Diary of Levi von Yamato_ (Levi's Tagebuch) ================================================================================ Kapitel 1: September 849 - Dezember 849 --------------------------------------- September 849 - Dezember 849 8. September 849 Scheiße, wie sieht’s denn hier schon wieder aus! Wissen diese verdammten Grünschnäbel nicht, wie man sich die Stiefel putzt, oder was? Was lernen die überhaupt an ihrer dämlichen Militärakademie! Ein paar Tage hier, schon tragen sie überall Dreck rein! Nee, Blagen, heut’ is nix mit Ausreiten. Wenn die ihre fünfzig täglichen Trainingsrunden abgerannt haben, pfeif ich sie sofort hier rein! Erst mal werden die Zimmer aufgeräumt und ordentlich saubergemacht. Ja, auch oben auf den Schränken! Und unter den Betten. Und die Gänge, die dürfen sie gleich mitputzen! Der Herbst ist sowieso die schmutzigste Zeit im Jahr, überall Matsch und altes Laub. Bin froh, wenn er rum ist. Und wenn sie schon dabei sind, können sie auch mal über die Fenster gehen, die haben’s dringend nötig. Man sieht ja kaum noch nach draußen. Echt Leute, wenn ihr wie die Schweine im Dreck leben wollt, hättet ihr verdammt noch mal zur Militärpolizei gehen sollen und nicht zum Korps! 10. September 849 Ganze elf Rekruten haben wir von der Hundertdritten abgekriegt. Noch weniger als im letzten Jahr. Vielleicht sollte Erwin bei seiner nächsten Motivationsrede nicht ganz so viel über Tod und Verderben quatschen. Macht sich nicht so gut als Werbung. Aber was soll er ihnen denn sonst erzählen? Frieden und Liebe und Party mit Titanen? 23. September 849 Die Mittel für unsere nächste Mission sind immer noch nicht bewilligt worden. Scheiß Bürokraten! Erwin meint, er will sich persönlich auf die Suche nach Sponsoren machen. Wahrscheinlich wird er für’n paar Tage nach Utopia reiten und vor irgendwelchen adeligen Schnöseln katzbuckeln. Scheißjob! Bin ich froh, dass ich den nicht machen muss! Apropos katzbuckeln! Der Getigerte mit dem weißen Bauch saß heut morgen wieder auf dem Dach. Ich frage mich, wie er’s so lange geschafft hat, den Kochtöpfen zu entgehen. Seit dem Mauerfall vor vier Jahren und der anschließenden Nahrungsmittelknappheit, sieht man so gut wie keine Katzen mehr auf den Straßen. Hunde und Ratten übrigens auch nicht. Selbst die Tauben schießen sie von den Dächern. 4. Oktober 849 Heute zwei der Neuen beim Rummachen im Stall erwischt. Die werden noch merken, dass die Ställe viel zu auffällig sind. Bei den Pferden ist ständig jemand, die müssen bewegt, gefüttert, betüdelt und ausgemistet werden. Die Pferde sind unser Wertvollstes im ganzen Korps, ohne sie könnten wir einpacken. Das Mädel starrt mich an wie ein verschrecktes Karnickel. Der Typ dagegen hat was Herausforderndes in seinem Blick, so als wolle er sagen: „Captain, hättet Ihr nicht einfach verdammte zehn Minuten später hier reinplatzen können!“ Der Kleine hat Schneid, gefällt mir. Wär’ er auch noch klug gewesen, wären sie auf den Heuboden hochgegangen. Dummheit gehört bestraft, also – sagen wir mal – fünf Extrarunden für jeden. 17. Oktober 849 Résistance wird neu beschlagen, die alten Eisen sind schon ziemlich abgenutzt. So kann ich sie wohl kaum auf Mission reiten. Wenn die überhaupt stattfindet. Erwin ist vor vier Tagen nach Utopia abgedampft und bisher gibt’s keine Neuigkeiten von ihm. Schon wieder Rekruten erwischt, diesmal beim Pilzekauen. Vierundzwanzig Stunden keine Rationen für euch und beim nächsten Mal werden es achtundvierzig sein! 21. Oktober 849 Die Grünschnäbel machen sich langsam. Dominik hat ganz anständige Reflexe, Silke ist eine nicht unfähige Reiterin – werde Erwin vorschlagen, sie als Botin einzusetzen – und Oliver hat eine passable Technik mit der Manöver Gear. Ein Glücksgriff scheint auch dabei zu sein: Andreas. Ja, der Karnickelstecher von neulich. Wenn der noch an seinen Kampftechniken feilt... hm... mal seh’n. Muss Petra fragen, ob sie was dagegen hat, wenn ich mir den Kleinen mal ausborge... 22. Oktober 849 Petra hat was dagegen. Sie meint, es würd’ Andreas zu Kopf steigen, wenn er vor seiner ersten Mission eine Sonderbehandlung bekäme. Ha, wahrscheinlich hat sie einfach nur Angst, ich könne den Kleinen zu hart rannehmen. Mann, Petra, was soll der Scheiß! Ich will ihn nicht vögeln (obwohl der sicher abgeht wie ’ne Kanone). Ich will ihn einfach nur trainieren! Wenn ich’s als Strafe tarne, fällt es weniger auf. Leg mich jetzt auf dem Heuboden auf die Lauer. Mal sehen, ob’s was bringt. 23. Oktober 849 Scheiße verdammt, Dieter und Darius! Und. Ich. Will. Das. Nicht. Hören. Es ist vier Uhr morgens, ich bin hundemüde und ich weiß wieder mal... Dinge. 2. November 849 Erwin ist zurück. Am 10.Dezember geht’s los. 7. November 849 Was zur Hölle machen die Katzenhaare auf meinem Bett? Hab ich dem Mistvieh erlaubt, mein Zimmer zu betreten? Kater, sei bloß froh, dass wir uns nicht vor sieben Jahren begegnet sind, du wärst so was von fällig gewesen. Und glaub’ mir, ich weiß immer noch, wie man Katzen ausnimmt. Kannst dich dafür bedanken, dass ich jetzt regelmäßige Rationen habe. Sieben Jahre. Bin ich echt schon so lange beim Korps? 13. November 849 Wir werden WAS tun? Titanen einfangen? Titanen einfangen und hinter die Mauer bringen? Erwin, das ist doch nicht dein Ernst! Hat die heilige Sina dir ins Hirn geschissen oder was! Oh, Mann, ich glaub’s nicht! 27. November 849 Manchmal muss man einfach Massel haben. Andreas hat es irgendwie geschafft, sich das vordere Abzeichen abzureißen und hat es schlampig wieder angenäht. Das verdient definitiv die Höchststrafe. Nein, Petra, auch du kannst das nicht anzweifeln. Karnickelstecher, du bist fällig. Morgen früh um halb sechs auf dem Hof. Und glaub’ mir, das wird ein laaanger Tag. 28.November 849 Das war nicht geplant, echt nicht. Ich wollte den Grünschnabel wirklich nur trainieren. Morgens und abends, vor und nach seinem regulären Training. Hat auch alles soweit gepasst... bis abends. Weiß selbst nicht so genau, wie dann eins zum anderen kam, aber Fechten und Ringen macht mich scharf wie’n Kampfhund. Das ist wie ein Rausch und manchmal zieh’ ich da andere mit rein. Was soll’s, passiert ist passiert! War ’ne einmalige Sache, er sieht das genauso wie ich. Seine größte Angst ist, dass ich ihn jetzt nicht mehr weiter trainiere, aber ich hab’ damit kein Problem. Wenn er morgen reiten kann, zeig ich ihm sogar meinen Spezialsprung. Das mit ihm und dem Karnickel ist angeblich was Ernstes. Deswegen auch die getauschten Abzeichen. Alberne Spinner. Was ein Stuss! Ernst gibt’s nicht beim Kundschafterkorps. Ernst ist ausverkauft. Manchmal ist ein anderer warmer Körper in der Dunkelheit das Einzige, was dich davon abhält, wahnsinnig zu werden. Und bei manchen Leuten hilft selbst das nicht mehr. Hust, Hanji, hust. 3.Dezember 849 Dieses bekloppte Vierauge! Ich wusste doch, dass sie hinter der Sache steckt. Kommunizieren will sie mit ihnen! Reden! Bei einem Tässchen Tee über den Sinn des Lebens plaudern! Boah, Ische, du hast echt’n Rad ab! Tut mir ja leid, das mit deiner Ilse und so, aber glaubst du ernsthaft, dass ihr Geschreibsel uns soviel weiterbringt? Du müsstest doch eigentlich wissen, was Menschen in ihren letzten Momenten so alles von sich geben. Und wie viel Stuss da auch bei rauskommt. Mir hat mal einer erzählt, die heilige Sina wär’ ihm morgens im Waschraum in der Schüssel erschienen. Ich hätt’ auch nichts gegen eine heilige Sina morgens im Waschraum. Und Rose und Maria kann sie gleich mitbringen, ich knall die alle drei! Und ihre Pfaffen dürfen zugucken. Ymir? Ist das überhaupt ein Wort? Wir können sie töten, ja. Aber lebendig einfangen? Selbst, wenn Erwin’s Berechnungen stimmen und die Stahlseile halten, wie sollen wir sie transportieren? Auf den Karren kriegt man so ein Titanenvieh nicht rauf, nicht mal ’nen drei Meter Klasse. Einer muss Beute spielen und sie locken. Und ich kann mir schon lebhaft vorstellen, wer das sein wird. 6.Dezember 849 Der Tag hat kaum angefangen, schon werd’ ich wieder zugeschwallt. Zuerst darf ich mir neuen Schmonzes über Titanenforschung anhören. (Blitzmeldung, Hanji, von Titanenforschung versteh’ ich nichts, ich schlitze die Dinger nur auf). Dann darf ich Kummerkasten für Andreas spielen, der mit Kerstin (so heißt das Karnickel) eine Art Beziehungskrise durchläuft. (Blitzmeldung, Andreas, von Beziehungen versteh’ ich etwa genauso viel wie von Titanenforschung. Ich hatte nie eine und lass auch tunlichst die Finger davon. Mehr als Vögeln ist bei mir nicht drin.) Aber so was sag’ ich ihm natürlich nicht. Ich korrigiere seinen Griff, (er hält das linke Schwert immer noch zu weit hinten) und quatsche irgendwas Aufmunterndes. Es muss wohl geholfen haben, denn danach geht’s ihm besser. Nach dem Training will ich eigentlich ausreiten, doch im Stall wartet der dritte Anschlag an diesem Tag. Petra schäumt wie eine Furie und faltet mich doch tatsächlich zusammen. Ich hab’ jetzt nicht alles verstanden, was sie mir an den Kopf wirft – hysterische Frauen reden immer sehr schnell, sehr schrill und sehr durcheinander – aber ein paar grundsätzliche Ideen kamen schon bei mir an. Irgendwie ging’s darum, dass ich gefälligst nicht meine Scheiß-Nase in ihre Angelegenheiten oder meinen Scheiß-Schwanz in ihre Rekruten stecken soll. Frau, wer bist du und was hast du mit Petra gemacht? Ernsthaft, mir fiel fast das Halfter aus der Hand. In den eineinhalb Jahren, in denen sie jetzt meinem schlechten Einfluss ausgesetzt ist, hab’ ich Petra nicht ein einziges Mal fluchen hören. Wäre sie jetzt noch zu Hause in Yalkell, müsste als Nächstes eine ältliche Gouvernante um die Ecke gerannt kommen, sie panisch wegzerren und ihr den Mund mit einem großen Stück Seife auswaschen. Aber sie ist nicht mehr in Yalkell, ihr Zuhause ist jetzt hier bei uns. Willkommen beim Korps. 9.Dezember 849 Anstrengender Tag. Training, Besprechungen, Vorbereitung, fieberhaftes Treiben. Anspannung in der Luft. Bin hundemüde und will eigentlich nur noch in mein Bett. Geht aber nicht. Heulendes Mädchen darin, die hat was dagegen, dass ich jetzt schlafe. Nicht Silke, nicht Stefanie, nicht Kerstin, das Karnickel. Eine von den ganz Unauffälligen, von der ich nicht mal den Namen weiß. Heult und schluchzt und schnieft irgendwas von: „Wenn ich morgen sterbe, will ich wenigstens einmal gelebt haben.“ Wär’ nicht das erste Mal, aber so direkt hat’s noch keiner bei mir versucht. Will sie am liebsten anbrüllen und einfach rausschmeißen, damit ich endlich schlafen kann. Erstens hab’ ich nicht den geringsten Bock auf ein Blag, also soll sie bitteschön wen anders vögeln. Zweitens soll eine Jungfrau heute Nacht gar niemanden mehr vögeln, am Ende hat sie morgen Schmerzen und fällt vom Pferd. Drittens, ach scheiß drauf! Meine Laute hängt an der Wand neben der Tür. In meiner Schreibtischschublade ist auch noch ein Rest von dem türkischen Honig, den Mike uns vom Schwarzmarkt mitgebracht hat, als er mit Erwin unterwegs war. Und wenn das nicht ausreicht, dann gibt es immer noch den Getigerten, der draußen auf dem Fensterbrett hockt und uns mit neugierigen Augen betrachtet. Musik, Süßigkeiten und Katze. In spätestens einer Stunde wird sie schlafen und ich kann Petra Bescheid geben, dass sie hier ist und dass ich ausnahmsweise mal nichts angestellt habe. Draußen fällt der erste Schnee. Bei genauerem Hinsehen entpuppt er sich als ein nasser, matschiger Schneeregen. Ich sehe nicht genauer hin. 10.Dezember 849 Hans Schmitz Alfred Östmann Klara Gruber Nina Paul Svetlana Kaschinsky Manfred Timm Uwe Westenberger Ingrid Gleißner Christian Ludwig Jasmin Herbruck Claude Konstantin Linda Scott Jürgen Martin Wolfgang Vogel Susanne Schwarz Toni Mühlbauer Matthias Heinz Chiara Biancavelli Caprice Biancavelli Toni Pfärrhammer Hubert Gottwald Samuel Altmann Isabel Merz Jörg Dürrhofer Rena Moorgries Johannes Mayr Helmut Brauhofer Anselm Frank Laure Marbot Bernd Schäfer Dominik Norwig Silke Kürten Stefanie Lechel Oliver Moll Beate Schneider Kerstin Dalhoff Andreas Berger Kapitel 2: Januar 850 – Mai 850 ------------------------------- Januar 850 – Mai 850 3. Januar 850 Chikatilo und Albert. Albert und Chikatilo Jetzt ist sie völlig meschugge! Ernsthaft, die Frau ist übergeschnappt. Ich meine, sie hatte ja schon immer ’ne Schraube locker, aber jetzt ist eindeutig das ganze Getriebe im Arsch! Chikatilo und Albert. Ich weiß nicht, woher Erwin die Engelsgeduld nimmt, sich ihr Geblubber anzuhören. Alle zwei, drei Tage steht sie bei ihm im Büro und quatscht ihn in einer Tour voll. Albert dies, Chikatilo das. Albert hat sein Breichen nicht aufgegessen. Chikatilo hat sich ins Höschen gepisst. Demnächst wird sie ihnen noch beibringen, ihre Spielsachen aufzuräumen und auf den Pott zu gehen. Ha... das geht gar nicht, die können nämlich nicht scheißen. Klasse, Hanji, was für eine bahnbrechende Erkenntnis! Titanen können nicht scheißen! Jetzt sind wir der Rettung der Menschheit aber ein ganzes Stück näher gekommen. 5. Januar 850 Titanen können auch nicht vögeln! Die. Haben. Keine. Schwänze. So ein Pech, Hanji, das wussten wir schon. 12. Januar 850 Langsam wird’s wieder voll hier. Viele Soldaten sind über den Jahreswechsel bei ihren Familien gewesen und trudeln allmählich wieder ein. Gut, dann können die jetzt auch mal Ställe ausmisten, Pferde bewegen, und den ganzen verdammten Dreck hier wegputzen. In keiner anderen Jahreszeit ist es so dreckig wie im Winter. Überall. Immerzu. Soviel kann man gar nicht putzen, dass da mal irgendwas irgendwo wieder sauber wird. Ich selber auch nicht, egal wie oft ich mich wasche. Meine Haut ist schon krebsrot von der ganzen verdammten Schrubberei und ich bin immer noch schmutzig. 18. Januar 850 Chikatilo und Albert. Ich komm’ nicht drüber weg. 11. Februar 850 Petra geht mir auf den Sack. Die letzten Wochen hab’ ich kaum was von ihr gesehen, da sie hauptsächlich mit ihren verbliebenen vier Rekruten beschäftigt war. Jetzt, seit ein paar Tagen, versucht sie, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Soll sich doch verziehen und jemand anderen nerven. Vier von elf, was hat sie denn erwartet? Wir hatten schon schlechtere Quoten. Von der Hundertzweiten haben wir grade mal drei von fünfzehn. Aber das weiß sie selbst am besten. Petra ist aus der Hunderzweiten. Scheiß drauf. Ich kann jetzt nicht mit ihr reden, hab’ genug anderes zu tun. Meine Gear sieht schon wieder aus wie einmal quer durch den Matsch gezogen. 12. Februar 850 Die Viecher haben auch keine Leber, keine Nieren, keine Milz, keine Blase und keine Gedärme. Die haben einfach nur einen Magen. Einen Sack ohne Ausgang. Und wenn der zu voll wird, kotzen sie. Dass sie das tun, wussten wir schon vorher, aber bisher hatten wir keine Ahnung, warum. Jetzt sind wir schlauer. Danke, Professor Hanji, dass du uns nicht dumm sterben lässt. Guck mich nicht so an, Kater. Ja, ich hätte dich gegessen, aber ich hätte dich wenigstens verdaut. 14. Februar 850 Alexej hat sich verlobt. Er hat es mir heute morgen erzählt, als wir ausreiten waren. Weiß zwar nicht, was genau ihm das Theater bringen soll, aber wenn er Spaß dran hat... Muss ihm ja nicht auf die Nase binden, wie lächerlich es ist. Sie ist nicht vom Korps, deshalb kenne ich sie nicht, aber er hat mir ein Bild gezeigt. Nein, kein Bild, eine Fotographie. Er ist extra mit ihr nach Stohess gefahren und hat eine machen lassen. Mit diesen Apparaturen, wo man unter Tüchern herumkriecht, die die da haben. Kostet ein Schweinegeld, aber er sagt, das war’s ihm wert. Wenn er meint. Ein paar von den Jungs wollen heut Abend darauf anstoßen. Hab’ keinen Bock auf so’n Schmonzes, sollte aber wahrscheinlich hingehen. Sogar eine Weinflasche werden wir killen, Günther hat noch eine gebunkert. Echten, keinen Billig-Fusel. Ausnahmsweise. 15. Februar 850 Achtzig Runden. Achtzig verdammte Runden. Und achtzig beschissene Liegestütze, davon dreißig auf den Fingerknöcheln. Erwin, du hast doch echt den Arsch offen! Wenn wir nur ganz friedlich miteinander gebechert hätten, hätt’ er wahrscheinlich ein Auge zugedrückt. Wär’ ja nicht so, dass man bei einer Flasche Wein gleich kotzend in der Gosse liegt. Erst recht nicht mit fünf Kerlen. Nicht mal angeschickert war’n wir! Aber eine Prügelei ist halt was anderes. Ja, das mit der Schickse hätt’ ich nicht unbedingt sagen müssen. Vielleicht war ich doch angeschickert. Erd und Günther haben uns angeboten, uns einen Teil der Strafe abzunehmen. Hab’s aber abgelehnt, Alexej auch. Wer die Scheiße macht, muss hinterher auch putzen. So läuft das nun mal beim Korps. 15. Februar 850, Nachtrag Petra ließ es sich nicht nehmen, hinterher unsere Hände zu versorgen. Meine bluteten stärker, Alexej hat wohl doch das dickere Fell. Es brannte ihr auf der Zunge, uns Vorwürfe zu machen, aber sie ließ es bleiben. Als Alexej und ich plötzlich anfingen, unanständige Witze über die Militärpolizei zu reißen, starrte sie uns an wie’n Pferd, nur nicht ganz so schnell. „Gestern habt ihr euch noch geprügelt. Versteh einer die Männer!“ Gestern. Ja, Petra, gestern. Heute haben wir... heute. 16. Februar 850 Geht ein Gardist in die Taverne, setzt sich an ’nen Tisch und bestellt sich was zu trinken. Lehnt er sich verschwörerisch zu dem Kerl am Nebentisch rüber und flüstert ihm ins Ohr: „Ey, willst du mal den neuesten Witz über diese Luschen von der Militärpolizei hören?“ Der andere Kerl steht auf (er ist einen Kopf größer) und packt ihn am Kragen: „So jetzt pass mal gut auf, du Witzbold. Ich BIN von der Militärpolizei. Meine drei Kumpels hier – ja genau, die zwei Meter-Schränke – sind auch von der Militärpolizei. Die vier Pokerspieler dort hinten in der Ecke sind auch von der Militärpolizei, die zwei Sturzbesoffenen, die sich da gegenseitig in die Fresse hauen, sind auch von der Militärpolizei und die Blonde, die da oben auf dem Tisch strippt, ist auch von der Militärpolizei. Uns gehört praktisch der ganze Laden hier. Na, willst du jetzt noch immer deinen Witz erzählen?“ Der Kerl von der Stadtwache schüttelt den Kopf. „Nee, lass mal. Da müsst’ ich ja elf Mal die Pointe erklären.“ 26. Februar 850 Es hat sich bestätigt (Danke, Professor Hanji), was wir eigentlich schon lange wussten. Sie haben keine Schwachpunkte außer dem Nacken. Man kann den Viechern alles abschnibbeln, es wächst sofort wieder nach. Selbst, wenn man sie mittendurch säbelt, regenerieren sie die untere Hälfte. Sogar ein neuer Kopf kann ihnen wachsen, wenn man ihn so abhackt, dass der Nacken dabei nicht beschädigt wird. Was sind das, Eidechsen oder Regenwürmer? 08. März 850 War mit Petra ausreiten. Hab’ mich sogar dafür entschuldigt, dass ich ein solcher Arsch war und ihr in den letzten Wochen die kalte Schulter gezeigt habe. Halt nicht auf die Weise entschuldigt, dass ich etwas zu ihr gesagt hätte. Die Botschaft kam trotzdem an bei ihr. Manchmal verstehen Menschen Dinge auch ohne Worte. 08. März 850, Nachtrag Wir sind kaum zurück, als Erwin mich ins Büro bestellt. Ich schätze, es geht um die neue Mission, die wegen unserer Vorratslager. 09. März 850 Zum letzten Mal, Erwin, ich übernehm’ keine komplette Einheit. Viel zuviel Planung und Taktik und Koordination und Gelaber. Nein, auch nicht auf einer Routinemission. Und im Grunde genommen weißt du selbst, dass das für mich der falsche Einsatzort ist. Meinetwegen übernehm’ ich wieder ein Team. Gib’ mir Alexej und Erd und Günther. Mit den Leuten kann ich arbeiten. Und dazu den Hosenscheißer aus der Hunderzweiten. Orlo Bussard. Ja, ich weiß, dass er ein Dummschwätzer und dazu völlig meschugge ist, aber er hat was drauf. Und wenn er endlich mal damit aufhört, jedes Mal ’ne rote Birne zu kriegen, sobald irgendeiner in seiner Nähe das Wort Schwanz in den Mund nimmt – wohlgemerkt, das Wort, nicht das, was es bezeichnet – dann kann man ihn sogar halbwegs ernst nehmen. 