Drei Ansichten von Psychopath (einer Klassenfahrt) ================================================================================ Kapitel 9: 4a ------------- Die nächsten drei Tage verliefen gar nicht schlecht. Sämtliche Aktivitäten zielten darauf ab, in Teams zusammenzuarbeiten, wobei man sich zwangsläufig besser kennenlernte. Leider schien den Lehrern das Losziehen sehr wichtig zu sein, denn keine Gruppe wurde gewählt, sondern gelost. Viele der Aufgaben hatten mit Sport zu tun und einmal machten wir eine Nachtwanderung, bei der mich Connie so sehr erschreckte, dass mir der Atem stockte und meine Beine urplötzlich keine Kraft mehr hatten und ich auf den Boden sank. Connie lachte sich schief und entschuldigte sich dabei, weil Reiner ihn dazu zwang und ausschimpfte. Er schickte Connie weiter nach vorne und half mir dann auf die Beine. „Alles okay? Der Sack hat keinen Anstand.“, sagte er kopfschüttelnd und dann: „Wir sollten weitergehen, bevor wir den Rest aus den Augen verlieren.“ Meine Beine fühlten sich immer noch wie Pudding an, sodass ich eine Weile von Reiner gestützt werden musste. Um Mitternacht kamen wir zurück zu unserer Waldlichtung und ich war so unendlich froh, dass das Gegrusel jetzt ein Ende hatte. Doch unser eigentlich freundlicher Lehrer sagte an, wir würden jetzt nicht schlafen gehen müssen, denn sein Kollege war hiergeblieben und hatte ein Lagerfeuer entfacht, wo wir jetzt sitzen, etwas essen und uns Horrorgeschichten erzählen würden. „Auf solche Sachen steht ihr jungen Leute doch wenn ich mich nicht irre. Und ich irre mich eigentlich nie. Los!“, sagte er und sah dabei gar nicht mehr so freundlich aus. Eher hinterhältig. Um das Lagerfeuer herum – in Form eines Vierecks – lagen Baumstämme, die die Bänke darstellen sollten, auf denen wir hoffentlich nicht zu lange sitzen mussten. Meine Hoffnung verschwand, als wir verschiedene Dinge auf Stöcke spießten und sie ans Feuer hielten. Diese ganze Sache würde sich also in die Länge ziehen. Es wurde eine Gruselgeschichte nach der anderen erzählt und viele schienen das spannend zu finden. Nur wenige – unter anderem Marco und ich – starrten konzentriert auf unser Essen und zumindest ich versuchte, meine Ohren vor den Geschichten zu verschließen. Aber es funktionierte nicht, sodass ich mich gruseln musste und überall Geräusche und Stimmen hörte, die hundertprozentig nicht da sein konnten. Ein Schauer jagte den nächsten über meinen Rücken und das Würstchen, das ich auf meinen Stock gespießt hatte, fing Feuer, was ich nicht einmal bemerkt hätte, hätte mich Christa nicht darauf aufmerksam gemacht. Nach einer gefühlten Ewigkeit gingen den Leuten die Horrorgeschichten aus und einer nach dem anderen wünschte der Runde eine gute Nacht und verließ das Lagerfeuer. Sobald einer den Anfang macht, folgen bekanntlich noch andere. Schnell saßen nur noch sechs Personen am Feuer: Marco, sein Freund Jean, beide Lehrer, Reiner und ich. Wäre es nach mir gegangen, wäre ich längst im Bett, aber Reiner schien so viel Spaß zu haben, dass ich nicht den Spielverderber spielen wollte und ebenfalls geblieben war. Bis zum bitteren Ende. Sicher war, dass ich heute nicht schlafen können würde. Sämtliche Gruselgestalten hatten sich in meinem Kopf einen Platz gesucht und würden mich in der Dunkelheit immer wieder erinnern, welche Geschichte hinter ihnen stand. Marco saß mit Jean auf dem Baumstamm gegenüber von uns und ich konnte ihn nur ab und zu sehen. Nur wenn ich mich ein wenig zur Seite beugte, konnte ich ihn und einen Teil von Jean sehen. Weil Reiner erkennbar hellwach und nicht bereit war, das Lagerfeuer schon zu verlassen, schaute ich zu Marco herüber, der nervös seine Hände knetete und dabei ab und an Jean ansah. Bei einer der Gruppenaktivitäten, hatte ich mit Marco sprechen können und ihm dabei entlockt, dass Jean sowohl sein bester Freund, als auch seine heimliche Liebe war. Wartete er jetzt auf einen Moment, in dem die beiden allein waren? Das würde bedeuten, dass ich Reiner am besten sofort dazu überredete, zu gehen. Die Lehrer saßen auf der rechten Seite und ich warf einen Blick zu ihnen. Herr Smith flüsterte Rivaille gerade etwas ins Ohr – niemand wusste, wie wir Rivaille nennen sollten, da er sich uns gegenüber nie wirklich vorgestellt hatte –. Jedenfalls standen die beiden daraufhin auf, wünschten uns eine gute Nacht, baten uns, das Feuer zu löschen, wenn wir gingen und verließen uns dann. „Psst! Reiner!