Die Trauerweide von Gurgi ================================================================================ Kapitel 21: Schwarze Federn --------------------------- Schwarze Federn Fein zeichnete sich die Sonne gegen die Schwärze der Nacht ab. Wie ein kleiner, brennender Kreis erhob sie sich über den Berg. Der Schnee begann durch das Licht leicht zu schimmern, verlieh ihm einen blutroten Glanz. Leise ächzte er unter Lobas Pfoten auf. Die schwarze Wölfin stand dicht neben ihrer neuen Herrin, blickte gemeinsam mit ihr den Reitern nach, welche schnell über die schneebedeckte Erde entschwanden. Scheu hob die Wölfin ihren struppigen Kopf, blickte hinauf zu dem Mädchen. Merkwürdig war ihr Blick, oder waren es nur die letzten Spuren der Müdigkeit, welche ihren Blick vernebelten? Vorsichtig tapste Loba vorwärts, drückte ihren Körper dem Boden entgegen. Die Kälte durchdrang selbst ihr dickes Winterfell. Lautlos kroch sie näher an ihre neue Herrin heran. Ihre neue Herrin, welch seltsamer Ausdruck. Nie zuvor war es dem Tier bewusst geworden, dass sie wahrlich jetzt unter neuen Umständen lebte. Es war nicht mehr das Leben, was sie gewöhnt war. Vieles hatte sich verändert, auch für sie, doch das schien niemand zu bemerken. Jeder schien zu glauben, ihr tierischer Geist wäre nicht in der Lage diese Veränderungen zu registrieren, wie wenig diese Menschen doch wussten... Loba wusste genau, dass sie ihre Herren verloren hatte. Beide, beide waren gegangen. Der freundliche alte Mann mit seinem sonnigen Gemüt, der sie immer mit so viel Liebe und Aufmerksamkeit bedacht hatte. Er war fort, unwiederbringlich fort gegangen war er. Das große Mädchen, wo war es nur? War auch sie in das dunkle Land der Stille gegangen? Dorthin, wo es keinen Schmerz und kein Licht mehr gab. War sie von diesem Schmerz nun befreit? Diesen Schmerz, welchen Loba immer in ihren Augen gesehen hatte. Die Augen des großen Mädchens, sie waren den ihren nicht unähnlich... Ja, diese beiden Menschen hatten ihre Worte verstanden, hatten sie gehört. Sie vermisste beide, doch das Tier wusste auch, dass sich ihre neue Herrin ebenfalls nach ihnen sehnte. Sanft stupste Loba dem Mädchen mit ihrer Schnauze in ihre Handfläche, ein heftiges Zittern ging durch den menschlichen Körper. Traurige Augen blickten sie an, Loba legte ihren Kopf leicht schief, jaulte leise und das Mädchen beugte sich zu ihr hinunter. "Jetzt sind wir beide alleine, Loba", flüsterte Ayesha und kraulte die schwarze Wölfin sanft am Kopf. "Seltsam, nicht wahr? Früher hätte ich mich glücklich geschätzt, wenn mein Vater mir so vertraut hätte, wie er es heute tut. Aber, jetzt bin ich wirklich hier gefangen..." Geräuschvoll entwich Ayeshas Atem ihrer Kehle, sie fühlte, wie sich Loba dichter an sie drängte und ihre Fingernägel gruben sich in das schwarze Fell. "Loba, was soll ich nur tun? Mein Kopf, er ist so leer. Das macht mir Angst, zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich ganz alleine." Zärtlich leckte die Wölfin Ayesha über ihre Wange, blickte sie lange an und in den tierischen Augen lag etwas Seltsames. Verständnis, war es das? Konnte Loba wirklich verstehen, was sie sprach? Vielleicht hatte Ryan deshalb immer mit ihr gesprochen, weil sie einfach nur stumm zu hörte, man in ihren Augen jedoch Antworten fand. Ein weiteres Mal stupste die schwarze Wölfin Ayesha sanft mit ihrer Schnauze an, als wolle sie ihr damit zeigen, dass sie noch da war und nicht gehen würde. Ein scheues Lächeln erhellte Ayeshas starres Gesicht und sie nickte leicht. "Ich weiß, du bleibst bei mir, und darüber bin ich sehr glücklich, altes Mädchen. Aber, soll ich dir etwas Eigenartiges erzählen?" Hechelnd setzte sich Loba auf den schneebedeckten Boden und spitzte die Ohren. "Also gut, ich erzähle es dir", sagte Ayesha und lachte leise. "Vor einigen Tagen, ich hatte so einen seltsamen Traum. Doch es war nicht einfach nur ein Traum, verstehst du? Es war zu real, zu greifbar... Ich habe etwas gespürt, eine Präsenz, einen anderen Geist. Ich weiß nicht wie ich das erklären soll", niedergeschlagen senkte Ayesha ihren Blick, starrte die dünne Schneedecke an, als könnte sie dort Antworten finden. "Es war fast so", erzählte sie weiter und hob ihren Kopf an. "Als wäre da jemand ganz nahe bei mir, ich glaubte Hände zu spüren, Berührungen, es war so wunderschön. Ich kannte diese Art von Berührungen. Ich, ich... Es war Ryan, Loba. Verstehst du, es war Ryan." Nervös begannen Lobas Ohren zu zucken, ihr Körper spannte sich an. Das große Mädchen? Wie sollte das möglich sein, war sie doch noch nicht auf ihre Reise gegangen? War sie noch hier. Warum kehrte sie dann nicht zu ihnen zurück? Das Tier verstand es nicht, konnte es nur auf den Umstand zurückführen, dass diese Wesen Menschen waren und als solche waren sie schwer zu verstehen. "Begreifst du, altes Mädchen?" fragte Ayesha und ihre Stimme quoll an vor Hoffnung. "Sie lebt, irgendwo, sie ist am Leben." Argwöhnisch kräuselten sich die feinen Haare auf Lobas Schnauze. Ja, das große Mädchen lebte, aber warum war sie dann nicht hier? Hier bei dem Menschen, welcher sich so nach ihr sehnte? Sanft umfing Ayesha den Kopf Lobas mit ihren Händen und lächelte das Tier zum ersten Mal seit langer Zeit glücklich an. "Ich habe es gespürt", wisperte sie und ihr Blick verlor sich im rötlich gefärbten Himmel. "Ich wusste, die Götter sind nicht so grausam, ich wusste, irgendwann würden sie ihr Spiel beenden. Aber, wie lange muss ich noch warten, Loba? Wie lange..." Hoffnungsvoll starrte Ayesha