Preußens letzter Tag von Sakiko_Seihikaru (Das Ende eines Reiches) ================================================================================ Kapitel 1: Preußens letzter Tag ------------------------------- „Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört. Geleitet von dem Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit der Völker und erfüllt von dem Wunsche, die weitere Wiederherstellung des politischen Lebens in Deutschland auf demokratischer Grundlage zu sichern, erlässt der Kontrollrat das folgende Gesetz: Artikel 1 Der Staat Preußen, seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden werden hiermit aufgelöst.“ – Alliierter Kontrollrat (25. Februar 1947) Ich habe es gewusst. Schon seit Jahren wusste ich, dass dieser Augenblick kommen musste und doch trifft es mich wie ein Schlag ins Gesicht. Dieses Gesetz macht es endgültig! Es ist vorbei! Alles ist vorbei! Für dich und auch für mich! Du würdest über meine Gedanken grinsend den Kopf schütteln, habe ich am Ende dieses schrecklichen Krieges so viel weniger verloren, im Vergleich zu dir eigentlich nichts. Alles hat man dir genommen, dein Land, deine Unabhängigkeit, dein Volk und was dir stets das Wichtigste war, deinen Stolz. Und doch hast du nicht aufbegehrt, hast dich gefügt, dadurch wohl verhindert, dass sie sämtliche Hoffnung für euer Volk zerschlugen und deinen kleinen Bruder zerrissen, der noch so klein war, jung im Gedanken an eine friedliche Zukunft für eure Leute. Die letzten Jahre waren nicht leicht, für keinen von uns. Wir waren so verblendet von diesem schrecklichen Mann, haben unaussprechliche Gräuel geschehen lassen und selbst tiefe Wunden davongetragen. Dich hat es alles gekostet, mich nur für einen kurzen Abschnitt der Geschichte meine Unabhängigkeit. Diese nur zu verdiente Strafe wird vergehen, dass tun die Wunden der Kriege immer, doch dir kann keiner zurückgeben, was man dir nahm. Du bist nicht mehr! Nicht im Angesicht Europas, nicht im politischen Geschehen der Welt, nirgendwo mehr. Denn der Staat, das Land, das Volk Preußen – alles haben sie ausgelöscht! Ein Stich in meinem Herzen, dabei hat sich nicht einmal wirklich etwas geändert. Noch immer ist das Land da, mit seinem fruchtbaren Boden, seinen vielen Seen, seiner wundervollen Küste, doch es ist nicht mehr preußisch. Noch immer ist dein Volk da, mit ihrem unbeugsamen Willen, ihren großen Tugenden, ihrem nie zu enden scheinendem Fleiß, doch sie sind keine Preußen mehr. Der Morgen wird eine Welt bringen, in der das große Preußen nur noch Geschichte ist. Ein Exempel der Vergangenheit, eines der großen, untergegangenen Reiche. Du würdest mich auslachen, wüsstest du von diesem Gedanken, doch ja, für mich warst du einer der Großen. In wenigen Jahrhunderten bist du aus eigener Kraft zur Großmacht Europas aufgestiegen, nur mit Mühe konnte ich dir Paroli bieten und nicht nur einmal gerieten wir an unterschiedlich Fronten und Kriegen aneinander. Dass ich dich dafür bewundere, konnte ich niemals sagen, du hättest es mir als Schwäche - oder schlimmer - Freundschaft ausgelegt, doch dies war uns nicht bestimmt. Das Gleichgewicht Europas durfte nicht schwanken, jeder von uns hatte seinen Platz, nicht nur du und ich, auch Spanien, Großbritannien, Frankreich, Russland und all die anderen. Jeder hatte eine bestimmte Rolle zu spielen und die Geschichte in die richtigen Bahnen zu lenken. Wir alle mussten unsere Bürde tragen, tragen sie noch immer, nur du, du hast die deine verloren. Dein Platz wird leer bleiben und alsbald von deinem Bruder ausgefüllt, denn schon jetzt, zwei Jahre nach dem Krieg, kann man spüren, dass er dereinst die Geschicke vieler lenken wird. Er wird unsere Fehler nicht wiederholen, wird aus der Geschichte lernen und auch dein Verlust, wird ihm ein mahnendes Beispiel sein. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man fast glauben, dies alles wäre dir nur recht gewesen um alles in diese Bahn zu lenken. Ich lege seufzend den Gesetzestext zur Seite, direkt neben die fast geleerte Weinflasche. Es wird Zeit, dass ich mich wieder um meine eigenen Angelegenheiten kümmere. „Roderich?“, ein knappes Klopfen an der Tür. „Komm rein, Ludwig.“ Seine Stimme ist so unverkennbar, deiner so ähnlich und doch fehlt etwas, vielleicht Erfahrung, vielleicht Geschichte, ganz gewiss deine Selbstsicherheit. Ich schiebe den Gesetzestext noch etwas weiter von mir, doch deines Bruders Blick findet ihn. „Jetzt ist es offiziell“, seufzt er leise, eine deutliche Unsicherheit spricht aus seinen Worten. