Hunter of Darkness von Plotchaser (Schattenspiel) ================================================================================ Kapitel 4: Vier --------------- Noch immer saß ich in den Scherben meines Spiegelschrankes, als Chester aus dem Nichts heraus auftauchte. Es kam mir so vor, als wären bereits Stunden vergangen, doch war es kaum eine halbe Stunde, seit ich in meinem Zimmer eingesperrt worden war. Mit verheultem Gesicht schaute ich zu ihm auf, als Chester vor mir in die Hocke ging. „Oh, Gott... Wie siehst du denn aus, Kristina?“ Sachte legte er eine Hand an meine Wange und streichelte mir mit dem Daumen über diese. „Alles in Ordnung?“ Kaum merklich schüttelte ich zur Antwort den Kopf und erneut flossen die Tränen. „Sie hat mich geschlagen“, wisperte ich, während ich den Blick senkte. „Und eingesperrt... Sie... Sie will mich wieder in die Psychiatrie einweisen lassen...“ Lange, sehr lange, sagte der Schwarzhaarige kein Wort, dann strich er mir eine meiner braunen Strähnen aus dem Gesicht. „Das lasse ich nicht zu, keine Angst. Und du wirst hier gleich herausgeholt. Dafür muss ich nur kurz weg, okay? Ich bin gleich wieder zurück.“ Chester wartete so lange, bis ich ein zaghaftes Nicken zustande brachte, dann war er verschwunden. Während ich auf seine Rückkehr wartete, streichelte ich abwesend über Mishkas Fell. Es dauerte vielleicht eine viertel Stunde, dann war der andere auch schon zurück. Ohne Umschweife kam er auf mich zu, packte mich am Handgelenk und zog mich auf die Beine. Zeitgleich sprang Mishka auf den Boden und zog sich auf die Rückenlehne des Sofas zurück, um uns zu beobachten. Überrascht schaute ich auf, doch lag Chesters Blick ernst auf meiner verletzten Hand. „Komm, Kristina. Solange wir warten, kümmere ich mich um deine Hand.“ Sachte zog er mich in das kleine, angrenzende Bad und wusch mir das Blut von der Hand. Nach einer genauen Inspizierung nickte er zufrieden und fummelte eine Mullbinde aus seiner Manteltasche, um mir anschließend die Hand auf geübte Weise zu verbinden. Dann schaute er mir lächelnd ins Gesicht. „So ist es doch gleich viel besser, oder?“ Danach führte er mich zur Couch und setzte sich mit mir darauf. Eine Weile war es still zwischen uns und ich konnte im Augenwinkel sehen, wie er mich und Mishka genau betrachtete, während ich den Kater streichelte. Es war in diesem Moment schwer für mich, den Mut aufzubringen, um die Frage zu stellen, die mich beschäftigte. Doch schaffte ich es irgendwann. „Worauf genau warten wir?“ Als ich meinen Blick zögerlich zu ihm anhob, erschien erneut ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen. „Auf die Polizei. Ich habe dir doch versprochen, dass ich dich gleich hier herausholen werde, oder nicht?“ „Aber“, setzte ich zum Einwand an, doch wurde ich prompt durch ein Kopfschütteln seitens Chester abgewürgt. „Mach dir keine Sorgen. Wir haben Mittel und Wege, dir zu helfen. Und in ein paar Minuten wirst du dich selbst davon überzeugen können, Kristina.“ Erneut schwiegen wir uns an, als mein Gegenüber plötzlich seinen Kopf zur Seite wandte und abwesend in die Ferne schaute. „Fünf Minuten“, gab er noch immer abwesend von sich, ehe er blinzelte und wieder zu mir sah. „In fünf Minuten ist die Polizei da. Ich muss jetzt weg, aber wir sehen uns gleich wieder. Kopf hoch, Kristina.“ Kaum hatte er mir aufbauend zugelächelt, hatte er sich auch schon wieder in Luft aufgelöst.   