in den rötlichen Himmel. Tief in ihr fühlte sie, dass es nicht mehr lange dauern konnte, doch was würde dann sein? Waren sie überhaupt in der Lage ihr Leben miteinander zu teilen? Wie würde ihr Vater reagieren? Viel würde sich verändern und Ayesha fürchtete sich davor. Sie fürchtete sich im gleichen Ausmaß vor diesem Unbekannten, wie sie sich danach sehnte, Ryan wieder zu sehen. "Es ist damals auch nicht mit Teleri gut gegangen", dachte sie und eine Mischung aus Eifersucht sowie Schuld befiel ihre Gedanken. Immer noch fürchtete sie sich davor, dass Ryan eines Tages womöglich erkennen könnte, dass sie einen Fehler begannen hatte, dass sie Teleri vermissen würde und zu ihr zurückkehren würde. Teleri, dieser Name löste ein eigenartiges Gefühl in Ayesha aus. Nie hatte sie einen Gedanken daran verschwendet, wie es ihr gehen könnte. Es war einfach bedeutungslos für sie gewesen, andere Sorgen hatten sie geplagt. Warum dachte sie genau in diesem Moment an die Person, mit welcher Ryan einen großen Teil ihres Lebens verbracht hatte? Nachdenklich starrten ihre Augen ins Nichts, ihr Geist versuchte Antworten auf ihre Fragen zu finden, doch wie so oft misslang es ihr. Immer noch erschien ihr die ganze Sache als grotesk, als so widersprüchlich, wie viel war bereits passiert und wie sehr hatte sie sich selbst verändert? "Ryan", wisperte Ayesha leise und schloss ihre müden Augen. "Wo bist du nur? Was hält dich noch auf? Es muss etwas wichtiges sein, nicht wahr? Irgendetwas hält dich fest und du weißt nicht, ob du gehen oder bleiben sollst. Nun, ich kann dich gewiss nicht zwingen zu mir zurück zukehren, wie sollte ich auch? Ich weiß ja nicht mal wo du bist", traurig senkte Ayesha ihren Blick, streichelte Loba immer noch geistesabwesend über ihr Fell. "Ich vermisse dich, und ich weiß, dass du es ebenfalls tust. Ich habe es gefühlt an jenem Morgen, es war deutlich genug. Gekämpft hast du, um bei mir bleiben zu können. Warum kämpfst du jetzt nicht? Ich würde so gerne verstehen, doch das kann ich erst, wenn du mir die Antworten gibst. Wann wird das sein? Wann werde ich endlich verstehen können? Ryan, ich habe dir versprochen zu warten, das tue ich...Schon so lange... Doch, wie lange soll ich noch warten? Willst du mich immer nur versteckt besuchen, so subtil, dass ich es fast gar nicht gewahr werde? Nicht nur ich warte auf dich", flüstere sie, schenkte Loba einen liebevollen und verstehenden Blick. Sie wusste, auch die schwarze Wölfin sehnte sich nach Ryan. Sie litt nicht alleine... Seufzend lief Ayesha einige Schritte vorwärts, der Schnee ächzte unter ihren Schritten gequält auf. Es gab vie zu tun, ihr Vater war vorgeritten, die ganze Verantwortung lag auf ihr. "Dann kannst du dich schon einmal an das Gefühl gewöhnen", hatte er vor seinem Aufbruch gesagt, doch genau dieser Satz löste bei Ayesha in diesem Augenblick nur ein kaltes Lächeln aus. "Daran gewöhnen", dachte sie bitter. "Wer hat gesagt, dass ich mich an dieses Gefühl gewöhnen will?" Ein greller Pfiff durchzuckte die idyllische Morgenstille. Loba spitzte ihre Ohren, lief eilig zu dem Mädchen hinüber, welches sie augenblicklich an lächelte. "Komm, Loba", sagte Ayesha missmutig. "Wir haben viel zu tun, sehr viel..." Loba bellte leise, wedelte mit ihrem Schwanz und lief vorweg, wandte dann noch einmal dem Mädchen ihren Kopf zu. Seltsam waren diese Menschen doch, aber trotzdem gab es eine Sache um das man diese Wesen beneiden konnte. Das wusste Loba, man konnte sie um die Fähigkeit zu hoffen beneiden... Mit langsamen Schritten folgte Ayesha der schwarzen Wölfin, blieb dann jedoch kurz stehen und ihr Blick glitt über eine der kahlen Trauerweiden. "Ryan", dachte sie abermals und hüllte sich fester in ihren Mantel ein. "Ich habe dir versprochen zu warten, und du hast mir versprochen zurück zukehren. Ich hoffe, du hältst dein Versprechen, wie ich das meine gehalten habe... Liebe wartet, dass weißt du, aber manchmal kann auch sie nicht ewig warten...Es tut ansonsten zu weh...Wenn ich noch länger warten muss, werde ich verrückt..." Stimmengewirr erfüllte die Luft, eilig liefen Männer hin und her, verstauten Proviant, schlugen die Zelte ab, suchten ihr eigenes Hab und Gut zusammen und in ihren Augen klomm ganz langsam Angst auf. Angst vor den Wölfen, welche über sie herein brechen wollten. Jeder von ihnen wusste, was ihnen blühte, wenn die Wölfe sie wirklich dieses Mal einholen sollten. Ja, jeder von ihnen wusste es, doch wie ihr Tod aussehen würde, dass konnten sie nur erahnen... Doch die Gewissheit, dass es ein langsamer, qualvoller Tod sein würde, beschleunigte ihre Arme und Beine, ließ den Geist nicht zur Ruhe kommen. Angst war wahrlich die gefährlichste Waffe gegen Menschen, sie verursachte einen Kopflosenzustand, machte einen unaufmerksam und zu einer leichten Beute... Finster beugte Ragan die Szenerie, welche sich ihm bot. Er hatte alles veranlasst, war dafür verantwortlich, dass die Männer so gut wie keine Spuren hinterließen. Sie würden genauso lautlos verschwinden, wie sie es jedes Jahr taten. "Wie jedes Jahr", dachte Ragen bitter und verschränkte die Arme vor seiner Brust. "Wie viele Jahre machen wir das schon mit? Was bringen diese ganzen Überfälle? Wem nützen sie? Mir gewiss nicht, niemanden, sie sind wie ein Tropfen auf einen heißen Stein. Er verpufft, ehe er den Stein überhaupt berührt hat. Sinnlos, so sinnlos..." Finster starrten Ragan in den grauen Himmel, die Wolken waren bauchig, dunkel und dicht. "Schnee", sagte er leise zu sich selbst und lächelte schief. "Schnee ist gut, verdeckt unsere Spuren. Manchmal tun selbst die Götter ein gutes Werk." Müden fuhr sich Ragan durch sein Haar, er war seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen, überwachte den Abbau des Lagers und hoffte, dass sie schnell genug waren. