A Tale of Sinnoh von Nemesis21 ================================================================================ Prolog: Geist und Drache ------------------------ EWIGWALD Es war ein Fehler gewesen, diesen Wald zu betreten. Schon früh hatte Pandir diese Geschichten gehört, die sich die Alten seines Dorfes untereinander erzählten. Sie handelten von den Bewohnern des Ewigwaldes: Geist-Pokémon wie Zwirrlicht, Shuppet oder Nebulak. Man munkelte, dass sie mit Vorliebe junge Pokémon an einen unbekannten Ort verschleppen würden, um sich dort von ihrer Angst zu ernähren, bis diese sich buchstäblich zu Tode fürchteten. Ihre armen Seelen würden dann auf ewig in diesem Wald gefangen sein, woher der Wald auch seinen Namen bekommen hätte. Dass die nächstliegende Stadt „Ewigenau“ hieß, ließen die Meisten dabei außer Acht. In seiner Kindheit hatte Pandir tatsächlich geglaubt, dass Geist-Pokémon existierten. Doch nun, da er herangewachsen war und kurz vor dem Abschluss an der Pokémon-Schule stand, kam er genauso wie die meisten seiner Freunde zu der Erkenntnis, dass es sich schlicht um Aberglauben handelte. „Großvater Lahmus, wie oft soll ich es dir noch sagen? Es gibt keine Geist-Pokémon!“ Auch wenn das nicht ganz falsch war, war es auch nicht ganz richtig. Die Wahrheit war nämlich, dass es sie nicht mehr gab. Vor mehr als vier Jahrhunderten verbannten die Menschen sie in die Zerrwelt. In Pandirs Augen war das die einzige gute Tat, die die Menschen vollbracht haben. Nach allem, was er von ihnen erfahren hatte, sah er sie als grausame Unterdrücker, die die Pokémon einfingen und nur zu ihrem Vergnügen gegeneinander kämpfen ließen. „Nicht alle wurden damals verbannt“, sagte Großvater Lahmus träge. „Einige weilen bis heute unter uns… Und wenn es dunkel wird, kommen sie aus ihrem Versteck!“ Großvater Lahmus war nicht wirklich Pandirs Großvater. Er wurde nur von allen Kindern des Dorfes wegen seines hohen Alters so genannt. Wenn Großvater Lahmus nicht gerade vor sich hin döste, erzählte er mit Vorliebe abenteuerliche Geschichten aus vergangenen Zeiten. Einige im Dorf hatten Angst vor ihm, aber nicht Pandir. „Dann kann uns ja nichts passieren! Hypnomorba und ich wollen nur einen kleinen Spaziergang durch den Wald machen“, sagte Pandir. „Wir bleiben auch wirklich nicht lange.“ Hypnomorba war Pandirs neue Freundin. Viele seiner Freunde hatten anfangs die Nasen gerümpft, schließlich galt das Pokémon mit dem altmodischen schwarzen Kleid und der seltsamen Frisur als exzentrisch und unberechenbar. Doch Pandir ließ sich nicht beirren, und er bereute seine Entscheidung nicht. Er freute sich auf jede Minute, die er mit ihr verbringen konnte. An diesem Tag hatte er frei, und da hatte Hypnomorba vorgeschlagen, einen Ausflug in den Ewigwald zu machen. Pandir hatte sofort zugesagt, doch als der alte Lahmus davon erfuhr, versuchte er sofort, den Jungen von dem Vorhaben abzubringen. „Aber vergiss‘ nicht, Geister sind sehr heimtückisch. Manchmal kommen sie auch am helllichten Tag. Und ihre Herrscherin, die Drachendame Giratina, kommt und geht, wann immer sie will. Ihr stört Tageslicht überhaupt nicht!