17. März 850 Team Levi steht. Wir haben die linke Flanke, Team Dieter hat die rechte. In den Stadtgebieten und den hundertjährigen Wäldern sind wir zugleich Rückendeckung für die anderen Teams. Heißt im Klartext, wir sind diejenigen, die sie wieder aus der Scheiße hauen dürfen, wenn was schief läuft. Team Petra wird die Vorratswagen beschützen. Das ist die sicherste Position in der Formation. Wahrscheinlich will Erwin die noch übrigen Kleinen erst mal soweit wie möglich aus dem Gefecht raushalten. Das hat beim letzten Mal zwar auch nicht geklappt, aber da ging es auch darum, Titanen einzufangen, nicht ihnen auszuweichen. Jetzt gehen wir ihnen brav aus dem Weg. Folgen unserer Route und füllen unsere Vorratslager wieder auf. Gas, Ersatzklingen, medizinischer Kram, und so weiter. Im Moment versuchen wir auch nicht, unsere Route weiter auszudehnen, sondern bleiben auf den gewohnten Pfaden. Aber wenn die Zeit kommt, sind wir vorbereitet. 19. März 850 Geht ein Militärpolizist in die Taverne, kommt nachts reichlich beschickert nach Hause und bemüht sich, leise zu sein, um seine Frau nicht zu aufwecken. Er schleicht sich ins Schlafzimmer, zieht im Dunkeln die Uniform aus – und zerdeppert prompt eine Vase. Die Ehefrau fährt hoch und ist tierisch erschrocken. Der Mann wird auf einen Schlag wieder nüchtern und entschuldigt sich, aber sie will ihm nur dann verzeihen, wenn er auf der Stelle zum Schwarzmarkt reitet und ihr von da ein Schälchen Erdbeeren holt. „Und wehe, du machst Licht, Max, ich hab’ Kopfschmerzen!“ Der Kerl zieht sich also im Dunkeln die Uniform wieder an, schwingt sich auf sein Pferd, reitet nach Stohess und wetzt durch die Katakomben in die Unterstadt zum Händler seines Vertrauens. „Demian, ich brauch’ ganz dringend Erdbeeren. Es ist wirklich wichtig, meine Ehe hängt davon ab!“ Der Händler nickt nur und reibt sich die Hände. „Kein Problem, Max, das lässt sich alles einrichten – solange du genügend Gold mitgebracht hast, natürlich.“ „Natürlich.“ Gut. Ach, und Max?“ „Ja, was?“ „Seit wann bist du eigentlich bei der Stadtwache?“ Orlo hat eine ganze Viertelstunde gebraucht, um den zu kapieren. 21. März 850 Frühling. Dreckigste Zeit im ganzen Jahr. Hmm... Frühjahrsputz. 25. März 850 Günther, hast du eigentlich Haare in der Nase? Ja, weil, ich hab’ welche am Arsch. Können wir ja mal zusammenknoten. 28. März 850 Großartig. Komme gerade mit meinen Leuten vom morgendlichen Training zurück und werde von einer heulenden Hanji über den Haufen gerannt. So fängt der Tag doch gut an. Tja... wie es scheint, hatten Albert und Chikatilo – mögen sie in Fetzen ruhen – doch eine Schwäche, von der wir nichts wussten: Sonnenlicht. Titanen gewinnen ihre Energie aus Sonnenlicht. Wir haben zwar die Erfahrung gemacht, dass sie nachts weniger aktiv sind, konnten uns aber nicht erklären, wieso. Jetzt, (danke, Professor Hanji) wissen wir mehr. Wenn es längere Zeit dunkel ist, verfallen sie in eine Starre. Ja, ganz genau wie unsere Soldaten vom Korps, wenn sie auf Mission sind. Nur, dass wir uns dabei noch bewegen und unsere Aufgaben erfüllen können. Die nicht. Die fallen irgendwann um. Eine einzige Nacht reicht dafür normalerweise nicht aus. Aber offenbar hat die irre Ische es mit ihren Experimenten leidlich übertrieben, den Albert mal eben in die Wuthöhle gesteckt und den Chikatilo auf die stille Treppe verbannt. Platsch. Das war’s. Titanenbrei. Danke, Professor Hanji. Ich weiche vorsichtshalber vor ihr zurück, damit sie mir nicht um den Hals fällt oder so was. Tote Titanen stinken wie einmal über den Fisch gepisst und ich bin sicher, sie musste ihre Kindlein knuddeln und wuddeln, bis sie verreckt... ähm, sanft entschlafen sind. Nein, so genau will ich das lieber nicht wissen. 16. April 850 Erwin hat den genauen Start festgelegt. Am vierten Mai rücken wir aus. 03. Mai 850 Na, prima. Katze und Gör im Doppelpack. Ist mein Bett jetzt neuerdings die Durchgangsstraße nach Stohess oder was? Ich kann mich auch wieder umdrehen und im Stall schlafen. Résistance macht mir bestimmt weniger Zores. Nein, dummes Ding, ich werd’ dich nicht vögeln und wenn du dich auf den Kopf stellst, dabei mit den Ohren wackelst und mir dabei den Witz von den drei besoffenen Militärpolizisten und der kleinen Anna erzählst. Gut, wenn du jetzt auf der Stelle die Klappe hältst und mir nicht länger auf den Zeiger gehst, sing ich für dich noch einmal das Kälbchenlied zum Einschlafen. Also gib endlich Ruhe, sonst hörst du nichts davon. Petra ist noch wach, als ich eine halbe Stunde später an ihre Zimmertür klopfe. Ich brauche ihr gar nichts zu erzählen, ein Blick reicht und sie weiß Bescheid. Sie hat dieses mordlustige Funkeln in den Augen, aber glücklicherweise gilt es diesmal nicht mir. „Jetzt ist Schluss! Monatelang hab’ ich versucht, ihr den Kopf zu waschen, aber wenn es um Euch geht, rede ich gegen Wände. Sie glaubt immer noch, Ihr wäret ihr persönlicher Schutzengel oder so. Ich marschiere jetzt da rauf und zerre Shoshannah notfalls an den Haaren aus Eurem Bett, wenn sie anders nicht hören will!“ „Auf das Geschrei freu ich mich jetzt schon“, gebe ich ironisch zurück und lehne mich gegen den Türrahmen. „Petra, mir ist klar, dass du für sie verantwortlich bist und somit auch jedes Recht hast, ihr ’nen Einlauf zu verpassen. Aber vielleicht ist jetzt nicht unbedingt die beste Zeit dafür. Wenn sie was getrunken oder gekaut hätte, okay, aber das Bett zu verwechseln, gefährdet nicht unbedingt die Mission. Ganz ehrlich, wenn Kommandant Erwin jetzt auf Patrouille durch die Schlafsäle ginge, könnte er das halbe Korps antreten lassen.“ „Sie raubt Euch Eure Nachtruhe, Captain“, faucht Petra. „Also, wenn das nicht die Mission gefährdet...“ „Schon gut. Sie schläft, also stört sie mich nicht weiter. Wenn du sie aufweckst, plärrt sie nur wieder rum.“ Petra nickt nur. Ich schätze, sie hat mittlerweile verstanden, wie das hier läuft. Warum manche Verfehlungen im Korps schwer bestraft werden, während man bei anderen wegsieht. Und kurz vor Missionen wird noch mehr weggesehen als sonst. Krieger machen Liebe, bevor sie in die Schlacht ziehen, hat es jemand mal sehr poetisch ausgedrückt. Für manche Menschen hat dieses Wort sogar eine Bedeutung. Menschen, die nicht lange genug leben, um ihren Glauben daran zu verlieren. Da ist immer noch diese Verwunderung in Petra’s Blick, diese unausgesprochene Frage, warum ich den ganzen Tag Sprüche übers Ficken klopfe, dann aber ein Mädchen von der Bettkante schubse, das jung, hübsch und willig ist. Aber mit Frauen ist das einfach so eine Sache. Die kann man nicht mal eben durchnageln und das war’s. Da kann zuviel kaputt gehen bei denen. Kerle sind unkomplizierter. Außerdem besteht immer ein Risiko. Ich will ums Verrecken kein Blag in die Welt setzen, das dann irgendwann in der Gosse krepiert oder vom Titanen gefressen wird, weil sein Vater zu dem Zeitpunkt längst tot ist oder von vornherein nie da war. Gibt genug Kackpratzen, die keiner braucht, war selbst eins davon. Kein Wunder, dass ich sauer auf Alexej war. Er ist schon eine Weile beim Korps, er hätte es besser wissen müssen. Aber manche verschließen eben die Augen davor und laufen blind durch die Welt. Ich nicht. Ich würde es nie einem Menschen antun, sich an mich zu binden und mir selbst auch nicht. Vögeln ist okay, alles andere hat in meinem Leben keinen Platz. Selbst wenn morgen alle Titanen tot umfallen und wir das Korps dicht machen würden, wär’ ich wohl nicht mehr in der Lage, mich noch zu ändern. Aber ich vermisse nichts. Ich vermisse ja auch keine Buttercremetörtchen oder Schweinelendchen oder den ganzen anderen Dreck, den dieses korrupte Pack in Utopia frisst. Es reicht vollkommen aus, Leute in den Tod zu schicken, ich muss ihnen zuvor nicht auch noch das Herz aus der Brust reißen. 04. Mai 850 Sebastian Zellinger Barbara Drexl Alexander Roth Angelika Pfister David Tanner Christian Linde Stefan Hegl Thomas Przybilla 05. Mai 850 Melanie Lauel Elisa Finn Sabine Claudius Alexej Grischnikow 06. Mai 850 Gerd Kühne Simon Philipps Shoshannah Rubenstein 07. Mai 850 Oyfn furl ligt dos kelbl Ligt gebundn mit a shtrik Hoykh in himl flit dos shvelbl Freydt zikh, dreyt zikh hin un krik. Lakht der vint in korn Lakh un lakht un lakht Lakht er op a tog a gantsn mit a halber nakht. Dona, dona, dona dona Dona, dona, dona don Dona, dona, dona dona Dona, dona, dona don Shrayt dos kelbl, zogt der poyer "Ver zhe heyst dikh zayn a kalb? Volst gekert tsu zayn a foygl Volst gekert tsu zayn a shvalb?" Bidne kelber tut men bindn Un men shlept zey un men shekht ver s'hot fligl, flit aroyf tzu iz bay keynem nit keyn knekht Lakht der vint in korn Lakh un lakht un lakht Lakht er op a tog a gantsn mit a halber nakht. Dona, dona, dona dona Dona, dona, dona don Dona, dona, dona dona Dona, dona, dona don Kapitel 3: Mai 850 – August 850 ------------------------------- Mai 850 – August 850 7. Mai 850, Nachtrag Achtzig Runden. Vierundneunzig Liegestütze. Drei Stunden Schwertkampf. Zweieinhalb Stunden Reiten. Zwei Stunden Training mit der Gear. 8. Mai 850 Zweiundneunzig Runden. Hundert Liegestütze. Drei Stunden Schwertkampf. Eine Stunde Reiten. Zwei Stunden Krafttraining. Drei Stunden Training mit der Gear. 9. Mai 850 Hundert Runden. Hundert Liegestütze. Drei Stunden waffenloser Nahkampf. Zwei Stunden Reiten. Dreieinhalb Stunden Training mit der Gear. 10. Mai 850 Hundertacht Runden. Hundertfünf Liegestütze. Zwei Stunden Schwertkampf. Eine Stunde waffenloser Nahkampf. Zwei Stunden Reiten. Eine Stunde Krafttraining. Vier Stunden Training mit der Gear. 11. Mai 850 Hundertzehn Runden. Hundertzehn Liegestütze. Zweieinhalb Stunden Schwertkampf. Zwei Stunden waffenloser Nahkampf. Eineinhalb Stunden Krafttraining. Viereinhalb Stunden Training mit der Gear. 12. Mai 850 Hundertzwölf Runden. Hundertfünfzehn Liegestütze. Zweieinhalb Stunden Schwertkampf. Zwei Stunden waffenloser Nahkampf. Zwei Stunden Krafttraining. Viereinhalb Stunden Training mit der Gear. 13. Mai 850 Hundertsechzehn Runden. Hundertzwanzig Liegestütze. Zweieinhalb Stunden Schwertkampf. Zwei Stunden Reiten. Eine Stunde waffenloser Nahkampf. Eineinhalb Stunden Krafttraining. Fünf Stunden Training mit der Gear. 14. Mai 850 Hundertachtzehn Runden. Hundertfünfundzwanzig Liegestütze. Zweieinhalb Stunden Schwertkampf. Zwei Stunden Reiten. Eine Stunde waffenloser Nahkampf. Eineinhalb Stunden Krafttraining. Fünf Stunden Training mit der Gear. 15. Mai 850 Hundertzwanzig Runden. Hundertdreißig Liegestütze. Drei Stunden Schwertkampf. Zweieinhalb Stunden Reiten. Eineinhalb Stunden waffenloser Nahkampf. Eineinhalb Stunden Krafttraining. Fünfeinhalb Stunden Training mit der Gear. 16. Mai 850 Hundertfünfundzwanzig Runden. Hundertvierzig Liegestütze. Dreieinhalb Stunden Schwertkampf. Zwei Stunden Reiten. Eineinhalb Stunden waffenloser Nahkampf. Eineinhalb Stunden Krafttraining. Sechs Stunden Training mit der Gear. 17. Mai 850 Beim Gear-Training vom Dach gefallen. Uniform eingesaut. Mein Blut ist so verdammt schmutzig. 18. Mai 850 Ich hasse ihn, ich hasse ihn, ich hasse ihn. Verflucht, ich hasse ihn dafür, dass er das mit mir macht! Warum kann er mich nicht einfach zufrieden lassen? Warum muss er mich immer wieder auseinander reißen und wieder zusammensetzen? Warum? Letztendlich bin ich doch nichts weiter als eine verdammte Killermaschine. Ich muss doch nur töten und dazu muss ich nichts fühlen. Ich muss sie nur umlegen, einen nach dem anderen. Zu mehr bin ich nicht gut. Mehr braucht es auch nicht. Aber er lässt es nicht zu. Mit jedem Stoß schlägt er härter gegen die Mauer, die mich umgibt. Stein bröckelt. Und langsam, ganz langsam, fängt es an, in mir wehzutun. Zuerst nur mein Hintern, den er immer noch gnadenlos vögelt. Dann zieht sich der Schmerz nach oben, kriecht durch meine Eingeweide bis hoch in meinen Brustkorb. Und das ist der Moment, in dem alles zerbricht. Ich will schreien, als es mir das Herz in Stücke reißt, doch ich habe keinen Atem. Ich will ihn anbrüllen, mit den Fäusten gegen ihn schlagen, ihn die rasende Wut spüren lassen, die er in mir freisetzt. Er kann es ertragen. Er muss die Wut und den Schmerz der halben Welt ertragen, jedes Mal wieder. Alles ist rot vor meinen Augen. Soviel Blut... Die Welt verblasst, verschwimmt in einer Suppe aus Grau, doch ich habe keine Tränen. Ich habe schon so lange keine Tränen mehr. Es ist nichts weiter als ein trockenes Schluchzen, das rau aus meiner Kehle dringt. Mein Körper zittert. Vielleicht die Kälte, vielleicht auch weil ich so verdammt hart gekommen bin, ich weiß es nicht und kann es nicht einschätzen. Das letzte Mal mit ihm ist schon so lange her, dass ich beinahe vergessen habe, wie es sich anfühlt. Ich weiß nur, dass ich jetzt schlafen werde. Ohne Alpträume. Er hebt mich hoch, legt mich auf sein Bett und breitet seine Decke über mich. Ich hasse ihn dafür, dass er mich so leicht tragen kann. Und am allermeisten hasse ich ihn dafür, dass er niemals schwach ist. Nicht so wie wir anderen. Das Kaminfeuer knistert. Die Fensterscheibe reflektiert den roten Schein, während die Regentropfen langsam daran herunterlaufen. Im Spiegelbild der Flammen sehe ich Gesichter, die eins nach dem anderen verblassen. Seine Haut riecht nach Sandelholz. Farben. Geräusche. Gerüche. Ich fühle wieder. Ich lebe wieder. Warum, verdammt noch mal, warum? Doch es ist sinnlos, ihn zu fragen. Er würde mich nur ansehen, mit diesem unergründlichen Blick, der so vieles aussagt und doch nichts verrät. „Es reicht, wenn einer von uns beiden seine Menschlichkeit verliert.“ 19. Mai 850 Großartig. Vier Tage Trainingsverbot. Nicht mal reiten darf ich, weil die irre Ische Angst hat, ich hätt’ mir bei meinem Sturz ’ne Gehirnerschütterung zugezogen. Meine Liebe, wer ist denn hier diejenige mit dem kaputten Hirn? Chikatilo und Albert! Vier Scheiß Tage! Was soll ich mit der ganzen verdammten Zeit anfangen? Oh, und Erwin, jetzt komm mir bloß nicht mit Bücherlesen und Schach spielen und so ’nem Schmonzes. Es reicht, wenn einer von uns beiden seine Zeit mit solchem Schwachsinn verschwendet! Günther, Erd und Orlo bringen mir Obst mit, das sie ordnungsgemäß auf dem Schwarzmarkt erworben haben. Wegen der Vitamine sagen sie. Sogar eine Orange ist dabei. Ich frag’ mich, wen sie umlegen mussten, um an eine Orange zu kommen. Das letzte Mal hab’ ich eine vor zwei Jahren gegessen, als Erwin mich zu einem Besuch bei einem seiner adeligen Schnösel in Utopia mitnahm. 20. Mai 850 Petra leistet mir Gesellschaft. Das Gute an ihr ist, dass sie mich nicht die ganze Zeit vollquatscht. Sie hat ihr Schreibzeug mitgebracht und schreibt Briefe. Ich seh’ sie eigentlich andauernd schreiben. Bei ihr sehen alle Buchstaben ordentlich aus, nicht so wie mein Gekrakel. Ich schätze, sie hat es schon als Kind gelernt – vielleicht von der ältlichen Gouvernante, die ihr immer den Mund mit Seife ausgewaschen hat. Sie hilft mir dabei, ein paar Briefe zu schreiben, die ich vor mir hergeschoben habe, denn sie ist auch gut darin, die richtigen Worte zu finden. ... ist ein großer Verlust für uns, hat sich durch besondere Tapferkeit vor dem Feind ausgezeichnet, heldenhaft seine Kameraden beschützt, bla bla bla. Mir ist übel, vielleicht hat die Irre doch recht von wegen Gehirnerschütterung und so. Im Gegenzug für ihre selbstlose Hilfe biete ich Petra ein Stück von meiner Orange an, aber sie sagt, sie hat in ihrem Leben schon genug Orangen gegessen und ich brauche die Vitamine nötiger. Mich zu betüteln hat sie anscheinend noch nicht aufgegeben. Dabei geht es mir nicht mal schlecht. Ein paar Muskeln sind überdehnt, zwei, drei Platzwunden und Aufschürfungen, aber nichts, was mir Kopfzerbrechen bereiten würde. Und etwas wund fühl’ ich mich, (aber das kommt nicht vom Sturz). Ich erzähle Petra den Witz von der kleinen Anna und den drei besoffenen Militärpolizisten. Sie macht Anstalten zu kichern, doch plötzlich kommt stattdessen ein ersticktes „Da seid Ihr ja wieder, Captain!“ und sie verlässt fluchtartig und mit abgewandtem Gesicht mein Zimmer. Und schnieft. Was zum Teufel noch mal war das denn? Ja, Petra, ich weiß, der Witz ist schlecht, aber doch auch nicht sooo schlecht, dass man deswegen gleich heulen müsste. Sei froh, dass ich nicht den vom Kundschafter erzählt habe, der von der Mission zurückkehrt und seine Frau mit einem Militärpolizisten im Bett vorfindet. Der wäre wirklich zum Heulen gewesen! 21. Mai 850 Es sei denn, man heißt Orlo Bussard und kapiert ihn nicht. Was bitteschön ist an ‚Hol mal dem fremden Herrn ein Pflaster und der Mama einen Korkenzieher’ nicht zu verstehen? 22. Mai 850 Noch ’nen Tag länger lass’ ich mich nicht gängeln, egal was Hanji sagt. Es gibt wieder mal viel zu viel zu tun und zu wenig Zeit. Die nächste Mission steckt schon in der Vorbereitung, wenn man Erwin’s grimmigem Gesicht, Mike’s neu erwachtem Aktionismus und Hanji’s hirnloser Herumwuselei Glauben schenken darf. Worum es geht, brauch’ ich auch nicht zu fragen. Wir mussten drei unserer Wagen samt Ausrüstung auf offenem Feld zurücklassen. Die holen wir uns wieder. So dicke haben wir’s nicht in unseren Taschen, das wir das Zeug einfach als Titanendeko liegen lassen können. Außerdem wollen wir ein Stück weiter ins Gebiet Maria vorstoßen. In einer der verlassenen Städte im Westen soll sich angeblich einiges an Werkzeugen, unbearbeitetem Metall und Salzvorräten befinden. Wenn das stimmt und wir etwas davon zurückbringen können, wird es dazu beitragen, unsere Versorgungslage zu verbessern und die drohende Hungersnot im Winter abzuwenden. 24. Mai 850 Die Mittel sind auch schon bewilligt worden. Wenn’s um Salz und Metall geht, lassen die hohen Herrschaften sich nicht lumpen. 05. Juni 850 Wieder voll im Training. Allerdings geht es dabei weniger um mich, ich bin fit. Stattdessen konzentriere ich mich mit allen Sinnen auf die anderen. Zwischendrin schließe ich die Augen und lasse alles vorbeiziehen, was ich von ihnen im Kampf gesehen habe. Taktiken, Techniken, Reflexe, Reaktionen, ihre Zusammenarbeit im Team. Es ist schwer, sehr schwer, eine Entscheidung zu treffen. Zwar hat Erwin mir zugesichert, dass ich die freie Auswahl habe, aber ich will kein funktionierendes Team auseinanderreißen. Deshalb kommen auch Dieter oder Darius nicht in Frage, obwohl sie zweifelsfrei zu den Besten gehören. Von den Veteranen hat mittlerweile jeder seinen Platz und seine Aufgabe. Und viel an Nachwuchs haben wir nicht. Von den drei Kleinen aus der Hundertdritten lasse ich die Finger, die sind noch nicht soweit. 17. Juni 850 Interessant. Manchmal findet man Lösungen im Schlaf. 18. Juni 850 Erwin zog doch tatsächlich die Augenbrauen hoch, als ich ihm heute morgen verkündete, wen ich haben will. Allerdings war er gedanklich nicht so ganz bei der Sache. Irgendein Pissgestrüpp von der Militärpolizei ist gestern Abend hier aufmarschiert und hat tierischen Stress geschoben. Er hat mir nicht erzählt, worum es dabei ging, aber wie’s scheint, hängt von der nächsten Mission eine ganze Menge ab. Wir dürfen’s nicht vermasseln. Echt nicht. 