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würden sie aufbrechen. Er lächelte versonnen bei dieser Vorstellung. Seine Frau, er würde sie endlich wieder sehen. Wie sehr wünschte er sich das. Er wusste, sie missbilligte es, dass er sobald der Frühling einkehrte wieder verschwand, doch was hatte er für eine Wahl? Er war es Markos schuldig, sie hatten viel zusammen durch gestanden, waren wie Brüder, und dennoch fragte er sich insgeheim, was Markos mit all dem bezweckte. Glaubte er wirklich, dass er den Wölfen so großen Schaden zufügte? "Vielleicht sind kleine besser als gar keine", dachte Ragan und legte seine Hand auf den Knauf seines Schwertes. Er hatte sich darauf vorbereitet, es einzusetzen und das würde müssen. Wenn er sich nicht vielen Dingen gewiss sein konnte, so wusste er, dass er am heutigen Tag kämpfen würde. Die glänzende Klinge würde ehe die Sonne versank Blutspuren aufweisen. Wolfsblut... "Man sagte mir, du suchst mich." Erschrocken zuckte Ragan zusammen, drehte sich um und seine Augen verengten sich leicht, als er der jungen Frau ins Gesicht blickte. "Ja", murmelte er und es klang übelgelaunt. "Ich hatte es irgendwann aufgegeben dich zu suchen, Mädchen." Auch Ryans Augen verengten sich, nahmen einen bösen Ausdruck an und sie verschränkte ihrerseits die Arme vor der Brust. "Ich kann es nicht ausstehen, wenn man mich Mädchen nennt. Ich habe einen richtigen Namen, und ein Kind bin ich schon lange nicht mehr." Ragan lachte leise auf, schüttelte seinen Kopf und nickte schließlich. "Gut, dann verzeih einem ungehobelten Kerl wie mir seine Ausdrucksweise." Kopf schüttend wandte er seinen Blick wieder dem geschäftigen Treiben zu. "Was machen sie da?" hörte er die junge Frau hinter sich fragen. "Nach was sieht es denn für dich aus?" gab Ragan die Frage zurück und schmunzelte leicht. "Wir brechen unser Lager hier ab, es wird Zeit nachhause zurück zukehren. Bald werden wir verschwunden sein." Scharf sog Ryan die kalte Winterluft in ihre Lungen, verschwinden würde sie, so schnell wie sie in ihr Leben getreten waren, so schnell wollten sie dieses auch wieder verlassen. "Närrin", hörte sie in sich eine Stimme. "Wie konntest du glauben, du könntest ein Teil davon werden? Naiv wie eh und je...Kleines Waldkind, Einsamkeit...Einsamkeit..." Zitternd presste Ryan ihre Handflächen gegen ihre Ohren, wollte diese Stimme in sich zum verstummen bringen, doch es misslang. Immer noch hörte sie die höhnische Stimme Resas in ihrem Geist. "Ryan, ist alles in Ordnung mit dir?" Besorgt legte sich eine Hand auf ihre Schulter, drückte sanft zu und Ryan schlug irritiert ihre Augen wieder auf. "Ja", stieß sie hervor und beruhigte sich langsam. "Es ist alles in Ordnung..." Argwöhnisch hob Ragan eine Augenbraue an, forschte in Ryans Gesicht, doch alles was er erblicken konnte, war, dass es unbewegt und kalt erschien. "Ein seltsames Mädchen", dachte er und nahm seine Hand wieder fort. "Warum hast du nach mir gesucht?" fragte Ryan, nachdem sich ihr wild klopfendes Herz wieder beruhigt hatte und die höhnische Stimme in ihrem Geist immer leiser und leiser geworden war. "Nun, nicht ich habe dich eigentlich gesucht, sondern Markos", bekannte Ragan und lächelte wissend. "Er möchte mit dir sprechen." "Er will sich wohl eher von mir verabschieden", schnaubte Ryan wütend und presste dann verbittert ihre Lippen aufeinander. "Ja, das auch", Ragan nickte leicht, er wusste, seinem Freund viel dieser Abschied nicht leicht, doch manchmal hatten Menschen keine Wahl. Vielleicht aus dem Grund, dass sie, Markos und er selbst, schon viel zu lange auf diesem Weg wandelten und ein Umdrehen bereits zu spät war. "Folge mir, ich bringe dich zu ihm", sagte Ragan und versuchte ein Lächeln zustande zu bringen. "So wie ich ihn kenne, will er dich aus anderen Gründen sehen." Schwungvoll drehte Ragan sich um und lief schweigend los. Skeptisch sah ihm Ryan hinterher, zitternd hüllte sie sich in ihren Umhang, doch diese Kälte in ihren Gliedern wollte nicht weichen. Immer noch waren ihre Lippen aufeinander gepresst, sie wollte jetzt nicht sprechen. "Aus anderen Gründen", dachte sie und konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen. "Er will mir bestimmt sagen, dass wir uns nicht mehr sehen werden. Niemand hält es lange in meiner Gegenwart aus...Niemand." "Denkst du immer solchen Schwachsinn?" Erschrocken hob Ryan ihren Kopf, blickte direkt in Ragans dunkle Augen, in welchen der Zorn aufblitze, wie bei einem nächtlichen Gewitter. Beschämt senkte sie ihren Blick. Ihr war es immer noch unangenehm, dass diese Menschen womöglich ihre Gedanken verstanden, sie hörte, als wären sie laut ausgesprochene Worte. "Glaub mir, Ryan", flüsterte Ragan und umfing ihre Hand mit der seinen. "Das will er dir bestimmt nicht sagen, es sind andere Gründe die ihn beschäftigen. Gründe die auch dich betreffen, ob es dir gefällt oder nicht, es sind andere Dinge...ganz andere..." Sanft umfing Ragans starke Hand Ryans, sein Blick wurde weich und er nickte ihr leicht zu. "Komm, je länger du hier wartest, dir Dinge vorstellst welche womöglich falsch sind, verlierst du kostbare Zeit." Vorsichtig setzte Ragan einen Fuß vor den anderen, brach somit auf sanfte Weise Ryans Widerstand und führte sie