Tatsächlich vergingen kaum mehr als fünf weitere Minuten, als ein Streifenwagen in unsere Hofeinfahrt einbog. Vorsichtig betrachteten Mishka und ich das stumme Blaulicht, ehe es abgeschaltet wurde und zwei Polizisten, zusammen mit Chester, aus dem Auto stiegen. Als sie klingelten, schlich ich an meine Zimmertür und drückte das Ohr ans Holz, um zu lauschen. Ich konnte regelrecht hören, wie meiner Mom das Herz in die Hose rutschte, als sie die Beamten vor der Tür entdeckte. „Oh... Guten Tag. Was kann ich denn für Sie tun?“ „Wir sind hier, um Ihre Tochter Kristina in unsere Obhut zu nehmen, Frau Piunova.“ Es war kurz still und ich vermutete, dass der Polizist ihr irgendein Schreiben in die Hand drückte, das sie überflog. „Frau Piunova, es liegt gegen Sie der dringende Tatverdacht von häuslicher Gewalt und Freiheitsberaubung vor. Es ist am besten für alle Beteiligten, wenn Sie uns einfach zu ihrer Tochter führen und wir sie in unsere Obhut nehmen können.“ Unwillkürlich hielt ich die Luft an. So etwas würde meine Mom nicht auf sich sitzen lassen. Und genau so, wie von mir erwartet, platzte es dann wütend aus ihr heraus: „Wie können Sie es wagen, mir so etwas zu unterstellen?! Das ist ja die Höhe! Sie ist in der Pubertät, natürlich gibt es da ab und an Streitereien! Aber häusliche Gewalt und Freiheitsberaubung?!“ Der Polizist, der schon die ganze Zeit gesprochen hatte, ließ sich von ihrem Wutausbruch keineswegs beeindrucken. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten für Sie, Frau Piunova. Entweder Sie zeigen uns den Weg zu ihrer Tochter oder wir suchen uns selbst den Weg zu ihr. Von Ihrer sogenannten Unschuld können Sie die Geschworenen im Verfahren überzeugen. Wir sind hier nur die ausführende Gewalt, also lassen Sie uns einfach unsere Arbeit machen.“ „So eine bodenlose Frechheit! Sie haben nicht das Recht, in mein Haus einzudringen! Verschwinden Sie gefälligst!“ „Glauben Sie mir, Frau Piunova, wir haben das Recht auf unserer Seite. Da Sie jedoch nicht kooperieren, werden wir nun eigenhändig ihre Tochter holen. Gehen Sie bitte von der Treppe weg. Mein Kollege kann Sie derweil gerne über Ihre Rechte aufklären.“ Hastig zog ich mich von der Tür zurück und blieb unschlüssig im Raum stehen. Die Schritte auf unserer Treppe konnte ich nicht hören, doch wollte ich nicht Gefahr laufen, die Tür an den Kopf zu kriegen. Mit einem mutigen Murren stand Mishka auf meiner Schulter, während seine beiden Schwänze unruhig hin und her peitschten. Kurz darauf wurde auch schon die Tür geöffnet und ich blickte in Chesters Gesicht. Es war mir unbegreiflich, wie er all das so schnell hatte organisieren können. Und doch war ich froh, dass er nun hier war und nicht nur irgendwelche Beamte mich abholen kamen. „Kommt ihr zwei nun mit oder wollt ihr eine extra Einladung?“ Überrascht musterte ich den braunhaarigen Polizisten und dessen freundliches Lächeln, welcher neben Chester stand, ehe ich den Blick verwirrt an Chester wandte. Sein darauf folgendes Nicken bestätigte meine unausgesprochene Frage: Der Mann konnte Mishka sehen. Nach einem weiteren Zögern kam ich der Aufforderung dann nach, wobei ich Mishkas bekräftigendes Schnurren im Ohr hatte. Jedoch blieb ich vor dem obersten Treppenabsatz erneut stehen und schielte unbehaglich nach unten. „Komm, Kristina. Du brauchst nichts mehr zu befürchten“, mit diesen Worten legte Chester mir seine Hand auf die Schulter und ehe ich es mich versah, hatte er mich auch schon in die Auffahrt bugsiert. „Wie kannst du mir so etwas nur antun, Kristina? Wie kannst du nur so undankbar und verlogen sein, dass du mir sogar die Polizei auf den Hals hetzt? Das ist also der Dank für alles? Früher oder später wirst du freiwillig zu mir zurück kommen!