21. Juni 850 Ausreiten ist immer noch die beste Möglichkeit, wenn man ungestört reden will. Ganz ehrlich, ich hatte keine Ahnung, wie das Gespräch verlaufen würde. Ich war so nervös wie’n kleiner Scheißer vor seiner ersten Verabredung. Und die Chancen standen gut, dass ich einen Korb bekommen würde. Von Erwin wusste ich, dass sie schon ein Gesuch eingereicht hatte, sich um die Neuen von der Hundertvierten zu kümmern, wenn die Anfang September hier eintreffen. Falls sich überhaupt irgendwer von denen zu uns verirrt. Da bleibt doch keine Zeit mehr für Team Levi. Ernsthaft, unter ihrer sanften Oberfläche ist die Frau hart wie Stahl. Wieso ist mir das nicht schon früher aufgefallen? Sie hat fast alle Kameraden aus ihrem eigenen Jahrgang verloren, aber das hat sie nicht davon abgehalten, sich um die Nächsten zu kümmern. Auch die sind ihr praktisch unter den Händen weggestorben. Ist sie daran zerbrochen? Weit gefehlt! Und dabei sieht man sie so oft heulen. Sie macht nicht mal Anstalten, es zu verstecken. „Aus welchem Grund soll ich meine Trauer verbergen.“ Eine Spur von Eigensinn liegt in ihrem Gesichtsausdruck, fast wie bei einem trotzigen kleinen Mädchen. „Unsere Schützlinge können ruhig wissen, dass wir auch nur Menschen sind. Wir leiden genauso, wenn wir Kameraden verlieren, die uns nahe stehen.“ Mag sein. Aber wie hat Erwin es auf seine übliche gestelzte Weise ausgedrückt: Wenn der Wind schwächelt, wie können dann die Vögel fliegen? „Unsere Schützlinge, wie du sie nennst, müssen sich hundertprozentig auf uns verlassen können. Und das klappt nicht, wenn wir rumheulen und uns wie Schwächlinge aufführen.“ „Verzeiht, Captain, aber Gefühle zu zeigen, ist in meinen Augen keine Schwäche.“ Offenbar sieht Petra das ganz anders als ich. „Versteht mich nicht falsch, aber es reicht nicht aus, unseren Neuzugängen beizubringen wie man kämpft, reitet und seine Gear benutzt. Wir müssen ihnen auch beibringen, wie sie das Leben im Korps überstehen, ohne daran zu zerbrechen. Sie sehen ihre Freunde sterben und fühlen sich schuldig, weil sie überlebt haben. Und wir müssen ihnen dabei helfen, mit dem Schmerz und den Schuldgefühlen fertig zu werden.“ „Und das tun wir indem wir... heulen?“ Was zur Hölle wird das, wenn’s fertig ist, eine Lektion in Vergangenheitsbewältigung? Setzen wir uns jetzt alle in einen Stuhlkreis und reden über unsere Gefühle? Petra scheint sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. „Manche Dinge kann man Menschen nicht erklären, man kann sie ihnen nur vorleben. Wenn die jungen Rekruten sehen, dass man Gefühle zulassen darf, dass man trauern kann und danach wieder aufsteht und weiterkämpft, werden sie es genauso machen. Aus ihnen sollen schließlich keine kalten gefühllosen Tötungsmaschinen werden. Und aus uns ebenso wenig. Was wäre dann noch der Unterschied zwischen uns und den Titanen?“ Ich zucke zusammen, als ich den letzten Satz höre, denn etwas Ähnliches hat Erwin auch schon gesagt. Aber der Mann beherzigt seine eigenen Ratschläge nicht, die gelten nur für uns Normalsterbliche. Manchmal kommt er mir überhaupt nicht wie ein Mensch vor. Eher wie ein Felsen oder ein sehr alter Baum. „Wie zur Hölle erträgst du das eigentlich?“, platzt es unerwartet aus mir heraus. „Spielst monatelang die Glucke für die Neuen, dabei bleibt von denen eh kaum einer übrig. Eine der ersten Lektionen, die ich im Korps gelernt habe, ist, die Leute erst dann wahrzunehmen, wenn sie mindestens eine Mission überlebt haben. Und selbst dann stehen die Chancen gut, dass sie irgendwann draufgehen. Am besten ist es, man lässt überhaupt niemanden an sich ran!“ Ich gebe Résistance die Sporen. Dieses Gespräch ist für mich beendet. „Captain Levi!“ Verdammt, die Frau hat Nerven! Zieht einfach an mir vorbei und blockiert mir den Weg. Was bildet die sich eigentlich ein? „Captain, wem wollt Ihr hier was vormachen? Glaubt ihr, keiner hätte den Stolz in Euren Augen gesehen, als Andreas Euren Absprung gemeistert hat? Oder denkt Ihr, mir wäre nicht aufgefallen, dass eins von Shoshannah’s Abzeichen gefehlt hat, als wir sie im Hauptquartier aufgebahrt haben? Auch Euch waren diese Menschen wichtig und es ist richtig so! Sie waren beinahe noch Kinder und sie sind an unserer Seite gestorben, weil sie ebenso wie wir an eine freie Welt glauben. Eine Welt ohne Mauern!“ Sie ballt die Hände zu Fäusten und ihre Augen füllen sich mit Tränen. “Im September kommt die Hundertvierte und auch von ihnen werden wieder viele sterben. Das Mindeste, was wir für sie tun können, ist uns um sie zu kümmern und für sie da zu sein. Ja, auch wenn es uns jedes Mal das Herz zerreißt! Dann werden wir eben lernen, diesen Schmerz zu ertragen. Sie haben ein verdammtes Recht darauf, dass wir sie als Menschen sehen und nicht als Titanenfutter!“ Nicht schlecht. Das letzte Mal, als sie so ausgerastet ist, ging es um meine Scheiß-Nase und meinen Scheiß-Schwanz. Dieses Mal ist wohl mein Herz dran. Irgendwann hat sie dann alle Körperteile durch. „Petra.“ Sie sieht mich mit funkelnden Augen an und wischt sich die letzten Tränen von den Wangen. „Ja, Captain Levi?“ „Willst du meinem Team beitreten?“ „Captain... ich verstehe nicht...“ Was bitteschön ist an ‚Willst du meinem Team beitreten?’ nicht zu verstehen? 07. Juli 850 Wir reiten am 31. August. Traditionell ist das der Abschlusstag der neuen Kadetten und Erwin hat dieses Datum nicht zufällig ausgewählt. Wenn die Mission erfolgreich wird, hat Erwin den Grünschnäbeln endlich mal was Positives zu erzählen. Es stimmt, dass wir unter Erfolgsdruck stehen. Zum einen fehlen uns an allen Ecken und Enden Leute, zum anderen gibt es mehrere Petitionen, die unsere Auflösung verlangen. Normalerweise ist das nichts Neues, aber diesmal ist es wohl ’ne ernste Sache. Ernst gibt es wohl doch beim Kundschafterkorps. Der König steht unter großem Druck, sowohl durch den Adel und die Beamten als auch durch das Handelskartell. Und dass der Klerus gegen uns ist, braucht wohl nicht extra erwähnt zu werden. Wir sind ja allesamt abscheuliche Ketzer, die auf den Scheiterhaufen gehören. ‚Ketzer und stolz drauf!’ Das plärren die Jungs neuerdings im Waschraum anstelle von ‚Penis!’ 15. Juli 850 Wenn wir mit dieser Mission nicht unsere Nützlichkeit unter Beweis stellen, könnte es verdammt eng werden, aber Erwin sagt, wir sollen uns darüber keinen Kopf machen. Kundschafterkorps und Improvisation sind alte Kumpel. ‚Wir wissen nie, was auf uns zukommt, bevor wir nicht da sind’, war schon immer unser Leitspruch. Und die Mission hat ausnahmsweise mal gute Aussichten auf Erfolg. Wir wissen, dass das Zeug da ist, wir haben sogar Lieferscheine über Mengen und Standorte. Ja, sogar eine verdammte Stadtkarte konnte Erwin auftreiben. Wie hilfsbereit Bürokraten doch sein können, wenn sie sich was davon versprechen. 01. August 850 Und nicht zu vergessen, Team Levi ist in Bestform. Petra ist ein würdiger Nachfolger, sie macht unserem Alexej alle Ehre. Dieses Mal werden wir nicht scheitern. 31. August 850 Sanna Schubert Marcus Dietrich Tomas Krasnowsky Michael Taylor Annemarie Fink Ulrike Zeller Fabian Grimmbach Serafina Frapolli Verena Bayer Kevin Hanson Ludwig Bäcker Marcel Moirent 31. August 850, 1. Nachtrag Erwin, was verdammt noch mal geht in deinem Kopf vor? Wir sind kurz vor dem Ziel, wir haben’s beinahe geschafft. Wie kannst du uns jetzt zurückpfeifen, ausgerechnet jetzt? Sollen unsere Leute umsonst gestorben sein? Keine Titanen mehr. Laufen alle nach Norden, in Richtung Mauer. Das kann nur eines bedeuten. Die Mauer wurde durchbrochen. Genau wie vor fünf Jahren. 31. August 850, 2. Nachtrag Stehen wieder kurz vor Trost, kommen aber nicht rein. Das Tor ist vollkommen zerstört, stattdessen steckt ein riesiger Felsbrocken in der Mauer. Erwin gibt mir ein Zeichen und führt den Zug westwärts in Richtung Klorva. Da wir von Westen her kommen, ist das für die Pferde und Wagen der schnellste Weg zurück. Aber nicht für Team Levi. Team Levi geht über die Mauer. 31. August 850, 3. Nachtrag In Trost ist die Hölle los. Zerstörte Häuser, menschenleere Straßen und alles voller Titanen. Zwei davon machen sich gerade daran, drei verängstigte kleine Kadetten zu verspeisen, die völlig benommen auf dem dampfenden Körper eines gefallenen 15 Meter-Klasse hocken. Erst schlagen, dann fragen... so, das hätten wir. Levi zwei, Titanen null. Ein erfolgreicher Tag geht zu Ende. „Oy! Grünschnäbel!“ Drei verdutzte Gesichter gucken mich an und versuchen gerade zu begreifen, dass sie nicht tot sind. „Was zur Hölle geht hier eigentlich ab?“ Kapitel 4: August 850 – September 850 ------------------------------------- August 850 – September 850 31. August 850, 4. Nachtrag Die drei Blagen starren mich immer noch an. Mit fassungslos geweiteten Augen und offenen Mündern. Für lange Erklärungen bleibt allerdings keine Zeit, denn schon ist das nächste Titanenvieh in unsere Richtung unterwegs. Den kann ich zwar auch noch umlegen, aber auf Dauer werden es zu viele. Wir sollten schleunigst raus hier. Ich packe mir den halb bewusstlosen Dunkelhaarigen unter den Arm, die anderen beiden sind fit und haben eine funktionstüchtige Gear, die können sich von allein fortbewegen. Zum Glück ist der Rest von Team Levi mittlerweile über die Mauer gesprintet und hilft uns dabei, die Viecher aus dem Weg zu räumen. Zivilisten sehen wir keine, offenbar wurde Trost rechtzeitig evakuiert. Wenigstens etwas. Sieh an, ein Blümchen! Und ich hätte gedacht, die wären alle geflohen, sobald der erste Titan seine Nase über die Mauer gesteckt hat. Aber jetzt sind wir ja da, um die Scheiße wegzuräumen. „Riko Brzenska, Einheitenführerin der ersten Elite-Einheit der Stadtwache“, stellt sich das Blümchen vor. „Wenn Ihr mir bitte folgen wollt, Captain Levi.“ Elite-Einheit der Stadtwache? Wohl diejenigen, die das letzte Kampftrinken gewonnen haben, oder was? Ich lach’ dann mal später. Trost wurde von Titanen überrannt, soviel hab’ ich mitgekriegt. Das Innengebiet von Rose ist aber noch sicher. Als wir uns der Mauer nähern, kann ich das geschlossene Tor sehen. Aber wie kommt der verdammte Felsbrocken in die Bruchstelle am äußeren Tor? Kein Mensch könnte so ein Ding bewegen. Kaum sind wir auf der Mauer Rose gelandet, werden wir auch schon von einer Horde Militärpolizisten mit gezückten Gewehren umringt. Ruhig, Hörnchen, jetzt macht euch mal nicht ins Hemd! Ich bin zwar gefährlich, aber soviel Angst muss man auch nicht vor mir haben. Bisher hab’ ich noch keinem von euch was getan. Außer vielleicht, euch zu beschimpfen und schlechte Witze über euch zu reißen, aber das ist völlig legitim. Und euch zu beklauen, aber das ist schon ein paar Jahre her. So nachtragend kann man doch nicht sein. „Levi.“ Sieh an, das Oberhörnchen. Die Stimme hätte ich überall erkannt, auch wenn ich sie eine Weile nicht mehr gehört habe. Soll ich ihn jetzt freundlicherweise daran erinnern, dass es Captain Levi heißt? „Liefere uns auf der Stelle den Titanen aus.“ Titan? Welcher Titan? Was zur Hölle! Gibt’s bei der Militärpolizei neuerdings auch Kampftrinken oder was? Oder Wettpilzekauen. Wie jetzt? Das bewusstlose Blag unter meinem Arm ist ein… Titan? 1.September 850 Menschen, die sich in Titanen verwandeln… Wenn mir vor zwei Tagen jemand erzählt hätte, dass es so etwas gibt, hätte ich ihn für völlig meschugge gehalten. Ich halte ja auch Erwin für meschugge, weil er all die Dinge wörtlich nimmt, die in seinen ach-so-geheimen Büchern stehen. Unterwasserpferde, Riesenkarnickel, die ihre Jungen in Beuteln tragen, Katzen so groß wie Fohlen, und graue Tonnenviecher mit Hörnern und Schwänzen im Gesicht. Aber das ist alles noch gar nichts im Vergleich zu Menschen, die sich in Titanen verwandeln. „Du musst so etwas doch auch schon vermutet haben, Levi.“ Erwin dreht etwas zwischen seinen Fingern, einen kleinen bronzefarbenen Schlüssel. „Der Koloss und der Gepanzerte, sie sind keine gewöhnlichen Titanen. Sie besitzen Intelligenz. Warum glaubst du, haben sie Trost genau dann angegriffen, als wir auf Mission waren? Und warum denkst du, erfolgte der Angriff auf Shiganshina zu einem Zeitpunkt, da das Korps beinahe ausgelöscht war? Das war Kriegstaktik.“ Die ganze Geschichte klingt einfach nur viel zu schräg, um wahr zu sein. Dennoch können so viele Augenzeugen nicht lügen und halb Trost hat gesehen, was passiert ist. Diese kleine Kackbratze, dieser fünfzehnjährige Junge hat sich auf Befehl von Pixis in einen Titanen verwandelt und mit dem Felsbrocken das Tor gestopft. Pixis hat jetzt Ärger mit der Militärpolizei und das, obwohl die Aktion geglückt und Trost wieder abgeschottet ist. Wir haben auch Ärger mit der Militärpolizei und das, obwohl wir nicht mal da waren. Nile kam heute morgen hier reingepoltert, blickte finster drein und verzog sich mit Erwin in den Konferenzraum. Erwin’s Stimme war zu leise, aber Nile hat man ein paar Mal kräftig rumplärren hören: „Ist das Euer Ernst, Kommandant? Das ist ein verdammter Titan!“ Nile ist angepisst. Mal wieder. Erwin brütet vor sich hin. Mal wieder. Wahrscheinlich schmiedet er Pläne, was man mit einem Titanen auf unserer Seite alles anfangen könnte. Ich glaub’ das erst, wenn ich es mit eigenen Augen sehe. Und Team Levi hat auch erstmal andere Dinge zu tun. Erd, Günther, Orlo, Petra… Lasst uns Titanen jagen! 2.September 850 Neuer Schauplatz, der Knast der Militärpolizei. Es ist verdammt lange her, dass ich hier drin saß, aber dennoch schaudert es mich, als wär’s erst gestern gewesen. Nur allzu gut kann ich mich an Erwin’s kalte helle Augen hinter den Gitterstäben erinnern. Und an sein Angebot. Das Korps oder der Galgen... Wie’s scheint, steht dieser Junge jetzt vor einer ähnlichen Wahl. Wenn er überhaupt eine hat. Er ist immer noch bewusstlos, als wir seine Zelle erreichen. Zusammengerollt auf einer Pritsche, soweit man sich zusammenrollen kann, wenn einem die Handgelenke an die Wand gekettet wurden. Ein schmutziges kleines Bürschchen mit einem Mopp zerzauster Haare auf dem Kopf. Mager, aber nicht unterernährt, beim Militär gibt’s regelmäßiges Essen. Die Wachen haben Angst vor ihm. Ich kann es in ihren Blicken sehen und an der Art, wie sie ihre Gewehre umklammert halten. Das ist doch nur ein kleines Blag, verdammt. Jetzt scheißt euch nicht alle in die Hosen! Ich organisiere einen Stuhl für Erwin und dann warten wir. Es ist egal, wie lang es dauern wird, wir werden vermutlich kein zweites Mal die Erlaubnis kriegen, mit ihm zu sprechen. Die Hörnchen wollen ihn nicht rausrücken, die Sache hat zu viele Wellen geschlagen. Zeitungsartikel, Gerede, ein paar Unruhen in den Straßen. Nile faselte irgendwas von einem drohenden Bürgerkrieg, als er gestern bei uns war und Stress schob. Aber das hat Erwin nicht davon abgehalten, auf seinen Anspruch zu beharren. Für alles, was mit Titanen zu tun hat, sind wir zuständig. Das Korps. Nicht die Stadtwache, nicht die Militärpolizei. Wir. Auch ich bin wieder mal ein Teil von Erwin’s Plänen. Trumpfkarte Levi, der Titanenschlächter. 2.September 850, 1. Nachtrag Der Bengel ist wach. Und Gedächtnislücken hat er auch noch. Sehr überzeugend das Ganze. 2.September 850, 2. Nachtrag ‚Ich will dem Kundschafterkorps beitreten und alle Titanen vernichten.’ Nicht schlecht. Das ist doch mal ’ne Aussage mit der man arbeiten kann. Gesuch akzeptiert, Erwin. Meiner. Nicht, dass ich diesem kleinen Scheißkerl weiter traue, als ich ihn werfen kann, aber darüber muss ich mir nicht den Kopf zerbrechen. Wenn er Ärger macht, kann ich ihn immer noch umlegen. So einfach ist das. Aber Kampfgeist hat er, das muss man ihm lassen. Wilder, kleiner Welpe. Eren Jäger. Du weißt mehr über ihn, als du zugibst, nicht wahr? Und über diesen Schlüssel. 3.September 850 Sawny und Bean. Bean und Sawny. Danke, Professor Hanji. Nein, ich sag’ da nichts mehr dazu. Besser ist das. 4.September 850 Verdammt noch mal, die haben panische Angst... Die haben eine Scheiß Angst, wirklich. Dieser ganze Gerichtssaal stinkt gradezu vor Angst, ich brauch’ nicht mal Mike’s Riechorgan, um das festzustellen. Die pissen sich in die Hosen und das alles nur, weil so’n pubertärer Hormonhaufen da vorn ’nen Ausraster schiebt. Normalerweise würde sich kein Schwein für das Geplärr von einem fünfzehnjährigen Blag interessieren, am allerwenigsten die zweibeinigen von der Militärpolizei. Nur blöd, dass dieses Blag sich in einen Titanen verwandeln und hier alles in Schutt und Asche legen kann. Die meisten der Anwesenden haben nie im Leben einen Titanen gesehen. Jetzt zücken sie ihre Gewehre. Die Militärpolizei regelt alles mit Gewehren. Man kann sich so gut dahinter verstecken. Nicht wie unsere Schwerter, mit denen man doch tatsächlich mal zuschlagen und kämpfen muss. Sie heben ihre Gewehre und mir wird klar, dass mir ungefähr drei Sekunden Zeit bleiben, bevor sie das Blag dort vorn über’n Haufen schießen. Dann sind alle Probleme gelöst und sie müssen gar nicht erst darauf warten, wie Generalissimus Zackley entscheidet. Aber drei Sekunden sind für mich völlig ausreichend. Hab’ schon Titanen in weniger umgelegt... Entsetzte Stille. Unterbrochen wird sie nur durch das Geräusch meines Stiefels, der dem Bengel mitten ins Gesicht kracht. Ein Zahn bricht heraus und kullerte über den weißen Marmorboden. „Das ist nur eine ganz persönliche Meinung, aber ich denke, Schmerz ist der beste Weg, um jemanden zu erziehen.“ Igitt, Blut! Ich werde mir die Hände waschen müssen, sobald ich hier herauskomme. „Worte allein werden bei dir nichts ausrichten.“ Noch ein Tritt. „Was du brauchst, ist Training. Dich muss man erziehen wie einen aufsässigen jungen Welpen. Und wenn du auf den Knien liegst, ist es sogar noch einfacher, dich zu treten.“ Ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis mich jemand aufhält. Erwin macht jedenfalls keine Anstalten, mich zurückzupfeifen. Der Generalissimus wartet ab. Die Militärpolizisten starren mich nur fassungslos an, aber sie lassen endlich ihre Scheiß-Gewehre sinken. Klar, solange ich über dem Grünschnabel stehe, können sie ohnehin nichts damit anfangen. Hat sich erledigt mit über’n Haufen schießen. „Levi, warte!“ Ach. Sieh mal einer an. Erwin sagt, einen echten Feigling erkennt man daran, dass er den Richtspruch fällt, aber nicht fähig ist, das Schwert zu führen. Nicht, dass ich mir den ganzen philosophischen Kram merken könnte, den Erwin tagtäglich von sich gibt, aber der Satz ist hängen geblieben. Und als ich den Kopf drehe, um Nile Dawk, seines Zeichens Kommandant der Militärpolizei, ins Gesicht zu sehen, verstehe ich zum ersten Mal ganz genau, was Erwin damit gemeint hat. Gerade eben hat Nile noch lauthals verkündet, Eren Jäger hinrichten und sezieren zu lassen. Aber jetzt blickte er mich voller Entsetzen an, als sei ich ein Monster, das tagtäglich nichts anderes zu tun hätte, als kleine Jungs in den Boden zu stiefeln. Von soviel Heuchelei wird mir beinahe übel. Ich starre Nile mit meiner ganzen Verachtung entgegen, meinen Stiefel noch immer im Gesicht des Grünschnabels. „Was?“ „Das... das ist gefährlich.“ Schon mal ’nen Kommandanten gesehen, der sich vor Angst in die Hosen scheißt? Nein? Dann seht mal alle gut hin! „Was ist, wenn er wütend wird und sich in einen Titanen verwandelt? Was machen wir dann?“ „Tja, was macht ihr dann?“ Ich greife in das zerzauste dunkle Haar und ziehe den Kopf des Bengels daran hoch. Blut spritzt aus seiner gebrochenen Nase. „Ihr seid diejenigen, die ihn sezieren wollen.“ Ha, der hat gesessen. Jetzt sagt Nile gar nichts mehr. „Letztes Mal als er sich verwandelt hat, hat er zwanzig normale Titanen umgelegt, bevor er zusammengeklappt ist. Und wenn er tatsächlich ein Feind ist, macht seine Intelligenz ihn zu einem noch viel gefährlicheren Gegner als sie.