schweigend fort vom Lagerplatz. Lautlos fielen die ersten Schneeflocken des Tages, sanft, als wären sie Federn wurden sie vom aufkommenden Wind hin und her gefegt. Der Himmel hüllte sich in eine gräuliche Farbe ein, ließ seine kleinen, kalten Boten hinab zur Erde gleiten, um die Welt mit einem eisigen Schlaf zu überziehen, welcher lange anhalten würde... Die Welt brauchte ihn dringend, diesen Schlaf, welcher sie zur Ruhe kommen ließ, ihr neue Kraft schenkte, um im Frühling neues Leben zu gebären... Seufzend schüttelte Markos sein Haupt und einige Schneeflocken rieselten auf den Boden hinab. Seine Hände zitterten leicht, doch in diesem Augenblick schien es ihm nichts auszumachen. Er war zu weit fort, als das er diese irdischen Gefühle hätte wahrnehmen können. Die Zeit schien still zu stehen, auch sie hielt den Atem an, wartet auf den großen Sturm. "Alles weiß", dachte Markos und sein Blick schweifte über die mit Schnee bedeckte Erde. "Bald wird eine weitere Farbe hinzukommen. Rot...rotes Blut...Sie kommen, lange kann es nicht mehr dauern, ich fühle sie...Sie sind hungrig...Sehr hungrig..." Mit einer schnellen Handbewegung schlug Markos die Kapuze seines Umhangs über seinen Kopf, und starrte hinauf in den grauen Himmel. "Jetzt fallen sie wieder", flüsterte leise zu sich selbst. "Zerfetzte Flügel, tote Seelen, welche nicht zur Ruhe kommen können... Schwester, bist auch du dort irgendwo? Kämpfst auch du um deinen ewigen Frieden? Ich hoffe du kannst mir verzeihen, was ich nun tun werde, es muss sein. Dich konnte ich nicht retten, du wolltest es auch gar nicht, habe ich Recht? Du wolltest nicht gerettet werden, doch vielleicht vermag ich es bei ihr..." Laut heulte der Wind auf, wehte Markos einige Schneeflocken ins Gesicht und ließ seinen Körper erstarren. "Hör auf", murmelte er gereizt und seine Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. "Ich werde ihr nichts erzählen, was sie nicht schon an sich selbst bemerkt hat. Ich wusste wie ähnlich sie dir ist, doch nicht wie sehr..." "Ich glaube, du hörst deine eigene Stimme sehr gerne, oder? Ansonsten würdest du nicht jedes Mal, wenn ich dich aufsuche, mit dir selbst sprechen." Ein schiefes Lächeln schmückte Markos Gesicht, als er sich Ryan zu wandte und sie kurz musterte. "Ist es nicht besser, die eigene Stimme zu hören, als eine, die einem nur Lügen erzählt?" fragte er und ging langsam auf sie zu. "Ich glaube, dass liegt eher im Auge des Betrachters", versetzte Ryan und funkelte Markos an. "Auch die eigene Stimme kann einen belügen." "Wie wahr, wie wahr", leicht nickte ihr Markos anerkennend zu und hielt kurz inne. "Ich hatte mit deinem Erscheinen eigentlich kaum noch gerechnet, ich dachte eher, ich würde hier zu einem Eiszapfen erstarren." "Nun, eine gewisse Ähnlichkeit kann ich dir leider nicht absprechen", für den Bruchteil eines Augenblicks erhellte sie Ryans Gesicht, sie klopfte ihrem Onkel den Schnee von der Schulter und sah ihn lange an. Wie seltsam das Leben doch spielen konnte. So lange hatte sie daran geglaubt alleine zu sein, dass das Wort Familie für sie nur eine höhnische Farce darstellte. Wie seltsam war es nun, dass dieser Mann alles an Familie repräsentierte, was sie besaß. Doch auch er würde wieder gehen, so schnell wie er gekommen war, genauso schnell würde er wieder verschwinden. Augenblicklich verhärteten Ryans Gesichtszüge, wurden wieder so kalt und unbewegt wie eh und je. "Was hast du?" fragte Markos, dem diese Veränderung in ihrem Gesicht nicht entgangen war. "Was los ist?" Abschätzend hob Ryan ihren Kopf, konnte er es sich wirklich nicht denken? "Ich frage mich nur, warum du mich erst suchst, mich zu dir holst und mich dann sofort wieder alleine lässt. Aber, was hätte mir anderes erwarten können? Es ist immer wieder das gleiche, irgendwann tut es nicht mehr weh..." "Hältst du mich für so herzlos?" Unschlüssig zuckte Ryan mit den Achseln, was sollte sie darauf schon antworten? "Weißt du Ryan", begann Markos und verschränkte seine Arme hinter dem Rücken. "Wir können uns nicht immer aussuchen, wie unser Leben aussehen soll. Vielleicht wäre es unter anderen Umständen ganz anderes gekommen, doch, das alles wäre reine Spekulation. Früher, bevor ich dich gefunden habe, habe ich jeden Frühling zu Bredal (*) gebetet, ich bat ihn um ein Zeichen, das mich endlich auf die richtige Spur bringt. Doch durch die Dauer des Frühlings und Sommers hindurch, wurde ich immer wieder enttäuscht", kurz hielt Markos inne, blieb dicht vor Ryan stehen und zwang sie, ihm in seine Augen zu sehen. "Glaubst du wirklich, ich hätte so lange nach dir gesucht, um dich dann sofort wieder gehen zu lassen?" "Warum geht ihr dann?" fragte Ryan ihrerseits und bemühte sich ihre Stimme fest und sicher klingen zu lassen, sie durfte jetzt keine Schwäche zeigen. "Wir wollen nicht gehen, wir müssen gehen. Hier ist unsere Heimat, doch wir sind schon seit Jahren in ihr nicht mehr willkommen, verstehst du? Unsere Familien, sie brauchen uns auch. Meine Frau, meine Kinder, ich habe sie so lange nicht mehr gesehen...So lange." Irritiert blickte Ryan Markos an. "Du hast Kinder?" fragte sie so leise, das es kaum noch ein Hauchen war. Ein glückliches Lächeln bildete sich um Markos Mund, er nickte leicht und legte Ryan sanft eine Hand auf die Schulter. "Ja, zwei Mädchen, ich vermisse sie sehr. Alleine wegen ihnen muss ich zurück." Schweigend sahen sich beide an, lautlos tanzten die Schneeflocken um sie herum und der eisige Schlaf der Welt begann... "Ryan", fest umfing Markos die