Einsamer Engel von YvaineLacroix ================================================================================ Kapitel 5: Forgive the adoring beast ------------------------------------ Er schien sich kurz zu verkrampfen, als er meine Worte vernahm und drehte sich schließlich bedächtig zu mir um. Mir stockte der Atem, als ich für einen kleinen Moment lang einen Funken der Freude in den silbernen Tiefen seiner Augen aufglimmen sah. „Hast du dir das auch gut überlegt?“ wollte er von mir wissen. „Ich bin nicht wirklich das, was man einen guten Gesellschafter nennt.“ Ich lächelte ihn zaghaft an. „Ja, das habe ich.“ Bildete ich mir das lediglich ein oder hatte ich wirklich den Anflug eines Lächelns auf seinen Gesichtszügen erblickt? Fragend schaute ich ihn an, als er näher trat und meine kleine Hand ergriff. „Komm,“ sagte er. „Ich möchte dir etwas zeigen.“ Er führte mich zu der Orgel und bat mich Platz zu nehmen. Während er die Partituren und Schriftstücke durchstöberte, war ich mir seiner Nähe überdeutlich bewusst. Was waren das für Empfindungen gewesen, die ich verspürt hatte, als seine Hand auf meiner Wange ruhte? Als er meine Haarlocke durch seine Finger gleiten ließ und einen Kuss darauf hauchte? Mir war ganz anders zumute gewesen und ich hatte gebannt darauf gewartet was als nächstes geschehen würde. Am liebsten wäre es mir gewesen, dass besagte Momente der Zärtlichkeit ewig gedauert hätten. Es mochte merkwürdig klingen, aber ich fühlte mich sehr zu diesem mysteriösen Mann hingezogen. Vielleicht weil ich mich ihm so verbunden fühlte, vielleicht aber auch weil ich mehr als nur Mitleid für ihn empfand. Ich wusste es nicht und war innerlich vollkommen aufgewühlt. Dieses Gefühl der Verwirrung an mir selbst wahrzunehmen, war etwas gänzlich Neues für mich. Was er mir wohl zeigen mochte? Verstohlen betrachtete ich seine Hände, die systematisch die Schriftstücke sortierten. Es waren unheimlich kräftige Hände und als ich mich daran erinnerte wie sich diese Hände um meine Kehle geschlossen hatten, fröstelte ich leicht. Mit diesen Händen hatte er getötet. Ich kannte die Geschichten, die sich um ihn rankten, doch bisher hatte ich nie geglaubt, dass sie tatsächlich der Wahrheit entsprachen. Nun musste ich mir eingestehen, dass nicht alles, was man sich über ihn erzählte, erfunden war. „Ah! Hier ist es.“ Seine Stimme riss mich jäh aus meinen Gedanken und erschrocken blickte ich hoch in seine durchdringenden, silbernen Augen. Mit einer geschmeidigen Bewegung setzte er sich neben mich auf die Bank und ordnete eine Partitur in dem Notenhalter vor sich an. Obwohl er streng darauf achtete mich nicht zu berühren, durch rieselte mich ein wohliger Schauer, denn auch ohne Körperkontakt war ich mir der unmittelbaren Nähe seines männlichen Körpers nur zu gut bewusst. Und als er dann zu spielen begann, war ich vollends verloren. Seine Finger flogen über die Tasten der Orgel und entlockten dem Instrument so zauberhafte Klänge, dass ich hingerissen lauschte und die Augen schloss. Es war die wundervollste Musik, die ich jemals gehört hatte. Ich konnte regelrecht spüren wie die Töne mich durchdrangen und mein Innerstes förmlich zum Vibrieren brachten. Manchmal schlug er die einzelnen Töne nur ganz sacht an, so dass sie sich zu einer lieblichen Melodie verbanden und einen Moment zart in der Luft schwebten, bevor sie verklangen. Doch dann gab es wiederum schnellere Passagen, in denen eine ungeheuerliche Leidenschaft ihren Ausdruck fand. Diese Passagen waren ungezähmt und voller Emotionen, von denen ich unweigerlich fortgeschwemmt wurde. Seine widerstreitenden Empfindungen strömten in einer solchen Intensität auf mich ein, dass mir ganz schwindelig wurde. Hass auf sein ungerechtes Schicksal, verschmähte Liebe, ein unbändiger Zorn auf die Menschheit und eine unendliche Einsamkeit, waren nur einige davon. Ich keuchte unter der Wucht seiner Gefühle auf. Noch nie hatte ich mich mit so vielen unterschiedlichen Emotionen auf einmal auseinandersetzen müssen und es war eine grauenhafte Erfahrung. Ich war hin- und