfach schlafen zu gehen. Während ich zurück zur Hütte ging, schaute ich nur auf den Boden und dachte wieder darüber nach, wie ich mein eigenartiges Verhalten erklären sollte. Zu meiner Überraschung saß jemand vor der Tür unserer Hütte auf dem Boden und gegen die Tür gelehnt. Diesen Jemand erkannte ich sofort, da ich ihn schon so lange kannte. Es war Jean, der dort saß und eingeschlafen war. Ich hockte mich neben ihn und stupste ihn leicht an. Sofort zuckte er zusammen und sah sich verwirrt um. „Marco! Da bis' du ja. Hab' mir Sorg'n gemacht. Weißt?“ „Wieso sitzt du hier?“ Er stand auf und streckte sich. Ich stellte mich neben ihn und war schrecklich gerührt, sodass mein Kummer und meine Wut einfach verpufften. „Naja... du bist gegangen und du warst böse. Dann warst du etwa eine Viertelstunde weg und ich hatte Angst, dass du dich Wald verirrt hast, also bin ich rausgegangen und habe grob geschaut, ob ich dich sehen kann, aber du warst nirgends. Ich bin wieder reingegangen und wartete noch ein Paar Minuten. Du bist ja nie lange weg, ohne es mir zu sagen. Also wartete ich noch mal zehn Minuten und bin wieder rausgegangen. Die anderen haben sich schon Schlafen gelegt. Hast du gewusst, dass es hier einen See gibt? Jedenfalls war ich dort und habe Fußabdrücke gesehen! Lach bitte nicht, aber ich hatte wirklich Sorge, jemand hätte dich gekidnappt! Ich bin um die Hütten rumgeschlichen, aber du warst nirgends. Logisch erschien mir dann, dass es hier keinen Kidnapper gibt, und dass du bald zurückkommen würdest. Also setzte ich mich hier hin und bin scheinbar weggepennt. Tut mir echt Leid. Ich verstehe, wieso du weggegangen bist. Ich bin immer so unkonzentriert und verlasse mich immer darauf, dass du alles siehst, was ich nicht sehe. Ich darf es nicht für selbstverständlich nehmen, dass du immer da bist und mich unterstützt. Entschuldige bitte.“ Es rührte mich sehr, dass er sich um mich sorgte und sich entschuldigte. „Ach das macht nichts. Ich bin beim Speisesaal gewesen und habe mich bloß unterhalten. Ich habe die Zeit aus den Augen verloren. Verzeihst du mir?“ „Ich habe nichts zu verzeihen. Du hast wie immer alles richtig gemacht. Eine Weile hatte ich wirklich Panik, jemand hätte dich verschleppt. Man, mir ist erst dann klar geworden, dass ich gar nicht wüsste, was ich mit mir anfangen sollte, wenn du mal weg wärst. Ein paar Tage würde ich wohl klarkommen, aber dann würde ich irgendwann meine Schlüssel zu Hause vergessen, bei mir zu Hause einbrechen und von der Polizei erwischt werden, die mir nicht glaubt und dann sitze ich lebenslänglich, weil du mir nicht sagen konntest, dass ich meinen Vermieter und der einen Schlosser anrufen soll.“ Als ich über diese völlig abwegige Idee, die aber sehr niedlich war, lachte, lachte auch Jean. Möglicherweise lachten wir lauter, als wir es um diese Zeit hätten tun sollen, aber der Gedanke kam mir nicht. Als wir beide zu wenig Luft hatten, um weiter zu lachen, nahm Jean mich kurz in den Arm und sah mich dann ernst an. „Geh nicht mehr weg, wenn ich keine Ahnung habe, wo ich dich suchen soll.“ „Okay.“ „Versprochen?“ „Hoch und heilig.“ 3c *zzz* Kapitel 9: 4a ------------- Die nächsten drei Tage verliefen gar nicht schlecht. Sämtliche Aktivitäten zielten darauf ab, in Teams zusammenzuarbeiten, wobei man sich zwangsläufig besser kennenlernte. Leider schien den Lehrern das Losziehen sehr wichtig zu sein, denn keine Gruppe wurde gewählt, sondern gelost. Viele der Aufgaben hatten mit Sport zu tun und einmal machten wir eine Nachtwanderung, bei der mich Connie so sehr erschreckte, dass mir der Atem stockte und meine Beine urplötzlich keine Kraft mehr hatten und ich auf den Boden sank. Connie lachte sich schief und entschuldigte sich dabei, weil Reiner ihn dazu zwang und ausschimpfte. Er schickte Connie weiter nach vorne und half mir dann auf die Beine. „Alles okay? Der Sack hat keinen Anstand.“, sagte er kopfschüttelnd und dann: „Wir sollten weitergehen, bevor wir den Rest aus den Augen verlieren.“ Meine Beine fühlten sich immer noch wie Pudding an, sodass ich eine Weile von Reiner gestützt werden musste. Um Mitternacht kamen wir zurück zu unserer Waldlichtung und ich war so unendlich froh, dass das Gegrusel jetzt ein Ende hatte. Doch unser eigentlich freundlicher Lehrer sagte an, wir würden jetzt nicht schlafen gehen müssen, denn sein Kollege war hiergeblieben und hatte ein Lagerfeuer entfacht, wo wir jetzt sitzen, etwas essen und uns Horrorgeschichten erzählen würden. „Auf solche Sachen steht ihr jungen Leute doch wenn ich mich nicht irre. Und ich irre mich eigentlich nie. Los!