Schultern seiner Nichte und wich nervös ihrem forschenden Blick aus. "Ich glaube, du hast gewiss sehr viele Fragen. Ich dachte mir, du möchtest mir wenigstens jetzt schon einige von ihnen stellen." Betreten blickte Ryan auf die weiße Schneedecke hinab. Fragen, ihr Kopf war voll von ihnen. Es war kein Tag vergangen, an welchem sie sich keine gestellt hatte. Oft war es ihr erschienen, als wäre ihr Kopf wie ein Fluss, welcher über die Ufer trat, da sein Fassungsvermögen für die neuen Wassermassen nicht mehr ausreichte. Jedoch, war es nicht besonders eine Frage, welche sie so sehr beschäftigte, ihr den Schlaf raubte, ihren Verstand vernebelte? Sie spürte wie ihr Körper zu zittern begann, Kälte drang durch ihre Stiefel, ihr Atem beschleunigte sich und bildete kleine, weiße Wölkchen. "Meine Eltern", wisperte sie und hob ihren Kopf. "Wie waren meine Eltern?" "Deine Eltern", wiederholte Markos ebenso leise, seine Augen schlossen sich, er schien sich zu konzentrieren, zu erinnern. "Dein Vater", begann er nach einer kurzen Weile zu erzählen. "Er war ein guter Krieger, doch das war es nicht, was ich an Lucan immer so geschätzt habe. Er besaß eine Fähigkeit, welche nur wenige Menschen haben. Egal was geschah, wie verzweifelt um ihn herum alle sein konnte, dein Vater brachte es immer wieder fertig ein Lächeln auf traurige Gesichter zu zaubern. Glaub mir, Ryan. Dein Vater war ein guter Mann. Er kämpfte mit seinem ganzen Herzen dafür frei zu sein. Er hatte sich so sehr auf dich gefreut." "Wenn ich das alles höre, dann habe ich wohl nicht viel von ihm", entschied Ryan missmutig. "Das glaube ich dir nicht, vielleicht hast du diese Seite in dir einfach noch nicht gefunden. Rein äußerlich kommst du eher nach der Familie deiner Mutter." Ein kurzes Aufblitzen in Markos gelbgrünen Augen ließ Ryan zusammenzucken, und sie wich einige Schritte zurück. "Erschrecken dich deine Augen?" fragte Markos plötzlich und folgte ihr. "Meine haben mich mein ganzes Leben lang erschreckt. Eine Laune der Natur, nichts, vordem man sich fürchten muss, Ryan. Nimm es als Segnung der Götter, es macht unsere Familie zu etwas besonderem." "Familie", sprach Ryan, und es klang wie ein Kind, das ein neues Wort zum ersten Mal aussprach. Ungewohnt, neu fühlte es sich auf der Zunge an. "Ich wusste nie, was dieses Wort für eine Bedeutung hat...Nie..." Schmerz lag in diesen Worten, so viel Schmerz, dass es Markos schwindelte. Sein Stein begann aufzuleuchten, ließ ihn den Schmerz und die Verzweiflung seiner Nichte spüren, als wären diese Emotionen seine eignen. "Vielleicht verstehst du es jetzt", stieß er hervor, kämpfte darum seinen Geist vor diesen Gefühlen zu verschließen. "Deine Mutter. Ich muss gestehen, ich bin nicht unbefangen, wenn ich über sie spreche. Ich habe sie sehr geliebt, und wenn ich in dein Gesicht blicke, ist es so, als wäre sie noch hier... Kara war eine stolze Frau. Jemand, dem du dich anvertrauen konntest. Sie wusste immer Rat, wusste immer was zu tun war. Selbst wenn Ragan, ich oder jemand anderes gezaudert hat, deine Mutter schien nach außen hin immer stark zu sein. Doch, da gab es noch eine andere Seite in ihr", wisperte Markos und vermied es Ryan bei seinen Worten ins Gesicht zu blicken. Er fürchtete sich vor dem Ausdruck in ihren Augen. "Weißt du, so sanft und liebevoll Kara sein konnte, so gnadenlos brachte sie ihre Gegner zur Strecke. Sie jagte sie, als wären sie Tiere...Mir ist das nie verborgen geblieben...Nie..." "Was?" fragte Ryan und trat einige Schritte näher, bis sie direkt vor Markos stand, seine Zweifel in den unergründlichen Augen erblicken konnte, sie verstand seine Worte in diesem Augenblick nicht. "Deine Mutter, sie steigerte sich während jedem Kampf in eine Art Rausch. Ihre Augen, sie wurden so kalt, ausdruckslos, doch ich fühlte es. Ja, ich fühlte ihre Emotionen, wenn sie einem Gegner ihr Schwert in den Leib stieß. Zu sah, wie sich sein Blut langsam über den Boden verteilte... Ich...Ich fühlte wie sie sich an diesem Anblick weidete, fühlte ihren Stolz. Das Töten bereitete ihr Vergnügen, verstehst du?" Abrupt verstummte Markos, blickte Ryan aus trüben Augen an und lächelte bitter. "Begreifst du? Es war eine Art Spiel für sie, eine groteske Art des Vergnügens... Ich empfand nie so, ich schäme mich jedes meiner Opfer. Doch Kara war stolz darauf, schmückte sich damit, als wäre es Geschmeide. Sie war so, wie du es heute bist... Auch dir bereitet das Töten Vergnügen. Du bist auch leider in diesem Charakterzug das Ebenbild deiner Mutter..." Steif verharrte Ryan in ihrer Position, fest ballten sich ihre eisigen Hände zu Fäusten. Wut vibrierte in ihren Nerven und ihr Blut pochte gleichmäßig, aber hart, gegen ihre Schläfen. "Ich...Ich bin nicht so...Ich bin nicht so...", stieß sie gequält hervor und funkelte ihr Gegenüber wütend und nervös an. "Warum lügst du jetzt? Ich habe es doch gesehen", flüsterte Markos. "Ein kleines, ängstliches, wütendes Mädchen. Alles hat es getan, um geliebt zu werden. Getötet hat es, schnell, kaltblütig, ohne Angst und auch ohne Reue. Warst du wirklich einst so einsam, Ryan? Was glaubst du denn, warum diese Frau dich so einfach manipulieren konnte? Man kann niemanden so formen, außer er trägt diese Anlagen bereits in sich..." Am ganzen Körper bebend stand Ryan da, ihre Fingerknöchel traten weiß hervor und ihr Atem entwich keuchend ihrer Kehle. "Hast du das vernommen?" hörte sie die gehässige Stimme Resas in ihren Ohren. "Ich habe dein Potenzial nur geweckt, es geformt. Du warst schon immer