October to May von Earu (Intermezzo With A Stranger) ================================================================================ Kapitel 15: Replay ------------------ 23. Februar … „Vielen herzlichen Dank, Hayashi-sensei“, sagte ich demütig und verbeugte mich im 90-Grad-Winkel, während ich rückwärts aus dem Büro meines Professors ging. „Nun machen Sie mal halblang, Takarai. Es ist schließlich Ihre Sache, wann Sie ihre Arbeit abgeben, solange Sie nicht zu lange brauchen. Außerdem ist das hier das erste Mal, dass sie die Frist verlängern müssen. So etwas passiert jedem Studenten einmal, also müssen Sie nicht unbedingt so tun, als wären Sie damit die Ausnahme aller Ausnahmen“, wurde mir allerdings in einem leicht schroffen, aber noch immer gut gemeinten Tonfall entgegnet, was mich allerdings auch nicht davon abbrachte, mich noch einmal auf dieselbe Art und Weise zu bedanken. „Gehen Sie lieber an Ihre Arbeit! Noch einen Aufschub kriegen Sie nämlich nicht“, kam es diesmal sogar scherzhaft darauf zurück. „Das werde ich. Auf Wiedersehen“, verabschiedete ich mich schließlich, zog dann die Bürotür ganz zu und atmete auch gleich erleichtert auf. Puh, gerade noch mal gut gegangen! Na gut, okay … ganz so knapp war es nicht gewesen, denn Hayashi-sensei hatte mir ja im Januar schon gesagt, dass eine Verlängerung keinen stören würde. Aber ich war ihm trotzdem dankbar, dass er so problemlos eingewilligt hatte, mir noch zwei Wochen mehr Zeit zu geben. Eigentlich hatte er mir sogar einen gesamten Monat einräumen wollen, allerdings hatte ich das kategorisch abgelehnt, da ich einerseits schon fast fertig war und andererseits auch endlich zum Ende kommen und nicht aufgrund meiner zusätzlichen Zeit noch großartig rumtrödeln wollte. Nicht, dass ich tatsächlich herumgetrödelt hätte, aber je mehr Spielraum ich hatte, desto mehr drängte sich mir der Gedanke auf, dass ich doch nicht tatsächlich schon durch sein konnte und stattdessen noch mehr tun müsste. Zwar hatte ich meistens noch ein Polster übrig und gab verfrüht ab, aber dieses nagende Gefühl, irgendetwas Wichtiges übersehen zu haben, war immer da und verunsicherte mich einfach fürchterlich. Das wollte ich mir wirklich ersparen und wenn das hieß, dass ich dafür wieder den ganzen Tag über meiner Arbeit sitzen musste, um die Frist zu schaffen, dann nahm ich das auch in Kauf. Dann war ich wenigstens mit etwas Sinnvollem beschäftigt! Meine Abschlussarbeit hatte ich nämlich in den Tagen nach meiner Trennung von Gackt total vergessen – natürlich, könnte man eigentlich sagen, da ich so dermaßen mit mir selbst beschäftigt gewesen war, dass ich teilweise sogar das Essen vergessen hatte. Sie war mir auch erst wieder eingefallen, als Tetsu, Ayana und Yuki mich die paar Tage später besucht und mir ins Gewissen geredet hatten. Ken war wie versprochen später noch dazugekommen, drei große Pizzen und eine Plastiktüte voller Dosen mit Softdrinks und Bier in der Hand. Als er seine Fracht auf meinem Schreibtisch abgestellt hatte, hatte sie dabei gegen einen dicken Stapel Papier gelehnt, der daraufhin natürlich umgekippt war und die Notizen zu meiner Abschlussarbeit über die halbe Arbeitsfläche verteilt hatte. Da war mir dann wie Schuppen von den Augen gefallen, dass ich ja immer noch etwas Korrekturlesen und – eigentlich noch schlimmer! – malen musste. Wäre ich diesem Moment alleine gewesen, wäre ich wahrscheinlich wieder in Tränen ausgebrochen und hätte mich direkt wie wild in die Arbeit gestürzt, dabei nichts richtig hinbekommen und mir im Endeffekt nur noch mehr Arbeit