hergerissen und wusste nicht auf welche Empfindung ich mich zuerst konzentrieren sollte. Gleichzeitig schien mein Selbst kleiner und kleiner zu werden, bis ich es kaum noch wahrnehmen konnte. Meine eigenen Gefühle rückten mehr und mehr in den Hintergrund. Da waren nur noch sein Zorn, sein Hass, seine Einsamkeit, die sich wie kalter Stahl in mein Bewusstsein bohrten. Allmählich begann ich zu vergessen wer ich war und verlor mich immer mehr in seiner gepeinigten Gefühlswelt. Was geschah nur mit mir? Das musste aufhören! Sofort! Sonst war ich verloren! Ich schrie gequält auf und hielt mir die Ohren zu. Panisch sprang ich auf und wollte davon eilen, nur fort von diesen fatalen Klängen, die mein Selbst zu zerstören drohten. Ich strauchelte und stürzte zu Boden. Noch ehe ich aufschlug, konnte ich vernehmen, dass die Musik abrupt in einem disharmonischen Akkord endete und erhaschte einen flüchtigen Blick auf das Phantom, welches entsetzt auf mich hinunter blickte. Dann umfing mich samtene Schwärze, als mir die Sinne endgültig schwanden. *** Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem mit rotem Stoff bezogenen Bett. Das Phantom hatte eine dünne Decke über mir ausgebreitet, damit ich nicht fror. Vorsichtig versuchte ich mich aufzurichten, doch mir war immer noch schwindelig und so ließ ich mich erschöpft zurück in die weichen Kissen sinken. Ich schloss die Augen und dachte darüber nach, was vorhin mit mir geschehen war. Es war beängstigend wie viele Emotionen des Phantoms in seine Partitur eingeflossen waren. Er musste seine ganze Seele in dieses Stück gelegt haben und durch sein gefühlvolles Orgelspiel hatte er alles freigesetzt. Als die Töne erklangen, wurden all diese starken Gefühle entfesselt und fanden ihren Weg zu der einzigen Person, die sie aufnehmen konnte: mir. Ich schauderte bei dem Gedanken an all die Empfindungen, die sich wie die Krallen eines Raubvogels in meinen Geist gekrallt hatten. Mit jeder Note, die das Phantom spielte, wurden es mehr und mit jeder einzelnen blitzte ein Erlebnis aus seiner Vergangenheit vor meinem inneren Auge auf. Nun kannte ich ihn so, wie kein anderer ihn kannte. Ich wusste alles über ihn, denn ich hatte die dunkelsten Abgründe seiner Seele gesehen. Die Morde, die er begangen hatte, das Leid das ihm zugefügt wurde, der glühende Hass der in ihm brodelte, all dies hatte ich vorhin im ganzen schrecklichen Ausmaß durchlebt. Und auch wenn es grauenvoll gewesen war und es mich beinahe alles gekostet hätte, war ich irgendwie auch froh, dass es geschehen war. Jetzt verstand ich ihn. Wer als Junge in einem schmutzigen Käfig hausen musste und wie ein wildes Tier der gaffenden Menge als Ausgeburt der Hölle präsentiert wurde, wer so viele traurige und schmerzvolle Erfahrungen durchmachen musste, der wurde unweigerlich zu solch einem verzweifelten Geschöpf wie das Phantom es war. „Verzeihung.“ Erschrocken öffnete ich die Augen, als ich seine Stimme vernahm und blickte direkt in seine silbernen Augen. Er sah ein wenig besorgt aus und trug ein kleines Tablett, auf dem ein Glas Wasser und ein Becher mit einer undefinierbaren Flüssigkeit stand. „Geht es dir wieder etwas besser?“ fragte er mich und stellte das Tablett neben dem Bett auf der Kommode ab. Er nahm den dampfenden Becher in die Hand und setzte sich auf die Bettkante. Ich nickte matt. Langsam richtete ich mich auf und dieses Mal gelang es mir gegen das Schwindelgefühl anzukämpfen. Als ich aufrecht saß, reichte er mir den Becher. „Hier trink das. Das wird dir gut tun.“ Ich ergriff den dargebotenen Behälter und beäugte skeptisch die braune, trübe Brühe, die sich darin befand. Von dem Geruch der aufstieg wurde mir beinahe übel. Es roch einfach widerlich. Ich verzog das Gesicht. „Was ist das? Das riecht ekelerregend.“ Er unterdrückte ein Schmunzeln. „Es ist eine Mixtur, die ich aus verschiedenen Kräutern hergestellt habe,“ erklärte er. „Mag sein, dass es nicht gerade nach Rosen duftet, aber es wird dir helfen dich besser zu fühlen. Also trink.