“ Ich lasse den Kopf wieder los und der Junge sackt in sich zusammen. „Nicht, dass das alles auch nur ansatzweise mein Problem wäre. Ich werd’ jederzeit mit Titanen fertig. Aber was werdet Ihr tun?“ Als Nile die Augen abwendet, lasse ich meinen Blick durch den Saal schweifen. Das Militär, der Adel, der Klerus, das Händlerkartell. Alle sind sie hier vertreten. Und jeder einzelne von den verdammten Pissern will diesen Jungen tot sehen. Aus Angst vor Veränderung, aus Angst um ihre Profite, aus Angst vor allem, was sie nicht kennen. „Jeder, der ihn als Feind sehen will, sollte sich doch diese eine Frage stellen: Glaubt ihr wirklich, dass ihr ihn überhaupt töten könnt?“ „Generalissimus, ich habe Euch einen Vorschlag zu machen.“ Na endlich, Erwin. Dein Stichwort! „Das genaue Ausmaß von Eren’s Kräften ist uns nicht bekannt und genau das macht sie so gefährlich. Deswegen schlage ich vor, dass Captain Levi die Verantwortung für Eren übernimmt und ihn auf eine Expedition außerhalb der Mauern mitnimmt. Basierend auf dem Ergebnis dieser Expedition wäre es Euch ohne Probleme möglich, festzustellen, ob Eren seine Titanenkräfte kontrollieren kann und ob er Fluch oder Segen für die Menschheit darstellt.“ „Eren Jäger kontrollieren? Könnt Ihr das, Levi?“ Ich blicke den Generalissimus an, ziehe die Augenbrauen hoch und nehme ohne Eile meinen Stiefel von Eren’s Kopf. „Ich weiß, dass ich ihn töten kann. Das Problem ist nur, ich bezweifle, dass ich weniger tun kann.“ „Dann ist meine Entscheidung gefallen.“ 4.September 850, Nachtrag „Na, Eren? Hasst du mich jetzt?“ Zwar zuckt der Grünschnabel zurück, als ich mich neben ihn aufs Sofa fallen lasse, doch in seinem Blick liegt keine Furcht, sondern eine grimmige Entschlossenheit. „Nein. Ich verstehe, warum es notwendig war.“ „Du hast meinen Respekt.“ Selten, dass Erwin so ein Lob ausspricht. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen, Kleiner. Und Hanji hat für ihn sogar Sawney und Bean im Stich gelassen. Jetzt pusselt sie um ihn rum und versorgt seine Verletzungen. Soviel ist da gar nicht mehr zu versorgen, das meiste hat er schon wieder regeneriert. Nützliche Fähigkeit, das. Zwischendrin guckt sie mich an, als wolle sie mir am liebsten einen Einlauf verpassen. „Du hast es echt zu weit getrieben. Du hast ihm einen Zahn ausgeschlagen.“ Wieso? Immer noch besser mein Stiefel in der Fresse als ihr Skalpell, nicht wahr? Hanji protestiert, aber der Grünschnabel blickt mich an und lächelt zum allerersten Mal. Er fängt wohl langsam an, zu begreifen, dass niemand ihn sezieren wird und dass er wirklich beim Korps ist. Meiner. Wenn auch nur auf Zeit. Aber wir wissen nie, was kommt, bevor wir nicht da sind, nicht wahr? Auch ich fange langsam an, zu begreifen. Nämlich, dass ich jetzt ein pubertierendes Blag an der Backe kleben habe. Erwin, dafür schuldest du mir was! Bist du jetzt glücklich, Petra? Beweg’ deinen Arsch hierher und mach’ dich nützlich! Babysitten ist dein Spezialgebiet, nicht meins! Kapitel 5: September 850, Teil 1 -------------------------------- September 850, Teil 1 (1/6) 6. September 850 Scheiße, wie sieht’s denn hier schon wieder aus! Natürlich hab’ ich damit gerechnet, dass die alte Burg in einem desolaten Zustand sein würde, aber diese Müllhalde übertrifft meine allerschlimmsten Befürchtungen. Team Levi, wir haben ein Problem! Staub, Dreck, Spinnweben, überall. Der Sommer ist sowieso die schmutzigste Jahreszeit, niemals staubt es so fürchterlich wie im Sommer. Bevor wir auch nur ans Training denken können, muss hier ordentlich saubergemacht werden. Aber sofort! Wir haben den Bengel gleich nach der Verhandlung eingesackt. Morgens sind wir in aller Frühe losgeritten, um Zackley keine Chance zu geben, seine Entscheidung zu bereuen und den Hörnchen keine Gelegenheit, Stress zu schieben. Als ich Eren heute morgen wecken wollte, war er bereits auf und gerade dabei, in seine alte Uniform zu schlüpfen. "Kannste gleich wieder ausziehen.“ Entgeistert starrt er mich an und die Verwirrung in seinem Blick wird auch nicht besser, als ich ihm einen Stapel Klamotten in die Hände drücke. "Hier!“ Seine Augen weiten sich, als er die Flügel der Freiheit sieht. Behutsam, fast andächtig, streicht er über den Stoff, als habe er Angst, die Uniform könne plötzlich unter seinen Händen zu Staub zerfallen. "Bin ich jetzt tatsächlich ein richtiges Mitglied des Kundschafterkorps?“ "Hast du dem Kommandanten gestern nicht zugehört?“ Ich werfe ihm einen grimmigen Blick zu, doch selbst der kann nichts gegen die Begeisterung ausrichten, die in seinen Augen aufleuchtet. "Dann fängst du jetzt besser damit an, denn ich hasse es, Dinge zweimal sagen zu müssen.“ "Jawohl, Captain.“ Hastig legt er die Uniform auf dem Stuhl ab, um angemessen salutieren zu können. "Gut. Sei in zehn Minuten unten im Stall, damit wir dir ein Pferd aussuchen können. Anständig reiten wirst du in der Grundausbildung hoffentlich gelernt haben, wir werden jetzt eine Weile unterwegs sein. Du hältst dich immer in meiner Nähe auf und lässt die ganze Zeit deine Kapuze oben, verstanden?“ Das fehlte gerade noch, dass wir Ärger mit irren Priestern oder einem wütenden Mob bekommen. "Jawohl, Captain.“ Wir haben Glück. Zwar plärren die Zeitungsverkäufer fröhlich ihre reißerischen Geschichten vom gefährlichen Titanenmonster, aber keiner der Menschen, an denen wir vorbeireiten, scheint genauere Notiz von uns zu nehmen. Sie haben wohl damit gerechnet, wir würden den Titan gesichert in Ketten in einer Kutsche abtransportieren, jedenfalls bringt keiner den kleinen Bengel, der in unserer Mitte reitet, mit einem Titanen in Verbindung. Um zusätzlich für Ablenkung zu sorgen, reitet Erwin mit dem Großteil der Leute in eine andere Richtung und kehrt über Umwege zum Hauptquartier zurück. Team Levi setzt sich ab. Als wir die ländlichen Gebiete erreichen und nur noch alle naselang ein Kaff zwischen den Feldern auftaucht, wissen wir, dass das Schlimmste überstanden ist. Bis nach hier draußen wird die Nachricht noch nicht vorgedrungen sein. Die misstrauischen, ja feindseligen Blicke der Bevölkerung sind nichts Neues, die sind wir gewohnt. Auch das ab und an gehauchte "Ketzer“ trägt jetzt nicht unbedingt dazu bei, uns den Tag zu verderben. Der Kleine bleibt brav unter seiner Kapuze. Erd und Günther haben ihn jetzt in die Mitte genommen, während Petra vorausreitet. Im Herrensattel natürlich, so wie alle unsere Soldatinnen. Ja, wenn schon Ketzer, dann richtig! 7. September 850 Irgendwie ist da wohl doch eine Burg unter der ganzen Staubschicht, auch wenn man sie im Moment wohl eher erahnen, als wirklich sehen kann. Dass man Leuten auch ständig erklären muss, dass sich Dreck nicht nur an den Oberseiten, sondern auch an den Unterseiten von Möbelstücken, Fensterbänken, Kaminsimsen, Torbögen und Treppenabsätzen festsetzt. Wenigstens mit dem oberen Stockwerk sind wir jetzt durch. Unten sieht’s nicht besser aus, ganz besonders die Küche wird noch eine Herausforderung. Erd und Günther kämpfen gerade mit den Fenstern, Orlo und Petra nehmen sich die Treppen vor, während der Bengel seit einer geschlagenen halben Stunde einen Mauervorsprung streichelt. Was zur Hölle bringen die den Rekruten eigentlich bei? Ich schicke Petra zu ihm hoch, dass die ihm mal den Unterschied zwischen scheuern und streicheln erklärt, vielleicht bringt sie das kinderfreundlicher rüber. Als ich nachsehen komme, schallt mir von den beiden allerdings keine Diskussion übers Putzen entgegen, sondern nur Captain Levi dies und Captain Levi das. Was soll das denn? Wenn der Bengel was über mich wissen will, kann er mich einfach direkt fragen. Ich kann ihm ja dann immer noch sagen, dass ihn das einen Scheißdreck angeht. "Mit dem Zimmer sind wir fast fertig“, versichert Petra. "Eren hatte sich nur gerade gewundert, warum man Euch immer den Captain nennt, weil er auf der Akademie alle militärischen Ränge durchgenommen hat und da nie von ‚Captain’ die Rede war. Ich war gerade dabei, es ihm zu erklären.“ Prüfend fahre ich mit der Hand die Dachschräge entlang. Sieht für mich noch nicht wirklich sauber aus. "Soso, Kleiner, was für Ränge habt ihr denn auf der Akademie durchgenommen?“ Der Grünschnabel wendet sich mir zu und fängt an, Dienstgrade runterzurasseln. "Der unterste Rang ist der einfache Soldat oder Gefreiter. Als nächstes kommt der Hauptgefreite, wobei sie bei der Stadtwache statt Hauptgefreiter meistens Korporal sagen. Dann geht es weiter mit Leutnant, Hauptmann, Major und Oberst, und über dem Oberst stehen dann nur noch die Kommandanten der drei militärischen Zweige. Und natürlich der Generalissimus. Und der König.“ Er blickt mich hoffnungsvoll an, offenbar glaubt er, mich mit seinem Wissen beeindrucken zu können. "Gut auswendig gelernt, Eren.“ Sein zuversichtliches Lächeln wird breiter, erstirbt jedoch, als ich den Satz beende. "Und jetzt kannst du den ganzen Tinnef gleich wieder vergessen, denn so was brauchen wir beim Korps nicht. Oder glaubst du, Titanen interessieren sich für irgendwelches Gebamsel, das an unseren Uniformen rumbaumelt?“ Petra steht zwar hinter mir, aber irgendwie kann man erahnen, dass sie gerade mit den Augen rollt. Ich schätze, sobald der Bengel aus dem Raum ist, darf ich mich wieder auf einen Vortrag gefasst machen. Meine spitze Zunge stand bisher noch nicht unter Beschuss, also wird’s doch langsam Zeit. "Ich hatte mich schon darüber gewundert, warum keiner von Euch Rangabzeichen trägt.“ Eren läuft zum Fenster, um seinen dreckigen Putzlappen auszuschütteln. Als er sich wieder zu mir umwendet, wandert sein Blick prüfend über meine Uniformjacke. "Aber auch beim Korps gibt es doch eine bestimmte Organisation, oder nicht? Als diese Dame... Hanji... mich abgeholt hat, sagte sie, sie sei Einheitenführerin?“ Ja, Erwin, was auch immer dich da geritten hat, ausgerechnet die Irre zur Einheitenführerin zu ernennen. "Also pass auf, Eren. Beim Korps sind wir so wenige, dass sich militärische Ränge gar nicht erst lohnen. Deswegen sind wir in Teams organisiert. Jeweils vier bis zehn Leute haben einen Teamführer, der sie koordiniert und für sie verantwortlich ist. Ich zum Beispiel bin für Günther, Erd, Orlo, Petra und jetzt auch für dich zuständig. Bevor Petra zu uns kam, hatte sie selbst ein Team unter sich, das aber in seiner ursprünglichen Form nicht mehr existiert. Wie die Teams aufgeteilt werden, hängt oft von den unterschiedlichen Missionen ab, deswegen hat es auch nichts mit einer Beförderung oder Degradierung zu tun, ob jemand Teamführer ist oder nicht. Es ist eine Frage der Organisation. Unser Kommandant weiß schon, wo er uns am besten einsetzt.“ "Ich verstehe.“ Der Grünschnabel nickt eifrig, begierig darauf, alles Wissen, das ich ihm mitteile, in sich aufzusaugen wie ein Schwamm. "Und versteh' ich das richtig, dass ein Einheitenführer dann für mehrere Teams verantwortlich ist?" "Tust du.” Ich drücke ihm den Besen in die Hand, damit er nochmal über die Ecken geht. "Kommandant Erwin hat vier Einheitenführer, die ihm direkt unterstehen. Sollte ihm während einer Mission etwas zustoßen, können die Einheitenführer sofort das Kommando übernehmen, sie sind in alle taktischen Pläne eingeweiht. Klar, soweit?” “Jawohl, Captain Levi.” Er überlegt kurz, ob er vielleicht salutieren soll, fängt aber dann doch an, den Besen zu schwingen. Gut. “Aber Captain?” “Was?” “Jetzt habt Ihr mir immer noch nicht erklärt, wieso man Euch den Captain nennt?” “Das erklär’ ich dir, nachdem wir die Küche geputzt haben, Kleiner.” 7. September 850, Nachtrag Die Irre ist da. Ich geh pennen. Viel Spaß noch mit Chikatilo und Albert, Eren! Du musstest ja unbedingt fragen. 8. September 850 Titanenbrei. Schon wieder. Nur, dass diesmal Hanji überhaupt nichts dafür konnte. Nur, dass diesmal ein Attentäter mithilfe einer Gear in den Hof unseres Versuchslabors eingedrungen ist und die zwei alle gemacht hat. So im Vorübergehen. Die Militärpolizei hat sich schon eingeschaltet, aber diese schwachköpfigen Blindfische, (oder wie Erwin sich ausdrücken würde, Dilettanten), werden vermutlich mehr Beweise vernichten, als dass sie finden könnten. Ich hab’ als Kind gegen Dinge gepisst, die intelligenter waren. “Habt Ihr auch sichergestellt, dass der Titan ordnungsgemäß überwacht wird, Kommandant Erwin und ähm… Leutnant Levi.” Mich als Captain zu bezeichnen, ist für einen Gehörnten natürlich keine Option, deshalb geht wieder mal das fröhliche Rätselraten um meinen Rang los. Zwar hat mir Erwin vor Ewigkeiten mal vorgeschlagen, mich den Hörnchen als Hauptmann vorzustellen, aber es macht einfach viel zu viel Spaß, sie rumstottern zu lassen. Allzuviel habe ich mit der Militärpolizei ohnehin nicht zu tun und wenn sie mit mir Diskussionen anfangen wollen, wer als erster durch eine Tür geht oder wer wo an einem Tisch sitzt, mache ich sie dezent darauf aufmerksam, dass es meine Spezialität ist, mich mit Leuten anzulegen, die größer sind als ich. Dann ist meist auch sehr schnell Ruhe im Puppenstübchen. “Eren Jäger befand sich zum Zeitpunkt des Verbrechens in der Obhut von Einheitenführer Hanji Zoe”. War natürlich klar, dass die Erbsenhirne den Verdacht sofort auf Eren lenken, das ist schließlich die bequemste Lösung für sie. “Auch selbst wenn wir noch längst nicht über alle Fähigkeiten der Titanen Bescheid wissen”, fährt Erwin fort, “so können wir doch mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Körper zu verdoppeln.” “Aber offenbar ist Hauptgefreiter Levi in der Lage, seinen Körper zu verdoppeln.” Ein zweites Hörnchen taucht hinter dem ersten auf, eins mit arrogant hochgezogener Nase in der Visage und jeder Menge Gebamsel an der Uniform. “Oder wie soll ich mir sonst die Tatsache erklären, dass er hier neben Euch steht, Kommandant, wenn er doch eigentlich einen Titanen überwachen soll?” “Eure Sorge ehrt Euch, Oberst Delacroix, doch ich bin mir sicher, Captain Levi erfüllt seine Aufgaben zu unserer aller Zufriedenheit.” So lachhaft ich diese ganzen Spielchen finde, so froh bin ich auch darüber, dass Erwin sie beherrscht. Sein Seitenblick ist deutlich, ich soll ihm den Schmonzes hier überlassen und Eren wieder mitnehmen, bevor ihn noch irgendjemand sieht und die große Panik ausbricht. Insgeheim bin ich ganz froh, von hier wegzukommen. Eren wartet bei den Pferden auf mich. Der Kleine sieht noch verpeilter aus als sonst, wird auch Zeit, dass wir nach Hause kommen. Haben ohnehin fast einen ganzen Tag verloren. Hanji und ihre Leute bleiben noch, also sind wir auf dem Rückweg nur zu zweit. Ich bin doppelt vorsichtig und lasse Eren nicht aus den Augen. Sobald wir aus der Stadt sind, können wir auch nebeneinander her reiten. “Alles klar?” Irgendwann nach ein paar Stunden geht mir das grüblerische Schweigen des Bengels doch auf den Sack, auch wenn ich normalerweise froh darüber bin, wenn Leute die Klappe halten. “Wenn du was sagen oder fragen willst, mach, ich hab’ dir schließlich nicht verboten, mich anzusprechen.” “Captain, Ihr glaubt auch nicht, dass es Rache war, oder? Also, dass jemand die Titanen deswegen getötet hat. Aber das würde doch bedeuten, dass es hier, hinter den Mauern, Menschen gibt, die mit den Titanen zusammenarbeiten. Kommandant Erwin hat so was angedeutet. Wirklich verstanden hab’ ich es aber nicht.” Kleiner, du ahnst ja nicht, wie recht du damit hast. Für einen Moment wandern meine Gedanken zurück zu dem Tag des Angriffs auf die Mauer Maria. Ich sehe eine Armee von Titanen vor mir, die unsere Leute niederwalzen und verschlingen. Siebzehn von Hundertzwanzig. Verdammte Siebzehn von Hundertzwanzig! Und kaum, dass wir uns ins Hauptquartier zurückgeschleppt haben, um unsere Wunden zu lecken, rennen der Koloss und der Gepanzerte die Tore ein. Auch in Trost hat der Angriff zu einem Zeitpunkt stattgefunden, als wir nicht da waren, um die Stadt zu verteidigen. Und jetzt legen sie Hanj's Titanen um. Das stinkt doch zum Himmel! Die rechnen mit uns. Erwin hatte recht, diese verdammten Wichser rechnen mit uns. So übermächtig der Feind auch sein mag, sie sehen uns als mögliche Bedrohung ihrer Pläne an. Wenn sie jedoch auch im Innern der Mauer agieren, haben sie noch andere Möglichkeiten, das Korps auszuschalten, als uns alle umzunieten. Ob sie hinter den Plänen stecken, uns aufzulösen? Aber warum sollten sich Menschen mit Titanen verbünden? Die schneiden sich doch ins eigene Fleisch. Eren kann ich allerdings nicht in diese Dinge einweihen. Nicht, weil ich ihn schützen möchte, der Junge ist besser dran, wenn er weiß, worauf er sich einlässt und was ihm blühen kann, wenn er nicht achtgibt. Aber solange noch so vieles im Ungewissen ist, kann ich ihm nicht vertrauen. Ich halte ihn nicht für einen Feind, aber er ist naiv und das kann ausgenutzt werden. Und diese Gedächtnislücken deuten darauf hin, dass ihm jemand im Kopf rumgepfuscht hat. Vielleicht ist er für Dinge verantwortlich, an die er sich gar nicht erinnern kann. Dass er als Titan seine Schwester angegriffen hat, wusste er schließlich auch nicht mehr. Im Moment werde ich mich darauf beschränken, ihn zu trainieren und auf ihn aufzupassen, so wie Erwin es mir aufgetragen hat. Über alles Weitere mache ich mir dann Gedanken, wenn es soweit ist. "Kommandant Erwin weiß sehr viel mehr über diese Dinge als du oder ich", gebe ich Eren zur Antwort. "Und ich schätze, wenn wir erst deinen Keller gefunden haben, gibt es endlich ein paar handfeste Beweise für seine Theorien." Er nickt zustimmend und umfasst den Schlüssel an seinem Hals, den Erwin ihm zurückgegeben hat. "Ich werde mich anstrengen, Captain Levi, ich werde mein Bestes geben. Ich hab’ endlich eine Chance, etwas gegen die verdammten Titanen auszurichten. Der Kommandant und Ihr werdet nicht bereuen, dass Ihr mich ins Korps aufgenommen habt. Ihr werdet’s nicht bereuen.” Beeindruckende Rede, Kleiner. Wir werden sehen, was dahintersteckt. Aber zwanzig Titanen umzunieten, war schon mal ein ganz passabler Anfang. 9. September 850 Gedrückte Stimmung beim Essen. Niedergeschlagenheit, mürrische Gesichter, hart an der Grenze zur Resignation. Ich darf das jetzt nicht einreißen lassen, sonst stürzen wir alle in ein Loch und das können wir uns nicht leisten. Wir haben nur einen knappen Monat Zeit. Ich überlege gerade ernsthaft, ob ich ein paar von meinen schlechten Witzen auspacken soll, aber dieses Mal kommt Erd mir zuvor. Eigentlich tut er nicht viel, er fängt lediglich an, mit seinem Becher gegen die Tischplatte zu klopfen. Einen Moment später fällt Günther mit ein, und Orlo setzt rhythmische Akzente mit seinem Teelöffel. Wenn aus den Mauern südwärts wir zieh'n, Kampfesmut lässt unsre Herzen erglüh'n. Hoffnung uns trägt, jeden Tag aufs Neu, Denn tief im Herzen, da sind wir frei. Petra’s klare, helle Stimme ist deutlich zu hören, ihr hoher Sopran liegt über dem Gebrumm von uns Männern. Der Takt unserer Becher, Tassen, Löffel, Hände und Füße hallt von den Steinwänden des alten Gemäuers wieder, untermalt unsere Stimmen besser, als jede Laute es könnte. So steht, Kameraden, euch immer zur Seit', Einander seid Licht in der Dunkelheit. So hebt eure Herzen voll Stolz nun empor. Flügel der Freiheit, wir sind das Korps! Flügel der Freiheit, wir sind das Korps! Eren fängt meinen Blick auf und lächelt, während er die Worte mitsingt, zunächst noch etwas zaghaft, dann immer mutiger und sicherer. Seine Stimme macht sich gut in unserer Mitte. Der warme Schein der Kerzen lässt seine Augen leuchten und verleiht ihnen einen besonderen Glanz. Von Niedergeschlagenheit ist darin nichts mehr zu finden, nur noch Entschlossenheit und Zuversicht. Nicht schlecht, Kleiner. Du hast einen starken Willen, jetzt musst du nur noch lernen, damit umzugehen. So steht, Kameraden, Seite an Seit', Sind eng wir verbunden für alle Zeit. Der Tag unsres Sieges steht kurz bevor, Flügel der Freiheit, wir sind das Korps! Flügel der Freiheit, wir sind das Korps! ~*~ Kapitel 6: September 850, Teil 2 -------------------------------- September 850, Teil 2 (2/6) 10. September 850 Heute scheuche ich das Blag ziemlich früh aus den Federn, denn das ganze Titanentheater hat uns einiges an Zeit gekostet. Wir haben schließlich einen Trainingsplan einzuhalten. Vom Putzplan ganz zu schweigen. "Putzplan?