“, sagte er und sah dabei gar nicht mehr so freundlich aus. Eher hinterhältig. Um das Lagerfeuer herum – in Form eines Vierecks – lagen Baumstämme, die die Bänke darstellen sollten, auf denen wir hoffentlich nicht zu lange sitzen mussten. Meine Hoffnung verschwand, als wir verschiedene Dinge auf Stöcke spießten und sie ans Feuer hielten. Diese ganze Sache würde sich also in die Länge ziehen. Es wurde eine Gruselgeschichte nach der anderen erzählt und viele schienen das spannend zu finden. Nur wenige – unter anderem Marco und ich – starrten konzentriert auf unser Essen und zumindest ich versuchte, meine Ohren vor den Geschichten zu verschließen. Aber es funktionierte nicht, sodass ich mich gruseln musste und überall Geräusche und Stimmen hörte, die hundertprozentig nicht da sein konnten. Ein Schauer jagte den nächsten über meinen Rücken und das Würstchen, das ich auf meinen Stock gespießt hatte, fing Feuer, was ich nicht einmal bemerkt hätte, hätte mich Christa nicht darauf aufmerksam gemacht. Nach einer gefühlten Ewigkeit gingen den Leuten die Horrorgeschichten aus und einer nach dem anderen wünschte der Runde eine gute Nacht und verließ das Lagerfeuer. Sobald einer den Anfang macht, folgen bekanntlich noch andere. Schnell saßen nur noch sechs Personen am Feuer: Marco, sein Freund Jean, beide Lehrer, Reiner und ich. Wäre es nach mir gegangen, wäre ich längst im Bett, aber Reiner schien so viel Spaß zu haben, dass ich nicht den Spielverderber spielen wollte und ebenfalls geblieben war. Bis zum bitteren Ende. Sicher war, dass ich heute nicht schlafen können würde. Sämtliche Gruselgestalten hatten sich in meinem Kopf einen Platz gesucht und würden mich in der Dunkelheit immer wieder erinnern, welche Geschichte hinter ihnen stand. Marco saß mit Jean auf dem Baumstamm gegenüber von uns und ich konnte ihn nur ab und zu sehen. Nur wenn ich mich ein wenig zur Seite beugte, konnte ich ihn und einen Teil von Jean sehen. Weil Reiner erkennbar hellwach und nicht bereit war, das Lagerfeuer schon zu verlassen, schaute ich zu Marco herüber, der nervös seine Hände knetete und dabei ab und an Jean ansah. Bei einer der Gruppenaktivitäten, hatte ich mit Marco sprechen können und ihm dabei entlockt, dass Jean sowohl sein bester Freund, als auch seine heimliche Liebe war. Wartete er jetzt auf einen Moment, in dem die beiden allein waren? Das würde bedeuten, dass ich Reiner am besten sofort dazu überredete, zu gehen. Die Lehrer saßen auf der rechten Seite und ich warf einen Blick zu ihnen. Herr Smith flüsterte Rivaille gerade etwas ins Ohr – niemand wusste, wie wir Rivaille nennen sollten, da er sich uns gegenüber nie wirklich vorgestellt hatte –. Jedenfalls standen die beiden daraufhin auf, wünschten uns eine gute Nacht, baten uns, das Feuer zu löschen, wenn wir gingen und verließen uns dann. „Psst! Reiner!“, flüsterte ich und tickte ihn an. „Ich denke, wir sollten jetzt gehen.“ „Wieso? Willst du dem Feuerlöschen entkommen?“ „Nein. Aber ich denke, das ist jetzt die beste Zeit, in der Marco Jean zeigen oder sagen kann, was er empfindet.“ „Was empfindet er denn?“ „Naja... er ist irgendwie in ihn verliebt.“ „Kannst du die beiden sehen?“, fragte Reiner und beugte sich in alle möglichen Richtungen, um am Feuer vorbeizuschauen. Die Flammen raubten uns aber die direkte Sicht auf Marco und Jean. „Ich kann sie nicht sehen. Vielleicht wissen sie nicht, dass wir hier sind und wir werden Zeuge dieses entweder sehr peinlichen oder sehr rührenden Moments!“ „Wir sollten nicht hier sein.“ „Wieso hast du eigentlich keine Freundin?“ Diese Frage kam unerwartet. „Warum interessiert dich das jetzt?“ „Es interessiert mich eben. Du bist doch ein netter und freundlicher Kerl, der niemandem auf die Nerven geht und kein Machogehabe an den Tag legt. Die Weiber müssten doch auf dich fliegen. Ich weiß, dass du zu der schüchternen Sorte gehörst, aber die Mädels, die dich bisher gefragt haben, ob du mit ihnen ausgehst, hast du abblitzen lassen. Wieso?“ „Ich weiß nicht. Ich wollte einfach nicht.