“ Pandir lachte, winkte Großvater Lahmus zum Abschied zu und machte sich auf den Weg. Wenn er doch nur auf seine Warnung gehört hätte… Als Pandir und Hypnomorba den Wald betraten, war es ein sonniger Tag, und am Himmel keine einzige Wolke zu sehen gewesen. Doch schon wenige Minuten später zog der Himmel sich zu. Es wurde unangenehm kühl, und die Luft wurde stickig. Das Atmen fiel den beiden immer schwerer, als wären sie in eine zähe Flüssigkeit getaucht. Hypnomorba griff nach Pandirs Hand und drückte sie so fest, dass es schmerzte. „Bitte lass uns umkehren“, sagte sie mit zaghafter Stimme. Pandir nickte einfach nur, seine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, er brachte kein Wort mehr hervor. Und genau in dem Moment, wo sie sich umdrehten, passierte es: Pandir überkam ein Schwindelgefühl; ihm war, als hätte sich die Welt von einer Sekunde auf die nächste auf den Kopf gestellt. Alles hatte sich verändert, und der Wald war nicht mehr derselbe, den sie betreten hatten. Seltsame Kreaturen kamen zwischen den Bäumen hervor und umringten die beiden Jugendlichen, es waren mindestens zehn. „Wa… was sind das für Wesen?“ hörte er Hypnomorba fragen. „Ich bin Zwirrfinst, der Anführer der Zwirrlicht-Bande“, antwortete einer von ihnen. Es sah viel größer und kräftiger aus als die anderen. „Wir dienen unserer Herrin Giratina, und ihr seid in unser Reich eingedrungen!“ Endlich hatte Pandir seine Stimme wiedergefunden. „Bitte tut uns nichts“, flehte er. „Wir haben uns nur verlaufen. Wir wollten gar nicht hierher, bitte lasst uns gehen!“ „Ihr seid jetzt in der Zerrwelt“, fuhr Zwirrfinst fort. „Hier gelten die Regeln eurer Welt nicht. Wer herkommt, muss einen Preis zahlen, um wieder gehen zu dürfen: Einer von euch wird daher für immer hier bleiben, der andere darf gehen! Ihr dürft selbst entscheiden, wer hierbleibt.“ Während sich Hypnomorba zitternd an seiner Hand festklammerte, wurde Pandir plötzlich klar, was er zu tun hatte. Er musste Hypnomorba beschützen und sie vor den Geistern retten. Dafür war ihm kein Preis zu hoch. Plötzlich fiel seine ganze Angst von ihm ab. Er atmete tief durch, trat einen Schritt nach vorn und sagte mit entschlossener Stimme: „Lasst meine Freundin gehen, ich werde bleiben!“ „Nein, tu das nicht!“ schluchzte Hypnomorba. „Es ist okay“, sagte Pandir. „Mir geschieht nichts…“ Gerade als Zwirrklop nach Pandir greifen wollte, blitzte es auf, und ein Donnergrollen ertönte. Vor der gesamten Gruppe war ein großes Pokémon wie aus dem Nichts erschienen. Es hatte einen grauen Körper aus sechs Segmenten, sechs schwarze, zerfledderte Flügel, die wie Klauen aussahen, und sechs goldgelbe Beine. Etwas Majestätisches und Furchteinflößendes ging von dem Wesen aus. Sofort verharrten alle Zwirrlicht auf der Stelle, sogar Zwirrfinst. „Lady Giratina, meine Herrin“, sagte der Anführer ehrerbietig. „Was kann ich für Euch tun?“ „Ich will den Jungen nicht!“ sagte Giratina in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. „Bringt mir das Mädchen!“ „Wie Ihr wünscht, Herrin!“ sagte Zwirrfinst. Er ließ Pandir los und griff stattdessen nach Hypnomorba. Das Manipulator-Pokémon schrie und versuchte, sich zu wehren, während Pandir sie festhielt. Doch es nützte nichts. Sie entglitt ihm, er hörte noch einen Schrei, bevor er hinterrücks von einer heftigen Verfolgung-Attacke angegriffen wurde und zu Boden fiel. Pandir sprang zurück auf die Beine, doch in den wenigen Sekunden hatte sich die Welt zurück gewandelt. Er war wieder zurück, die Sonne stand hoch am Himmel, die Luft war klar und warm, und irgendwo sang ein Schwalbini sein fröhliches Lied. Panisch rannte Pandir mehrmals den Waldweg auf und ab, in der Hoffnung, noch einmal in die Zerrwelt zu gelangen, um seine geliebte Hypnomorba zurückholen zu können. Doch wie auf immer sie eben dorthin geraten sind, die Zugangsmöglichkeit war verschwunden. Pandir fiel schließlich zu Boden, er war zu erschöpft, um aufzustehen. Immer wieder rief er den Namen seiner Freundin, bis seine Rufe zu einem heiseren Krächzen wurde. Doch er blieb ungehört. Kapitel 1: Tage wie diese ------------------------- EWIGENAU, EINE WOCHE SPÄTER Aufmerksam untersuchte Lord Simsala den Briefumschlag, den die