“ Sein Blick war wieder ernster geworden und er schaute mich streng an. Ich gehorchte und leerte unter seinem wachsamen Blick artig den ganzen Becher. Erstaunlicherweise roch das Gebräu schlimmer, als es tatsächlich schmeckte. Es war zwar ziemlich bitter, ähnelte aber vage dem Geschmack von dem Tee, den ich so gerne trank. Dankbar ließ ich die warme Flüssigkeit durch meine Kehle rinnen und fühlte mich gleich ein wenig besser. „Danke,“ sagte ich und strich mir mit der einen Hand eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn. Schweigend nahm er mir die Tasse aus der Hand und stellte sie zurück auf das Tablett. Dann wandte er sich wieder mir zu. Eine Weile betrachtete er mich einfach nur ohne ein Wort zu sagen. Ich errötete unter seinem forschenden Blick und begann nervös an der Decke herum zu zupfen. Seine Stimme war sanft, als er schließlich die Stille durchbrach. „Was ist da gerade eben mit dir geschehen?“ Ich seufzte einmal leise, bevor ich antwortete. „Ich weiß es nicht genau,“ gab ich dann zu. „Ich weiß nur, dass es mich beinahe vernichtet hätte.“ „Vernichtet?“ Seine unbedeckte Augenbraue schoss in die Höhe. „Du meinst, du wärst vorhin beinahe gestorben?“ Ich nickte und musste schlucken, als ich daran dachte wie nahe ich dem Tod gewesen war. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und meine empathischen Fähigkeiten hätten mich das Leben gekostet. Ich schauderte und schlang die Arme um meinen schmalen Körper. Das Phantom sah mich mitfühlend an. Das er nach all dem, was er durchmachen musste, noch so etwas wie Mitgefühl aufbringen konnte, erfüllte mich mit einem Hoffnungsschimmer. Ich wusste, dass er die meisten seiner Verbrechen aus schierer Verzweiflung und blankem Hass begangen hatte, dass er durch die grausame Behandlung, die ihm in seinem Leben widerfahren war, fast schon dazu getrieben wurde. Trotz allem, schien seine Vergangenheit ihn noch nicht vollkommen zerstört zu haben. Es gab entgegen all der aneinander gereihten schrecklichen Erlebnisse in seinem Leben immer noch etwas Gutes in ihm. Und das bestärkte mich in meinem Vorhaben. Ich wollte ihm zeigen wie es war ein guter Mensch zu sein mit angenehmen Gefühlen wie Freundschaft, Güte, Frohsinn und... Liebe. Langsam hob ich den Blick. „Ja, ich denke, dass wäre fast mit mir geschehen. Ich war dabei mein Selbst gänzlich zu verlieren. Alles was mich als Person ausmacht, hätte sich beinahe in Luft aufgelöst, so als hätte es nie existiert,“ versuchte ich zu erklären. „In der Partitur, die Sie mir vorgespielt haben, sind all Ihre Empfindungen beim Komponieren in einem unvorstellbaren Ausmaß mit eingeflossen. Und als Sie es dann mit ebenso viel Gefühl vorgespielt haben, wurden all diese intensiven Emotionen wieder heraufbeschworen. Das war einfach zu viel für meinen Geist. Mit jeder neuen Note durchdrang mich ein weiteres Bruchstück Ihrer Erinnerungen, die eng mit Ihren Gefühlen verknüpft sind und ich durchlebte alles als wäre ich Sie. Die Intensität Ihrer Empfindungen hat mich mehr und mehr vereinnahmt, bis mein eigenes Selbst nur noch ein flackernder kleiner Funke war, der zu erlischen drohte. Wenn ich letztendlich nicht das Bewusstsein verloren hätte, wer weiß, was dann mit mir passiert wäre?“ Ich machte eine anmutige Geste mit meinen Händen, bevor ich diese sittsam über der dünnen Decke faltete. Erwartungsvoll blickte ich das Phantom an. Man sah ihm deutlich an, dass ihm meine Erzählung nicht sonderlich behagte. Er hatte seine Augen leicht zusammengekniffen und schien vor sich hin grübeln. Schließlich suchte und fand er meinen Blick. „Du hast also durch mein leidenschaftliches Spiel einen Einblick in die entferntesten Winkel meiner Seele gewonnen?“ Ich hatte befürchtet, dass ihn diese Tatsache wütend machen würde, doch er wirkte eher gefasst und nachdenklich. Von Zorn keine Spur. „Ja,“ antwortete ich ruhig. „Und was wirst du nun mit diesem Wissen anstellen... Emilie?