“ Das Gespräch hatte eine seltsame Richtung eingeschlagen und ich zog meine Knie wieder an meinen Körper und umschlang sie mit den Armen, was sich als sehr schwierig gestaltete, da ich immer noch auf dem Baumstamm saß. „Hast du dich denn wenigstens mal in jemanden verguckt?“, hakte Reiner nach. Wieso ließ er nicht locker?! Vielmehr interessierte mich, was Marco machte. „Warum fragst du?“ „Jeder, den ich kenne, hat sich mal in jemanden verguckt. Wieso du also nicht?“ „Ich weiß gar nicht, wie sich so etwas anfühlen soll.“ „Das heißt, du warst vielleicht irgendwann einmal verknallt und hast es nicht einmal bemerkt?“ „Ich weiß es nicht.“ „Okay. Dann durchforste mal dein Gedächtnis nach einem Moment, in dem du jemanden gesehen und sofort verehrt hast. Du wolltest unbedingt mit dieser Person etwas gemeinsam haben. Irgendetwas was euch verbindet und am besten hättest du es gefunden, wenn es eine Eigenart ist, die nur ihr beide habt. Etwas, das dich für sie besonders gemacht hätte. Ein Gefühl, als müsstest du weder essen noch trinken, solange dieser Mensch bei dir ist und dich gern hat.“ „Du warst demnach schon mal in jemanden verliebt?“ „Hier geht es nicht um mich, sondern um dich. Hast du etwas in der Art nie gefühlt?“ „Nicht direkt. Etwas ähnliches vielleicht. Verehrung und Sehnsucht nach der Gesellschaft des anderen. Aber das muss doch nicht zwangsläufig heißen, dass man verliebt ist, oder?“ „Nicht zwangsläufig. Schade. Ich dachte, du würdest mir jetzt mal gestehen, dass du mir etwas verschwiegen und dich heimlich in jemanden verguckt hast.“ Reiner schien enttäuscht zu sein und stocherte mit einen Stock im Boden herum. „Warum wolltest du das wissen?“, fragte ich, denn diese Neugier war mir völlig neu. Im Normalfall beließ er es bei einer einfachen Antwort und hakte nicht weiter nach. Wollte er es bei mir so genau wissen, weil wir uns schon so lange kannten und er befürchtete, ich würde anfangen Geheimnisse vor ihm zu haben? Dieser Gedanke kränkte mich ein wenig und ich erinnerte mich daran, dass Marco mir einmal gesagt hatte, ich solle Dinge nicht in mich hineinfressen, die man sofort klären konnte; besonders, wenn es um Reiner ging, der wohl nicht zögern würde, mir eine Antwort zu geben. Es mochte am Schein oder an der Wärme des Feuers liegen, zumindest war das meine Erklärung in dem Moment, denn Reiners Wangen schienen ein wenig rot geworden zu sein. „Ach. Ich dachte nur...“ „Was dachtest du nur?“ „Ich dachte, du würdest etwas vor mir verbergen, weil es dir peinlich ist.“ „Verheimlichst du mir etwa etwas, das dir peinlich ist?“ „Irgendwie schon.“ „Hast du etwas ausgefressen? Wenn es kein Mord war, verschaffe ich dir ein Alibi.“ Reiner lachte kurz und sah mich dann todernst an, wobei er immer noch rot war, und sagte dann: „Ich bin sehr gern mit dir zusammen, Bertholdt.“ „Ich auch.“ „Unterbrich mich bitte nicht, sonst sage ich nicht alles, was ich sagen wollte, sondern nur die unwichtige Hälfte. Also noch einmal: Ich bin sehr gern mit dir zusammen und ich finde es toll, dass wir beide so viel gemeinsam haben und unsere Insider, weil wir schon so ewig miteinander Blödsinn anstellen. Ich hatte schon häufig das Gefühl, dass du der Einzige bist, der wirklich versteht und der Einzige, der unterscheiden kann, wann ich versuche, die Stimmung zu lockern und oben zu halten und wann ich wirklich ausgelassen mitlachen kann. In all den Jahren warst du immer mein bester Freund und ich habe dich immer sehr gern gehabt. In den letzten Monaten war es so, dass sich das geändert hat und ich hoffte, du würdest das nicht bemerken, weil deine Freundschaft mir so sehr am Herzen liegt, dass ich alles Andere dafür aufgeben würde. Was ich jetzt sage, fällt mir insofern schwer, als dass ich nicht weiß, was du sagen und tun wirst. Ich hoffe, dass unsere Freundschaft immer noch besteht, wenn du kein Verständnis für meine Beichte hast. Meine Sorge ist, dass du dich von mir abwendest, weil es dich anekelt oder dir unangenehm ist. Das wäre schade, aber ich würde nicht versuchen, dich davon abzuhalten.“ Meine Verwirrung war ins Unermessliche gestiegen. Erst hatte ich angenommen, er würde unsere Freundschaft beenden oder mir ein Verbrechen gestehen. Dann dachte ich, er würde umziehen und schlussendlich wusste ich gar nicht, was ich denken sollte, weil mir kein Szenario einfiel, in dem ich mich von Reiner abwenden sollte. Der nächste Satz ließ eine Weile auf sich warten, weil Reiner sich offenbar sammeln musste und immer wieder mit geschlossenen Augen tief Luft holte. Dann öffnete er die Augen wieder, sah mich nach wie vor ernst an und sagte dann: „Ich bin ganz furchtbar in dich verliebt.