Pelipper-Post am Morgen gebracht hatte, als wollte er dadurch eine versteckte Botschaft finden. Äußerlich war auf dem ersten Blick nichts Ungewöhnliches zu erkennen gewesen, es war nur ein ganz gewöhnlicher Eilbrief. Allenfalls hatte das Papier eine bessere Qualität als sonstige Briefe. Erst nach näherer Untersuchung konnte man erkennen, dass es den königlichen Stempel trug. Das war durchaus eine Überraschung für Simsala. Er kannte den Regenten zwar aus einer Zeit, in der er selbst noch ein Kadabra, und der König noch kein König, sondern ein ganz gewöhnliches Ferkokel war. Dementsprechend eng waren beide miteinander befreundet. Doch nachdem das Feuerschwein-Pokémon vor zwei Jahrzehnten in einem Kampf den damaligen Herrscher von Sinnoh, König Siberio, besiegt und selbst den Thron erklommen hatte, konnte Simsala spüren, wie sich sein Freund immer mehr von ihm distanzierte. Und dann hatte Simsala auch noch erfahren, dass sich Flambirex Lady Snibunna, Tochter von Lord Hundemon, Oberhaupt des Hauses des Schattens zur Frau genommen hatte. Das Psi-Pokémon warnte seinen Freund vor Snibunnas hinterlistigem Wesen. Doch Flambirex hatte das als persönliche Beleidigung empfunden. Zwischen ihnen entbrannte ein Streit, und der Kontakt brach völlig ab. Und erreichte ihn dieser Brief wie aus heiterem Himmel, ohne jede Vorwarnung: Mein verehrtester Freund, wie ist es dir in der letzten Zeit ergangen? Ich muss mich bei dir dafür entschuldigen, dass ich während der letzten Jahre nichts von mir hören ließ. Ich will auch gleich zum Punkt kommen: Es ist etwas vorgefallen, das ein privates Gespräch zwischen uns unter vier Augen erfordert. Daher werde ich in zwei Wochen nach Ewigenau kommen. Meine Frau wird mich begleiten, ebenso wie unser Sohn. Ich hoffe, ich bereite deiner Familie und dir damit nicht allzu viele Umstände. Alles weitere, wenn wir uns sehen. In freundschaftlicher Verbundenheit, Flambirex Das war alles, kein Wort darüber, was so wichtig war, dass er darüber jetzt so plötzlich mit Simsala reden musste. Die einzige wirkliche Neuigkeit, die er aus dem Brief erfahren hatte, war, dass Flambirex nun einen Sohn hatte, womit er sich die Thronfolge gesichert hatte. Worüber musste er also noch reden? Während Simsala darüber grübelte, betrat sein Kommandant, Sir Arkani, das Arbeitszimmer. „Entschuldigt die Störung, Mylord“, sagte der riesige Hund mit dem roten Fell. „Meine Leute haben soeben ein Pandir in der Innenstadt festgenommen, das ein kleines Mädchen belästigt haben soll.“ „Ich komme gleich, Sir Arkani“, sagte Simsala. Arkani nickte kurz und verließ das Arbeitszimmer, während Simsala den Brief sorgfältig zusammen faltete und wieder in den Umschlag steckte. Dann stand er auf und folgte dem Legendär-Pokémon. Hier in Ewigenau, einer der acht großen Städte von Sinnoh, war es Simsalas Aufgabe, für Recht und Ordnung zu sorgen. Hier hatte er das Sagen, er traf alle wichtigen Entscheidungen, und in ganz Sinnoh stand nur noch König Flambirex über ihm. In seinen Dienstjahren als Regent von Ewigenau hatte er sich den Ruf erarbeitet, konsequent, streng, aber niemals unfair gewesen zu sein. Auf die Weise hatte er den Respekt der Bewohner gewonnen. Als Simsala im Verhandlungssaal ankam, wurde der besagte Pandir von einem Fukano und einem Stollrak hereingebracht. Das Punktpanda-Pokémon machte einen ziemlich erbärmlichen Eindruck, was nicht zuletzt daran lag, dass er Handschellen trug. Er wirkte ungepflegt, fast verwahrlost, sein Fell war verdreckt und zottelig, seine Ohren hingen schlaff herab. Außer ihm waren noch das Opfer und ihre Mutter Morbitesse anwesend. Ihr Kind trug sie auf dem Arm, in den Augen der Mutter funkelte tiefe Abneigung, die an Ekel grenzte, während die Tochter ihre Umgebung mit großer Neugier betrachtete. „Ihr seid Pandir, ist das richtig?