“ Große Augen gucken mich verschlafen und verständnislos an. "Aber Captain, wir haben doch erst vor ein paar Tagen...“ Blitzmeldung, Grünschnabel, Dreck kehrt zurück. Heimtückisch, arglistig, niederträchtig. Und immer dann, wenn man ihn am wenigsten erwartet! Trotzdem, heut’ ist erst mal Training dran. Als erstes lass’ ich ihn Runden ums Gebäude laufen. Da Orlo mir zu viele Sprüche klopft und Petra zuviel gackert, dürfen die beiden gleich mitlaufen. Petra setzt eine todernste Miene auf. Ihr verschwörerisches Zwinkern sehe ich erst, als sie neben Eren um die Ecke biegt. Klasse! Jetzt hat sich mein eigenes Team schon gegen mich verbündet. Nach dem Frühstück bewegen wir die Pferde. Ich lasse Eren nacheinander auf mehreren Pferden reiten, um zu sehen, wie er sich dabei anstellt. Könnte schlimmer sein. Man merkt, dass er erst auf der Akademie Reitunterricht hatte, aber er hat einen sicheren Umgang mit den Tieren. Keine Berührungsängste. Résistance wirft ihn natürlich in hohem Bogen ab, weil ihr ziemlich schnell klar wird, dass er nicht ich ist. Doch er jammert nicht rum, sondern rappelt sich vom Boden hoch und steigt sofort wieder auf. Plumps, schon liegt er wieder im Stroh. Ich bin gespannt, wie lange er es versuchen wird. Orlo und Günther schließen bereits Wetten ab, doch Erd verzieht keine Miene. Ihm ist ebenso klar wie mir, wie verdammt hartnäckig dieser Bengel ist. “Kann es sein, Captain”, fragt Eren irgendwann, während er sich die schmerzende Schulter reibt, “dass Euer Pferd niemanden außer Euch auf seinem Rücken duldet?” “Tut nichts zur Sache. Ich habe dir einen Befehl gegeben und ich erwarte, dass du ihn befolgst.” Er versucht es weiter. Und weiter. “Captain.” Fern läge es Petra, mich vor versammelter Mannschaft zu kritisieren, deshalb nimmt sie mich beiseite und raunt mir leise ins Ohr: “Ich verstehe ja, dass Ihr kein Mitleid mit Eren habt, aber denkt doch bitte wenigstens an die arme Résistance.” Sie hat nicht unrecht, Pferde sind äußerst sensible Geschöpfe. Nachmittags ist Kampftraining dran und hier erlebe ich tatsächlich eine Überraschung. Der Kleine ist ein passabler Nahkämpfer. Nicht nur stellt er sich nicht allzu unbeholfen an, er ist sogar mit einigen Techniken vertraut. Damit hätt’ ich jetzt nicht gerechnet. Waffenloser Nahkampf ist genau die Disziplin, die auf der Akademie am meisten vernachlässigt wird, ganz einfach, weil man sie im Militär angeblich nicht braucht. Wir haben ja alle unsere Klingen, die uns natürlich niemals ausgehen, brechen oder stumpf werden können. Und mit Gewehren ist man dann sowieso unbesiegbar. Oder hält sich zumindest dafür. Wir beginnen mit ein paar technischen Übungen, dann steigen wir nacheinander in verschiedenen Konstellationen in den Ring. Zwischen Erd und Günther gibt es wie immer ein abwechslungsreiches Gefecht, ebenso zwischen den Jungs und mir. Nahkampf ist zwar nicht Petra’s Stärke, aber sie legt Orlo mächtig aufs Kreuz. Gegen sie stellt er sich einfach nur dämlich an. Eren dagegen hat keinerlei Probleme, gegen eine Frau anzutreten. “Ich hab’ bei einer Frau gelernt”, erzählt er stolz. “Annie Leonhardt war die beste Nahkämpferin unseres Jahrgangs. Wir haben regelmäßig morgens oder abends trainiert, manchmal auch in den Pausen.” Jetzt bin ich doch neugierig. “Nahkampf fließt doch überhaupt nicht in die Gesamtbewertung ein.” Er zuckt mit den Schultern. “Darum ging’s mir auch nicht. Ich hab’ einfach gesehen wie gut sie war, und wollte es auch lernen, deshalb hab ich sie gefragt, ob sie’s mir beibringt. Ich bin nicht besonders talentiert, das habt Ihr vielleicht schon gemerkt. Wenn ich etwas können will, dann übe ich es einfach so lange, bis ich’s kann.” “Ja, das ist besser als talentiert und faul.” Erd grinst und verpasst Orlo einen Stoß in die Seite. “Stimmt’s?” Orlo ist plötzlich mächtig an einer kleinen Fliege interessiert, die summend und brummend um Günther’s Nase kreist. 11. September 850 “Captain, muss ich mich heute verwandeln?” Der Bengel fragt es ganz unverblümt, als er den Haferbrei im großen Pott umrührt, der heute fürs Frühstück gedacht ist. Offenbar drückt ihn die Frage schon eine ganze Weile und er hat nur auf eine passende Gelegenheit gewartet, sie mir zu stellen. Jetzt sind wir für einen Augenblick alleine, da Petra gerade die Schüsseln holt. “Das bringt nichts”, gebe ich zurück. “Wenn du als Titan durchdrehst, muss ich dich töten und das war’s dann! Bevor wir nicht eine Möglichkeit gefunden haben, dich lebend aus dem Titanenkörper rauszuholen, arbeiten wir nicht mit Verwandlungen.” “Und was, wenn wir keine Möglichkeit finden?” Er stößt den Holzlöffel in den Brei, als wolle er ihn damit abstechen. Klar, Kleiner. Töte den Haferbrei. Der kann ja auch soviel dafür. “Dann gibt’s eben keine Verwandlung. Hast du nicht mehr zu bieten, als deine Titanenkräfte?” Sein Blick wird hart als er auf den meinen trifft, ein Ausdruck von Trotz tritt in seine Augen. ‘Euch zeig’ ich’s noch!’, scheinen sie zu sagen. Danach wendet er sich ab und fährt damit fort, den Brei zu malträtieren. Gut, denn das Letzte, was wir hier brauchen können, ist ein überemotionales Blag, das schmollend, motzend, flennend in der Ecke hockt, sich für ein Monster hält und seinen eigenen Wert danach bemisst, ob er sich in eins verwandeln kann. Da ist mir sein Trotz bedeutend lieber. Und was seine überschüssige Energie angeht, so wird er heute noch genug Gelegenheit haben, sie loszuwerden. Heut’ steht nämlich das erste richtige Training mit den Manövergeräten an und da wird der kleine Bengel mächtig ins Schwitzen geraten. Bisher hatte er’s noch nicht mit Profis zu tun. Nach dem Frühstück satteln wir die Pferde und reiten raus in den Wald. Erd hat schon vor einigen Tagen einen passenden Trainingsplatz ausgesucht, ein paar Baumgruppen rings um eine Lichtung. Die blöden Bäume sind zwar längst nicht so hoch wie die Dinger in den Hundertjährigen Wäldern, aber die gibt’s ja auch nur außerhalb des Mauergebiets. Dennoch ist es ein guter Ort für das erste Training. “Fuchsjagd?”, fragt Orlo. Er liebt Fuchsjagd und er fängt langsam an, mir Konkurrenz zu machen. Beim letzten Mal gab es tatsächlich eine Situation, wo er mir beinahe das Tuch weggeschnappt hätte. Den Tag, an dem es ihm gelingt, feier’ ich. Ich habe es nie jemandem erzählt, aber insgeheim wünsche ich mir, dass ich mal jemanden so weit bringe, dass er mich übertrifft. Und Orlo hat definitiv das Zeug dazu. Ein, zwei Jahre noch, dann können wir drüber reden. “Fuchsjagd, sagt dir das was?” Eren nickt eifrig, vermutlich kennt er’s von der Akademie. Allerdings ist deren Fuchsjagd nicht mit unserer zu vergleichen. Jeder einzelne aus meinem Team ist so gut, dass kein anderer ihm die Beute im Alleingang abjagen kann. Petra eröffnet die erste Runde. Ihre Fähigkeit, die Manöver der anderen zu erahnen und sich in Sekundenschnelle darauf einzustimmen, kommt ihr hier sehr zugute. Orlo fegt sofort in die Luft, ich halte mich noch ein wenig zurück, will erst mal beobachten. Günther und Erd verlassen sich auf altbewährte Taktik, sie bilden ein Team. Einer lenkt Petra ab, der andere greift nach dem Tuch. Aber sie hat’s kommen sehen und entwischt. Der Kleine hangelt sich hinterher. Er scheint nicht wirklich Ahnung vom dem zu haben, was er hier tut, aber Hauptsache mal irgendwas tun. Insgesamt bewegt er sich flink, aber an seiner Einschätzung von Entfernungen muss er noch arbeiten. Das kommt erst mit der Erfahrung. “Schieß die Haken nicht jedes Mal so schnell hintereinander ab, das verbraucht unnötig Gas”, ermahne ich ihn, als ich die Spule anziehe, an ihm vorbeizische und ihn zwinge, seinen Kurs zu ändern. “Wenn du den ersten so abschießt, dass dich das Seil möglichst lange in die richtige Richtung trägt, musst du den zweiten erst im letzten Moment abschießen.” “Aber, Captain, das macht meine Flugbahn vorhersehbar.” Er zieht die Nase kraus und versucht dann, sich in einem großen Bogen nach vorn zu schwingen, um Petra den Weg abzuschneiden. Sie wechselt ohne Probleme die Richtung. “Na und?”, ruft sie vom nächsten Baumwipfel zurück. “Ist das schlimm?“ Offenbar weiß sie schon ganz genau, worauf ich hinauswill. “Natürlich ist das schlimm”, knurrt Eren. “Dann sehen die anderen doch, wo ich hinwill und haben einen Vorteil.“ Er prescht Petra hinterher, das Jagdfieber hat ihn ergriffen. Für Worte ist er jetzt nicht mehr aufnahmefähig. Aber was soll’s. Durch Worte allein lernt man nicht und ganz besonders dann nicht, wenn man Eren Jäger heißt und ein fünfzehnjähriges hitzköpfiges Blag ist. Du brauchst Training. Mag sein, dass alles andere nur Theater fürs Gericht und die Militärpolizei war, diesen Satz hab’ ich ernst gemeint. 12. September 850 Hanji ist noch nicht wieder zurück, aber Moblit war heute morgen hier und hat mir einen ganzen Stapel an Zeichnungen und Notizen von ihr mitgebracht. Allerdings ist nichts davon wirklich brauchbar. Sie hat im Moment keine Ahnung, wie man einen Menschen lebend aus einem Titanenkörper rausschneidet. Mit dem Nackenschnitt würd’ ich ihn umbringen und alles andere macht dem Titan nicht viel aus, es hindert ihn jedenfalls nicht daran, Amok zu laufen. Man könnte ihn zwar fällen, indem man die Achillessehnen durchsäbelt, aber auch das ist nur eine Lösung auf Zeit. Ein paar Minuten Regeneration und er steht wieder. Es ist wie verhext. Ich weiß, dass wir eine Möglichkeit finden müssen. Dringend. Die Zeit läuft uns davon. Wir sind erschöpft, als wir abends nach dem Training zurückkehren und ziemlich verschwitzt dazu, deshalb geht’s erst mal an die Waschtröge. Heute waren wir den ganzen Tag unterwegs, erst ausreiten, dann Training im Wald mit den Manövergeräten. Es lief insgesamt nicht schlecht, aber der Bengel ist doch ein wenig frustiert darüber, dass er auch heute bei der Fuchsjagd versagt hat. Nicht ein einziges Mal hat er es geschafft, sich das begehrte Tuch zu schnappen. Am Rande bekomme ich mit, wie er sich mit Petra darüber unterhält. Aber sie hält sich strikt an meine Anweisung. Er muss es von selbst rauskriegen. Durch bloßes Vorbeten lernt er die Dinge nicht. “Du brauchst ’ne Abkühlung, Kleiner“, entscheide ich schließlich, als er nicht mit der Motzerei aufhören will und kippe einen Eimer kaltes Wasser (welchen ich eigentlich zum Haare waschen hatte verwenden wollen) über ihn. Er schüttelt sich wie ein nasser Hund und blickt mich vorwurfsvoll an. “Ihr seid gemein, Captain! Und ich kann mich nicht mal wehren, weil Ihr mein Vorgesetzter seid.“ “An deiner Stelle würd’ ich’s riskieren und das Rundenlaufen einfach in Kauf nehmen“, sagt Erd seelenruhig und noch bevor er den Satz beendet hat, spüre ich wie sich Wasser über mich ergießt. Es stört mich nicht weiter, so versifft wie ich bin, aber natürlich muss ich die Form wahren. “Zehn Runden ums Gebäude.“ “Geht klar, Captain.“ Grinsend stellt Erd den leeren Eimer ab, salutiert und läuft los. Ich blicke ihm noch hinterher, als mich der nächste Schwall Wasser trifft. “Verdammter Bengel!“ “Zehn Runden, bin schon unterwegs, Captain!“ “Fünfzehn.“ “Ihr seid wirklich gemein!“ “Zwanzig.“ “Jawohl, Captain.“ Na also, geht doch. 13. September 850 “Hier. Wird höchste Zeit, dass du mal lernst, Verantwortung zu übernehmen.“ Eren blickt mich verwirrt an, als ich ihm Rebellion’s Zügel in die Hand drücke. Offenbar hat er keine Ahnung, was ich von ihm will. “Soll ich ihn absatteln und versorgen, Captain?“ “Dafür ist es noch zu früh, er hatte ja noch kaum Bewegung. Erst mal wirst du ihn reiten, damit ich sehen kann, wie gut ihr miteinander harmoniert. Wenn’s zwischen euch nicht stimmt, dann bringt’s auch nichts.“ “Bringt was nichts?“, will er wissen, doch er steigt brav in den Sattel. Ich hab’ mich nicht getäuscht, die beiden sind ein gutes Gespann. Man sollte meinen, dass zwei Hitzköpfe sich gegenseitig hochschaukeln würden, aber dem ist nicht so. Gerade Rebellion’s Temperament zwingt Eren dazu, einen kühlen Kopf zu bewahren. Er muss schließlich den Ton angeben, sonst weiß das Pferd nicht, wo’s langgeht. “Auf geht’s!“ Ich schiebe die Beine zurück und verstärke den Schenkeldruck. Résistance versteht mein Zeichen sofort und wechselt vom Schritt in den Trab. Rebellion hat keine Mühe zu ihr aufzuschließen, der Weg ist auch breit genug, so dass wir nebeneinander her reiten können. Ich beobachte das Zusammenspiel zwischen Pferd und Reiter genau, denn auf Missionen ist es einer der entscheidenden Faktoren. Pferde haben keine natürliche Furcht vor Titanen, das sind keine Fressfeinde. Doch der Lärm und die Zerstörung, welche die Riesen verursachen, um an ihre Beute – uns Menschen – zu gelangen, können bei ihnen Angst auslösen oder sie sogar in wilde Panik versetzen. Wenn dein Pferd dich abwirft, ist es vorbei, denn im offenen Gelände gibt es keinerlei Möglichkeiten, den Titanen zu entkommen. Ich ziehe das rechte Bein nach oben, jetzt will ich’s wissen. Wenn Résistance erst mal galoppiert, macht ihr so leicht keiner was vor. Sie ist genau wie ich, klein, schnell und unglaublich wendig. Wenn ich es will, schlägt sie Haken wie ein Karnickel und die großen dummen Titanen haben das Nachsehen. Das Nachsehen hat jetzt auch Eren, denn Rebellion ist deutlich schwerer zu manövrieren, gerade für einen unerfahrenen Reiter. Doch der Bengel hält sich tapfer. Einen Moment lang scheint es, als könne er den Hengst nicht zügeln, denn Rebellion zieht an uns vorbei. Ich treibe Résistance an und mache mich bereit, einzugreifen. Doch es ist gar nicht notwendig, Eren hat sich die Kontrolle zurückgeholt. Offenes Gelände. Jetzt können wir die Pferde auch einfach mal laufen lassen. Ab und an brauchen die das. Ist wohl nicht anders als bei uns Menschen, oder? “Captain Levi.“ Eren blickt zu mir rüber, guckt mich an wie’n Pferd wenn’s donnert. Man kann förmlich sehen wie die kleinen grauen Zellen hinter seiner Stirn arbeiten. “Soll das wirklich heißen, dass er... dass ich jetzt für ihn verantwortlich bin?“ Ich nicke nur. Das Strahlen in seinen Augen ist nicht zu übersehen und wird doch im nächsten Moment von einer Sorgenfalte getrübt. Wir wissen beide, dass es möglicherweise nicht von Dauer ist. Dieses Wissen hängt über uns wie ein 60-Meter Koloss, der im Augenblick noch vor der Mauer steht, aber jeden Moment das Tor einreißen kann. “Wir haben ein Sprichwort beim Korps, Eren. Genauer gesagt, eine Art Philosophie. Wir wissen nie, was uns erwartet, bevor wir nicht da sind. Das gilt für alles Unbekannte, also nicht nur für die Welt außerhalb der Mauern.“ “Die Zukunft ist auch eine unbekannte Welt.“ Eren zügelt den Hengst, als der Weg einen Bogen macht und wieder in den Wald führt. Eine Weile reiten wir schweigend und sehen die Bäume an uns vorbeiziehen. Noch sind viele Blätter grün, doch die ersten bunten Farben halten Einzug. Der Herbst steht uns kurz bevor. “Kommandant Erwin weiß, was er tut, nicht wahr?“, bricht Eren das Schweigen. Seine Hand hat die Zügel losgelassen und umfasst etwas unter seinem Hemd. Vermutlich seinen Schlüssel, den Erwin ihm zurückgegeben hat. “Ihr vertraut ihm doch, oder?“ “Ich würde ihm mein Leben anvertrauen. Und das tue ich regelmäßig, wenn ich für ihn und mit ihm in den Kampf ziehe. Er hat mein Vertrauen noch nie enttäuscht.“ Außer einem einzigen Mal, doch das liegt lange zurück und gehört nicht hierher. 14. September 850 Was zum Teufel ist heut’ mit dem Bengel los? Das Training ist vorbei, er hätte schon seit einer halben Stunde Freizeit. Stattdessen steht er noch immer in der Scheune und prügelt unaufhörlich auf den Sandsack ein. Seine Miene ist verbissen, sein Atem ein wütendes Keuchen, die Schläge fallen beinahe mechanisch wie bei einem Uhrwerk. Irgendwas drängt ihn, hat sich in ihm angestaut, doch jetzt hat er wohl den Moment erreicht, in dem es sich nicht länger unterdrücken lässt. Eigentlich hätte es mir klar sein müssen. Auch Training, Putzen und Stallarbeit können ihn nur bis zu einem gewissen Grad beschäftigen und ihn nicht ewig vom Grübeln abhalten. “Eren!“ Normalerweise reagiert er sofort, aber diesmal muss ich seinen Namen fast brüllen, um mir Gehör zu verschaffen. “Eren! Hör auf!“ Er wirbelt herum und blickt mich an, die Fäuste noch immer erhoben. “Was ist, Captain Levi? Ich trainiere doch nur. Ich muss doch trainieren, damit ich besser werde und diese verdammten Drecksviecher fertigmachen kann.“ Er schlägt noch einmal gegen den Sandsack und lehnt sich dann schwer atmend gegen die Wand. “Diese verdammten…“ Sein Hass auf die Titanen. Ein Hass, den ich nur allzu gut nachvollziehen kann, ein Hass, der mir ebenso in der Seele brennt. Doch ich bin sicher, es ist nicht das einzige Problem, das ihn beschäftigt. Da drin steckt noch mehr und es ist an der Zeit, es rauszuholen, damit es ihm nicht länger den Geist vergiftet. “Eren. Steig mit mir in den Ring.“ “Das ist jetzt keine gute Idee, Captain. Ich… ich hab’ mich nicht so gut unter Kontrolle, wenn ich so aufgebracht bin. Und ich möchte Euch nicht verletzen.“ “Hör auf zu diskutieren und komm.“ Er folgt mir nach draußen. Ohne weitere Widerworte, doch mit einem missmutigen Ausdruck auf dem Gesicht. Die Hemden ziehen wir aus, sie würden das garantiert nicht überleben und so viele Ressourcen haben wir nicht, dass wir’s uns leisten können, damit verschwenderisch umzugehen. Reicht schon, dass wir von allen militärischen Einheiten den meisten Nachschub an Klingen brauchen. Unser ’Ring’ ist eigentlich nicht viel mehr als eine mit Sand aufgeschüttete Fläche im Hof. Dort haben wir in den letzten Tagen das Nahkampftraining abgehalten. Der Sand ist weicher als der Erdboden, um Verletzungen zu vermeiden. Ganz ausschließen kann man sie allerdings nicht. Doch ich habe keine Angst davor. Mit einem wütenden Bengel komm’ ich klar. Eren stürmt auf mich zu, greift sofort an, ohne jeden Versuch einer Täuschung. Sein Zorn verleiht ihm zusätzliche Kräfte, doch er umnebelt ihn zu sehr, als dass er jetzt noch taktisch denken könnte. Eine Schwäche, an der wir noch arbeiten müssen, Kleiner. Ich trete zur Seite, stelle ihm ein Bein und er schlägt der Länge nach hin. Keine zwei Sekunden sind vergangen, als er sich wieder hoch rappelt und mich erneut angreift. Sein Gesicht ist knallrot und verzerrt vor Wut, sein Haar zerzaust und voller Sand. Sand klebt auch auf seiner verschwitzen Haut, rinnt ihm in die Augen, doch er kümmert sich nicht darum. Ein schwerer Fehler. Alles, was die Sicht trübt, kann dir zum Verhängnis werden. Ich packe sein Handgelenk, als er zuschlagen will, drehe ihm den Arm auf den Rücken. Er schreit vor Enttäuschung auf und zappelt wie ein gestrandeter Fisch, doch aus einem Hebelgriff befreit man sich nicht mal eben so. “Schlag ab, Eren, hier kommst du nicht raus.“ Er zappelt noch heftiger und ich verstärke meinen Griff. “Schlag ab. Du wirst dir nur den Arm auskugeln, wenn du weitermachst.“ “Ist doch egal“, faucht er. “Könntet ihn mir auch abreißen, wächst eh alles wieder nach!“ “Eren.