aufgehalst. Aber zum Glück waren meine Freunde für mich da gewesen, hatten mich abermals aufgefangen und mir klar gemacht, dass es jetzt absolut nichts bringen würde, mich an meine Abschlussarbeit zu setzen, da ich es womöglich nur schlechter machen würde, als sie jetzt war. Stattdessen hatten sie mich davon überzeugt, mich doch um eine Verlängerung zu kümmern – allen voran Tetsu, der so etwas regelmäßig machen musste, weil er in den ersten Wochen seiner Ferien ganz gerne gar nichts tat und dafür am Ende in eine Bredouille kam. Er hatte das Ganze herrlich mit Anekdoten ausgeschmückt, die ich zwar fast alle schon kannte, mich aber trotzdem immer wieder so amüsierte, dass ich mich auch diesmal nicht halten konnte. Und Ken hatte mir seine Hilfe bei der Korrektur meiner Arbeit angeboten, denn selbst wenn er vom Thema keine Ahnung hatte, hatte er doch zumindest in sprachlicher Hinsicht mehr drauf, als man ihm im ersten Moment zumuten wollte. Es war dann noch ein sehr lustiger Abend geworden: Wir hatten einen Film geschaut, Pizza gegessen, uns dabei um die guten Beläge gestritten und außerdem ausgeknobelt, wer für den Nachschub an Getränken sorgen würde, da Ken ganz offensichtlich an einer Rechenschwäche leiden musste: fünf Leute und dann nur acht Dosen! Wie konnte man nur so schlecht planen können?! Es hatte dann Tetsu getroffen, da der mit seinem gerade erst ergatterten Stück Pizza im Mund nicht schnell genug Shinyokki* gerufen und somit verloren hatte. Ayana, die eigentlich den zweiten Platz belegt hatte und aus dem Schneider war, hatte sich dann allerdings dazu bereiterklärt, ihn zum Conbini zu begleiten, damit er nicht so schwer schleppen musste … und um als einziges Mädchen der Runde nicht nur Männergebräu trinken zu müssen. Und damit die beiden ein paar Momente nur für sich hatten, hatte Ken noch hinterher gerufen, als sie schon fast zur Tür raus waren. Die Antwort darauf war Tetsus ausgestreckter Mittelfinger gewesen. Die Welt war an diesem Abend absolut in Ordnung gewesen, obgleich er so finster begonnen hatte. Durch die Bemühungen meiner Freunde hatte ich mich dann auch endlich wieder dazu aufraffen können, mich richtig in meine Arbeit hineinzuknien, die diesmal hauptsächlich bei den Bildern lag. Ken hatte sich eine Kopie vom schriftlichen Teil gezogen, um ihn in Ruhe zu Hause bearbeiten zu können. Er hatte gesagt, dass er es in einer Woche schaffen sollte, und dann wollte er wieder zu mir kommen, damit wir die Korrekturen gemeinsam einarbeiten und notfalls diskutieren konnten. Für die Verlängerung hatte ich mit Hayashi-sensei erst einen Termin ausmachen müssen, da es in der vorlesungsfreien Zeit für gewöhnlich keine geregelten Sprechzeiten gab – Professoren wollten eben auch mal Urlaub machen, pfft! –, aber er hatte mir eigentlich per Mail schon zugesagt. Trotzdem war es noch nötig gewesen, persönlich vorstellig zu werden, um den Papierkram, den das ganze Unterfangen mit sich brachte, auszufüllen und zu unterschreiben. Das kostete mich nun auch wieder einen halben Nachmittag, allerdings war ich vollkommen in meinem neuen selbstgesteckten Zeitplan, sodass es nicht ganz so katastrophal war. Nur für den alten Abgabetermin reichte es leider nicht. Und nun stand ich wieder draußen auf dem Gehweg vor den Doppeltüren des Fakultätsgebäudes und überlegte, was ich jetzt anstellen sollte. Die Bibliothek war nur ein paar Minuten zu Fuß entfernt und es juckte mich in den Fingern, noch hier und da etwas nachzuschlagen. Aber ich verwarf diesen Drang mit dem Gedanken, dass Ken ja schon fleißig am