“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich war immer davon ausgegangen, dass er sich ein hübsches und nettes Mädchen angeln, sie heiraten und haufenweise tolle Kinder in die Welt setzen würde, während ich der nette Onkel Bertholdt wurde und auf ewig sein bester Freund wäre. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war nie verliebt gewesen und wusste nicht, wie sich das anfühlen sollte. Klar war nur, dass ich mich in Reiners Gegenwart immer wohl gefühlt hatte und wusste, dass ich ihm immer vertrauen konnte, und dass er mich immer in Schutz nehmen würde, wenn es mal soweit kommen sollte. Außerdem wurde mir immer ganz warm, wenn er lachte und mir tolle Sachen erzählte und dabei so begeistert aussah. „Ich erwarte nicht, dass du mich auch magst. Aber ich wollte kein einziges Geheimnis vor dir haben. Wir kennen uns schon so lange und ein Geheimnis folgt dem nächsten. Diesen Teufelskreis werde ich nicht beginnen.“, sagte er immer noch todernst und mit festem Blick, der aber nicht auf mich, sondern ins Feuer gerichtet war. Nach einem gewaltigen Brainstorming, das mein Gehirn veranstaltet hatte, löste ich meine Beine aus meiner Umklammerung, stellte sie auf den Boden, rutschte etwas näher an Reiner heran und legte meinen Kopf seine Schulter. Da er etwas kleiner war, als ich, war es nicht superbequem, aber es fühlte sich richtig und gut an. „Eben weil wir uns so lange kennen und ich nie weiß, was für ein Gefühl sich wie anfühlt, möchte ich gerne eine Art Weicheibeziehung, bitte.“, sagte ich und fragte mich, ob er wusste, dass ich damit reines Kuscheln meinte, bis ich mir sicher war, wie weit ich gehen wollen und können würde. Es war überflüssig, mir diese Frage zu stellen, denn Reiner willigte ein und in den nächsten Tagen und Wochen, stellte sich heraus, dass er genau wusste, was ich gemeint hatte. Viel zu spät und mit einer grenzenlosen Dankbarkeit an Reiners Geduld wurde die Weicheibeziehung nach einigen Wochen upgedatet. Kapitel 10: 4b -------------- Nach dem Drama am ersten Tag, war die Atmosphäre wieder ein paar Tage lang in Ordnung. Mikasa hängte sich immer an Eren, sodass Jean, der ein offensichtliches Problem mit ihm hatte, nicht mehr in ihre Nähe kam. Ab und an bat er Mikasa seine Hilfe an, die sie immer wieder ausschlug, weil sie sportlicher, aufmerksamer und resoluter war als der gesamte Rest von uns. Bei allen Aktivitäten drückte sich jeder selbst die Daumen, Mikasa in seiner Gruppe zu haben, weil sie die Gruppe immer zum Sieg führte. Wobei man aber auch sagen muss, dass sie viel unmotivierter war, wenn Eren nicht derselben Gruppe zugeordnet wurde. Bei einer Nachtwanderung hatte Jean erst versucht, sich in der Nähe von Mikasa aufzuhalten, doch sie war wieder bei Eren und Armin. Armin in der Mitte, weil er sich von den dreien am meisten fürchtete. Jean lief die ganze Zeit neben mir und redete sehr viel. Ich erklärte mir das damit, dass er selbst Angst hatte im Wald herumzulaufen, wenn es dunkel war und es zu überspielen versuchte. Vielleicht wollte er auch die undefinierbaren Geräusche, die aus dem Wald kamen, dadurch übertönen. Was auch immer es war, ich fand es beruhigend, ihm einfach zuzuhören und dann und wann zuzustimmen. In einem unaufmerksamen Moment, stolperte ich über eine Baumwurzel und fiel mit der Nase voran auf den Boden. Jean half mir lachend auf und klopfte mir den Schmutz von der Kleidung, während ich mir die Nase hielt und die Tränen zurückhielt. Das war sehr schmerzhaft gewesen, aber gleichzeitig so albern, dass ich auch lachen musste. Blöderweise hatten wir unseren Vordermann aus den Augen verloren. Wir waren zwar nicht die letzten in der Schlange, denn Reiner und Bertholdt gingen hinter uns. Diese beiden waren aber auch nicht zu sehen. Wir waren ganz allein und sahen uns um, ob wir jemanden sehen konnten, doch dort war nichts. „Wir haben uns doch nicht ernsthaft verlaufen oder?