Drei Ansichten von Psychopath (einer Klassenfahrt) ================================================================================ Kapitel 7: 3a ------------- Bei meinem Versuch, die Person zu erkennen, die mir gegenüber auf dem Boden saß und die ich versehentlich gerammt hatte, schlug die Eingangstür des Gebäudes mit einem Knall zu und traf mich dabei am Hinterkopf. Ich rieb die schmerzende Stelle und mir schossen die Tränen in die Augen, was es nicht gerade leichter machte, zu erkennen, wen ich umgerannt hatte. Der blonde Lehrer war es offenbar nicht, denn ich konnte dunkles Haar erkennen und der unsympathische Lehrer war es wohl auch nicht, weil ich eine Stimme vernehmen konnte, die eindeutig zu nett klang. Es war kein Lehrer! Gott sei Dank! „Hab ich dir wehgetan? Ich wollte das nicht. Tut mir leid.“, sagte ich und half dem Jungen wieder auf die Beine. Mein Kopf pochte, meine Tränen waren jedoch verschwunden, sodass ich klar in ein Gesicht mit Sommersprossen schauen konnte. Da der Himmel wolkenlos war, spendete der Mond genug Licht, um sein Gesicht genau zu erkennen und ich merkte, dass das der Junge war, der uns zum Essen abgeholt hatte. Jedoch strahlte sein Gesicht etwas Anderes aus, als vorher. Beim ersten Blick erschien er mir wie ein Sonnenscheinchen, das man nicht verärgern konnte oder wollte. Jetzt schien er mir gekränkt oder verletzt und ich befürchtete, dass er so schaute, weil ich ihn zu Fall gebracht hatte. Ich entschuldigte mich mehrmals leise, auch wenn das Zufallen der Tür vermutlich von allen gehört worden war. „Du brauchst dich nicht so häufig zu entschuldigen.“, sagte er und schenkte mir ein aufbauendes Lächeln, hinter dem ich aber Trauer oder ähnliches erkennen konnte. Ich würde ihn nicht darauf ansprechen, schließlich kannte ich ihn nicht und was auch immer ihn beschäftigte, ging mich nichts an. „Ist der Speisesaal verschlossen?“, fragte er dann. Ich schüttelte den Kopf, riet ihm aber, nicht hineinzugehen, da ich meinte, eine Tür wäre dort geöffnet worden. „Aha. Dann schlafen die Lehrer wohl dort, um heimliche Naschereien zu überwachen. Du siehst nicht gerade glücklich aus. Geht es dir nicht gut? Soll ich einen Lehrer wecken und dafür sorgen, dass du einen Tee bekommst? Oder heiße Milch? Tut dir etwas weh?“ Ich schüttelte unaufhörlich mit dem Kopf und flüsterte dann leise: „Ich habe nicht die körperliche Art von Schmerzen.“ Er sah so unglaublich vertrauenerweckend aus, dass diese Worte einfach so herausgeplatzt waren. Ich bereute sie sofort und wurde nervös. Was wäre, wenn er mich jetzt auslachen würde? Was wäre, wenn er jetzt so täte, als würde er mich mögen und dann mit seinen Freunden über mich lachen?! „Komm. Wir setzten uns irgendwo hin und du sagst mir, was passiert ist. Vielleicht kann ich dir ja helfen.“, sagte er und schenkte mir ein Lächeln. Wir setzten uns auf der Seite des Speisesaals ins Gras, wo nicht der Flur verlief. Diesen Platz konnte man von den Hütten aus nicht sehen. Ich erzählte ihm, wie unzufrieden ich mit meiner eigenen Person war, und dass ich so gerne keine Belastung mehr für Reiner wäre. Als ich alles erzählt hatte, fühlte ich mich nicht besser, sondern noch schlechter, weil mir durch das Aussprechen klar wurde, was für eine Belastung ich eigentlich für Reiner war. Ich zog meine Knie näher heran und umschlang sie noch enger mit meinen Armen. Der Junge hatte die