Korrigieren war und ich seine ganze Arbeit wieder kaputt machen würde, wenn ich jetzt noch mit etwas Neuem ankam. Außerdem war es ja genau das, was ich durch die kurze Fristverlängerung von nur zwei Wochen verhindern wollte! Ich bog also nicht nach links zur Bibliothek ab, sondern nach rechts, wo die nächste U-Bahn-Station war. Ich würde einfach nach Hause fahren und gucken, wie lange das Licht noch ausreichte, um vernünftig malen zu können. Doch dazu sollte ich an diesem Tag nicht mehr kommen, denn unterwegs sah ich etwas … begegnete ich jemandem, der Erinnerungen in mir aufstiegen ließ. Es war niemand, den ich tatsächlich kannte, aber das Instrument, das er in Händen hielt, reichte bereits aus. Direkt am Eingang zum Untergrund stand ein junger Kerl, der Geige spielte. Vor ihm auf dem Boden lag der offene Geigenkasten, wo einige Leute schon Münzen hineingeworfen hatten. Es war nicht You, aber es hätte You sein können, denn zumindest in meinen Ohren spielte der Kerl ziemlich gut und vor allen Dingen sehr schön. Wie You damals hatte er dabei auch die Augen geschlossen. Und wenn ich an You dachte, dann dachte ich auch unweigerlich an Gackt … nicht, dass ich das in den letzten Tagen nicht sowieso getan hätte! Nein, ich hatte mir den Rat meiner Freunde wirklich zu Herzen genommen und immer dann, wenn ich nicht über meiner Arbeit gesessen hatte, hatte ich herauszufinden versucht, was ich mit Gackt und meinem … unserem Problem anstellen sollte. Doch bisher hatte es nichts gebracht – leider. Meine Gedanken kreisten immer nur um dieselben Möglichkeiten, die mir blieben und ich die ich vor ein paar Tagen auch schon mit den anderen besprochen hatte. Yuki hatte sie ja wirklich sehr schön auf den Punkt gebracht … Und dann fielen mir auch Tetsus Worte ein, dass ich bloß nicht vergessen sollte, dass Gackt ebenfalls ziemlich tief in der Sache drin steckte und gefälligst auch seinen Teil dazu beitragen sollte. Die Idee hatte mir an dem Abend nicht gefallen und tat es auch jetzt nicht sonderlich mehr. Aber auf der anderen Seite … Tetsu hatte recht: Vielleicht hatte ich da ein Problem, dass wir tatsächlich nur zusammen lösen konnten. Und ich sah im Moment auch nicht, dass ich es in absehbarer Zeit auf eigene Faust hinkriegen würde. So wie es aussah, kam ich also nicht drumherum, die ganze Sache mit Gackt gemeinsam auszudiskutieren … Ich seufzte. Eigentlich wollte ich ihn nicht wiedersehen, nicht so schnell schon – unsere Trennung war schließlich gerade einmal zehn Tage her. Und ja, ich wusste die Zahl ganz genau, denn zehn Tage seit der Trennung waren zehn Tage ohne Gackt und auch ohne die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Hätte ich diesen mentalen Counter zu Papier gebracht, hätte vermutlich so etwas wie Tage seit Beginn der Endgültigkeit darüber gestanden. Ich schüttelte den Kopf – ich phantasierte ja schon wieder! Schön, gut. Ich hatte mich von Gackt getrennt, aber das war doch verdammt nochmal nicht das Ende der Welt! Er war nur eine weitere meiner gescheiterten Beziehungen, die sich zu den anderen in meiner Erinnerung gesellen konnte … nur wollte das noch nicht ganz in mein Herz hinein. Es vermisste ihn noch immer sehr und schmerzte und wollte ihn um alles in der Welt wieder haben. Aber es wollte ebenso von Gackt geliebt werden und an dieser Stelle haperte es eben gewaltig. Ein erneutes Seufzen verließ meinen Mund, als ich mich wieder in Bewegung setzte. Ich merkte auch jetzt erst, dass ich überhaupt stehengeblieben war und den Geige spielenden Kerl nun schon seit einer Weile anstarrte. Ich