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Züge und ich stehe auf, trete zu ihm. „Du wirst es schaffen, Ludwig. Du hast alles was man braucht. Glaub mir, gibt dir einige Jahrzehnte die Folgen dieses Krieges zu beseitigen und du wirst an der Spitze Europas stehen.“ Unglauben blitzt in seinen Augen, diesen Blick hast du mir nur ein einziges Mal geschenkt, die Erinnerung schmerzt und tröstet gleichermaßen. „Ich… nein, dass schaff ich doch nicht. Ich bin am Boden, ich werde das nicht schaffen. Es ist alles nur meine Schuld.“ Seine blauen Augen senken sich, eine kurze blonde Strähne löst sich aus seiner ansonsten perfekten Frisur. „Ludwig!“ Ich erhebe meine Stimme nur wenig, doch erschrocken sieht er auf, nicht fähig zu einer Antwort. „Hör auf dich so klein zu reden, du bist sein Bruder, in dir fließt sein Blut, jenes Blut was auch ihn in kurzer Zeit zur Großmacht aufsteigen ließ. Lerne aus der Geschichte und gib nicht auf! Dann schaffst du es auch. Ganz sicher.“ Die unterschiedlichsten Gefühle kämpfen in seinen so blauen Augen, noch ist er ein offenes Buch für mich, doch ich weiß, die Zeit wird sie sich verschließen lassen, dass hat sie bei uns allen getan. Bei fast allen, denn in deinen Augen haben sie immer getobt und gewütet, Gefühle welcher Art auch immer. Du hast deine Stärke daraus gezogen, immer gerade heraus zu fordern was du wolltest, seien es Ländereien, Konflikte oder Beziehungen. „Roderich?“ Erschrocken fahre ich zusammen, meine Gedanken an dich haben mich für einen Moment alles vergessen lassen. „Entschuldige, ich war in Gedanken“, bitte ich um Verzeihung und wende gleichzeitig meinen Blick ab. „Du hast an Gilbert gedacht, nicht wahr?“ Kurz schließe ich die Augen, er hat mehr von dir, als ich bisher geahnt habe. „Es ist ein merkwürdiges Gefühl, dass er einfach nicht mehr da sein soll“, murmele ich und spüre gleichzeitig, wie der Schmerz mir nur zu deutlich macht, dass ich ganz genau weiß, was für ein Gefühl es ist. „Du nennst ihn nie beim Namen.“ Als ich aufsehe, sehen mich Ludwigs blaue Augen fast ein wenig anklagend an. „Schon in den ganzen letzten Jahren als sein Ende immer offensichtlicher wurde, hast du ihn nicht mehr bei seinem Namen genannt, nicht ein einziges Mal, in niemandes Gegenwart.“ Ein kaltes Lächeln schleicht sich auf meine Züge. „Wieso hätte ich das gesollt?“, frage ich knapp. „Weil er dir wichtig war, sehr wichtig!“, ist seine knappe, brutale Antwort. Er ist dir so verdammt ähnlich und doch ist er nicht du! In mir brodelt es, eine Wut steigt in mir auf, deren Ursprung ich nur erahnen kann. „Verdammt! Warum benimmst du dich wie er?“, fluche ich und schlage mit der Faust auf den Tisch. „Nein, ich benehme mich nicht wie er, ich bin ihm nicht einmal ähnlich. Du willst ihn nur in mir sehen. Ich bin nicht Gilbert, er ist…“ „KEIN WORT MEHR!“ Mit meiner Beherrschung ist es vorbei und mit nur einer Handbewegung fege ich die Unterlagen von meinem Tisch, die Weinflasche zerspringt auf dem Boden in tausend Scherben. Mein Blick bohrt sich in seinen. „Geh jetzt, Ludwig!“ Ich kann nicht mehr, meine Fassade bröckelt schon seit dieser gottverdammte Gesetzestext seinen Weg in meine Finger gefunden hat. Mit einem kurzen Wort des Abschieds geht er endlich und ich bin wieder allein. Allein mit all meinen Gedanken! Verflucht! Ich nenne dich also nicht beim Namen? Schon seit Jahren nicht mehr? Ein kurzes, kaltes Lachen kämpft sich meine Kehle hoch, doch es erstickt, bevor es seinen Weg nach draußen findet. Vielleicht rede ich in Gedanken zu viel mit dir? Vielleicht hatte ich unterbewusst gehofft, dass es dadurch nicht wahr wird? Vielleicht hat es aber auch nur einfach viel zu wehgetan! „Gilbert!“ Dein Name fließt mir wie von selbst über die Lippen und mit ihm kommen die ersten Tränen. Ich wollte nicht weinen. Nicht wegen dir. Nie wieder! Doch damals wie heute, ich weine immer nur, wenn es um dich geht. Wieso bist du einfach gegangen? Wieso hab ich nicht einmal versucht dich zu halten? Wieso kann ich erst jetzt weinen? Mit tränenverschleiertem Blick hebe ich den Kopf und starre ins Nichts. Es wird Zeit! „Leb wohl,… Gilbert.“ Am 25. Februar 1947 wurde das Land Preußen endgültig vom Antlitz Europas getilgt, nur einige Fußspuren in der Geschichte, Erinnerungen im Gedächtnis seiner Feinde und Narben auf den Herzen seiner Freunde zurücklassend. Hosted by Animexx e.V. 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