“ fragte Simsala, nachdem er Platz genommen hatte. Als Pandir mit der Antwort zögerte, wurde er von Stollrak unsanft in den Rücken gestoßen. „Antwortet gefälligst, wenn Ihr gefragt werdet!“ „Ja, das bin ich“, sagte der Punkt-Panda leise. „Und kennet Ihr die Tochter der hier anwesenden Morbitesse?“ „Nein“, antwortete Pandir. Plötzlich sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. „Hört mir zu, Mylord, ich habe dem Mädchen nichts angetan… Ich wollte nur mit ihr reden…“ „Ihr habt sie angefasst!“ fauchte die Mutter hysterisch dazwischen. „Ich habe sie für jemand anderes gehalten!“ verteidigte sich Pandir vehement. „Ich dachte, sie wäre meine Freundin…“ „Eure Freundin?“ fragte Simsala. „Ist Mollimorba nicht etwas zu jung, um Eure Freundin zu sein?“ „Ich sagte doch, dass ich sie verwechselt habe“, erwiderte Pandir verzweifelt. „Meine Freundin war eine Hypnomorba, sie sah diesem Mädchen so ähnlich…“ „Wieso sagt Ihr ‚war‘? Was ist mit ihr passiert?“ „Sie… sie wurde vor einer Woche entführt… im Ewigwald… von einer Horde Geist-Pokémon!“ Gelächter brach im Saal aus, nur Morbitesse starrte weiter mit verbissener Miene vor sich hin. Und auch Simsala blieb ernst. „Aber Euch ist schon klar, dass es keine Geister gibt, oder?“ fragte Fukano belustigt. „Nicht hier, aber in der Zerrwelt! Ich war dort, ich habe sie gesehen!“ Pandirs Stimme überschlug sich. „Zwirrlicht und Zwirrfinst, und sie alle befolgen Anweisungen von Giratina, der Drachendame! Es ist alles wahr, was der alte Lahmus mir erzählt hat!“ „Ihr wart in der Zerrwelt?“ fragte Fukano höhnisch. „Seid Ihr Euch sicher, dass Ihr nicht einfach nur zu viel Himmih-Wein getrunken habt?“ Wieder gab es Gelächter im Saal, und Simsala musste sie zur Ruhe rufen. „Na schön“, seufzte Simsala. „Ich werde diesmal ein Auge zudrücken. Aber Ihr werdet Euch ab jetzt von kleinen Mädchen fernhalten, habt Ihr verstanden?“ Dann wandte er sich Stollrak und Fukano zu. „Bringt ihn zu Chaneira, sie soll ihn untersuchen und notfalls etwas Persimextrakt gegen Verwirrung geben. Danach kann er gehen.“ Pandir fiel auf die Knie und bedankte sich überschwänglich. Doch Morbitesse schien alles andere als zufrieden mit dem Urteil. „Ihr wollt ihn einfach gehen lassen?“ fragte sie empört. „Ja“, antwortete Simsala. „Habt Ihr etwa ein Problem damit?“ „Allerdings habe ich ein Problem damit! Er hat meine Tochter in ungehöriger Weise angef…“ „Nein, hat er nicht“, schnitt Simsala ihr das Wort ab. „Wenn Ihr Euch beruhigen und auf die Gedanken Ihrer Tochter hören würdet, wüsstet Ihr das. Die Verhandlung ist geschlossen!“ Erbost drehte sich Morbitesse um und wollte gerade gehen, als Mollimorba mit ihren kurzen Beinchen zu zappeln begann. „Ich will runter, Mama!“ rief sie. Morbitesse setzte sie widerwillig ab. Das kleine Mädchen lief zu Simsala, sah ihn mit ihren großen blauen Augen an und fragte: „Gibt es wirklich Drachen?“ „Nein, mein Kind, es gibt keine Drachen“, antwortete Simsala. „Es gibt sie schon lange nicht mehr.“ Mollimorba schien nachzudenken, dann fragte sie: „Warum ist Pandir so traurig?“ „Weil er jemanden verloren hat, den er sehr lieb hatte, so, wie deine Mutter dich lieb hat. Verstehst du das?“ Mollimorba nickte. Simsala strich ihr sanft über den Kopf. „Du bist ein gutes Kind. Und jetzt geh, deine Mutter wartet!“ Mollimorba lächelte glücklich und rannte zu Morbitesse zurück. Während sich der Saal leerte, stand auch Simsala von seinem Sitz auf. Erst jetzt bemerkte er, dass ihn Arkani mit düsteren Blicken ansah. „Habe ich Eurer Meinung nach irgendwas falsch gemacht, Sir Arkani?