“ Er beugte sich über mich und sein Blick schien den meinen festzuhalten, denn ich vermochte nicht beiseite zu schauen. Es war das erste Mal, dass er meinen Namen aussprach und er tat es langsam, bedächtig, so als kostete er den Klang jeder Silbe aus. In meinen Ohren klang es wie Musik. Meine Wangen röteten sich und ich wollte verlegen den Blick senken, doch das ließ er nicht zu. Er umfasste mein Kinn und zwang mich sanft aber bestimmt ihm weiterhin direkt in die Augen zu sehen. Mein Herz pochte wie wild bei dieser Berührung. Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt. Er war mir so nahe, dass ich die feinen Linien in seinen Augenwinkeln erkennen konnte, welche mich an die zarten Fäden eines Spinnennetzes erinnerten. Aufmerksam sah das Phantom mich an und schwieg. Er wartete auf eine Antwort. „Ich werde es lediglich verwenden, um dich besser zu verstehen... Erik.“ In den silbernen Tiefen seiner Augen regte sich etwas, als er den Klang seines Namens vernahm. Sein Blick wurde weicher und ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Ich war gebannt von diesem Lächeln. Es veränderte sein Gesicht vollkommen und zeigte eine ganz andere Seite des einsamen, verzweifelten Mannes. Eine freundliche, liebenswerte Seite. Eine Seite, die ich immer und immer wieder sehen wollte. „Es ist schön einmal wieder mit seinem Namen angesprochen zu werden,“ sagte er leise und hielt meinen Blick mit seinem fest. Ich verlor mich völlig in dem sanften Glühen seiner Augen und hielt den Atem an, als er sein Gesicht langsam dem meinen näherte. Er wollte mich küssen! Meine Atmung beschleunigte sich und mein Herzschlag wurde noch schneller als er ohnehin schon war. Ein wohliger Schauer durch rieselte mich, als er seine Hand auf meine Wange gleiten ließ und zart über die samtige Haut strich. Ich wünschte mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als endlich seine Lippen auf den meinen zu spüren und mich in diesem ersten Kuss vollends zu verlieren. Noch nie zuvor war ich geküsst worden. Selbst Victor hatte niemals versucht mir einen Kuss aufzuzwingen, so dass ich in dieser Hinsicht noch gänzlich unschuldig war. Wie es sich wohl anfühlen mochte? Ob seine Lippen so weich waren wie sie aussahen? Ich würde es gleich erfahren. Ich schloss die Augen und wartete atemlos. Doch kurz bevor unsere Lippen sich endgültig berührten, zerriss ein schrilles Geräusch die Stille. Ich riss meine Augen erschrocken wieder auf und Erik erhob sich hastig vom Bett. „Eindringlinge,“ knurrte er wütend und bei dem unheilvollen Klang dieses Wortes zuckte ich unwillkürlich zusammen. Er war wieder der von Zorn und Hass über sein grauenvolles Schicksal zerfressene Mann. Jegliche Spur seines liebenswerten Ichs war von ihm gewichen was ich unheimlich bedauerte. Traurig sah ich mit an wie er aus einem Schrank zwei im Kerzenlicht kalt schimmernde Pistolen hervorholte und sie an seiner Hose befestigte. Ein aufgerolltes Lasso fand ebenfalls an seinem Gürtel seinen Platz. Ich fröstelte und legte die Arme schützend um meinen Oberkörper. Mir schwante nichts Gutes und ich wünschte er würde nicht gehen, sondern stattdessen bei mir bleiben. Sein Lächeln war eisig, als er sich schließlich mir zu wandte. „Ich muss dich eine Weile allein lassen, um mich um deine Freunde zu kümmern. Ich bin bald zurück.“ Er wollte sich umdrehen, um fortzugehen, doch ich hielt ihn durch meinen jähen Ausruf zurück. „Geh nicht!“ flehte ich inständig und streckte die Hand nach ihm aus. In meinen grünen Augen schimmerten ein paar Tränen, die ich mühsam zurückhielt. „Du brauchst keine Angst zu haben, Emilie. Ich werde schon zurückkommen. Mir wird in meinem Opernhaus nichts geschehen. Also sorge dich nicht um mich.“ Für einen flüchtigen Moment huschte ein Schimmer Wärme über seinen ansonsten stahlharten Blick und ich verspürte kurz ein Gefühl der Freude darüber, dass ich um sein Wohlergehen besorgt war. Dann drehte er sich um und ging. „Pass auf dich auf,“ flüsterte ich in die bedrückende Stille hinein. Ich ließ meine ausgestreckte Hand wieder sinken. Eine einsame Träne rann meine Wange hinab und tropfte auf meine Hände, die verkrampft die dünne Decke umklammerten. Hoffentlich kam er wirklich unversehrt zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)