“, fragte ich in der Hoffnung, Jean hätte eine Vorstellung davon, wo wir waren oder in welcher Richtung unser Camp lag. Doch er redete nur drum herum, sagte wir hätten uns niemals verlaufen und die Lehrer würden schon regelmäßig überprüfen, ob wir da wären. Herumstehen wollte er aber nicht, sodass er einfach los stapfte und ich ihm hinterherlief. „Darf ich mich an deinem Ärmel festhalten? Es ist so dunkel.“, fragte ich nach einer Weile. Das war eine Frage, die ich der Höflichkeit halber stellte, denn während ich fragte, streckte ich die Hand schon aus und hielt mich an seinem Ärmel fest. „Du kannst auch meine Hand nehmen, dann verlieren wir uns ganz sicher nicht.“, antwortete er. Diese Antwort kam unerwartet; das Angebot wollte ich nicht ausschlagen. Ich ließ seinen Ärmel los und wollte gerade seine Hand ergreifen, die er mir entgegenstreckte, als wir ein schnelles Rascheln hinter uns hörten und ängstlich in diese Richtung sahen. Mein Herz pochte erheblich lauter als sonst und wäre fast stehen geblieben, als Connie aus einem nahegelegenen Busch sprang und mich zu Tode erschreckte. Jean verpasste ihm eine Kopfnuss, woraufhin Connie sich bereiterklärte, uns zu der Gruppe zurückzuführen, die quasi parallel neben uns lief, die wir aber wegen der Dunkelheit nicht sehen konnten. Fraglich für mich war jedoch, dass uns niemand hatte reden hören. Eventuell dachten sie aber auch, wir wären noch hinter ihnen und hatten nicht weiter auf uns geachtet. Nach dieser sowohl schrecklichen als auch überraschend erfolgreichen – da Jean mir angeboten hatte, seine Hand zu halten – Wanderung, setzen wir uns an ein Lagerfeuer und brutzelten verschiedene Dinge im Feuer. Es war angenehm warm und meine Mitschüler erzählten unterschiedliche Geschichten. Einige davon waren langweilig, bei anderen lief es mir kalt den Rücken hinunter und ich sah ab und zu über meine Schulter in die Dunkelheit. Vollgestopft mit Stockbrot, Marshmallows und anderen Köstlichkeiten begaben sich nahezu alle ins Bett oder zumindest in ihre Hütten. Am Ende saßen nur noch Jean, die beiden Lehrer, Reiner und Bertholdt am Feuer. Jedes „Pärchen“ auf einer anderen Bank. Reiner und Bertholdt konnte ich durch das Feuer hindurch kaum sehen und war mir sicher, dass es andersherum genauso war. Für den heutigen Abend hatte ich geplant, Jean zumindest anzudeuten, dass er nicht nur mein bester Freund war. Doch so lange die Lehrer dort saßen, konnte ich dahingehend nichts machen oder sagen, weil sich herausgestellt hatte, dass beide Lehrer ein erstaunlich gutes Gehör hatten. Just in den Moment, in dem mir dies alles durch den Kopf ging, standen sie auf, sagten „Gute Nacht“ und baten, das Feuer zu löschen, sobald wir gingen. Dann verschwanden sie Richtung Speisesaal, da sich dort ihre Schlafzimmer befanden. Nervös rieb ich mir die Hände, verknotete die Finger und sah ab und an zu Jean hinüber, um abzuschätzen, wann der richtige Zeitpunkt war Andeutungen zu machen. Allgemein fragte ich mich, was ich am besten sagen sollte. Frei heraus zu gestehen, dass ich ihn mehr mochte als bloß als besten Freund, fand ich zu drastisch. Das würde ihn schockieren und dazu veranlassen, eine Abwehrhaltung einzunehmen. Ich kam gar nicht dazu etwas zu sagen, denn Jean ergriff das Wort: „Glaubst du, Mikasa steht auf Eren?“ Das tötete meine Absicht komplett. Jetzt konnte ich es vergessen, ihm heute meine Gefühle zu gestehen. „Wie kommst du darauf?“ „Na sie hängt doch immer mit ihm herum. Und sie ist viel aufgeweckter, wenn er da ist. Ich habe wohl keine Chancen bei ihr.“ „Ich glaube auch, dass sie Eren vorzieht. Aber sie hat dich sowieso nicht verdient.“ „Was meinst du damit?“ „Meiner Meinung nach, sollte deine erste Beziehung mit jemandem sein, der dich respektiert und mit dir über Blödsinn lacht. Aber diese Person sollte auch liebenswert sein und dich darauf aufmerksam machen, wenn du etwas wirklich sehr falsch machst oder gerade in ein Fettnäpfchen getreten bist. Aber sie sollte dich nicht nur darauf hinweisen, sondern dir auf dabei helfen aus einer blöden Situation wieder herauszukommen, wenn es notwendig werden sollte. Du brauchst jemanden, der darauf aufpasst, dass du dich nicht daneben benimmst. Vermutlich gehörst du zu den wenigen Menschen, die zwar sagen und tun, was sie für richtig halten, aber auch sehr schnell darüber nachdenken, ob ihr Gegenüber mit ihren Argumenten Recht hat und du dich eventuell doch falsch verhalten hast. Wenn jemand mit dir zusammen ist, dann muss er dir sowohl den Rücken stärken, wenn du Recht hast, als auch dafür sorgen, dass du merkst, wenn du falsch liegst. Mikasa ist autark und würde über Leichen gehen, um Eren zum Sieg zu verhelfen, was aber im Widerspruch mit ihrem Ehrgeiz steht. Ich glaube, selbst wenn sie sich auf dich einlassen würde, würde sie dich sehr einengen und dir ihren Willen aufzwingen. Das hast du nicht nötig. Du hast einen tollen Charakter.