wollte dann auch nicht unhöflich rüberkommen, sodass ich meinen Geldbeutel herausnahm, ein bisschen in meinem Kleingeld herumkramte und ihm schließlich zwei Hundert-Yen-Münzen in den Geigenkasten warf. Er musste wohl gemerkt haben, dass ich vor ihm stand, denn mitten im Spiel öffnete er plötzlich die Augen, lächelte mich an und bedankte sich herzlich bei mir für die Spende. Und ich erschrak kurz, denn obgleich er eindeutig ein Japaner war, waren seine Augen nicht braun, sondern von einem leuchtenden Grün. Er trug Kontaktlinsen. War ein solcher Zufall denn wirklich möglich oder hatte es irgendjemand da oben auf mich abgesehen und wollte mich quälen? Oder vielleicht auf etwas hinweisen? Ich war ein kreativer Mensch, aber gleichzeitig auch ziemlich rational und vor allen Dingen pragmatisch veranlagt, sodass ich eigentlich nicht an solches Zeug wie das Schicksal glaubte. Aber was sollte ich in einer solchen Situation denn anderes tun?! „G-gern geschehen“, murmelte ich noch etwas stockend, ehe ich schließlich meinen Weg fortsetzte und die Stufen nach unten zu den Gleisen nahm. Und ich konnte dabei das Gefühl nicht abschütteln, dass hier irgendetwas vor sich ging und ich meine Rolle darin zu spielen hatte. Ich konnte es nicht genau benennen und wenn ich es doch versuchte, dann konnte ich auch nur an eines denken: Gackt. Er schlich sich wieder einmal in meinen Kopf, so wie er sich auch vor zwei Monaten in mein Herz geschlichen hatte. Und ebenso setzte er sich jetzt in meinen Gedanken fest, ließ sich einfach nicht vertreiben, sondern plagte mich, bis es mir schließlich reichte. Am liebsten hätte ich mich mitten auf den Bahnsteig gestellt und gebrüllt: „Ist ja gut, ich mach ja schon!“, aber ich tat es nicht. Ich wechselte nur schweigend das Gleis und ging weg von dem, auf dem der Zug, den ich eigentlich hatte nehmen wollen, gerade einfuhr. Stattdessen stellte ich mich auf die gegenüberliegende Seite und wartete auf die nächste Bahn, die mich genau in die andere Richtung bringen würde. In einer Minute würde sie kommen, wie mir die große Anzeigetafel verriet. Das war eine Minute, in der ich mir noch darüber klar werden konnte, dass das hier alles großer Mist war und ich mich lieber doch an die Fertigstellung meiner Bilder machen sollte. Aber wenn das Herz einmal will, dann hat der Verstand plötzlich ziemlich wenig zu sagen, auch wenn er es später sein wird, der die ganze Diskussion über Für und Wider führen musste. Sogar wenn er eine Höllenangst vor diesem Gespräch hatte, weil er genau wusste, wie hoch die Chancen standen, dass er verlor und anschließend nur wieder verletzt wurde. Und das Herz mit ihm. Doch dem Herzen war das egal. Es wollte nur zu Gackt. Und ehe ich mich versah, setzten sich meine Füße dann wieder in Bewegung. Der Zug war eingefahren, die Türen hatten sich geöffnet und zig Menschen versuchten gleichzeitig, ein- bzw. auszusteigen. Ich war einer von ihnen und als ich keine Minute später einen Sitzplatz zwischen einer alten Dame und einem Anzugträger mittleren Alters ergattert hatte, wusste ich, dass es nun durchziehen würde. Ich würde nicht vorher aussteigen, ich würde dieses Gespräch führen und ich würde mit einer Lösung, die für uns alle am besten war, wieder gehen. Ja, so würde es gehen … irgendwie … Eine halbe Stunde später stieg ich an der mir nur zu vertrauten Haltestelle aus und schlug den direkten weg zu Gackts Wohnung ein. Ich hatte jetzt weitere dreißig Minuten Zeit gehabt, um mir noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, ob ich dafür wirklich bereit war. Und