“ Mit der anderen Hand packe ich in seine Haare und drehe seinen Kopf, damit er mich ansieht. “Was ist los? Mach’s Maul auf, verdammt!“ Er schlägt ab, letztendlich ist Kämpfen wohl doch besser als reden. Ich lasse ihn auch sofort los und er springt ein paar Schritte zurück. Schon macht er sich bereit für den nächsten Angriff. “Na, was ist?“ Klar ist es nicht ohne Risiko, ihn jetzt noch zu provozieren, wenn er sich in einem solchen Zustand befindet. Aber wenn ich ihn nicht aus der Reserve locke, kommen wir nicht weiter. “Hast du schon genug?“ “Verdammt Captain, was soll das?“ Dieses Mal stellt er es geschickter an, er lässt mich auf sich zukommen. Ich ziehe meinen Arm hoch, um seinen Schlag abzuwehren. Es gelingt, doch die Wucht seines Angriffs reißt mich zu Boden. Ich rolle mich beiseite, bevor er sich auf mich werfen kann, und er setzt nach. Einen Schlag kassiere ich in den Magen, zum Glück hab’ ich rechtzeitig die Bauchmuskeln angespannt. Den nächsten wehre ich mit dem Unterarm ab. Das gibt blaue Flecken, vielleicht sogar ’ne leichte Prellung. Aber ich kann das ab. “Lass es raus, Eren. Lass es einfach raus.“ Er ist gut, ich muss ihm wirklich alles entgegensetzen, was ich habe. Ich kämpfe sehr defensiv, um ernsthafte Verletzungen zu vermeiden, sowohl bei mir als auch bei ihm. Ich kann sie schließlich nicht einfach wegregenerieren, er zwar schon, aber wenn er blutet, könnte er sich aus Versehen verwandeln. Und wir haben immer noch keine verdammte Möglichkeit gefunden. Ische, tu mal was für dein Geld! Außerdem möchte ich, dass Eren sich verausgabt. Irgendwann werden seine Kräfte aufgebraucht sein. Und auch seine Wut. Es dauert lange, bis ich die ersten Anzeichen von Erschöpfung an ihm bemerke. Sein Atem wird schwerer, seine Bewegungen langsamer. Und obwohl sein Körper irgendwann schlapp macht, ist sein Wille ungebrochen. “Ich werd’ sie fertig machen, diese verdammten Biester!“, brüllt er zum soundsovielten Mal. “Ich hasse sie, ich hasse sie, ich hasse sie!“ Ja, Kleiner, die Botschaft ist angekommen. Wieder einmal zappelt er in einem meiner Haltegriffe. Es ist diesmal kein Hebel, doch er kann sich auch nicht befreien, da ich ihn mit Armen und Beinen festhalte. “Verdammt, lasst mich los!“ “Du kennst die Regeln. Schlag ab.“ Es war nie meine Absicht, seinen Willen zu brechen, mir ging’s immer nur darum, ihn in die richtigen Bahnen zu lenken. Ihm die Möglichkeit zu geben, mit dieser unbezähmbaren Wut klarzukommen. Er weiß, wer der Alpha im Rudel ist. Ab und an muss ich ihn wieder daran erinnern. “Verdammt!“ Seine Stimme klingt erstickt, er hat mittlerweile angefangen zu heulen. “Ich krieg’ das Scheiß-Tuch nicht, Reiten kann ich auch nicht so wie Ihr und gegen Euch gewinnen kann ich sowieso nicht. Ich kann gar nichts, außer mich in einen verdammten Drecks-Titanen verwandeln, aber das darf ich nicht, weil Ihr mich sonst umbringt!“ Ähm... wann hast du dir diese Flucherei angewöhnt? Das wollt’ ich dir eigentlich nicht beibringen. “Ich versteh’s nicht, Captain Levi, Ihr gebt mir ein eigenes Pferd und sagt, dass ich ein Teil Eures Teams bin, aber dann sagt Ihr wieder, ich hätte nichts zu bieten außer meinen Titanenkräften. Ich will beim Korps sein, weil ich was tun will, nicht, weil ich ein verdammtes Monster bin.“ “Hey. Ich hab’ nichts dergleichen gesagt.“ Da hat er wohl was ganz gewaltig missverstanden. “Ich hab’ dich gefragt, ob du noch mehr zu bieten hast. Das heißt nicht, dass ich nicht daran glaube. Wenn ich das nicht täte, wärst du wohl kaum hier.“ “Aber es ändert nichts daran, was ich bin.“ Er lässt den Kopf in den Sand sinken. “Mein Leben lang wollte ich gegen Titanen kämpfen und jetzt steckt einer in mir drin. Und egal, was ich mache, ich kann nie wieder ein richtiger Mensch sein.“ “Eren.“ Ich entlasse ihn aus dem Haltegriff und ziehe ihn vom Boden hoch in eine sitzende Position vor mir. “Es ist wahr, du hast es in dir. Du kannst es nicht rausreißen. Du bist damit gezeichnet, so wie ich mit meinen Reflexen oder Petra mit ihrem sechsten Sinn oder Hanji mit ihrem dicken Gehirn. Aber mal ehrlich, keiner hat sich ausgesucht, wo und mit was er geboren wird. Wir werden einfach auf diese Welt geworfen und müssen dann das Beste draus machen.“ “Es ist nicht fair.“ Er wendet sein Gesicht ab, damit ich seine Tränen nicht sehe. Einen kurzen Moment lang lehnt er seinen Rücken gegen meine Brust. “Es ist einfach nicht fair.“ “Nein, ist es nicht.“ Wo sind meine verdammten Tücher, wenn ich eins brauche? “Ich war auch mal ein wütender Bengel, der nicht wusste, wohin damit. Mein ganzes Leben lang haben mir die Leute erzählt, nichts ist wichtig, außer womit man geboren wird. Adelige sind Adelige, Streuner sind Streuner. So ist das nun mal.“ Nach langem Herumkramen finde ich doch noch ein Tuch, um Eren’s Gesicht von Sand, Schweiß und den verräterischen Tränen zu befreien. “Doch eines Tages bin ich einem Mann begegnet, der mir klar machte, dass das alles völliger Quatsch ist. Und so wie er es damals zu mir sagte, sag’ ich’s jetzt zu dir: Womit du geboren wirst, zählt nicht. Das Einzige was zählt, ist, wofür du dich entscheidest. Deine Entscheidungen im Leben sind es, die bestimmen, wer du wirklich bist. Wofür hast du dich entschieden, Eren? Sag’s mir! Wofür hast du dich entschieden?“ Er wendet sich um und blickt mich lange an. Die Tränen sind getrocknet und als sein Blick auf den meinen trifft, ist die Entschlossenheit in seine Augen zurückgekehrt. “Ich habe mich dafür entscheiden, dem Kundschafterkorps beizutreten, um mit euch gemeinsam die Titanen zu bekämpfen und die Welt hinter der Mauer kennen zu lernen.“ ~*~ Kapitel 7: September 850, Teil 3 -------------------------------- September 850, Teil 3 (3/6) 15. September 850 Und da ist die Irre wieder. Mit noch mehr Zeichnungen, noch mehr hirnrissigem Geplapper, noch mehr unermüdlichem Optimismus und wenn man alles drei kombiniert, vielleicht sogar mit einer Lösung im Gepäck. Eren’s Begeisterung hält sich in Grenzen, als wir ihm mitteilen, wie diese Lösung aussehen soll. Ich schätze mal, abgehackte Hände und Füße sind nicht so seins. Aber was soll’s, besser als tot ist es allemal. “Tun wir’s.“ Entschlossen blickt er mich an, die Hände zu Fäusten geballt. “Wo gehen wir hin?“ Wir satteln die Pferde und machen uns auf den Weg. Nicht weit vom Wald, auf einer größeren Wiese, befindet sich ein alter Brunnenschacht, der nicht mehr genutzt wird. Günther hat ihn neulich entdeckt, als er mit Orlo auf Patrouille war. Der Schacht hat etwas über zehn Meter, das bedeutet, wenn der Bengel sich darin verwandelt, müsste grad’ sein Kopf rausschauen, so dass Hanji versuchen kann, mit ihm zu kommunizieren. Sein Körper steckt allerdings fest, da der Schacht für ihn zu eng ist, um seine Arme zu bewegen. Insofern ist es relativ sicher. Selbst wenn er als Titan die Kontrolle verliert, kann er in dieser Presswurst-Haltung keinen großen Schaden anrichten. Vielleicht könnten wir sogar abwarten, bis er sich beruhigt hat, und es ist gar nicht nötig, ihn aus dem Titanenkörper rauszuschneiden. Oben am Brunnen befindet sich noch die rostige Zugkette. Wir montieren den morschen alten Holzeimer ab, damit Eren sich in die Kette stellen kann. “Noch irgendwas, was wir wissen müssten, bevor wir dich da runterlassen?“ Eren schüttelt den Kopf. “Ich hab’ Euch alles gesagt, was ich weiß.“ Er hat Angst, das merk’ ich deutlich, doch er versucht mit aller Kraft, sie sich nicht anmerken zu lassen. Seine Hände krallen sich um die Kette, umklammern sie so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortreten. Angst erkennt man immer als erstes an den Händen. Ihre Gesichter haben die Menschen unter Kontrolle. Auf ihre Hände achten sie meistens nicht. Vielleicht sollte ich doch irgendwas Aufmunterndes sagen. Vorgestern erst hat mir Petra eine Predigt darüber gehalten, dass ich den Grünschnabel öfter loben soll. Wozu? Wenn er was richtig gemacht hat, merkt er’s doch daran, dass ich ihn nicht zurechtweise. Aber offenbar hatte Petra was anderes im Sinn. “Er wünscht sich Anerkennung von Euch, Captain. Natürlich würde er das niemals laut aussprechen, aber Ihr seid sein großes Vorbild.“ Nee, bloß nicht. Ich eigne mich nicht zum Vorbild. So überhaupt nicht. Ich kann Leuten zeigen, wie man ein Schwert richtig rum hält oder wie man sein Manövergerät benutzt, aber zum Vorbild tauge ich nicht im Geringsten. Kein Mensch sollte jemals so sein wollen wie ich. Und eigentlich weiß sie das auch. Und überhaupt, was sagt man in so einer Situation? Alles wird gut? Schwachsinn. Wir haben keine Ahnung, ob irgendwas gut wird. Hab keine Angst? Lächerlich. Erstens hat er allen Grund, Angst zu haben, schließlich wird er sich gleich in einen Fünfzehn-Meter-Titanen verwandeln. Zweitens blamiere ich ihn doch nicht vor dem gesamten Team, indem ich laut ausspreche, was er so verzweifelt versucht, zu verbergen. Das wär ’n ziemlich mieser Zug. Ich warte ab, ob Petra irgendwas sagt. Sie kann das besser. Hanji auch, die Frau ist ein einziges Energiebündel. Und Orlo kann zumindest dumme Sprüche klopfen und die Leute damit zum Lachen bringen. Ich kann ... tja, Titanen umlegen. Aber das weiß er schon und es ist nicht unbedingt aufmunternd, wenn ich ihm das jetzt noch mal auf die Nase binde, bevor er sich in einen verwandelt. “Ich pass’ schon auf, dass nichts passiert“, sage ich schließlich. Er nickt langsam und wir fangen an, die Kette runterzulassen. “Captain Levi?“ “Was gibt’s?“ Ich gebe den anderen ein kurzes Handzeichen, die Kette anzuhalten. Eren’s Kopf ist schon fast im Schacht verschwunden, doch er reckt ihn noch mal nach oben, um mir ins Gesicht blicken zu können. Einen Moment lang schweigt er und schaut mich einfach nur an. Sein Blick wandert von meinem Haarschopf über meine Augen, bis hinunter zu meinem Kinn und wieder zu den Augen zurück. Beinahe so, als wolle er sich mein Gesicht ganz genau einprägen, damit er nicht vergisst, wie’s aussieht. “Captain, wenn irgendwas passiert und ich... werdet Ihr dann... ich will niemandem was tun. Es reicht schon, dass ich Mikasa beinahe...“ Richtig, das Mädchen bei der Anhörung. Seine Ziehschwester. Das also ist es, was ihn wurmt. Dem zumindest kann ich Abhilfe schaffen. “Du wirst niemandem was tun, Eren. Selbst wenn du austickst und als Titan hier rumtobst, ich bin schneller. Ich bin immer schneller.“ Er nickt und seine Angst weicht einem Ausdruck grimmiger Entschlossenheit. Er weiß, dass ich die Situation unter Kontrolle habe und er vertraut mir. Das ist gut. Vertrauen ist der Grundstock für alles andere im Team. Verdammt, wann hab’ ich eigentlich angefangen, wie Erwin zu denken? Der Kleine verschwindet im Brunnen und wir gehen auf Position. Es ist so still, dass man ein Stück Stroh fallen hören könnte. Nur das Surren der Bienen klingt deutlich in meinen Ohren und im Dorf hinter den Hügeln läuten die Kirchenglocken. Wir warten. Die Anspannung, die in der Luft liegt, ist so dicht, dass man sie mit Messern schneiden könnte. Nichts passiert. Will der Bengel nicht langsam mal anfangen? Ich gebe meinen und Hanji’s Leuten das Zeichen in Position zu bleiben und nähere mich wieder dem Brunnenrand, um hinunter zu spähen. Ist verflucht dunkel da unten. Doch auf dem Grund kann ich eine zusammengekauerte Gestalt erkennen. Er sitzt reglos an die Wand gelehnt, mit gesenktem Kopf und angezogenen Knien. Sein Gesicht ist nicht zu erkennen, da er mir den dunklen Haarschopf zuwendet, doch es scheint, als würde er seine eigenen Hände anstarren. Ein leichtes Zittern fährt durch seine Schultern. Ist ziemlich klar, dass er heult. “Ihr wartet, ich geh’ nachsehen.“ Entsetzte Gesichter um mich rum, besonders von Orlo und Petra. Doch die sollen sich mal nicht ins Hemd machen. Falls er sich doch noch verwandelt, bin ich in Nullkommanix wieder oben. Ich schieße einen Haken in die Brunnenwand und springe runter, um mich in letzter Sekunde mit dem Stahlseil abzufangen. Sein Kopf fährt hoch, als ich so unerwartet neben ihm auftauche und er rappelt sich auf, um nicht wie ein Häufchen Elend vor mir zu sitzen. Jetzt sehe ich auch die blutigen Hände. Er muss wieder und wieder zugebissen haben, als es nicht funktioniert hat. “Es klappt nicht, Captain. Ich weiß nicht, warum es nicht klappt.“ Aus den Berichten, die uns Pixis freundlicherweise überlassen hat, weiß ich, dass er sich in Trost insgesamt dreimal verwandelt hat. Alle drei Male hat es wohl auf Anhieb funktioniert. Doch jetzt und hier ist offenbar irgendwas anders als in Trost. Wir wissen es nicht, wir waren nicht dabei. Auch Hanji kann nur spekulieren. “Schluss für heute.“ Aus den Taschen meiner Uniform fische ich einen Verband und ein Hexengebräu von Hanji, Standardausrüstung für jeden Soldaten. “Eren. Hände her.“ Er folgt meinem Befehl ohne Murren und streckt die Hände aus, damit ich sie versorgen kann. Ein Taschentuch für seine Tränen muss ich diesmal nicht opfern, er hat meins vom letzten Mal behalten. Offenbar ist er doch lernfähig, zumindest, was Reinlichkeit angeht. Die paar Minuten Zeit haben wir auch noch – er muss ja nicht dem gesamten Team oben mit verheultem Gesicht entgegentreten. Er wischt sich das Gesicht ab. Seine Augen sind glasig, in Gedanken scheint er weit fort zu sein. Auch als er sich wieder in die Kette stellt, gibt er keinen Mucks von sich, obwohl es verflucht weh tun muss, sich mit den verletzten Händen daran festzuhalten. Das geht auch anders. Ich hole ihn aus der Kette, halte ihn mit einem Arm fest und ziehe mit der anderen Hand die Spule an. Das Manövergerät trägt mich und ihn nach oben, wo zwei angespannte Teams auf uns warten. “Wir reiten nach Hause, es macht für heut’ keinen Sinn mehr.“ Enttäuschung spiegelt sich auf den Mienen der anderen wieder, doch das geht mir am Arsch vorbei. Soll’n sie sich doch mal die Hände zerbeißen. Ich habe damit gerechnet, dass der Bengel spätestens auf dem Heimweg seinen Ausraster schiebt, doch stattdessen sitzt er immer noch apathisch in der Gegend rum. Erst auf dem Pferderücken, dann auf der Treppe vor der Burg. Aber Selbstmitleid is’ nich’, das lass’ ich ihm nicht durchgehen. Bis seine Hände wieder verheilt sind, darf er Runden laufen, danach trainieren wir mit den Schwertern. Abwehrtechniken. Links, rechts, Mitte, oben, unten. Und auch wenn er mechanisch wie ein Zinnsoldat im Spieluhr-Modus durchs Training rattert, ist das immer noch besser als die vermaledeite Trübsalblaserei. Irgendwann kehrt seine Wut zurück und dann werd’ ich da sein, um sie in sinnvolle Bahnen zu lenken. 16. September 850 Schon wieder ein Misserfolg auf der ganzen Linie... Selbst unsere Pferde scheinen unsere Enttäuschung zu spüren. Niedergeschlagen und mit gesenkten Köpfen trotten sie in Richtung Schloss. Irgendwas läuft hier ganz gewaltig falsch, aber wir haben keine Ahnung, was. Doch dass wir im Dunkeln tappen, wäre ja auch nicht wirklich neu. Hanji ist ebenso ratlos wie wir anderen, dabei war sie gestern Abend noch so zuversichtlich. Wir hockten klingenputzend in unserer selbsternannten Waffenkammer, während sie dem Grünschnabel eine flammende Aufmunterungsrede hielt. Irgendwas mit ’Entspannen und locker bleiben, sich nicht unter Druck setzen und dass es doch keine Schande sei, wenn’s mal nicht klappt. Dann versucht man es eben noch mal und am besten denkt man zwischendurch an was anderes, sonst will man es zu sehr und dann...' ja, wie auch immer. Gegen sein Selbstmitleid schien’s jedenfalls zu helfen und aus nicht näher bekannten Gründen bekam Orlo einen Lachkrampf, der damit endete, dass er sich wieder mal auf die Zunge biss. Petra rollte nur theatralisch mit den Augen, während Erd und Günther... Ach, du heilige Scheiße! Alles passiert blitzschnell, doch die Zeit reicht mir, den Haken in den nächsten Baum zu schießen und mich aus dem Sattel hochzureißen. Mein Spezialsprung. Keine zwei Wimpernschläge dauert es, bis Team Levi mir Gesellschaft leistet, abgesehen von Erd, der unten weiterreitet und damit unsere Pferde auf dem Weg hält. Der Titan fährt herum, setzt mit einem Sprung über die Tiere hinweg und läuft, ohne sich weiter um uns zu kümmern, zurück in Richtung Wiese. Verflucht, alles bloß das nicht! Wir müssen ihn aufhalten, bevor er das offene Gelände erreicht. Orlo’s Ablenkungsmanöver zieht nicht, der Titan greift nicht nach ihm, selbst als er direkt vor seiner Nase baumelt. Er scheint uns völlig zu ignorieren. Günther und Petra umkreisen seinen Kopf, schlagen jedoch nicht zu. Noch nicht. Sie warten auf meine Anweisungen. “Fällt ihn!“ Ich deute auf seine Beine und springe nach unten, doch ich verfehle knapp, als ich zuschlage. Zwar schneidet meine Klinge in seine Ferse, durchtrennt aber nicht die Sehne. Mit angreifenden Titanen kommen wir klar, aber wenn sie wegrennen, erschwert es die Sache ungemein. Einem fliehenden Titanen die Achillessehnen durchzusäbeln, ist wohl das schwierigste Manöver überhaupt, weitaus heftiger noch als der Nackenschnitt. Wieder ziehe ich die Spule an, schwinge mich hoch, versuche ihm den Weg abzuschneiden. Eren, wo zum Teufel willst du hin? Zwar hat er keinen von uns angegriffen, doch dass er abhauen will, macht die Sache nicht wirklich besser. In den Augen meiner Kameraden kann ich die Enttäuschung sehen, den Schmerz über diesen Verrat. Sie alle haben angefangen, den Bengel zu mögen. Aber darüber können wir uns später noch Gedanken machen. Jetzt gibt’s Wichtigeres. Der letzte Baum kommt in Sicht, jetzt oder nie. Ich lass’ mich möglichst weit nach oben schleudern, um den Schwung mitzunehmen und versenke meinen zweiten Haken im Rücken des Titans. Der sitzt! Orlo fliegt zwischen den Bäumen hindurch, ich seh’, was er vorhat. Er will eins seiner Seile über den Weg spannen, um den Titanen zum Stolpern zu bringen. Petra hat’s auch geschnallt und kopiert sein Manöver. Vergiss es, Kleiner, du kommst hier nicht weg! Mit einem Ruck hole ich meinen ersten Haken vom Baum zurück und mach’ mich auf was gefasst. Wenn er wirklich fällt, muss ich möglichst schnell abspringen. Es reicht, wenn ich dann hinterher wieder auf ihm lande. Doch der Titan ist zu intelligent, um in die Falle zu tappen. Er springt über Orlo’s Seil drüber, duckt sich unter Petra’s hinweg und läuft einfach weiter. Ich stoße meine Klinge in seinen Rücken, um nicht weggerissen zu werden. Jetzt muss ich runter. Von hier aus kann ich seine Fersen gut treffen, das haut hin. Da erscheint wie aus dem Nichts Hanji, die wieder mal alle Vorsicht fahren lässt und sich direkt auf Eren’s Kopf niederlässt. Von dort seilt sie sich ab. Wie eine tollwütige Spinne baumelt sie vor seinem Gesicht herum und gestikuliert wild mit Armen und Beinen. “Eren! Hey, Eren!