so, wärst es auch ohne mein Zutun geworden...Eine kleine Mörderin...Diese Veranlagung liegt offenbar in der Familie...Mörderin...Monster..." "Sei still", schrie Ryan, presste ihre Hände fest gegen ihren Kopf und sank auf ihre Knie nieder. "Mach dich nicht lächerlich...Ich werde immer wieder kommen, vielleicht sogar in dem Moment, in welchem du es am wenigsten erwartest...Irgendwann werde ich wieder kommen...Mein kleines, hübsches Geschöpf..." "Nein", schluchzte Ryan, vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Heiße Tränen wärmten ihre eisigen Finger, glitzernde Spuren blieben auf ihren Wangen zurück. Plötzlich spürte sie, wie sich zwei Arme zärtlich um sie legten, sie fest an einen anderen Körper drückten. "Du wirst noch lange gegen sie kämpfen müssen", meinte Markos und strich ihr beruhigend über ihr Haar. "Noch sehr lange, irgendwann wird sie verschwinden. Glaub mir, irgendwann..." "Hilf mir", schluchzte Ryan und barg ihr Gesicht an seiner Brust. "Bitte, lass mich mit dir gehen...Bitte, hilf mir." "Onone weiß, nichts wäre mir lieber", bekannte Markos, wischte Ryan die Tränen fort und nahm ihr Gesicht sanft zwischen seine Hände. "Nichts wäre mir lieber, ich wollte dich fragen, ob du mit uns kommen willst, aber die Zeit ist dafür noch nicht gekommen. Dich zieht es doch in eine ganz andere Richtung, oder?" Schluchzend blickte Ryan Markos an. "Ayesha", dachte sie. "Ayesha...ich habe es ihr geschworen, und ich will sie auch wieder sehen...Ich...Ich habe nur Angst..." "Du brauchst keine Angst zu haben, mein Kind. Sie wartet auf dich, vermisst dich, sorgt sich. Geh zu ihr, Ryan. Das ist in diesem Augenblick dein Weg." "Ich kann aber nicht", schrie Ryan laut, trommelte mit ihren Fäusten auf Markos Brust ein. "Ich werde sie auch vernichten...Jeden reiße ich mit ins Verderben...Ich kann das ihr nicht auch noch antun...Es geht nicht...Verdammt..." Kopfschüttelnd blickte Markos auf das zusammengekauerte, weinende und zitternde Wesen in seinen Armen hinab. "Manche Dinge kann man sich auch einreden. Es liegt an dir, was du aus dieser neuen Chance machst. Gib dir doch selbst noch eine Chance, Ryan. Ihr habt sie beide verdient. Das Mädchen liebt dich." Aus verweinten Augen blickte Ryan auf. Sah wie ihr Markos zu lächelte, ihr sanft über die Wange strich und nickte. Langsam beruhigte sich ihr Atem, ihr Herz verlangsamte sich, schlug wieder im normalen Takt. "Vertrau mir", sagte Markos. "Es wird alles gut, irgendwie wird alles..." Die Worte auf seinen Lippen erstarben, die gelbgrünen Augen Markos weiteten sich, und dann schrie er plötzlich laut und gellend auf. Sein Körper wurde schwer in Ryans Armen, beide sackten zu Boden. Verstört blickte Ryan in das schmerz verzehrte Gesicht ihres Onkels, sie fühlte wie ihr eine heiße Flüssigkeit über die Finger ran. "Markos", schrie Ryan und versuchte Markos und sich selbst wieder aufzurichten. "Was hast du?" "Wölfe", stieß dieser gequält hervor. "Sie sind schon da...Ich dachte, sie würden erst später kommen...Ich..." Vorsichtig tasten sich Markos Finger zu seinem Rücken, feines Holz fühlte er. Ein Pfeil, sauber getroffen hatte er, genau unterhalb seiner Rippen. "Komm", zischte Ryan. "Ich bring dich hier weg." Schwitzend klemmte sie einen Arm unter Markos und schleifte ihn mit sich. Sie hörte wie er gequält aufstöhnte, doch sie trieb ihn immer weiter. Angst befiel ihren Geist. Wölfe...Katlar...Hatte er sie schon wieder gefunden? "Ich werde nicht zu lassen, dass du mir zum zweiten Mal meine Familie stiehlst", dachte sie zornig. "Dieses Mal nicht, Wolf. Dieses Mal nicht..." Trotz der eisigen Kälte, sammelten sich feine Schweißperlen auf Ryans Stirn, ob diese von Anstrengung oder Angst herrührten, vermochte sie nicht zu sagen. "Ryan", die schwache Stimme Markos drang zu ihr hinüber, und sie hielt an. "Was ist?" "Lass mich hier", krächzte er und versuchte zu lächeln. "Lass mich hier...Deine Sachen, ich habe sie von Ragan unten am Fluss deponieren lassen. Unter einer großen Steinplatte, du kannst sie nicht verfehlen..." "Wer von uns beiden ist verrückt? Ich lasse dich nicht alleine, verstehst du? Ich lasse dich nicht hier zurück", zischte Ryan und hörte, wie Schnee unter Stiefeln ächzte. "Ich komme zurecht", erwiderte Markos, packte den Pfeil mit einer Hand und brach ihn oberhalb der Spitze ab. "Siehst du?" fragte er und hielt triumphierend den abgebrochenen Pfeil in der Hand. "Ich nehme einen anderen Weg, damit sie weder dir noch den anderen folgen können. Sie werden mich nicht finden, sie haben mich noch nie gefunden." Liebevoll lächelte Markos seine Nichte an, legte ihr eine Hand auf die Wange und zog sie nahe an sein Gesicht heran. "Ich werde mit dir in Kontakt treten, Ryan. Lerne mit ihm, er wird dir sehr nützlich sein, und wir werden miteinander sprechen können. Unsere Familie ist zusammen, vergiss das nie. Zusammen sind wir, endlich. Und jetzt, lauf, lauf und grüß das Mädchen von mir." Erneut traten Tränen in Ryans Augen, fest drückte sie den Körper des Mannes, welcher ihre Vergangenheit gelüftet und ihr Verstehen geschenkt hatte, an sich. "Ich weiß, wir werden uns wieder sehen", flüsterte sie und versuchte die Tränen zurück zudrängen. "Ich danke dir für alles...Für alles, danke, dass ich endlich weiß wer ich hätte sein können. Ich danke dir, Onkel." Bei diesem Wort breitete sich ein wohliges Lächeln auf Markos Gesicht aus, hart schluckte er und löste sich dann aus Ryans Armen. "Lauf jetzt, Ryan. Mach schon, lauf." Zögernd löste sich Ryan von Markos, ging langsam