“ „Lange Rede, kurzer Sinn: Ich brauche also jemand freundliches, der mich unterstützt und zurückpfeift?“ „Jepp.“ „Das ist eine Beschreibung von dir, mein Freund.“ „Zufall. Ich sage nur, was ich denke.“ „Hast du ein Auge auf jemanden geworfen?“ „Jepp.“ „Was?! Ehrlich?! Auf wen und wieso sagst du mir so etwas nicht?!“ Ich zuckte mit den Schultern und fühlte eine Gewisse Freude darüber, dass ich ihn schockiert hatte. „Es ist ein Geheimnis.“ „Dann beschreibe sie mir und ich rate, wer es ist.“ „Okay. Aber sei nicht zu schockiert, wenn du es herausbekommst. Meine Person ist nur ein bisschen kleiner als ich, hat ein großes Mundwerk und flucht sehr häufig. Außerdem ist sie ehrgeizig und manchmal unsensibel.“ „Du hast die weibliche Version von mir gefunden?“, fragte er und sah mich erstaunt an. „Ich bin wirklich fantastisch. War also klar, dass du mit jemandem zusammen sein willst, die so ist, wie dein bester Freund.“ „Nicht nur wie.“ Diese drei Worte hatten mich mehr Überwindung gekostet, als ich gedacht hatte und jetzt wünschte ich, ich hätte sie nicht ausgesprochen. Jean war schließlich nicht dumm, er würde genau wissen, was ich meinte. Ich sah ins Feuer und Jean tat es mir gleich. Peinliches Schweigen. Was sollte ich jetzt machen? Ich sah, wie Reiner und Bertholdt gingen. Bertholdt winkte, sah kurz zu Jean, versuchte mir irgendetwas damit zu sagen, dass er sich leicht auf beide Wangen klopfte und hielt dann die Daumen in die Höhe. Was auch immer er versuchte zu sagen, musste mit Jean zu tun haben, also warf ich ihm einen möglichst unauffälligen Blick zu. Er war knallrot geworden. Leider konnte ich mich nicht zurückhalten und fing an zu kichern. „Was ist?“, fragte Jean und sah mich beleidigt an. „Du bist rot wie eine Tomate und ich habe keine Ahnung, wieso ich das so lustig finde.“ „Erst wirfst du mir an den Kopf, dass du dich ich jemanden verguckt hast, dann, dass ich dieser jemand bin und jetzt lachst du mich aus?“ „Entschuldige. Ich weiß, dass ich keine Chancen bei dir habe, weil du schließlich ein Auge auf Mikasa geworfen hast, aber ich musste es einfach aussprechen. Wir können trotzdem befreundet sein oder?“ Als Antwort nuschelte er etwas, das ich nicht verstehen konnte, daher beugte ich mich etwas näher zu ihm und bat ihn, das noch einmal zu wiederholen. „Ich sagte: Wir können auch zusammen sein.“ Gegen Ende des Satzes wurde er wieder leiser, doch ich verstand trotzdem alles. „Und was ist mit Mikasa?“ „Was soll mit ihr sein. Deine Ansprache war eindeutig. Ich sollte ihr nicht hinterher laufen.“ „Aber wie kannst du mit mir zusammen sein, wenn du sie magst?“ „Kennst du es, wenn man glaubt, etwas tun oder sagen zu müssen, weil es einfach normaler erscheint? Ich hab nur mit Kerlen zu tun, die auf Weiber stehen. Es kam mir richtig vor, ihr hinterherzulaufen, als ich sah, wie hübsch sie ist. Aber ich pfeife darauf, was der Rest der Menschheit sagt. Du bist klasse und in meinem Magen hat immer irgendwas gebrodelt, wenn wir etwas zusammen gemacht haben.“ „Das ist keine schöne Beschreibung dafür, dass du mich auch magst.“ Er stimmte mir zu und wir lachten eine Weile. Dann entschlossen wir uns, das Lagerfeuer zu beenden und schlafen zu gehen. Da der See nicht weit war und ein Eimer in der Nähe stand, war es nur logisch, einen Eimer Wasser auf das Feuer zu gießen. In dieser Nacht war der Mond kaum zu sehen und ohne Feuer war es nahezu stockdunkel. Da nahm Jean meine Hand und zog mich in eine Richtung. „Keine Bange. Ich weiß, wo es langgeht. Vertrau mir einfach.“ „Wem sonst, wenn nicht dir?