“, flüsterte ich und tickte ihn an. „Ich denke, wir sollten jetzt gehen.“ „Wieso? Willst du dem Feuerlöschen entkommen?“ „Nein. Aber ich denke, das ist jetzt die beste Zeit, in der Marco Jean zeigen oder sagen kann, was er empfindet.“ „Was empfindet er denn?“ „Naja... er ist irgendwie in ihn verliebt.“ „Kannst du die beiden sehen?“, fragte Reiner und beugte sich in alle möglichen Richtungen, um am Feuer vorbeizuschauen. Die Flammen raubten uns aber die direkte Sicht auf Marco und Jean. „Ich kann sie nicht sehen. Vielleicht wissen sie nicht, dass wir hier sind und wir werden Zeuge dieses entweder sehr peinlichen oder sehr rührenden Moments!“ „Wir sollten nicht hier sein.“ „Wieso hast du eigentlich keine Freundin?“ Diese Frage kam unerwartet. „Warum interessiert dich das jetzt?“ „Es interessiert mich eben. Du bist doch ein netter und freundlicher Kerl, der niemandem auf die Nerven geht und kein Machogehabe an den Tag legt. Die Weiber müssten doch auf dich fliegen. Ich weiß, dass du zu der schüchternen Sorte gehörst, aber die Mädels, die dich bisher gefragt haben, ob du mit ihnen ausgehst, hast du abblitzen lassen. Wieso?“ „Ich weiß nicht. Ich wollte einfach nicht.“ Das Gespräch hatte eine seltsame Richtung eingeschlagen und ich zog meine Knie wieder an meinen Körper und umschlang sie mit den Armen, was sich als sehr schwierig gestaltete, da ich immer noch auf dem Baumstamm saß. „Hast du dich denn wenigstens mal in jemanden verguckt?“, hakte Reiner nach. Wieso ließ er nicht locker?! Vielmehr interessierte mich, was Marco machte. „Warum fragst du?“ „Jeder, den ich kenne, hat sich mal in jemanden verguckt. Wieso du also nicht?“ „Ich weiß gar nicht, wie sich so etwas anfühlen soll.“ „Das heißt, du warst vielleicht irgendwann einmal verknallt und hast es nicht einmal bemerkt?“ „Ich weiß es nicht.“ „Okay. Dann durchforste mal dein Gedächtnis nach einem Moment, in dem du jemanden gesehen und sofort verehrt hast. Du wolltest unbedingt mit dieser Person etwas gemeinsam haben. Irgendetwas was euch verbindet und am besten hättest du es gefunden, wenn es eine Eigenart ist, die nur ihr beide habt. Etwas, das dich für sie besonders gemacht hätte. Ein Gefühl, als müsstest du weder essen noch trinken, solange dieser Mensch bei dir ist und dich gern hat.“ „Du warst demnach schon mal in jemanden verliebt?“ „Hier geht es nicht um mich, sondern um dich. Hast du etwas in der Art nie gefühlt?“ „Nicht direkt. Etwas ähnliches vielleicht. Verehrung und Sehnsucht nach der Gesellschaft des anderen. Aber das muss doch nicht zwangsläufig heißen, dass man verliebt ist, oder?“ „Nicht zwangsläufig. Schade. Ich dachte, du würdest mir jetzt mal gestehen, dass du mir etwas verschwiegen und dich heimlich in jemanden verguckt hast.“ Reiner schien enttäuscht zu sein und stocherte mit einen Stock im Boden herum. „Warum wolltest du das wissen?“, fragte ich, denn diese Neugier war mir völlig neu. Im Normalfall beließ er es bei einer einfachen Antwort und hakte nicht weiter nach. Wollte er es bei mir so genau wissen, weil wir uns schon so lange kannten und er befürchtete, ich würde anfangen Geheimnisse vor ihm zu haben? Dieser Gedanke kränkte mich ein wenig und ich erinnerte mich daran, dass Marco mir einmal gesagt hatte, ich solle Dinge nicht in mich hineinfressen, die man sofort klären konnte; besonders, wenn es um Reiner ging, der wohl nicht zögern würde, mir eine Antwort zu geben. Es mochte am Schein oder an der Wärme des Feuers liegen, zumindest war das meine Erklärung in dem Moment, denn Reiners Wangen schienen ein wenig rot geworden zu sein. „Ach. Ich dachte nur...“ „Was dachtest du nur?“ „Ich dachte, du würdest etwas vor mir verbergen, weil es dir peinlich ist.“ „Verheimlichst du mir etwa etwas, das dir peinlich ist?