“ Auch wenn meine Mom einen riesigen Aufstand machte, so fühlte ich doch Erleichterung und eine neue Stärke in mir aufkeimen. Als Chester die Tür zur Rückbank für mich aufhielt, wandte ich mich noch einmal um und betrachtete meine Mom kühl, die von dem zweiten, blonden Polizisten zurückgehalten wurde. „Nein, das werde ich nicht. Und, Mom, schrei' nicht so 'rum, was sollen denn die Nachbarn denken?“ Wiederholte ich ihre eigenen Worte und setzte mich dann auf die Rückbank des Streifenwagens. Augenblicklich sprang Mishka auf meinen Schoß und schmiegte sich sanft mit seinem Kopf an meine Wange. Die Beamten brauchten noch einen Moment, bis sie meine Mom abgewimmelt hatten, doch fuhren wir dann auch schon los. Die Fahrt dauerte nicht lange, ungefähr 20 Minuten. Dabei fuhren wir knapp die Hälfte der Zeit durch einen Wald, bis wir schließlich vor einer Lichtung anhielten. Vor uns stand, inmitten des Waldes, ein riesiges Gebäude, das von einer hohen Betonmauer eingerahmt wurde, obenauf säumte Stacheldraht die Mauer. Doch ließ mich etwas anderes staunend die Augen aufreißen: über die ganze Fläche spannte sich ein seltsames Schimmern, als ob sich eine Kuppel um das Gebäude herum erhob. Abgelenkt davon dauerte es einen Moment, bis ich Chester durch das Tor folgte, nachdem dieser sich von Ted und Bill verabschiedet hatte, die sich mit dem Streifenwagen wieder in Richtung Stadt davon machten.   Der Gang, den wir in dem Gebäude entlang liefen, war mindestens genau so lang, wie der Vorhof, der sich zwischen Tor und Eingang erstreckt hatte. Doch als wir dann endlich den zentralen Punkt des Hauptgebäudes erreichten, verschlug es mir schier den Atem. Überrascht ließ ich den Blick über die gegenüberliegende Wand gleiten, ehe ich ein Stockwerk nach unten schaute. Wir standen auf einem erhöhten Gang, der rundherum an den Wänden entlang führte und von dem alle paar Meter Türen oder Gänge abgingen. Eine Ebene höher wiederholte sich der Anblick, doch führten von der Ebene mehr vergitterte Gänge und massive Schutztüren ab. Ganz unten erstreckten sich Tisch- und Stuhlreihen, um die vereinzelt Personen und große Wesen saßen und standen. Alles in allem sah es so aus, wie man es von Gefängnisfilmen kannte. „Das ist ein Gefängnis“, hauchte ich fast tonlos, wobei mich Chester musterte. „Genau, das hier war einmal ein Gefängnis. Es bot sich als bester Platz an, da es über viele Jahre leer gestanden hatte.“ „Ich erinnere mich nicht daran, dass es bei uns in der Nähe jemals ein Gefängnis gegeben hat.“ Lächelnd schaute er zu mir hinab. „Das war noch lange vor deiner Zeit. Und, seit dieses Gebäude in unserem Besitz ist, können Menschen es nicht mehr zufällig finden. Nur Hunter oder Eingeweihte können dieses Gebäude sehen. Für die Außenwelt wurde es schon vor über 40 Jahren abgerissen und ist mittlerweile in Vergessenheit geraten“, einen Moment lang ließ auch der Schwarzhaarige seinen Blick wandern. „Und nun komm, gehen wir weiter.“ Auch wenn mein Blick weiterhin an der Architektur hing, so folgte ich ihm doch auf dem Fuße. Jedoch blieb ich nach wenigen Schritten schon wieder stehen, da Mishka plötzlich heftig zu fauchen anfing. Noch bevor ich der Sache auf den Grund gehen konnte, ertönte neben mir ein tiefes, kehliges Knurren und ich legte reflexartig eine Hand auf Mishka, damit dieser nicht von meiner Schulter sprang. Vorsichtig drehte ich mich zu dem hundeartigen Wesen um und musterte kurz die beiden langen Hörner, die auf seinem Schädel prangten, danach den echsenartigen Schwanz. „Ist schon okay, Dew.