“ Vor der Tür unserer Hütte bekam ich tatsächlich einen Kuss auf die Wange und eine Ermahnung, niemandem davon zu erzählen, bis er es erlaubte. Mir war es gleich. Wichtig war nur, dass ich zu den glücklichsten Menschen der Welt gehörte und mir fest vornahm, Jean auch zu einem solchen zu machen. Kapitel 11: 4c -------------- Ich war zwar der Meinung, Erwin hätte zu viel Vertrauen in den Verstand der Gören, doch sah ich davon ab, ihm das zu sagen. Er würde sich meine Meinung anhören und dann trotzdem tun, was er für richtig hielt. So war es immer. So würde es immer sein. Jedenfalls bestand er darauf, die geplante Nachtwanderung allein zu führen und beauftragte mich, ein Feuer zu entfachen und verschiedene Kleinigkeiten zum essen bereitzustellen. Mir sollte das recht sein, denn ich hatte wenig Lust, Gören zu beaufsichtigen, die sich gegenseitig erschreckten und aus unerfindlichen Gründen Angst im Dunkeln bekamen. Weder das Essen zusammenzutragen, noch das Feuer zu entfachen war eine schwere oder zeitaufwendige Aufgabe. So saß ich fast zehn Minuten am Feuer und wärmte mir die Hände. Wie ich es erwartet hatte, waren alle heilfroh, aus dem dunklen Wald herauszukommen und ein Teil von ihnen freute sich auch über das Lagerfeuer. Es schien aber, dass einige lieber schlafen gegangen wären. Doch Erwin hatte deutlich genug gemacht, dass sie alle ihre vier Buchstaben ans Feuer pflanzen sollten. Es wurden verschiedene „Gruselgeschichten“ erzählt, die nicht gruselig waren. Mir verging schnell die Lust, mir noch weitere Storys anzuhören und ich schaltete meine Ohren einfach ab. Stattdessen hielt ich einen Stock ins Feuer, bis er brannte und holte ihn dann heraus, um zu sehen, wann das Feuer selbstständig erlosch. Die Nachtwanderung hatte den Kindern mehr Energie abverlangt, als sie vielleicht selbst gedacht hatten. Jedenfalls machten die meisten von ihnen sich ziemlich früh auf den Weg in ihre Betten. Nur noch jeweils zwei Jungen saßen rechts und links und ich hatte schon die Befürchtung, auch auf diese vier aufpassen zu müssen, doch Erwin flüsterte mir ins Ohr, wir sollten verschwinden, den Schülern ihre Privatsphäre lassen und selbst etwas unternehmen, was diese Kinder nicht mitbekommen sollten. Jeder, der Erwin nicht so lange kannte, wie ich, hätte jetzt an etwas Unanständiges gedacht, doch ich kannte ihn nun mal sehr lange und sehr gut. Ich konnte aus diesem Satz demnach schließen, dass er einen Gute-Nacht-Kuss meinen könnte und es genauso ausdrücken würde. So verwirrend und doppeldeutig wie möglich zu sein, schien ihm Spaß zu machen und war Teil seiner Strategie, wenn es darum ging, alles richtig zu machen und weiter zu denken, als alle anderen, ohne dass diese es mitbekamen. Wir verließen das Feuer und entkamen der Pflicht, dieses zu löschen. Wieder ein Vertrauen in die Gören, das ich nicht nachvollziehen konnte. Er bat mich, noch eine Weile in sein Schlafzimmer zu kommen, da es noch zu früh zum Schlafen war und er sich noch gerne mit mir unterhalten wollte. Als ich das Zimmer betrat, sah ich sofort, dass die Möbel so gut es ging an die Seiten geschoben waren und in der Mitte des Raums standen ein Tisch und zwei Stühle. Auf dem Tisch konnte ich eine Kerze, Besteck, Teller, Servietten und ein kleines Päckchen sehen, das wie ein Geschenk verpackt und höchstwahrscheinlich auch eines war. „Überraschung!“, sagte Erwin und bat mich, Platz zu nehmen. Dann zündete er die Kerze an, schaltete das Licht aus und entschuldigte sich, weil er noch etwas abholen musste und mich einen Moment alleine ließ. Als er gegangen war, juckte es mich in den Fingern, das Geschenk zu öffnen. Es war immerhin für mich. Es konnte nur für mich sein. Allerdings beließ ich es bei neugierigem Starren. Es dauerte nicht lange, da kam Erwin wieder mit einem überladenen Tablett. „Ich weiß ja, dass du nicht auf Lagerfeueressen stehst, also habe ich dir gegen Mittag heimlich etwas gekocht, das man auch kalt essen kann und voilà!“, sagte er und stellte mir einen Teller hin und ein Glas Wein. „Ich dachte, wir als Lehrer sollen ein Vorbild sein und uns nicht nachts abschießen.“, stichelte ich. „Deshalb habe ich auch gewartet, bis die Kinder im Bett sind.“ „Und wenn jetzt jemand kommt?“ „Wieso sollten sie herkommen? Erwachsene sind die Letzten, denen sie ihre Probleme anvertrauen würden. Die gehen lieber an den Waldrand und heulen sich aus. Oder sie setzen sich an den See und heulen den Mond an. Entschuldige diese Ausdrucksweise, aber diese Worte verstehst du am besten und fühlst dich auch wohler, wenn ich nicht so hochgestochen spreche.