“ „Irgendwie schon.“ „Hast du etwas ausgefressen? Wenn es kein Mord war, verschaffe ich dir ein Alibi.“ Reiner lachte kurz und sah mich dann todernst an, wobei er immer noch rot war, und sagte dann: „Ich bin sehr gern mit dir zusammen, Bertholdt.“ „Ich auch.“ „Unterbrich mich bitte nicht, sonst sage ich nicht alles, was ich sagen wollte, sondern nur die unwichtige Hälfte. Also noch einmal: Ich bin sehr gern mit dir zusammen und ich finde es toll, dass wir beide so viel gemeinsam haben und unsere Insider, weil wir schon so ewig miteinander Blödsinn anstellen. Ich hatte schon häufig das Gefühl, dass du der Einzige bist, der wirklich versteht und der Einzige, der unterscheiden kann, wann ich versuche, die Stimmung zu lockern und oben zu halten und wann ich wirklich ausgelassen mitlachen kann. In all den Jahren warst du immer mein bester Freund und ich habe dich immer sehr gern gehabt. In den letzten Monaten war es so, dass sich das geändert hat und ich hoffte, du würdest das nicht bemerken, weil deine Freundschaft mir so sehr am Herzen liegt, dass ich alles Andere dafür aufgeben würde. Was ich jetzt sage, fällt mir insofern schwer, als dass ich nicht weiß, was du sagen und tun wirst. Ich hoffe, dass unsere Freundschaft immer noch besteht, wenn du kein Verständnis für meine Beichte hast. Meine Sorge ist, dass du dich von mir abwendest, weil es dich anekelt oder dir unangenehm ist. Das wäre schade, aber ich würde nicht versuchen, dich davon abzuhalten.“ Meine Verwirrung war ins Unermessliche gestiegen. Erst hatte ich angenommen, er würde unsere Freundschaft beenden oder mir ein Verbrechen gestehen. Dann dachte ich, er würde umziehen und schlussendlich wusste ich gar nicht, was ich denken sollte, weil mir kein Szenario einfiel, in dem ich mich von Reiner abwenden sollte. Der nächste Satz ließ eine Weile auf sich warten, weil Reiner sich offenbar sammeln musste und immer wieder mit geschlossenen Augen tief Luft holte. Dann öffnete er die Augen wieder, sah mich nach wie vor ernst an und sagte dann: „Ich bin ganz furchtbar in dich verliebt.“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich war immer davon ausgegangen, dass er sich ein hübsches und nettes Mädchen angeln, sie heiraten und haufenweise tolle Kinder in die Welt setzen würde, während ich der nette Onkel Bertholdt wurde und auf ewig sein bester Freund wäre. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war nie verliebt gewesen und wusste nicht, wie sich das anfühlen sollte. Klar war nur, dass ich mich in Reiners Gegenwart immer wohl gefühlt hatte und wusste, dass ich ihm immer vertrauen konnte, und dass er mich immer in Schutz nehmen würde, wenn es mal soweit kommen sollte. Außerdem wurde mir immer ganz warm, wenn er lachte und mir tolle Sachen erzählte und dabei so begeistert aussah. „Ich erwarte nicht, dass du mich auch magst. Aber ich wollte kein einziges Geheimnis vor dir haben. Wir kennen uns schon so lange und ein Geheimnis folgt dem nächsten. Diesen Teufelskreis werde ich nicht beginnen.“, sagte er immer noch todernst und mit festem Blick, der aber nicht auf mich, sondern ins Feuer gerichtet war. Nach einem gewaltigen Brainstorming, das mein Gehirn veranstaltet hatte, löste ich meine Beine aus meiner Umklammerung, stellte sie auf den Boden, rutschte etwas näher an Reiner heran und legte meinen Kopf seine Schulter. Da er etwas kleiner war, als ich, war es nicht superbequem, aber es fühlte sich richtig und gut an. „Eben weil wir uns so lange kennen und ich nie weiß, was für ein Gefühl sich wie anfühlt, möchte ich gerne eine Art Weicheibeziehung, bitte.“, sagte ich und fragte mich, ob er wusste, dass ich damit reines Kuscheln meinte, bis ich mir sicher war, wie weit ich gehen wollen und können würde. Es war überflüssig, mir diese Frage zu stellen, denn Reiner willigte ein und in den nächsten Tagen und Wochen, stellte sich heraus, dass er genau wusste, was ich gemeint hatte. Viel zu spät und mit einer grenzenlosen Dankbarkeit an Reiners Geduld wurde die Weicheibeziehung nach einigen Wochen upgedatet. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)