einige Schritte zurück. "Auf was wartest du? Lauf, jetzt." "Auf bald, Markos", flüsterte Ryan, wandte ihrem Onkel den Rücken zu und rannte los. Der Wind wehte ihr scharf ins Gesicht, feine Schneeflocken blieben in ihrem Haar und auf ihrem Gesicht kleben. Die kleinen Flocken verflüssigten sich auf ihrer Haut, vermischten sich mit dem salzigen Wasser aus ihren Augen. Immer schneller lief sie, immer schneller, bis sie zwischen den mächtigen Baumstämmen verschwunden war. Seufzend blieb Markos sitzen, lehnte seinen Oberkörper leicht gegen den Baumstamm. Er wusste, viel Zeit zum Ausruhen hatte er nicht. Müde schloss er seine Augen, atmete tief und ruhig durch. Ein schwerer Weg lag noch vor ihm, ein langer beschwerlicher Weg. Ein vertrockneter Ast begann neben ihm leise zu knarren. Verstört öffnete Markos seine Augenlider, riss diese im nächsten Moment auf und sein wütender Blick fixierte eine glänzende, tödliche Pfeilspitze... Kühl blickten sie sich an, keine Regung war in beiden Augenpaaren zu erblicken. Unbewegt und leblos waren sie, wie die Welt um sie herum. Keiner sprach ein Wort, was hatten Worte schon für ein Gewicht? Im Gegensatz zu Taten waren sie bedeutungslos... Tief glitten ihre Geister hinab in Erinnerungen, in längst vergangene Zeiten und Situationen. Jung waren sie gewesen, naiv, unwissend was das Schicksal noch mit ihnen plante. Man sagt: Wenn man jung ist, hat man noch Träume... Was war aus diesen für sie beide geworden? Aufgegeben hatten sie eben diese Träume. Sie waren im Strudel der Zeit verblasst... Langsam entspannte sich die Sehne des Bogens, die Pfeilspitze sank gen Boden und ein leises Lachen zerriss die drückende Stille. "Lange nicht gesehen, Rabe", sprach der Mann und wischte sich einige lästige Haarsträhnen aus der Stirn. "Ja", bestätigte Markos. "Wir haben uns lange nicht gesehen, alter Freund." Lächelnd bot der Mann Markos seine Hand an, dieser ergriff sie zögernd und ließ sich von ihm in die Höhe ziehen. Ein schneidender Schmerz durchzuckte Markos Körper und er blies zischend die Luft aus seinen Lungen. "Verzeih mir den Schuss, Markos. Ich musste es tun, sonst hätten die Männer bestimmt verdacht geschöpft. Sie mögen einfach sein, doch so einfach auch wieder nicht." "Ich weiß", presste Markos hervor, sein Blick musterte den Mann vor sich. "Du hast dich verändert, Gerin. Sehr verändert." Der zuvor freudige Ausdruck in Gerins Gesicht verschwand, wurde ernst und sorgenvoll. "Jeder verändert sich auf seine Weise, du hast dich auch seit unserem letzten Treffen verändert." "Seit diesem sind auch Jahre ins Land gegangen, Wolf. Sehr viele Jahre." Stumm nickte Gerin, blickte den verletzten Mann vor sich an. Unweigerlich begann er sich zu erinnern. Diese Situation war ihm so erschreckend vertraut, doch die Rollen schienen nun vertauscht. Unstet schweifte Gerins Blick über die weiße Landschaft, auf dem Waldboden waren Fußspuren deutlich sichtbar. Schnell, eilig waren sie. "Warum hast du sie laufen lassen? Ein so guter Schütze wie du", meinte Markos und wies auf seine Wunde. "Hätte sie gewiss nicht verfehlt." Nachdenklich wiegte Gerin seinen Kopf hin und her, spannte erneut seinen Bogen und atmete ruhig durch. "Ja, es wäre ein sauberer Schuss geworden, er hätte sie sofort getötet. Doch, der Wind ist ungünstig, er hätte sie treffen können, oder..." seine Finger ließen den Pfeil los, leise sirrte er durch die Luft, schlug in einen mächtigen Baumstamm ein, und Gerin beendete seinen Satz: "Er hätte sie verfehlen können." Ein leises Lachen entfuhr Markos Kehle, doch im nächsten Moment verzog sich seine Gesicht wieder vor Schmerz. Freundschaftlich schlug er Gerin auf die Schulter und nickte leicht. "Ja, er hätte sie auch verfehlen können. Ich danke dir, Gerin." "Ein Leben für ein anderes, erinnerst du dich daran? Wir sind quitt, Rabe. Wir sind quitt. Meine Schuld bei dir ist damit bezahlt..." Schweigend musterte Markos Gerin. Immer noch war ihm dieser Mann unheimlich, nie konnte man gewiss sein, was sich hinter diesen Augen abspielte. Nie wusste man, wer Gerin eigentlich war. Er roch wie ein Wolf, benahm sich wie einer, und dennoch erschien es Markos oftmals, als wäre dieser Mann mit sich nicht im Einklang. Irgendetwas schien unentwegt in Gerin zu kämpfen, welche Seite der Medaille repräsentierte sein wahres Ich? "Gerin, darf ich dir eine Frage stellen?" Kaum merklich nickte Gerin, doch sein Blick blieb immer noch starr geradeaus gerichtet. Markos atmete tief durch, sammelte Kraft für die Frage, welche ihm schon seit Jahren auf der Zunge brannte. "Warum tust du das alles? Warum sendest du mir, Jahr für Jahr, Botschaften über die Transporte? Wieso schadest du deinen eigenen Leuten? Du wusstest, dass sie bei dem letzten Transport dabei war...Warum hilfst du uns...Warum?" Ein leises, kaltes Lachen ließ Markos zusammenzucken, er blickte in das verschlossene Gesicht Gerins. Irgendetwas schien sich plötzlich in seinen Augen zu bewegen, sie funkelten wie glühende Kohlen und er wandte Markos sein Gesicht zu. "Warum ich das alles tue?" wiederholte er die ihm gestellte Frage. "Eigentlich ist es ganz einfach." Geschmeidig wie ein Katze kam Gerin näher, die feinen Haare in Markos Nacken richteten sich auf, als würde er Gefahr spüren...Seit wann war Gerin für ihn eine Gefahr? "Ich glaube, Markos, du hast die ganze Sache noch nicht so richtig verstanden. Ihr seid alle noch am Leben, weil es mich gibt. So lange ich Verwendung für euch habe, werde ich euch schützen... Hast du geglaubt, ich tue das alles