es hatte sich absolut nichts geändert: Ich wollte zu ihm, ihn sehen, mit ihm reden. Ich hoffte nur, dass er auch da war und noch mit mir reden wollte, nachdem ich jetzt zwei Wochen lang nichts in diese Richtung getan hatte. Und es war drei Wochen her, dass ich diesen Weg das letzte Mal eingeschlagen hatte. In diesen vier Wochen hatte sich einiges verändert, denn Anfang Februar hatte noch überall Schnee gelegen, der mittlerweile geschmolzen war. Es sah sogar schon ganz nach einem verfrühten Frühling aus, denn die Temperaturen waren innerhalb der letzten Tage schlagartig nach oben geschossen und überall hatten die Pflanzen zu sprießen und zu blühen begonnen. Der nächste Niederschlag würde ganz sicher wieder als Regen herunterkommen und nicht als Schnee. Aber jetzt war es zum Glück trocken … nichts war schlimmer als Schneematsch – bis auf das ekelhaft nasse Wetter im Herbst natürlich! Aber über was machte ich mir hier eigentlich Gedanken?! Ich sollte mich viel mehr damit beschäftigen, was ich nachher … gleich zu Gackt sagen würde, wenn ich ihm gegenüberstand. Denn so sehr ich auch den Drang verspürte, ihn wiedersehen zu wollen, so wenig wusste ich gleichzeitig, wie das alles aussehen würde. Ich wusste dieses Problem zwar nicht allein zu lösen, aber es vollkommen auf ihn abschieben wollte ich auch nicht. Ich befürchtete eher, dass dann nur etwas dabei herauskommen würde, was absolut nicht nach meinem Sinn war. Wobei ich nicht unbedingt glaubte, dass Gackt mich eiskalt ausnutzen und nur seinen Vorteil aus der Sache herausschlagen wollte. Nein, so war Gackt nicht … er war einsichtig und besorgt und loyal und … nicht in mich verliebt. Oh shit! Wieso die Leier denn schon wieder? Weil es das Problem war! Würde er mich ebenfalls lieben, wäre ich wahrscheinlich mächtig sauer auf ihn gewesen, weil er mit einer anderen ins Bett gesprungen war, weil er ja nicht auf mich hatte warten können, aber in Endeffekt hätte ich ihm verziehen … eigentlich hatte ich das sogar schon, denn dieser blöde Seitensprung interessierte mich im Moment kein Stück. Es hatte nichts bedeutet, hatte Gackt mir gesagt. Aber so … ohne dass er das für mich fühlte, was auch ich für ihn fühlte … das war keine Grundlage. Nur Sex, selbst wenn er etwas bedeutete wie bei uns, war absolut keine Grundlage. Ich seufzte, wie so oft in den Momenten, in denen ich an Gackt und unsere verfahrene Situation dachte, ging aber beständig weiter, bis ich schließlich an der Feuertreppe stand, die mich in das Stockwerk bringen würde, in der Gackts Wohnung sich befand. Und sie war mir noch nie so lang erschienen. Es fühlte sich fast an wie der Gang zum Schafott, wo man mich gleich hängen und ich mein Leben aushauchen würde. Verdammt! Ich war noch immer so verliebt in ihn, dass ich fest davon überzeugt war, sterben zu müssen, falls wir gleich beschließen würden, keine Freunde mehr zu sein und stattdessen getrennte Wege zu gehen. Ich hatte wirklich Angst davor. Gleichzeitig hatte ich jedoch auch Angst vor dem Schmerz, den ich ganz sicher verspüren würde, wenn ich zwar mit Gackt befreundet sein, ihn aber nicht lieben durfte. Und ich konnte wirklich nicht sagen, was von beidem mir schlimmer vorkam. Ich wollte nicht mit und nicht ohne Gackt. Ich saß zwischen den Stühlen und konnte da einfach nicht weg. Als ich die letzte Treppe zum fünften Stock erklomm, fiel mein Blick wie immer sofort auf das Fenster rechts neben dem Geländer. Ich wusste nicht, warum ich das tat, schließlich gehörte es zu Yous Zimmer, auf das ich nur ein einziges Mal einen kurzen Blick hatte