“ Erwin stellte sich auch Essen und Trinken hin und warf das Tablett aufs Bett. Dann setzte er sich mir gegenüber an den Tisch. Das Essen war gut. Viel besser als ich dachte, dass es sein könnte, da er selten kochte und kein Talent dafür hatte. Er gestand, er hatte noch einen Nachtisch geplant, der verbrannt sei und den er hatte wegwerfen müssen. Da der Hauptgang, der eigentlich der einzige Gang war, völlig ausreichend war, war mir der Nachtisch egal. Wir leerten die Weinflasche, dann räumte Erwin Geschirr und Besteck auf das Tablett und setzte sich dann wieder. Wir unterhielten uns einfach nur, obwohl ich das verdammte Geschenk endlich haben wollte. Ich verkürzte meine Antworten und allgemein meine Beteiligung an dem Gespräch, damit er es mir endlich überreichte und ich es öffnen konnte! Nachdem unser Gespräch sehr abgeflaut war, seufzte Erwin und schüttelte den Kopf. „Ich dachte, du wärst geduldig genug, einen schönen Abend mit einer guten Unterhaltung mit mir zu führen, aber du bist nur auf Materielles aus.“ „Wenn du willst, dass ich mich viel mit dir unterhalte, darfst du Geschenke für mich nicht so offen hinstellen. Aber lass mich raten: Es war deine Absicht herauszufinden, wie lange es dauert, bis meine Neugier meine Höflichkeit besiegt.“ „Du hast es erfasst.“ Als er das sagte, klang es wie ein Lob und sollte womöglich eines sein. Dann schob er mir das kleine Geschenk mit Schleife herüber. Ich löste die Schleife, öffnete das Kästchen und sah einen Ring mit einem wunderschönen schwarzen Edelstein. Ich kannte mich nicht aus und wusste daher nicht, welche Art von Stein es war. Jedem anderen, wäre der Atem gestockt, da das Schenken eines Rings meistens einen Heiratsantrag beinhaltet. In meinem Fall konnte es nicht so sein, denn verheiratet war ich bereits seit mehr als fünf Jahren. Ich fragte, womit ich ein so teures Geschenk verdient hatte. Seine Erklärung war schlicht: „Als wir uns damals verlobt hatten, hast du zwar einen Ring bekommen, aber keinen wirklich schönen, da meine finanziellen Mittel doch sehr knapp waren. Jetzt habe ich heimlich etwas gespart, um dir davon einen Ring zu schenken, der angemessener erscheint. Der alte Ring hat zwar den Nostalgiefaktor, aber ich hoffe, dass du auch den neuen Ring magst. Ich stecke ihn dir an, wenn er die gefällt.“ „Dann los.“ Ich war unheimlich gerührt, auch wenn ich es nicht zugeben wollte. Als er mir den Ring ansteckte, kniete er vor mir und mir fiel nach langer Zeit wieder auf, dass er verdammt gut gebaut war, ein sehr schönes Gesicht hatte und sehr warme Hände, die viel weicher waren, als man ihm zutrauen würde. Alles in allem wurde mir in dem Moment klar, dass es niemanden auf der Welt gab, der besser war als er. Er war der einzige auf der Welt dessen Verlust ich beklagen und nicht verarbeiten können würde. In meinem Leben hatten mich viele Menschen enttäuscht und verlassen und ich war mit allem fertig geworden. Er blieb kniend vor mir auf dem Boden und ich betrachtete meine Hand, die nun von zwei Verlobungsringen geschmückt war. „Danke sehr. Aber du weißt, dass das nicht nötig war, oder? Ich fand den alten perfekt.“ „Aber du hast mehr verdient. Du sollst nur das beste von allem bekommen. Nur leider kann ich es dir nicht am Stück geben, da ich momentan weder über die finanziellen noch zeitlichen Mittel verfüge, die dafür notwendig sind, dir die besten Dinge zu zeigen oder zu schenken.“ „Ich habe schon das Beste, das diese Welt zu bieten hat.“ „Das kann nicht sein, weil ich es nämlich weggeschnappt habe, bevor es jemand anderes tun konnte.“ Er lächelte mich an, während ich ernst zurückschaute und seine blauen Augen bewunderte. Wieso fiel mir das alles auf einmal auf und dann auch noch nach so langer Zeit? „Wenn du erlaubst, stelle ich den Tisch und die Stühle wieder dort hin, wo ich sie her habe und schiebe die Möbel wieder an ihren rechtmäßigen Platz. Während ich dies alles tue, kannst du dir überlegen, was wir beiden Hübschen noch machen können, um uns noch ein wenig zu feiern.“, sagte er mit einer sehr sanften Stimme. Während er alles hin und her schob, Dinge aus dem Zimmer entfernte und hier und da etwas aufhob oder zurecht rückte, hatte mein Kopf nur eine einzige Idee, womit wir uns noch feiern konnten und ich gleichzeitig über noch so einige Dinge an ihm schwärmen konnte, weil ich in dem Moment wirklich alles sehen und bestaunen können würde. Ich konnte fest davon ausgehen, dass er nichts dagegen haben würde, denn das hatte er nie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)