ganze Zeit schweigend zugehört und sah sehr mitgenommen aus. Er hob den Arm und wuschelte mir dann lächelnd durchs Haar. „Mach dir keine Sorgen. Für mich klingt es so, als wäre Reiner sehr, sehr glücklich, dass du bei ihm bist. Wahrscheinlich hat er einen Beschützerinstinkt oder so etwas aufgebaut. Du siehst zwar kräftig aus wegen der Größe, aber er weiß vermutlich am besten, wie verletzlich du bist und wie viele Gedanken dir im Kopf umher schwirren. Ich denke, er will dich überall integrieren, damit du merkst, dass die Menschen, mit denen Reiner sich versteht, auch dich gern haben und du keine Angst zu haben brauchst, dass sie dich langweilig oder seltsam finden. Wenn ich dir also einen Ratschlag erteilen darf, dann geh einfach zurück, als wäre nichts Besonderes gewesen und bleib wie du bist. Ich weiß, dass wir beide uns nicht wirklich kennen und ich Reiner überhaupt nicht kenne, aber mir scheint wirklich, dass ihr toll miteinander auskommt und er ist garantiert überhaupt nicht von dir genervt.“ Ich sah ihn die ganze Zeit mit offenem Mund an und mir schossen die Tränen in die Augen. Er war so unendlich lieb zu mir. Ich bedankte mich bei ihm für die freundlichen Worte und er sagte: „Keine Ursache... Ah! Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt! Wo sind bloß meine Manieren geblieben? Ich bin Marco.“ Ich wollte mich auch vorstellen, jedoch hörte ich Schritte, die offenbar auf uns zu kamen und auch Marco schien sie zu hören, denn seine Augen wurden ganz groß und er legte den Zeigefinger auf die Lippen. Die Schritte kamen immer näher und näher. Marco und ich schauten gespannt in dieselbe Richtung und warteten ab, ob wir jetzt Ärger kriegen würden. Doch das Gesicht, das im nächsten Moment auftauchte, war nicht das eines Lehrers. „Da bist du ja!“, sagte Reiner, stemmte die Hände in die Hüften und sah mich besorgt an. Dann richtete er sein Wort an Marco: „Hi, ich bin Reiner.“ „Marco. Freut mich sehr.“ Reiner setzte sich mir gegenüber ins Gras. „Hat ganz schön lange gedauert, deine Uhr zu holen.“ „Tut mir Leid, dass du wegen mir lügen musstest.“ „War ja nur 'ne Notlüge. Mach dir deswegen keinen Kopf. Hast du geweint?“ „Was?! Nein!“ „Aber da sind doch Tränen oder nicht?“ „Nein.“ „Du darfst mich nicht belügen. Was ist passiert? Ich denke nicht, dass Marco dich geärgert hat oder? Ich fürchte, ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich diesem freundlichen Gesicht etwas Böses sagen müsste.“ „Nein, ganz im Gegenteil.“ Reiner seufzte und sah dann Marco an: „Es wäre nett, wenn du uns entschuldigen würdest, aber ich würde Bertholdt gerne wieder mitnehmen. Und du solltest auch nicht auf dem kalten Boden sitzen. Was habt ihr euch gedacht, euch hier hinzusetzen? Ihr holt euch noch den Tod. War nett, dich kennengelernt zu haben, Marco. Bis morgen.“ Dann griff er mir unter einen Arm, hievte mich mit einem Ruck auf die Beine und zog mich hinter sich her. Ich winkte Marco zu, der beide Daumen in die Höhe streckte. Der Weg zu unserer Hütte war nicht weit, aber auf dem gesamten Weg, schimpfte Reiner mit mir. Er sagte, ich hätte nicht so lange wegbleiben dürfen, und dass seine Sorgen um mich ihn beinahe in den Wahnsinn getrieben hatten. Die einzige Antwort die ich darauf hatte, war: „Er hat mir durchs Haar gewuschelt.“ Reiner sah mich überrascht an und lachte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)