weil du mir einst mein Leben gerettet hast? Nein, so dumm bist du nicht. Du hast doch nicht etwa geglaubt, ich hätte keinen Nutzen davon, oder?" Argwöhnisch verfolgte Markos jede Bewegung seines Gegenübers, unmerklich umschloss seine Hand den Knauf seines Dolches... "Markos, lass deine Waffe stecken", zischte Gerin bedrohlich. "Ich werde dir nichts tun, ich brauche dich noch." "Von was redest du, Gerin?" fragte Markos und in seiner Stimme schwang Furcht mit. "Was das alles soll? Wie gesagt, es ist so einfach. Du willst Antworten, die kann ich dir geben. Barolon, ihr habt ein sehr schönes Land, Markos. Ein sehr schönes, doch es wird von Schwachköpfen regiert. Um was kümmern sie sich denn? Um Reichtum, Festigung ihrer Macht... Macht, welche sie doch schon so lange verloren haben", leise begann Gerin zu lachen, kristallklar hallte sein Lachen von den Bäumen herüber. "Es ist so einfach den hohen Rat zu lenken, eure Überfälle beschäftigen sie sehr. Sie glauben, so viel durch sie zu verlieren. So lange es deine Männer und dich gibt, liegt ihre Aufmerksamkeit nicht auf wichtigen Dingen. Sie bemerken doch nicht einmal, wie ich ihnen ihre Macht Stück für Stück wegnehme..." "Und Ryan? Was für eine Figur ist sie auf deinem Spielbrett?" "Deine Nichte", zischte Gerin. "Auch sie hat für mich eine Funktion, eine sehr, sehr wichtige. So lange sie lebt, ist auch die Aufmerksamkeit meines Bruders auf einen Punkt konzentriert. Warum glaubst du, habe ich sie entkommen lassen? Aus Barmherzigkeit? Sei kein Narr, Markos. Als sie in Katlars Gefangenschaft weilte, bemerkte ich bereits, dass er seine Nase in Dinge steckte, welche ihn nichts angehen. Du siehst, ihre alle erfüllt für mich wichtige Aufgaben..." "Alles kleine Spielfiguren, nicht wahr, Gerin?" schnaubte Markos missbilligend. "Meister der Manipulation, damit schmückst du dich gerne. Ich wusste das, aber ich wusste nicht, wie töricht du bist. Wenn der hohe Rat hinter dein Spiel blickt, wirst du vor deinem Tod kaum Zeit zum atmen haben..." "Narr", fiel ihm Gerin wütend ins Wort, schritt auf ihn zu und packte Markos an seinem Umhang. "Wer sind diese Lügner denn noch? Sie sind wie Puppen, tanzen nach der Musik, welche ich ihnen vorgebe. Sie ahnen doch überhaupt nichts...Nichts... Schon seit so vielen Jahren haben sie ihre Macht und ihren Einfluss verloren. Ich unterzeichne alle wichtigen Dokumente, auf mich hören die Krieger, ich treffe die Entscheidungen. Sie wissen doch nicht, dass ich es sein werde, der ihnen ihr Lebensleicht ausblasen wird. Einen nach dem anderen..." "Und dein Bruder?" hastig befreite sich Markos aus dem Griff Gerins, verzog verächtlich seinen Mund und seine Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. "Was ist mit ihm? Wann wirst du ihn töten?" "Mein Bruder", sann Gerin. "Für ihn ist es die schlimmste Strafe in seinem Leben gefangen zu sein. In einem Leben, welches keines mehr ist. Er ist doch schon vor langer Zeit gestorben, nur noch seine von Hass zerfressene Hülle ist noch hier. Von mir wird er kein Leid erfahren, sein Leben ist die schlimmste Strafe. Er wird deine Nichte weiter jagen, so lange, bis einer von ihnen tot am Boden liegt. Doch ich ahne, wer es sein wird." "Und was ist mit uns? Wirst du auch uns einen nach dem anderen töten?" "Nein", versicherte Gerin, doch dieses Mal klang es aufrichtig. "Freunde tötet man nicht...Nicht einmal ein Wolf tut so etwas..." Zitternd vor Wut starrte Markos das Wesen vor sich an, das Wesen, welches er geglaubt hatte zu kennen. Auch diese Maske war nun gefallen, der Blick hinter diese hatte Markos erschreckt, ihn wieder in die Realität zurückgeholt. Wölfe waren, selbst wenn jemand diesen Teil in sich gut verbergen konnte, immer vorhanden. Warum erschreckte ihn das so? Spielten sie nicht alle ein falsches Spiel? Versuchte nicht jeder für sich das Beste heraus zu schlagen? Warum hatte er geglaubt, bei Gerin wäre das anders? Er hatte um seine Fähigkeiten gewusst, doch ihm war nie in den Sinn gekommen, dass er selbst nur eine Spielfigur auf dessen Spielbrett gewesen war. "Sie kommen", sagte Gerin leise. "Der Rabe sollte seine Flügel ausbreiten, die anderen Vögel sind bereits gen Süden gezogen...Es wird auch für ihn Zeit..." Niedergeschlagen nickte Markos, schleppte sich schwerfällig an Gerin vorbei, doch dieser legte ihm seine Hand auf die Schulter und hielt ihn somit zurück. "Auf bald, mein Freund. Ich werde dir im Frühling eine Nachricht zu kommen lassen. Bis zum Frühling..." Ein leises, enttäuschtes Lachen kam über Markos Lippen, er nickte leicht, befreite sich aus Gerins Griff und lief weiter. "Ja", antwortete er in seinen Gedanken. "Bis zum Frühling, Wolf... Bis zum Frühling..." (*) Bredal: Gott der Familie, Beschützer der Kinder und der Ehe, barolonischer Gott. Nachwort: Also, hab nur ich das Gefühl, oder werden die Kapitel, je näher das Ende rückt, immer länger? Ich hoffe, es war nicht zu lang... Deshalb an die Freischalter: Ein dickes Entschuldigung für die Länge. So, was soll ich schreiben? Ich hoffe, das Kapitel war einigermaßen in Ordnung. Aufgrund von Unistress hat es länger gedauert. Tja, mein Gerin, ich liebe diesen Charakter, manch einer mag glauben, dass dieses "zweite" Gesicht nicht zu ihm passt. Ich glaube es allerdings schon... Na ja, Ryan ist auf dem Weg zu Ayesha, schauen wir mal, was uns da noch erwartet. Wir nähren uns ja dem Ende. Doch einige Dinge kommen noch... In dem Sinne, bleibt mir gewogen, bis bald! © 2003 by seen Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)