erhaschen können und das mich nie großartig interessiert hatte. Aber damals bei meinem ersten Besuch hier hatte Gackt sich weit über das Geländer gelehnt, um zu klopfen und seinen Mitbewohner so schon einmal vorzuwarnen, dass er gleich zur Wohnungstür hereinkommen würde. Wahrscheinlich lag es daran. Jedenfalls war das Fenster bisher immer geschlossen und verriegelt gewesen. Doch heute war das nicht so, heute war es zur Hälfte nach oben geschoben und drinnen hielt sich auch ganz offensichtlich jemand auf, denn Musik schwebte leise nach draußen. Es war die zweite Geige, die ich an diesem Tag hörte, und jetzt fiel mir auch auf, dass You wirklich um einiges besser war als der Kerl, den ich am Eingang zur U-Bahn gesehen hatte. Zugegeben, ich hatte nicht viel Ahnung von Musik, aber irgendwie fühlte ich es … in diesem Stück, das er spielte, lag einfach so viel Schwermut, dass es mir fast das Herz zerriss. Ich beschloss, noch einen kurzen Moment hier draußen stehenzubleiben, mir die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen und dabei der Musik zu lauschen. Dazu lehnte ich mich an die Hauswand zwischen Notausgang und Geländer, schloss die Augen und schwieg. Und You schien nicht allein zu sein, denn nachdem er kurz für einige Sekunden aufgehört hatte, setzte er wieder an und wurde diesmal von den sanften Klängen eines Pianos begleitet. Ich war mir erst nicht sicher, ob da noch eine andere Person im Zimmer war oder das zweite Instrument von einer CD kam. Tetsu hatte auf alle Fälle solche Bänder, auf denen ihm ein Kommilitone etwas eingespielt und sich dabei genau darauf eingestellt hatte, dass da noch ein anderes Instrument dazukommen würde. In Tonstudios konnte man so was machen und schließlich arbeitete Gackt in einem, also war es nur wahrscheinlich, dass er für seinen besten Freund so etwas hatte anfertigen lassen. Aber bereits kurz darauf erfuhr ich, dass da definitiv noch jemand anderes sitzen und live spielen musste, denn ab und zu drangen ein paar Töne an mein Ohr, die nicht so recht zum Rest des Stückes passen wollten. Und wie zur Bestätigung brach die Geige kurz darauf ab und ich konnte You schimpfen hören: „Mann! Konzentrier dich doch endlich mal! Ich dachte, du wolltest mir helfen und nicht rumschlampen. Wenn du dich ständig verspielst, kann ich das auch alleine mit Band machen.“ Ha! Hatte ich es doch gewusst! Wahrscheinlich hatte You das Fenster aufgrund des schönen und relativ warmen Wetters geöffnet, damit die beiden nicht beim Üben in dem kleinen Zimmer umkamen. Die Antwort der zweiten Person hörte ich allerdings leider nicht. Entweder gab es keine oder sie war so undeutlich gemurmelt worden, dass sie es nicht zum Fenster hinaus schaffte. „Noch mal von vorne“, sagte You dann und begann kurz darauf auch wieder zu spielen. Das Piano schloss sich dem mit einer kleinen Verzögerung an und machte das ohnehin schon traurige Stück irgendwie sogar noch deprimierender, wie es eine so langsame und träge Melodie spielte. Damals bei dem Konzert, zu dem Tetsu uns geschleift hatte, war es mir haargenau so gegangen und auch damals hatte ich einige Probleme mit Gackt gehabt. Das war nur ein paar Stunden vor unserem Treffen im Park gewesen, in dem ich auf diesen merkwürdigen Deal mit der Beziehung eingegangen war, die zwar sehr schöne Seiten gehabt, mir aber auch so viel Ärger eingehandelt hatte. Meine Erinnerungen waren ebenso gespalten wie die beiden Möglichkeiten, die mir mit Gackt jetzt noch blieben … na ja, es hing ja auch alles direkt miteinander zusammen. Und jetzt stand ich vor