“ fragte Simsala. „Nein“, antwortete der Feuerhund. „Ich habe mich nur gefragt, ob wir nicht doch etwas hätten tun können, um Hypnomorba zu retten, und damit auch Pandir zu helfen…“ „Was hätten wir Eurer Meinung nach tun sollen?“ „Vielleicht hätten wir Kommandant Ursaring und die Wächter der Speersäule bitten können, nach ihr zu suchen.“ „Das hätte nichts gebracht“, erwiderte Simsala. „Unsere Bitte wäre abgelehnt worden. Der Vorfall war vor einer Woche, und bisher hat noch niemand länger als drei Tage überlebt, der von der Zwirrlicht-Bande entführt wurde.“ „Habt Ihr Euch schon mal gefragt, was mit den Opfern passiert ist?“ fragte Arkani. „Nein“, antwortete Simsala. „Und das will ich auch nicht. Sie kommen nicht wieder, das ist alles, was ich wissen muss…“ „Das war schon der dritte Übergriff aus der Zerrwelt innerhalb von vier Wochen. Wie lange müssen wir eigentlich noch die Pandir dieser Welt belügen?“ „Solange es eben nötig ist“, antwortete Simsala. „Wenn ich jetzt die Wahrheit verkünden würde, würde mir entweder niemand glauben, oder es würde Panik ausbrechen. Keines davon ist zu wünschen. Wir müssen mehr Vertrauen in die Arbeit der Wächter haben. Sie tun alles, um die Angriffe der Geist-Pokémon zu begrenzen.“ Trotzdem konnte Simsala nicht leugnen, dass sich Vorkommnisse mit Geist-Pokémon zuletzt häuften. Irgendetwas schien sich da anzubahnen. „An Tagen wie diesen hasse ich meinen Job“, sagte Arkani mit Verbitterung. „Manchmal glaube ich, dass die Zeit des Friedens in Sinnoh langsam zu Ende geht.“ BLIZZACH In der nördlichsten Stadt Sinnohs, wo fast das ganze Jahr über Schnee lag, herrschte seit Tagen ein reges Treiben. Unzählige Botogel gingen ein und aus und brachten Schmuckgegenstände herbei, mit denen die Räume des Palastes verziert wurden. Farbeagle wurden mit dem Streichen der Wände beauftragt, und ein Knuddeluff wurde mitsamt seinem Team angestellt, um für das leibliche Wohl der Gäste zu sorgen, die sich in wenigen Tagen hier einfinden würden. In Mitten des ganzen Tumults beobachtete und kontrollierte ein Firnontor penibel das Geschehen. Es musste einfach alles perfekt sein, wenn Herzog Machomei und sein Gefolge aus dem Kampfgebiet jenseits des Meeres eintrafen. Der erste Eindruck war bekanntermaßen der wichtigste. „Lord Firnontor, dürfte ich Euch kurz stören?“ meldete sich eine Stimme zu Wort. Das Antlitz-Pokémon drehte sich um. Hinter ihm stand ein korpulentes Pokémon-Weibchen mit purpurner Haut und goldblondem Haar. Sie trug ein rotes, wallendes Kleid. Es war Rossana, die persönliche Dienerin seiner Schwester. „Verflucht, seht Ihr denn nicht, dass ich beschäftigt bin?“ fragte Firnontor genervt. „Es tut mir leid, dass ich Euch Umstände bereite“, sagte Rossana. „Aber Lady Frosdedje will schon seit zwei Tagen nichts mehr essen. Ich mache mir langsam Sorgen um sie. Vielleicht könntet Ihr mit ihr reden?“ „Ja… ja, natürlich“, sagte Firnontor. „Ich werde sofort zu ihr gehen… Entschuldigen Sie, ich wollte Euch nicht so anfahren.“ „Ihr müsst Euch nicht entschuldigen, Mylord“, erwiderte Rossana demütig. Aber in ihrem Inneren wusste sie, dass Firnontors Entschuldigungen nichts wert waren. Er war in ganz Blizzach für seine Neigung zu unkontrollierten Wutausbrüchen bekannt. Firnontor betrat das Zimmer seiner Schwester, wo sie ihm den Rücken zugewandt vor ihrem Spiegel aus Eis saß. Aber er konnte in der Reflexion sehen, dass sie geweint hatte. Ihr schmaler Körper wirkte zerbrechlicher denn je. Für einen Außenstehenden war es schwer zu glauben, dass Firnontor und Frosdedje Zwillige waren. Seitdem sie jenen seltsam funkelnden Stein aus der Wildnis nachhause gebracht hatte, hatte sie eine völlig andere Entwicklung vollzogen. „Was hast du denn, Schwesterherz?