“ Doch ihr Versuch, mit ihm zu kommunizieren, schlägt fehl. Die riesigen funkelndgrünen Augen unter der wilden schwarzen Mähne scheinen sie nicht einmal wahrzunehmen. Sie sind auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne gerichtet. Und er läuft weiter. In Richtung des Dorfs. Die Menschen dort werden nicht begeistert sein. Und Zackley auch nicht, wenn er unseren Bericht auf dem Tisch liegen hat. Die Augen. Wenn ich ihn blende, kann er nicht mehr fliehen, da er nicht mehr weiß, wohin. Aber das alleine würde ihn nur wütend machen und Hanji hat in ihrer gegenwärtigen Position nicht viele Möglichkeiten zum Ausweichen. Bleiben weiterhin die Fersen. Aber auch wenn er fällt, so ist das nur eine Lösung auf Zeit. Verdammt Hanji, ich hoffe ernsthaft, deine Lösung ist nicht so bekloppt wie du. Ich schieße beide Haken in seinen Kopf. Gleichzeitig. Das Gas katapultiert mich nach oben, hoch hinaus, so dass ich den anschließenden Fall für meinen Schwung nutzen kann. Links passt, rechts ziehe ich vorsichtshalber eine neue Klinge. Captain, wenn irgendwas passiert und ich... werdet Ihr dann... Ich hole tief Luft. Dann versenke ich beide Schwerter in seinem Nacken. Der Titan kippt um wie ein gefällter Baum. ~*~ Kapitel 8: September 850, Teil 4 -------------------------------- September 850, Teil 4 (4/6) 16. September 850, Nachtrag Du kennst doch noch Michel, den Stadtgardisten, stimmt’s? Der Michel sitzt eines Abends mal wieder auf der Mauer und hat Dienst. In der einen Hand hält er seine treue Schnapsflasche, in der anderen seinen Pisspott. Der Michel ist nämlich ein anständiger Kerl und pisst nicht einfach von der Mauer runter, wie es die Stadtwachen normalerweise tun, wenn sie ein Bedürfnis verspüren. Wie er da so saß, ward dem Michel ganz melancholisch ums Herz. “Ich hab’...hicks... ein nutschloses, nutschloses Leben geführt. Hab’ geschoffen, gehurt und dem Glügsch ...hicks.. dem Glügschpiel gefrönt. Wenn isch mein Leben nommal leben könnte...“ Er hat den Gedanken kaum ausgesprochen, da erscheinen ihm plötzlich drei liebliche Frauengestalten in seinem Pisspott. Das sind die heilige Maria, die heilige Rose und die heilige Sina, die seine Gebete erhört haben. Der Michel wundert sich zwar, denn normalerweise erschienen ihm die Drei nur dann, wenn seine Schnapsflasche bedeutend leerer war (und dann meistens auch nur die heilige Rose), aber manchmal darf halt auch ein alter Stadtgardist Glück haben. “Damit du dein Leben ändern kannst, werter Michel, gewährt dir jede von uns einen Wunsch“, verheißen die Göttinnen. “Mein erster Wunsch ist ein Karren voll mit dem allerbesten Schnaps“, sagt der Michel. Als der volle Karren neben ihm auftaucht, wird ihm so langsam klar, dass dieser Wunsch vielleicht doch ein wenig bescheiden war. “Also hier kommt mein zweiter Wunsch: Ich will ein großes Haus in Mithras mit einer vollen Speisekammer, einem vollen Weinkeller, einer Schatzkammer voll Gold und fünf heißen Ischen, die nur darauf warten, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Das zählt doch als ein Wunsch, oder?“ Der Michel sitzt also in seinem schönen neuen Haus im Zuber, verspeist Schnaps mit Speckwürsten, die ihm seine fünf heißen Ischen kredenzt haben, genießt dabei eine Massage und zählt sein Gold. “Also, werte Göttinnen, hier kommt mein dritter Wunsch: Ich will nie wieder arbeiten müssen!“ Schwups, da sitzt er wieder auf seiner Mauer, in einer Hand die Schnapsflasche, in der anderen den Pisspott…. Nein, ich hab’ keine Ahnung, ob der Bengel irgendwas von dem Bockmist versteht, den ich hier verzapfe… Alles, was ich weiß ist, dass er ruhiger wird, wenn er meine Stimme hört. 17. September 850 Mitternacht ist vorüber. Es ist kalt hier unten im Keller, doch so wie sein Körper im Moment glüht, kann ich mir nicht vorstellen, dass er irgendwas von der Außenwelt mitkriegt. Seine Fesseln sind jedenfalls so heiß geworden, dass man sich Brandblasen holt, wenn man das Eisen berührt. Wollte nur wissen, ob sie noch richtig sitzen. Und ob sie nicht zu fest sind, denn schließlich… Seine Körperwärme hat selbst die Wolldecke angekokelt, mit der wir ihn zugedeckt haben. Hanji sagt, dass Titanen diese Hitze immer dann erzeugen, wenn sie regenerieren, aber sie wusste nicht, dass es auch in menschlicher Form so extrem ist. Schließlich hab’ ich ihr nicht erlaubt, dem Bengel mal eben ’nen Finger abzuschneiden, um das auszutesten. Nein Brillenschlange, auch nicht für die Wissenschaft. Unter dieser Decke müssen jetzt eine Hand und zwei Füße nachwachsen. Niemanden außer Hanji würde dieser Gedanke in wilde Begeisterung versetzen. In den letzten Stunden ist sie unermüdlich um Eren rumgepusselt, hat ihn mit irren Augen angestarrt, irgendwas gemessen und Dinge in ihr schlaues Büchlein gekritzelt. Sein Atem geht tief und regelmäßig. Sie sagt, das sei ein gutes Zeichen, denn wir können davon ausgehen, dass er sich in einer Art Winterschlaf befindet. Seine Funktionen sind auf das Notwendigste beschränkt, damit der Körper seine ganze Energie auf die Regeneration konzentrieren kann. Sie kennt das schon von Chikatilo und Albert. Ich würd’ mir ja eher die Zunge abbeißen, als es zuzugeben, aber vielleicht war’s doch nicht die blödeste Idee, die beiden einzufangen. Zumindest wissen wir jetzt, was auf uns zukommt. So ungefähr. Hanji lässt ein paar Tropfen Wasser auf Eren’s Armstumpf fallen, welche zischend verdampfen. Auch das ist wieder einen Eintrag wert. Aber auch wenn sie noch so abgebrüht tut, glaub’ ich eher, sie versucht sich abzulenken. Manchmal muss man einfach irgendwas tun und warum nicht auf kleine halbtote Bengel tropfen? Tche. Den mit den drei Militärpolizisten und der kleinen Anna hab’ ich aber noch nicht erzählt, oder doch? 17. September 850, Nachtrag Es ist Morgen. Die Stimmung bei unserer Teambesprechung lässt sich locker mit einer Beerdigung vergleichen und das, obwohl niemand beerdigt wurde. Aber wie hat Orlo es mit seiner großen Klappe so schön ausgedrückt: Unser Vertrauen wurde zu Grabe getragen. Aber mach’ mal halblang, Kleiner. Bevor wir keine Aussage von Eren haben, warum er’s getan hat, werden wir auch nicht über ihn urteilen. So läuft das hier nicht und das weißt du. Trotzdem, die Ketten bleiben erstmal dran. Wir wissen noch nichts über die ganze Sache und es steht einfach zu viel auf dem Spiel. 18.September 850 Mitternacht ist schon wieder vorbei und der Kleine schläft mittlerweile seit gut dreißig Stunden. Ich nicht. Petra hat’s aufgegeben, mich überreden zu wollen. Nachdem ich hier rumhänge, kommt sie ab und an runter. Einmal bringt sie mir Tee. Einmal bringt sie neue Kerzen, weil die alten heruntergebrannt sind. Einmal schnappt sie sich einen Stuhl und setzt sich schweigend neben mich. Sie kennt mich zu gut, um mich jetzt vollzuquatschen. Meine schlechten Witze sind mir irgendwann ausgegangen, also hab’ ich keine Ahnung, was ich dem Grünschnabel noch erzählen soll. Zwischendrin schläft er ruhiger, aber dann kommen wieder die Alpträume zurück. Es sind immer wieder dieselben. Dass er seine Mutter bei dem Angriff auf Shiganshina verloren hat, wusste ich aus den Berichten. Was ich nicht wusste, war, dass sie vor seinen Augen von einem Titanen verschlungen wurde. Ich muss wohl für ein paar Minuten weggedöst sein, denn ich schrecke hoch, als ich den leisen Schritt draußen im Gang höre. Petra ist wieder da und diesmal hat sie meine Laute mitgebracht. Auf ihren fragenden Blick hin, nick’ ich und nehm’ das Ding an mich. Ich weiß nicht, ob Soldatenlieder in seinem Zustand das Richtige sind, aber ich kenne kaum andere und mehr als ein paar Griffe hab’ ich auch nicht drauf. Ich war nie wirklich der musikalische Typ, hab’ keinen Nerv für so was. Aber es ist besser als Schweigen. Oyfn furl ligt dos kelbl Ligt gebundn mit a shtrik Hoykh in himl flit dos shvelbl Freydt zikh, dreyt zikh hin un krik. Lakht der vint in korn Lakh un lakht un lakht Lakht er op a tog a gantsn mit a halber nakht. Dona, dona, dona dona Dona, dona, dona don Dona, dona, dona dona Dona, dona, dona don Um uns herum ist es dunkel, bis auf den schwachen Schein der Kerzen, der sich auf den feuchten Steinwänden des alten Kellergewölbes widerspiegelt. Auch Petra’s Wangen glänzen, denn obwohl sie keinen Laut von sich gibt, weiß ich, dass sie leise weint. Manchmal beneide ich sie darum, dass sie noch Tränen hat. Verdammter Mist, du kleiner Drecksbengel wirst dich hüten, hier einfach so wegzusterben. Ich lass’ es verdammt noch mal nicht zu, hörst du? Ich lasse es nicht zu! Eren’s Gesicht ist gerötet von der Hitze, sein schweißnasses Haar klebt an seiner Stirn. Petra streicht es ihm beiseite, fährt mit den Fingerspitzen über seine Wange. Genauso hat sie das bei Shoshannah getan, als ihr Kopf in Petra’s Schoß lag. Als sie zitterte und Blut spuckte und verzweifelt versuchte, nicht zu weinen, weil ich ihr in der Nacht davor gesagt hatte, dass Soldaten das nicht tun. “Captain Levi, wenn ich aufhöre zu weinen, singt Ihr dann noch mal das Kälbchenlied für mich?“ Ihre Augen starren mich an und es liegt ein stummer Vorwurf darin. Nur dass es nicht mehr Shoshannah’s Augen sind, sondern Isabelle’s. Ich hab’ ihr versprochen, immer auf sie aufzupassen, doch ich hab’ versagt. Gnadenlos versagt. Bei ihr und Farlan, bei Silke, bei Andreas und bei allen, die ich beschützen wollte und es doch nicht konnte. Es sind jetzt Mutter’s Augen, die mich ansehen und es ist ihre Stimme, die das Kälbchenlied singt, nicht meine. Großvater sitzt am Tisch und schnitzt an einer neuen Essschale, während Großmutter einen Umhang ausbessert. Sie lächelt still, als sie sich über ihre Arbeit beugt. Mitten auf dem Tisch steht der Leuchter, der so aussieht wie ein Baum. Es muss Freitagabend sein, denn alle sieben Kerzen brennen. Ein Windstoß fährt durch die Stube und bläst die Kerzen aus. Und dann ist da nur noch Finsternis um mich herum, eine schwarze abgrundtiefe Finsternis. Erwin greift nach meiner Hand, doch ich nehme sie nicht, ich kann auf mich achtgeben. Ich brauche keinen Beschützer! Ich bin stark, ich kann für mich selbst einstehen. Ich schieße den Haken ab, doch da gibt es nichts, nichts, wo er sich festmachen könnte. Nichts, nur grenzenloses Dunkel. Das Stahlseil surrt, als es sich von der Spule löst, windet sich wie eine schwarze Schlange... Und ich falle… 18. September 850, Nachtrag Mist! Ich weiß nicht, wer das verdammte Feldbett hier aufgestellt hat und noch viel weniger weiß ich, wie ich da rein gekommen bin, aber eins steht fest: Der- oder diejenige hat sich mindestens achtzig Runden und fünfzig Liegestütze auf den Fingerknöcheln verdient. Bin ich ein krankes Fohlen, das man einfach packt und irgendwohin schleppt? Ich werd’… Ja, ganz sicher werd’ ich das, sobald mein Kopf endlich aufhört zu brummen und ich wieder klar denken kann. “Captain, Ihr seid aus dem Bett gefallen.“ Ach nee! So intelligent von dir, das Offensichtliche in Worte zu fassen. Man könnte ja fast glauben, du hättest so was wie ein Hirn unter deinen wirren Zottelhaaren. Eren? Eren! 18. September 850, 2. Nachtrag “Was ist das Letzte, woran du dich erinnern kannst?“, fragt Erd. Er reicht Eren eine Schüssel mit Suppe und einen Löffel, doch der Bengel trinkt die Schale in einem Zug aus. “Möchtest du mehr?“, will Petra wissen. Er nickt. Nach der dritten Schale legt sich seine Stirn in Falten. Er schweigt, überlegt angestrengt. “Wir waren auf dem Heimweg, richtig? Dem Heimweg vom Brunnen.“ “Ja, allerdings“, stimmt Günther zu und Orlo wirft ein: “Aber wir wollen wissen, was dann passiert ist!“ Erd hebt eine Hand und bedeutet ihm zu schweigen. “Wir sind auf dem Heimweg zur Burg, Eren. Erzähl mir davon. Mach’ die Augen zu, dann kannst du es dir besser vorstellen und wirst nicht abgelenkt.“ Gehorsam schließt Eren die Augen. “Es ging...“ “Es geht...“, verbesserte Erd sanft. “Es geht ziemlich langsam voran, weil wir alle enttäuscht sind und total niedergeschlagen. Auch Rebellion merkt es. Er trottet. Normalerweise trottet er nicht, er hat einen sehr beschwingten Gang. Aber jetzt hebt er kaum die Beine beim Laufen. Der Captain reitet vor mir, hinter uns sind die anderen. Orlo ist neben mir und erzählt mir was. Ich weiß aber nicht mehr genau was, denn ich hör’ nicht richtig zu. Ich glaub’ er will mich aufmuntern, aber das funktioniert nicht. Ich bin enttäuscht und tierisch sauer auf mich selber, weil es nicht geklappt hat. Ich bring’s einfach nicht. Ich soll mich verwandeln und bring’s einfach nicht. Ich will doch nützlich sein fürs Korps! Wenn ich mich nicht verwandeln kann, dann können wir die Mission nicht durchziehen und alles war umsonst. Dann kommen wir nie in diesen verdammten Keller und wir müssen doch da rein, wenn wir Antworten finden wollen. Ich muss in diesen Keller!“ Eren fährt hoch und stößt einen leisen Schrei aus. Orlo und Petra zucken zusammen, doch Erd legt dem Kleinen eine Hand auf die Schulter. “Scht, ganz ruhig, Eren. Du bist zu Hause und in Sicherheit. Tief durchatmen, jetzt.“ Eren saugt hörbar die Luft ein. “Ich weiß nicht, was passiert ist, ich weiß es wirklich nicht. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, das es einen lauten Krach gegeben hat, und Captain Levi aus seinem Feldbett gefallen ist. Da war ich dann hier unten angekettet, aber ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin. Muss ich die jetzt wieder tragen? So wie im Gefängnis der Militärpolizei?“ Die Ketten klirren leise, als er die Hände in den Fesseln hebt. Er hat die Frage an mich gerichtet und blickt mich lange an. Ein stummes Flehen liegt in seinen Augen. “Eren, du musst auch unsere Situation verstehen“, erklärt Günther. “Du hast dich gegen jede Absprache in einen Titanen verwandelt und wolltest abhauen. Jetzt wissen wir nicht mehr, woran wir bei dir sind und ob wir dir noch trauen können.“ “Abhauen?“ Eren starrt Günther entgeistert an. “Aber das ist doch Tinnef! Ich würde niemals abhauen.“ “Wie kannst du das so genau wissen, wenn du dich doch nicht erinnern kannst?“, will Orlo wissen. Eren schluckt. “Ich kann’s mir einfach nicht vorstellen. Ich wollte immer zu den Kundschaftern und jetzt bin ich hier. Warum sollt’ ich wieder weg wollen? Und wohin?“ “Eren, wir wissen, wie viel es dir bedeutet, beim Korps zu sein.“ Erd blickt ihn eindringlich an. “Aber einiges hat sich seit damals geändert. Du wolltest gegen Titanen kämpfen und nicht selbst einer sein. Keiner hier kann wirklich verstehen, was es bedeutet, ein Wandler zu sein, aber jeder von uns kann nachvollziehen, dass du dich davor fürchtest.“ “Ja. Ihr habt recht, ich hab’ mir das nicht ausgesucht. Aber ich hab’ diese Kraft nun mal, also kann ich sie auch benutzen. Captain Levi hat gesagt, wichtig ist, wofür ich mich entscheide. Und ich hab’ mich für das Korps entschieden.“ “Aber hast du nicht auch manchmal Angst vor dieser Verantwortung?“, fragt Günther. “Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, Menschen, die dir wichtig sind, zu verletzen. Bist du deshalb abgehauen?“ “Oder hattest du Angst davor, dass dich die Spinner von der Militärpolizei in die Finger kriegen?“, will Orlo wissen. “Sie haben damit gedroht, dich umzubringen. Jeder würde da Panik kriegen.“ Erneut blickt Eren hilfesuchend zu mir. Tut mir leid, Kleiner, aber das Kreuzverhör kann ich dir jetzt nicht ersparen. Jeder im Team muss dem anderen vertrauen können und das Vertrauen in dich wurde bis in seine Grundfesten erschüttert. Wir müssen wissen, woran wir bei dir sind, damit es wieder aufgebaut werden kann. Wir müssen die Wahrheit erfahren. “Eren.“ Petra setzt sich auf den Rand der Pritsche und nimmt Eren’s Hand. “Es geht nicht darum, dass wir dir einen Vorwurf machen wollen. Es ist keine Schande, Angst zu haben. Als ich zum erstenmal einem Titanen gegenüberstand, war ich so kurz davor, einfach wegzulaufen und meine Kameraden im Stich zu lassen.“ “Ich bin weggelaufen“, gibt Erd unumwunden zu. “Als Grünschnabel in meinem ersten Kampf hatte ich eine Panikattacke und wäre beinahe draufgegangen. Du siehst also, auch wir sind alles andere als perfekt.“ “Aber wir sind ehrlich mit dir“, Petra drückt Eren’s Hand. “Und du musst auch ehrlich mit uns sein, wenn wir als Team zusammenarbeiten wollen. Eren, hast du dich in einen Titanen verwandelt, weil du fliehen wolltest?“ Er presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. Es verunsichert ihn, dass so viele Leute gleichzeitig auf ihn einreden, doch er scheint nicht nachgeben zu wollen. “Jetzt hört mir mal zu. Ihr alle. Ich hab’ mich nicht absichtlich verwandelt und ich wollte nicht weglaufen. Ich weiß, das ihr das hören wollt, weil es so gut erklärt, was passiert ist, aber so war’s nicht! Ich hab’ keine Ahnung, warum’s plötzlich geklappt hat mit der Verwandlung, ich kann mich nicht daran erinnern. Aber eins weiß ich ganz sicher: Ich hab’s nicht mit Absicht getan und ich wollte nicht abhauen!“ Er ballt die Fäuste und blickt in die zweifelnden Gesichter um sich herum. “Ich wollte immer zu den Kundschaftern. Es ist mein größter Wunsch, schon seit ich klein war. Nur das hat mich die ganze Zeit durchhalten lassen, im Auffanglager und dann später auf den Feldern. Ich hätt’ auch einfach aufgeben und sterben können, so wie viele andere. Hab’ ich aber nicht! Ich hab’ immer gewusst, wenn ich noch diesen Tag überstehe und dann den nächsten, dann bin ich irgendwann zwölf und darf zum Militär. Auch wenn mir der Magen bis zu den Knien hängt und es so kalt ist, dass mir die Spucke im Mund gefriert, ich muss weiterkämpfen. Und irgendwann trag’ ich dann auch die Flügel der Freiheit auf dem Rücken. Und kämpfe gegen Titanen. Und reite hinaus hinter die Mauern, wo das Meer ist und die Berge aus Eis und die riesigen Sandfelder!“ Für eine Weile sagt keiner ein Wort, das ganze Team ist einfach nur mitgerissen von seiner kleinen Rede. Bisher hat Eren nicht viel über die Zeit vor dem Militär gesprochen, außer in einigen privaten Gesprächen mit Petra, zu der er offenbar ein besonderes Vertrauensverhältnis hat. Aber insgesamt schien er diese Erfahrungen eher verdrängen zu wollen. “Ist das dein letztes Wort in dieser Angelegenheit?“ Er blickt mich lange an, ohne jede Scheu und ohne einen Versuch, die Augen niederzuschlagen oder zu blinzeln. Ich weiß jetzt, warum sie mir so bekannt vorkommen, diese Augen. Sie haben dieselbe Farbe wie ein Bild, das Erwin mir vor langer Zeit in einem seiner Bücher gezeigt hat. Ein Bild vom Meer. “Ihr glaubt mir doch, oder, Captain?“, fragt Eren. “Bitte sagt, dass Ihr mir glaubt.“ ~*~ Kapitel 9: September 850, Teil 5 -------------------------------- September 850, Teil 5 (5/6) 18. September 850, 3. Nachtrag “Leute… ich weiß echt nicht, wie ihr das seht, aber für mich klingt die ganze Sache verdammt an den Haaren herbeigezogen.“ Wie nicht anders zu erwarten, ist Orlo der Erste, der das trübsinnige Schweigen bricht. “Ich mag den Kleinen und würd’ ihm echt gern glauben, aber ich schätze mal, das ist eine von diesen Situationen, wo man seine persönlichen Gefühle zurückstellen und den Tatsachen ins Auge blicken muss. Eren hat sich ohne jede Erlaubnis in einen Titanen verwandelt und ist abgehauen.“ Wir hocken im Besprechungsraum vor unseren dampfenden Teetassen und kauen die ganze Sache von vorn bis hinten und von hinten bis vorn durch. Wie wir’s auch drehen und wenden, es läuft doch alles immer wieder auf denselben Punkt hinaus: Glauben wir dem Kleinen oder tun wir’s nicht? “Captain, ich fürchte, ich muss Orlo recht geben.“ Nachdenklich stützt Erd sein Kinn in die Hand. “Ich will Eren genauso wenig für einen Lügner halten, aber die Fakten sprechen eindeutig gegen ihn. Denken wir doch mal an das, was in Trost passiert ist. Eren ist mitten im Kampf – zack, Titan, er haut zwanzig von denen um. Er soll das Loch in der Mauer stopfen – zack, Titan, er marschiert los. Die Militärpolizei schießt auf ihn und seine Freunde – zack, Titan, er fängt die Kugeln ab. Und jetzt auf einmal soll er plötzlich keine Kontrolle mehr über seine Verwandlung haben?“ “Eins hast du aber vergessen“, wirft Günther ein. “Als er das Loch schließen sollte, ist er nicht direkt losmarschiert. Erst hat er eine andere Soldatin angegriffen und dann stand er für eine ganze Weile ziemlich planlos in der Gegend rum. So stand es jedenfalls im Bericht.“ “Ja, aber das sind Dinge, die nicht während, sondern nach seiner Verwandlung passiert sind“, argumentiert Erd. Er stellt seine Tasse ab und greift nach dem Honig. “Dass Eren seine Titanenform nicht immer unter Kontrolle hat, wissen wir doch schon.