seiner Haustür und wenn ich schließlich hineinging und ihn antraf, würde ich ein ebenso seltsames Gespräch mit ihm führen und … ich schluckte … vermutlich würde es genauso ausgehen wie damals. Schon damals hatte er es irgendwie geschafft, mich von seiner Idee zu überzeugen. Wir würden schon Lösungen für unsere beiden Baustellen finden – es hatte so einfach geklungen, so simpel. Wenn es nicht klappte, dann trennten wir uns eben einfach wieder. Doch wir hatten das Risiko, das wir da auf uns genommen hatten, unterschätzt. Wir hatten nicht bedacht, was passieren würde, wenn sich einer von uns beiden verlieben würde, der andere aber nicht. Denn beide Extremsituationen wären einfach gewesen: Hätten wir beide uns verliebt, wären wir miteinander glücklich geworden. Hätte sich keiner verliebt, wären wir einfach wieder Freunde geworden. Aber so … so wollte der eine befreundet sein und der andere wollte geliebt werden. Damals hatte auch ich das Risiko ignoriert und so einfach zustimmen können, denn Gackt hatte mir etwas bedeutet. Doch … hatten wir wirklich beide diese Lücke im Plan übersehen? War sie Gackt vielleicht vollkommen klar gewesen und hatte er es mir nur nicht gesagt, um diese Beziehung mit mir einzugehen? Und jetzt, da die Klemme, in der wir steckten, vollkommen offen dalag, würde er sie abermals ignorieren, um weiterhin mit mir befreundet zu sein? Nein! Ich schüttelte vehement den Kopf. Nein, so war Gackt nicht! Er war ein guter Freund – sowohl als Freund-Freund als auch als Lover – er machte sich Sorgen und wollte nur das Beste für einen … für mich. Er würde mich nicht auf Biegen und Brechen zu etwas überreden, was ganz sicher schlecht für mich wäre. Er hatte damals gehofft, dass es gut ausgehen würde, und das tat er jetzt auch. Es musste einfach so sein! Aber auf der anderen Seite … war nicht eigentlich schon der Vorschlag, ob wir Freunde bleiben könnten, furchtbar egoistisch von ihm, wo er doch nun wusste, wie ich für ihn fühlte? Freunde – das hieß im Grunde, dass wir einander zwar etwas bedeuteten, aber auch, dass es eine Grenze gab. Und diese Grenze verlief genau dort, wo meine Gefühle anfingen. Ich wusste nicht, wie lange es dauern würde, aber ich war mir sicher, dass Gackt – nun, da wir nicht mehr zusammen waren – sich irgendwann jemand anderen suchen und mit ihm oder ihr eine neue Beziehung eingehen würde. Und das würde mir ganz sicher fürchterlich weh tun, denn nach unserer Trennung konnte ich von Gackt nicht verlangen, dass er meinetwegen allein blieb. Und ich wollte ja auch, dass es ihm gut ging. Ich schien meine Entscheidung dann doch allein getroffen zu haben, schoss es mir schließlich durch den Kopf, als ich mich von der Hauswand abstieß und die Treppe wieder hinabstieg. Es tut mit leid, Gacchan. tbc. * Shinyokki: 'shi' = japanisch für 4 (neben 'yon'); das -nyokki stammt von einem Zählspiel, das Hyde einmal in einem TV-Kommentar bezüglich eines Single-Releases mit den anderen drei Jungs spielen wollte, die es allerdings auch nicht kannten. Einer beginnt, indem er Ichinyokki (ichi = 1) ruft und dabei die an den Handflächen aneinandergelegten Hände nach oben hält. Der zweite muss dann Ninyokki (ni = 2) rufen usw. Wer als Letztes bzw. gar nicht reagiert, hat verloren. Und weil ein Bild mehr sagt, als tausend Worte, guckt ihr euch das am besten selbst an: http://www.youtube.com/watch?v=ombpGgogwX0 – sehr amüsant ;3 Da die Herren das aber nur zu viert gespielt haben, habe ich keine Ahnung, ob shinyokki tatsächlich richtig ist ^^“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)