“ fragte er. Frosdedje drehte sich ruckartig zu ihm um. „Was ich habe?“ fragte sie mit brüchiger Stimme. „Das fragst du noch? Wie konntest du mich nur mit diesem ungehobelten Kraftprotz vermählen?“ „Aber das hatten wir doch alles schon“, sagte Firnontor. „Es ist der einzige Weg, wie wir uns gegen König Flambirex wehren können. Mit dem Heer von Herzog Machomei werden wir ihn in die Knie zwingen und den Thron von Sinnoh zurückerobern.“ „Seit Tagen redest du nur noch davon, gegen König Flambirex in den Krieg zu ziehen“, sagte Frosdedje finster. „Und dafür verkaufst du mich an einen Fremden? Was für ein egoistischer Bastard du bist!“ Die Worte seiner Schwester brachten Firnontor so sehr in Rage, dass er ihr fast eine Kopfnuss verpasst hätte. Aber er schaffte es, sich zu beherrschen. Abgesehen davon hätte eine normale Attacke sowieso keine Wirkung auf sie gehabt. „Wie kannst du es wagen, mich als egoistisch zu bezeichnen?“ fragte er. Er presste seine Zähne so fest aufeinander, dass sie knirschten. „Ich tue es doch auch für dich! Hast du etwa schon vergessen, dass Flambirex unseren Vater vom Thron gestoßen und so sehr gedemütigt hat, dass er daran gestorben ist? Also, bevor du mich das nächste Mal beschimpfst, solltest du dich fragen, was du für unsere Familie getan hast!“ Bevor er das Zimmer verließ, blieb er noch einmal stehen und sagte leise, aber umso drohender: „Ich bin der wahre König von Sinnoh, und von dir erwarte ich gefälligst etwas mehr Unterstützung!“ Frosdedje spürte, dass etwas an ihrem Gesicht hinunterlief. Sie streckte die Hand aus und fing es auf. Es war eine Träne, gefroren zu Eis. EWIGENAU Schon bevor er in sein Haus trat, bemerkte Simsala, dass etwas anders war. Seine Frau Dressella hatte ihn nicht an der Tür empfangen, wie sie es sonst immer tat. Stattdessen saß sie schweigend in der Küche und schälte gedankenverloren einen großen Apfel. Auch als er eintrat, unterbrach sie ihre Tätigkeit nicht. Simsala beschloss, sich neben sie zu setzen und nicht nachzufragen. Als Dressella das Schälen beendet hatte, halbierte sie den Apfel und reichte Simsala eine Hälfte. Schweigend aßen sie, bis Dressella irgendwann sagte: „Lord Deponitox ist gestorben.“ Die Nachricht überraschte Simsala. Im ersten Moment wusste er nichts anderes zu sagen als: „Das tut mir leid.“ „Das muss es nicht“, sagte Dressella und schüttelte heftig ihren Kopf. „Ich weiß gar nicht, warum es mich so sehr mitnimmt. Ich konnte ihn sowieso noch nie leiden, auch wenn er immer gut zu meiner Schwester war. Habe ich deshalb ein schlechtes Wesen?“ „Nein, wie kommst du denn darauf?“ fragte Simsala. „Wenn du ein schlechtes Wesen hättest, würdest du dich jetzt nicht schlecht fühlen. Woran ist er denn gestorben?“ „Das weiß niemand“, antwortete Dressella. „Er war schon länger krank. Serpiroyal hat mit ihm jede bekannte Chaneira und Ohrdoch aufgesucht, aber keine von ihnen konnte feststellen, was ihm fehlte.“ Die Gedanken rasten durch Simsalas Kopf. Er kannte Lord Deponitox von Herzhofen kaum. Er wusste nur aus Hörensagen, dass er als umgänglich galt, auch wenn sein Erscheinungsbild eher abstoßend war. Außerdem wurde er als sehr pflichtbewusst beschrieben. Als Rechte Hand des Königs hatte er viel geleistet und war mit Auszeichnungen förmlich überhäuft worden. Dann fiel Simsala der unerwartete Brief von Flambirex wieder ein. Das war es also, worüber er reden wollte. Plötzlich lag der Apfel schwer in Simsalas Magen. Vielleicht waren Sir Arkanis Sorgen berechtigt gewesen. Hosted by Animexx e.V. 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