“ “Und Eren selbst weiß das auch“, fügte Petra hinzu. “Als wir das letzte Mal darüber gesprochen haben, sagte er, er habe Angst, dass er in seiner Titanenform die Kontrolle verlieren und jemanden von uns verletzen könne. Ich hab’ ihm versichert, dass das nicht passieren wird. Wir sind alle geübte Kämpfer und können auf uns achtgeben.“ “Vielleicht hat genau diese Angst ihn irgendwie blockiert“, überlegte Orlo. “Vielleicht konnte oder wollte er sich bei den Tests deshalb nicht verwandeln. Und als es wieder und wieder nicht geklappt hat, und wir langsam ungeduldig wurden, wurde ihm klar, dass er’s nicht ewig hinauszögern kann. Und dann ist er in Panik geraten und wollte flitzen.“ “Dann versteh’ ich nicht, warum er’s nicht einfach zugibt“, seufzte Günther. “Seinen Fluchtversuch könnten wir ihm vielleicht sogar nachsehen, doch warum muss er uns wiederholt ins Gesicht lügen?“ “Weil er fünfzehn Jahre alt ist und verzweifelt und seinem eigenen Körper nicht mehr vertraut“, gab Petra zur Antwort. “Weil er so gern zu unserem Team gehören möchte, aber gleichzeitig Angst hat, dass wir ihn für ein Monster halten. Ich glaube, er bereut sein Verhalten und würde es am liebsten ungeschehen machen, aber das geht nun mal nicht. Handlungen ziehen Konsequenzen nach sich und dessen muss er sich bewusst werden.“ “Und ich dachte immer, Eren trägt sein Herz auf der Zunge.“ Erneut greift Erd nach dem Honigglas, dann erinnert er sich wohl daran, dass er seinen Tee jetzt schon zweimal gesüßt hat und stellt es wieder weg. “Für mich klang seine kleine Rede verdammt echt.“ “Einiges davon war sicher auch ernst gemeint“, gibt Orlo zurück. “Vielleicht versucht der Bengel sich die Wahrheit schönzureden, weil er’s selbst nicht wahrhaben will.“ “Eren trägt sein Herz wirklich auf der Zunge, doch ich fürchte er kann in bestimmten Situationen auch lügen.“ Petra’s Stimme ist sehr leise. “Ich wollte eigentlich nicht über diese Sache reden, weil er es mir im Vertrauen erzählt hat, aber dies ist eine Ausnahmesituation und wir müssen entscheiden…“ Alle Köpfe fahren herum, alle Blicke wenden sich ihr zu. “Worüber reden?“, will Orlo wissen. “Was hat Eren dir im Vertrauen erzählt? Geht es um seine Titanenkräfte?“ Doch Petra schüttelt den Kopf. “Nein, damit hat es gar nichts zu tun.“ Sie holt tief Luft, man kann förmlich dabei zusehen, wie sie mit sich ringt. “Es geht um diese Sache, die damals passiert ist, als Eren neun war. Er und dieses Mädchen, Mikasa Ackermann, haben die drei Mörder umgebracht, die Mikasa’s Eltern getötet und das Mädchen verschleppt haben.“ “Das war aber doch Notwehr“, wirft Orlo ein. “Oder stimmt es etwa nicht, was in dem Bericht steht?“ “Doch, aber hier geht’s nicht nur um Notwehr. Vor allen Dingen geht es darum, wie es passiert ist. Eren hat die drei Menschenhändler durch eine geschickte Täuschung hinters Licht geführt. Er hat den unschuldigen kleinen Jungen gemimt, der sich in der Tür geirrt hat und als die Männer näher kamen, weil sie nicht mit einer Gefahr rechneten, hat er sein Messer hinter dem Rücken hervorgeholt.“ “Für einen Neunjährigen ganz schön heftig“, nickt Erd. “Ich sehe, was du meinst. Wenn jemand in dem Alter schon so überzeugend lügen kann, wie gut dann erst mit fünfzehn.“ “Damit sind wir uns wohl alle einig“, seufzt Günther. “Auch wenn es eine echt miese Situation ist, wir können Eren nicht vertrauen. Er hat uns hinters Licht geführt.“ Mit düsteren Blicken und hängenden Schultern stimmen die anderen zu. Nur Petra scheint nicht zufrieden mit dem stillen Einverständnis. Stattdessen blickt sie zu mir hinüber. “Captain Levi, wir diskutieren und diskutieren, aber Ihr habt bisher noch gar nichts zu der ganzen Angelegenheit gesagt. Wie lautet Eure Entscheidung? Wir würden sie gerne hören.“ “Wir machen weiter wie bisher. Der Bengel hat nicht gelogen.“ 18. September 850, 4. Nachtrag “Soll das heißen, ich darf jetzt wieder raus?“ Hoffnungsvoll blickt der Kleine mich an, während er sich die steifen Handgelenke reibt. Ich stecke den Schlüssel weg und trete die verdammten Ketten mit dem Fuß beiseite. Nutzlose Scheiß-Dinger, das. Gehören nicht an die Handgelenke von Menschen. Eren’s Verletzungen sind vollständig verheilt, aber als er zum ersten Mal wieder aufsteht, zieht er einen Flunsch und taumelt durch die Gegend wie ein beschickerter Gaul. Das wird noch dauern, bis er wieder fit ist. Wir beginnen ein vorsichtiges erstes Training, um seinen Gesundheitszustand auszutesten. Wohlgemerkt, nachdem der Bengel drei Schüsseln Eintopf verschlungen und zwei Krüge Wasser hinuntergestürzt hat. Hanji guckt uns beim Training zu und schreibt mit. “Jetzt den Arm heben, Eren. Und jetzt hoch das Bein. Und jetzt beide gleichzeitig.“ Langsam kommt er mir nicht mehr vor wie ein beschickerter Gaul, sondern eher wie ein Dressurpferd, dessen Marktwert gerade ausgetestet wird. Und nein, Ische, Finger abhacken ist immer noch nicht drin. 19. September 850 Ich hätt’ ihm gern noch einen Tag zum Ausruhen gegeben, aber uns bleibt keine Zeit mehr. Der September ist fast rum und für Anfang Oktober hat Erwin die Mission angesetzt. Wir müssen weitermachen. Wir müssen diesem verdammten Geheimnis auf die Spur kommen. Wir müssen… hallo Brunnen, lang nicht mehr geseh’n! “Es geht nicht, Captain, es geht einfach nicht! Ich kann mich nicht verwandeln, ich kann nicht! Und ich versteh’s nicht!“ Da gibt’s nix zu verstehen. “Eren. Du, ich, Ring, jetzt!“ Keine Proteste diesmal. Keine Tränen, auch keine halbherzigen Versuche sich zurückzuhalten, aber dafür weniger Raserei und mehr Taktik. Eren kämpft mit einer seltsamen Mischung aus Kontrolle und kalter Wut. Jetzt kennt der Bengel die Regeln und hält sich dran. Und wird doch den verdammten Frust los. Als wir erschöpft und mit blauen Flecken ineinander verkeilt im Sand liegen und unsere Gliedmaßen sortieren, spüre ich, dass er wieder leichter atmen kann. Diesmal muss ich ihn gar nicht erst zum Abschlagen auffordern. Manchmal sind Worte gar nicht notwendig. 20. September 850 “Hier, jetzt trink’ erst mal ’n Schluck.“ Erd gießt Eren eine Tasse Schwarztee ein. “Honig? Dann schmeckt’s auch nicht so bitter.“ “Das wird schon noch“, fügt Günther hinzu. “Wir finden raus, woran es liegt.“ Nach einem weiteren erfolglosen Titanentrainingstag hocken alle reichlich demotiviert auf den Holzbänken auf der Wiese rum. Zeit für die zweite Ration ist es zwar noch nicht, aber wir haben noch Tee und einige Äpfel. Ein paar Vorteile bringt der Herbst noch mit sich, bevor der Scheiß-Winter kommt und die Rationen runtergesetzt werden müssen. Eren hält den Kopf gesenkt, starrt auf seine blutigen Hände. Zwar sind sie notdürftig verbunden, aber heilen wollen sie auch nicht. Wir sollten sie zu Hause noch mal anständig versorgen, Jod und so. Und wenn sich die Wunden nicht schließen, dann wird Hanji wohl zur Nadel greifen müssen. “Wenn du dich nicht verwandeln kannst, dann war’s das wohl mit der Reparatur von Maria.“ Niedergeschlagen blickt der Kleine zu mir auf, kurz davor, wieder in sein lächerliches Selbstmitleid zu versinken. Nix da. “Du wirst dich verwandeln. Das ist ein Befehl!“ “Ja, Captain.“ Da ist mir immer noch zu wenig Entschlossenheit und zuviel Gejammer in seiner Stimme. Aber das klären wir heute Abend. Im Ring. Plötzlich kippt die Bank um. Blitze zucken durch die Luft. Kochendheißer Dampf steigt auf und vernebelt jede Sicht. Alle springen auf und ich bin umgeben von panischen Gesichtern und schrillen Stimmen. Und einem Eren mit Titanenarm. Das unförmige Ding hängt an ihm dran wie ein Holzklotz und reißt ihn beinah zu Boden. “Captain Levi!“ Das klingt ganz und gar nicht nach Angriff, nein, viel eher nach einem Hilferuf. Ich springe über die zertrümmerte Bank und lande neben dem Kleinen. “Ruhe bewahren!“ Trotz des Chaos ist meine Stimme laut genug, dass alle sie hören müssten. Hanji’s medizinisches Team weicht zurück, unschlüssig, da sie selbst nicht hier ist, um ihnen Anweisungen zu geben. So folgen sie sicherheitshalber dem Protokoll und begeben sich aus der Gefahrenzone. Meine Leute dagegen sind kampfbereit. Sie umringen Eren mit gezückten Klingen. “Ich sagte, ihr sollt euch beruhigen.“ Ja, das letzte Mal war er ein Fünfzehn-Meter-Titan, aber jetzt ist es nur ein Grünschnabel mit einem titanischen Arm. Er kann nichts damit ausrichten, er kann das Riesentrum ja nicht mal hochheben. Warum verdammt noch mal macht ihr euch alle in die Hosen? Und so was schimpft sich dann Elite-Team. Aus allen Richtungen plärren sie ihn nieder. “Was hat das zu bedeuten?“, brüllt Erd. Seine Stimme ist voller Misstrauen, sein Blick voll Argwohn. Eren hat keinen Plan, was überhaupt los ist und blickt ihn nur fassungslos aus seinen Glubschaugen an. “Ich verstehe nicht...“ “Warum jetzt, Eren? Ohne jede Erlaubnis?“ “Erd halt mal die Luft an.“ Wenigstens hört mein Stellvertreter mal auf mich. So zur Abwechslung. Erd schweigt, doch Günther brabbelt sofort weiter: “Beweise, dass du nicht unser Feind bist. Beweise, dass du nicht der Feind der Menschheit bist.“ Klar, Eren trägt auch immer ein Schild mit sich herum: ’Ich bin nicht der Feind der Menschheit.’ “Wag’ es diesen Arm auch nur zu heben und ich hack’ dir den Kopf ab!“ Verdammt, Orlo, selbst jemandem mit deinem Erbsenhirn müsste auffallen, dass er den Arm überhaupt nicht heben kann. Schwerkraft ist dir ’n Begriff, oder? Angel Aaltonen und der Apfel? Schon mal davon gehört? “Günther, Orlo, Schluss jetzt!“ Heilige Sina, lass’ Hirn vom Himmel regnen! “Captain, kommt von da weg, das ist gefährlich!“ Gefährlich? Ernsthaft, Petra, was glaubst du, wo wir hier sind? Militärpolizei oder was? Brauch’ ich jetzt neuerdings ’ne Kinderfrau, die mir das Fläschchen gibt und mir die Windeln wechselt? “Captain…“ Was zum Teufel ist mit euch los, Team Levi? Vertraut ihr meiner Intuition nicht mehr? Ich hab’ euch gesagt, Eren hat nicht gelogen. Er hat keine Ahnung, was hier los ist, er am allerwenigsten. Hättet ihr keine Angst, wenn euch plötzlich so’n hässliches Riesending wächst? Und jetzt tretet verdammt noch mal zurück und steckt eure verfluchten Scheiß-Klingen weg! Er hat keinem von euch was getan und ihr werdet ihm auch nichts tun. Da müsst ihr erst mal an mir vorbei. Und das schafft keiner! Äh... Moment, irgendwas unterbricht da grad meine epischen Gedankengänge. “Eren! Eren, ach du meine Güte, ist der riesig! Darf ich ihn mir aus der Nähe ansehen? Darf ich ihn anfassen? Bitte, bitte! Wie fühlt sich das an, so ein Riesending zu haben? Tut das weh, da wo er an deinem Körper dranhängt? Oh ja… bitte, lass’ mich ihn anfassen!“ Wenn mal wieder alles schief läuft, denkt immer daran: Es hätte schlimmer kommen können! Und dann kommt es schlimmer. 20. September 850, Nachtrag Da sitzen sie nun. Erd brütet vor sich hin, Hanji kritzelt in ihr Büchlein, Orlo grummelt, Günther schweigt verbissen. Petra versucht, höfliche Konversation zu erzwingen, aber obwohl ihr alle brav antworten, kommt doch nichts in Gange. Keiner hat Bock auf Reden. Keiner hat Bock auf irgendetwas. “Ich bin im Stall.“ Eren steht auf, wartet einen Augenblick, ob ihn jemand zurückpfeift und als es keiner tut, schlurft er nach draußen. Mit einem kurzen Nicken zu meinen Leuten folge ich ihm, habe aber kaum die Tür durchquert, als sich Hanji an mir vorbeidrängelt. “Levi, lass’ mich durch, ich muss was überprüfen und zwar jetzt.“ Tche. Bin ja auch so riesig, dass ich den ganzen Gang blockiere. Eren ist dort, wo er immer ist wenn’s ihm beschissen geht, in der Box bei Rebellion. Niedergeschlagen lehnt er an der Stallwand und verfüttert den Rest seines Apfels. Der Hengst stupst ihn erwartungsvoll mit der Schnauze an – wo ein Apfel ist, da gibt’s doch sicher noch mehr zu holen. “Wie fühlst du dich, Kleiner?“ “Ähm.. nicht so gut.“ “Ring?“ “Nein.“ Ohne Scheu blickt er mir in die Augen. “Wenn Ihr nichts dagegen habt, Captain, dann möchte ich jetzt nicht trainieren. Ich will einfach nur wissen, was mit mir los ist.“ Schön und gut, Kleiner. Und das erfährst du natürlich am allerbesten dadurch, dass du hier im Stall rumhängst und vor dich hinbrütest. “Captain Levi?“ “Was?“ “Wieso glaubt Ihr mir?“ Die großen Augen sind voller Verwirrung und Unverständnis, als sie mich fixieren. “Ich weiß, dass die anderen es nicht tun. Ich hab’ ihre Blicke gesehen, heute und auch schon in den letzten Tagen. Sie sagen nichts, aber sie vertrauen mir nicht mehr. Das ist vorbei.“ Nachdenklich streicht er über das suchende Pferdemaul an seiner Jacke. “Und ich kann’s ihnen nicht mal verdenken. Alle Fakten sprechen gegen mich.“ Er starrt auf seine inzwischen verheilte Hand, die immer noch auf dem Kopf des Pferdes liegt. “Jeder, der auch nur halbwegs logisch denken kann, muss doch glauben, dass ich ein verdammter Titan bin, der alle hinters Licht führt“, murmelt er düster. “Aber Ihr tut das nicht. Warum, Captain?“ Ich lasse mir Zeit mit der Antwort. Nicht absichtlich, ich brauche nur einen Moment, um meine Gründe in Worte zu fassen. “Intuition.“ Genauer gesagt, ein Wort. Ich brauch’ nicht so viel Essen, ich brauch’ nicht so viel Schlaf, warum sollte ich da so viele Worte brauchen? 20. September 850, 2. Nachtrag “Das ist es, das ist es!“ Ich bin ja einiges von Hanji gewohnt, aber das schlägt doch echt dem Fass die Krone in den Pudding. Warum sollte irgendjemand, der noch ein mageres Restchen seines Verstandes besitzt, kichernd und kreischend durch die Gegend turnen und dabei einen Teelöffel über dem Kopf schwenken, als wär’s die Erleuchtung oder doch zumindest das magische Schwert der heiligen Maria. “Heureka! Heureka! Muharharharhar!“ Hat die heilige Maria überhaupt ein magisches Schwert? Ich kann mir das eh nie merken. Ich weiß nur, Rose ist die, die sie alle vögeln wollen, wenn sie beschickert sind. “Dieser Teelöffel“… hier bitte noch mehr manisches Gelächter einfügen… “ist der wahre Grund, weshalb Eren’s Verwandlung ausgelöst wurde.“ Ein Teelöffel? Ein Teelöffel. Ich hab’s schon lange prophezeit. Irgendwann musste der irren Ische ja die letzte Achse durchbrechen. “Levi, du Flachpfeife, hast du’s nicht begriffen?“ Synchron saugen Erd, Günther, Orlo und Petra die Luft ein und bedenken Hanji mit entsetzten Blicken. “Diesen Teelöffel hab’ ich in Eren’s Titanenfaust gefunden. Er hat sich verwandelt, um ihn aufzuheben.“ Wobei es wohl weniger der Teelöffel ist, der mein Team so baff macht, sondern eher die Flachpfeife. Aber die trag’ ich der meschuggen Muschi nicht weiter nach, dafür bin ich jetzt zu neugierig. “Was hat dieser Scheiß-Löffel mit Eren’s Verwandlung zu tun?“ “Jetzt ergibt alles Sinn.“ Hanji nickt zufrieden, mit dem Ausdruck einer Katze, die soeben eine besonders dicke Maus verspeist hat. “Die Selbstverletzung allein reicht nicht aus. Eren kann sich nur dann in einen Titanen verwandeln, wenn er ein klares Ziel vor Augen hat und seine Verwandlung passt sich genau diesem Ziel an. Will er einen Felsen zur Mauer tragen, verwandelt er sich ganz. Will er aber seine Freunde vor Gewehrkugeln beschützen, dann reicht auch ein titanischer Brustkorb. Und um einen Teelöffel aufzuheben, braucht er nur einen Titanenarm. So einfach ist das.“ Verdammt, jetzt wo du’s sagst... Warum bin ich da nicht drauf gekommen? Erkenntnis blitzt in den Augen meiner Leute auf… Erkenntnis gefolgt von Schuldgefühl. Jetzt endlich wird ihnen bewusst, dass sie Eren total falsch eingeschätzt haben. Der Bengel hat die Wahrheit gesagt. Die ganze Zeit. Petra öffnet als erste den Mund, um sich zu entschuldigen, aber sie verstummt, als ihr Blick auf die Mienen der anderen drei trifft. Mit einer Entschuldigung allein ist es hier nicht getan, das verlangt nach mehr. Das zerstörte Vertrauen muss wieder gekittet und neu aufgebaut werden. Und so werden ein grummliger Levi, eine übergeschnappte Hanji und ein vor Verlegenheit hochroter Eren Zeuge, wie Team Levi sich geschlossen in die Hand beißt. “Autsch!“ “Verdammt, das tut echt weh.“ “Und Eren muss das jedes Mal tun?“ “Ich würd’ das nicht schaffen.“ “Jetzt könnt’ ich ’ne Runde im Ring vertragen.“ Eren’s Augen strahlen. “Habt Ihr Zeit für mich, Captain?“ 20. September 850, 3. Nachtrag “Du musst meinen Arm weiter oben anpacken, Eren, sonst komm’ ich raus.“ Der Bengel hat’s wohl begriffen, schlägt aber dennoch frustriert in den Sand, als ich aus seinem Haltegriff schlüpfe. “Ihr kommt doch sowieso raus, Captain.“ “Nicht, wenn du’s richtig machst.“ Ich nehme seine Hand und lege sie auf meinen Oberarm. “Siehst du, genau hier sitzt der Muskel. Wenn ich den anspanne, verlierst du deinen Griff und ich bin weg. Das war alles, was du falsch gemacht hast. Gleich noch mal!“ Diesmal erwischt er die richtige Stelle. “Und wenn schon, Ihr werdet ja kaum stillhalten, wenn ich versuche, Euch zu greifen. Mein Glück, dass die meisten anderen mit denen ich trainiere, nicht solche Reflexe haben.“ Wenn du dich da mal nicht täuschst. Orlo hat sie auch, er kann nur noch nicht richtig damit umgehen. Aber das wird schon noch. Und bei dir auch. Vermutlich kann ich die Trainings an den Fingern einer Hand abzählen, bis du mich das erste Mal flachlegst… Wow! Mist! Ich liege, aber natürlich bleib’ ich da nicht liegen. Wär’ ja noch schöner. Zwar versucht er, mich mit seinem Gewicht am Boden festzunageln, aber ich bin größere und schwerere Gegner gewohnt und finde ihre Schwachstellen. Zugegeben, diesmal muss ich ’ne Weile suchen. “Nicht übel, Eren. Gar nicht übel.“ “Captain…“ Was zum Teufel...? Nee, Kleiner…vergiss’ das mal ganz schnell! Vergiss es. Fünfzehn ist mir einfach zu jung. Und ich bin dein vorgesetzter Offizier. Und Erwin würde mir den Kopf abreißen. Und das war meine Nase, du Vollpfosten. Zwar weißt du, was du willst, hast aber keine Ahnung, was du tust. Schon mal davon gehört, dass man seinen Kopf dreht, wenn man jemanden küssen will? Mmpf… hmmpf… und welchen Teil von Vergiss’ es hast du jetzt nicht verstanden? 20. September 850, 4. Nachtrag Endlich in meinem Zimmer, endlich Tür zu und endlich Ruhe vor bekloppten Bengeln und ihren seltsamen pubertären Anwandlungen. Meine Nase bedankt sich. Gut, es war vielleicht doch nicht so viel mit Vergiss es. Nachdem Eren irgendwann mal damit fertig war, mich mit knallrotem Gesicht und fassungsloser Miene anzustarren und ich mich schon abwenden und zur Wasserpumpe gehen wollte, kam da plötzlich ein genuscheltes: “Noch mal?“ “Vergiss es.“ Diesmal meinte ich es ernst. “Wenn ich dich jetzt noch mal küsse, führt eins zum anderen und für so was ist hier nicht der passende Ort.“ “Dann bringt mich zu einem passenden Ort.“ “Meinetwegen. Wenn du das hier fortsetzen willst, komm’ später in mein Zimmer.“ Eren ist auch tatsächlich hier aufgetaucht, hat dann aber doch kalte Füße bekommen und das ist wohl auch besser so. Er stand ein paar Sekunden unschlüssig in der Tür, starrte zu Boden und scharrte nervös mit den Füßen, bevor er sich panisch umdrehte und den Gang hinunter stürzte, wie ein Militärpolizist mit einem Titanen auf den Fersen. Weg ist er. Und ich kann mich endlich den Trainingsplänen für morgen widmen. Stalldienst und Küchendienst wollen eingeteilt werden. Und Putzen sollten wir auch mal wieder, das ganze verdammte Schloss sieht aus wie eine Müll… Ein Klopfen an meiner Zimmertür. Wer zum Teufel, will noch was von mir um diese Uhrzeit? Nur gut, dass sich Eren rechtzeitig verkrümelt hat. Erwin hätte mir den Kopf abgerissen. 21. September 850 Erwin wird mir den Kopf abreißen… ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)