“ Schlagartig verstummte das Knurren des Wesens und es spitzte die Ohren, trotzdem ließ es Mishka nicht aus den Augen. Und im nächsten Moment kam der Sprecher, ein strohblonder Junge mit Undercut und Engelslocken und haselnussbraunen Augen, um die Ecke und tätschelte dem Wesen den Kopf. „Ah, Hallo, Night.“ Während der Junge – der vielleicht ein oder zwei Jahre älter als ich selbst war – sich an Chester wandte, konnte ich nicht anders, als die kräftige Farbe seiner Augen anzustarren, um deren Iriden je ein goldener Ring lag. „Hallo, Loren. Hallo, Dew. Wie praktisch, dass wir uns hier schon über den Weg laufen, da muss ich nicht erst nach dir suchen.“ Der Blonde schien den versteckten Wink zu verstehen, der mir verborgen blieb, denn nun wandte er sich mir zu und grinste breit, als er mein unverhohlenes Starren bemerkte. „Hey, ich bin Loren und das hier ist Dew. Und ihr beide seid?“ „Äh... Ich bin Kris... Äh, Kristina... Und das... das ist Mishka“, stammelte ich vor mich hin und wusste nicht recht, wie ich reagieren sollte. Immerhin hatte ich ihn angestarrt wie ein Bekloppter. Doch streckte er mir da auch schon seine Hand entgegen. „Freut mich, euch kennen zu lernen.“ Erst nach einem weiteren Augenblick bemerkte ich, dass ich Mishka noch immer festhielt, also ließ ich ihn los und schüttelte rasch Lorens Hand. „Nun sollten wir aber wirklich weiter. Wir haben nicht ewig Zeit“, mischte sich in diesem Moment Chester ein und durchbrach die peinliche Stille. Hastig schlossen wir zu ihm auf, da er bereits losgelaufen war. „Wie viele Tage, Night?“ „Vier.“ „Uh, einen bereits verschwendet, hm?“ Chesters Antwort auf diese Frage bestand in einem einfachen Augenrollen. Unwillkürlich fragte ich mich, wie lange Loren schon ein Hunter war und warum die beiden meinen Geburtstag als Stichtag nahmen und so ein Aufhebens wegen eines verschwendeten Tages machten. „Ist ja schon gut, du brauchst mir gar nicht zu erklären, wieso. Ich hab ja gar nicht gefragt. So etwas würde mir ja niemals in den Sinn kommen.“ Abwehrend hielt der Blonde die Hände in die Höhe und schaute dann wieder über seine Schulter zu mir. „Vier Tage sollten ausreichen. Sie sieht clever aus.“ Chester warf dem anderen einen spöttischen Blick zu und zuckte dann mit den Schultern. „Natürlich. Ich bin mir sicher, dass du das in vier Tagen hinbekommen wirst.“ Fragend ließ ich den Blick zu Loren wandern, der Chester perplex anschaute, während wir eine Treppe nach unten stiegen. „Hey, vergiss es! Du bist für die Spiritualisten zuständig, ich nur für die Animalisten!“ „Ach, ich dachte, die Theorie könntest du?“ Das spöttische Lächeln auf Chesters Lippen wurde breiter. „Theorie und Praxis sind zwei völlig verschiedene Sachen, das weißt du ganz genau, Night!“ „Dann hör auf zu Quasseln und lass mich meine Arbeit machen.“ Grübelnd blieb ich einfach am untersten Treppenabsatz stehen und schaute den beiden nach. „Wovon reden die eigentlich“, flüsterte ich verwirrt, wobei sich Mishka an meine Wange schmuste. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Mir kam es so vor, als müsste ich wissen, wovon die beiden eben gesprochen hatten. Als ob irgendwo in meinem Gehirn so etwas wie verborgenes Wissen existierte, das von einer dicken Staubschicht bedeckt wäre. Mein 17. Geburtstag. Spiritualisten und Animalisten. Irgendetwas hallte zu diesen Stichworten schwach in meinem Kopf wider. Doch je mehr ich mich darauf konzentrierte, um so mehr schien sich mir etwas in den Weg zu stellen. Etwas, das mir höllische Kopfschmerzen bereitete. Und als der Schmerz schlagartig in meinem Kopf explodierte stöhnte ich unter Qualen auf und ging in die Knie. Dann war plötzlich alles schwarz... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)